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Dienstag, 26. Mai 2020

Abendlied


Ich hatte in Hamburg einen Verwandten, der ein großer Liebhaber Frankreichs war. Er bastelte als höherer Beamter seine Urlaubstage und Überstunden immer so zusammen, dass er jedes Jahr vier Wochen Frankreich im Stück hatte. Ich habe ihn schon in dem Post Picasso erwähnt. Er besaß eine große Sammlung von Platten mit französischen Chansons, aber das war beinahe nur George Brassens. Er wollte mir einmal ein paar Brassens Platten schenken, aber ich lehnte dankend ab. Ich mag Brassens überhaupt nicht, ich war auf einem ganz anderen Trip. Ich sammelte alles von Juliette Gréco, Cora Vaucaire und Barbara. Und ich besaß einen Band von Préverts Paroles, den ich peu à peu auswendig lernte. Bevor ich mir Paroles kaufte, hatte ich den von Kurt Kusenberg besorgten Band Gedichte und Chansons benutzt, da gab es die Chansons zweisprachig. Das war praktisch, dennmein Französisch war noch nicht so gut, ich war in der Lateinklasse des Gymasiums gewesen.

1962 in Berlin kratze ich mein ganzes Taschengeld zusammen, um eine Karte für das erste Konzert von der Muse des Existentialismus zu kaufen. Sie hat Deutschland bisher gemieden; was man verstehen kann, wenn Mutter und Schwester ins das KZ Ravensbrück verschleppt wurden. Unglücklicherweise sitze ich (Komödie Kurfürstendamm Reihe 12 Parkett links, Sitz Nr. 141) hinter Deutschlands schönstem Mann, dem Filmschauspieler Paul Hubschmid. Der ist ein Sitzriese, und ich versuche das ganze Konzert an seinem linken oder rechten Ohr vorbei einen Blick auf das sich katzenartig bewegende Geschöpf im schwarzen Kleid zu werfen, das von einer kleinen Combo begleitet da vorne singt. Die Eintrittskarte bewahre ich wie eine Reliquie auf. Wenn ich an diesen Abend zurückdenke, dann ist es schon ein wenig komisch, dass ich nicht an Juliette, sondern an die ondulierten Haare von Paul Hubschmid denke.

Juliette Gréco sang an dem Abend viel von Jacques Prévert. Mein Französisch wurde damals von Woche zu Woche besser, weil ich wie viele meiner Klasse diese Exi Phase hatte (dazu gibt es hier einen Post). Schwarze Rollis und alte Tweedjacketts und Camus unterm Arm. Nur noch Juliette Gréco hören und französische Filme gucken. Und nebenbei begann ich, Proust zu lesen. Ich weiß, dass ich Sie jetzt langweile, ich habe das schon mehrfach hier im Blog gesagt, das steht schon in den Post Jacques Prévert und souvenirs et regrets. Aber es ist ja wahr. Und es sitzt immer noch im Herzen. Die Bücher und Platten sind immer noch da. Die Eintrittskarte für das Juliette Gréco Konzert liegt noch immer im Schreibtisch. Nur die Frauen, denen man damals Liebesgedichte von Jacques Prévert in die Briefe schrieb, sind entschwunden. Aber Préverts Gedichte und Juliettes Chansons bringen alles zurück, les souvenirs et les regrets aussi.

Als ich Que reste-t-il de nos amours schrieb, musste ich natürlich Charles Trenet hören, den brauchte ich nicht lange zu suchen, das war nicht so eine Aufräumaktion wie die, die ich in Hyperlink beschrieben habe. Die französischen Chansons waren alle an ihrem Platz, da, wo sie sein sollten (zwei CDs von Brassens besitze ich übrigens auch). Was mich etwas irritierte, war eine Raubkopie, auf der Juliette Gréco Abendlied stand. Hatte ich mal geschenkt bekommen, ich weiß nicht mehr von wem. Hatte ich die jemals gehört? Ich legte sie in den CD Player und hörte sie für den Rest des Tages. Manches davon kannte ich von anderen Platten oder CDs, also zum Beispiel das Lied mit der Ameise.

Aber da gab es etwas, das ich noch nie gehört hatte, das war das Lied Mon fils chante von Maurice Fanon und Gérard Jouannest auf deutsch gesungen:

Für die, die nicht der Wetterwind dreht
Weil sie noch nicht käuflich sind
Weil sie noch ohne Angst, mein Kind, sing!

Für die die noch nicht schweigen und
die noch der Welt das zeigen was
Recht und was Unrecht ist, mein Kind, sing!

Für die, die noch nicht blind gemacht
Bouzouki in der Sommernacht
ist kein Ersatz für Freiheit, Kind, sing!

Für die, die man einst vor der Stadt
zur Kirschenzeit verrissen hat
daß man sie nicht vergißt, mein Kind, sing!

Sing für die Freiheit, Kind
Hinter den Mauern sind
Menschen, die brauchen Dein Lied
Sing für Gerechtigkeit
Gegen Gleichgültigkeit
und gegen Haß, mein Kind

Für die, die schon die Ketten seh'n
und dennoch mutig weitergeh'n
Für eine kleine Hoffnung, Kind, sing!

Für die, die in Gefangenschaft
liegen in Nacht und Dunkelhaft
Die dennoch ungebeugt, mein Kind, sing!

Für die, die vielleicht niemals mehr
die rote Sonne über'm Meer
hinter Piräus seh'n, mein Kind, sing!

Für die, die einem Hoffnungsstrahl folgen,
die für das Ideal Freiheit
zugrundegeh'n, mein Kind, sing!

Bei YouTube hat jemand das mit den Worten kommentiert: Nie war ein Text aktueller als heute, da ist sicher etwas dran. Die Melodie ist von Gérard Jouannest, dem Mann, mit dem Juliette Gréco seit 1968 zusammenarbeitet. Er hatte zuvor Lieder für Jacques Brel geschrieben, wie zum Beispiel das berühmte Ne Me Quitte Pas. Aber Brel (der in meinem Ikea CD Regal auch gut vertreten ist) hatte aufgehört zu singen, seine einjährige Abschiedstournee ging 1967 zu Ende. Jouannest sollte 1968 Barbara auf einer Tournee begleiten, aber die Tournee fiel ins Wasser, da sprang er bei Juliette Gréco als Klavierbegleiter ein, weil deren Pianist ausgefallen war. Er blieb bei ihr, nicht nur als Klavierbegleiter, er schrieb ihr Chansons (Mon fils chanteVivreLes années d’autrefoisUn jour d’été und C’était un train de nuit) und heiratete sie.

Nach einem halben Tag Juliette aus dem CD Player konnte ich sie am Abend auch noch sehen. Denn arte hatte wegen des Todes von Michel Piccoli sein Programm geändert. Sendete zuerst Sautets Film Les choses de la vie und dann die Dokumentation Der erstaunliche Monsieur Piccoli. In dem Film gibt es eine kurze Sequenz vom INA mit einem Interview des frischgebackenen Ehepaars Gréco und Piccoli, die es geschafft hatten, der Presse zu entgehen.

In dem Film ist auch die Szene zu sehen, wo Piccoli in Belle de Jour die Deneuve mit schmutzigem schwarzen Schlamm bewirft, fand ich immer die beste Szene des Films. Ich mochte den Film nie. Truffaut dreht bessere Filme, die Deneuve ist in La Sirène du Mississipi lebendiger als in Belle de Jour. Truffaut, der mit der Deneuve (wie mit beinahe all seinen Hauptdarstellerinnen) eine Affäre hat, hat einmal angedeutet, dass die Deneuve nur durch ihre Schönheit wirkt, nicht durch ihre schauspielerischen Qualitäten. Aber mit dem Schlamm im Gesicht ist sie sehr überzeugend.

Doch lassen wir das beiseite, meine kulturelle Empfehlung an diesem Tag, der nebenbei gesagt auch der Geburtstag von Miles Davis ist, sind Der erstaunliche Monsieur Piccoli (noch vier Wochen im Netz) und die CD Abendlied von Juliette Gréco. Die übrigens mal so etwas wie eine Affäre mit Miles Davis hatte, als sie jung war. Der Trompeter hat darüber gesagt: Juliette und ich pflegten an der Seine spazieren zu gehen, Hand in Hand, küssten uns, schauten uns in die Augen, küssten uns wieder und drückten unsere Hände noch etwas fester. Es war wie Magie, als sei ich hypnotisiert worden, als sei ich in einer Art Trance. Ich hatte so etwas zuvor noch nie erlebt. Wenn Sie wollen, können Sie jetzt noch den Film Fahrstuhl zum Schafott mit der Musik von Miles Davis sehen. Und das Abendlied von Juliette Gréco habe ich natürlich auch.

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