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Sonntag, 20. September 2020

Anna Karenina: Übersetzungen


Ich hatte das Buch in einem Grabbelkasten gefunden, es kostete zwei Mark. Leinen, Halblederrücken, ein sauberes Exemplar. Ich nahm es mit und fing an zu lesen, aber es war eine mühselige Sache. Obwohl Nabokov gesagt hat, wer Tolstoi liest, liest einfach weiter, weil er nicht mehr aufhören kann. Aber ich konnte aufhören, dies war zwar Tolstoi, aber die Übersetzung gefiel mir ganz und gar nicht. Ich legte den Roman nach der Lektüre des ersten Teils beiseite. Der Roman würde mir nicht weglaufen. Ich hatte noch andere Dinge zu lesen. Es gab damals noch kein Internet, mit dem man mit ein wenig Recherche hätte herausfinden können, dass diese Ausgabe von Anna Karenina, für die ich zwei Mark bezahlt hatte, wahrscheinlich die schlechteste aller deutschen Übersetzungen ist.

Letztens, als ich gerade etwas über →Tolstoi geschrieben hatte, fiel mir die alte Leinenausgabe des Kurt Desch Verlags wieder ein. Ich fand sie auch gleich im Regal und begann, mit der Unterbrechung von einigen Jahrezehnten, den Roman zu lesen. Wieder ganz von vorne, beginnend mit dem berühmten Satz: Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich; jede unglückliche Familie jedoch ist auf ihre besondere Weise unglücklich. Wieder hatte ich bei der Lektüre Schwierigkeiten mit Sprache und Stil der Übersetzung; und ich hatte auch das Gefühl, das vieles keinen Sinn ergab, dass da irgendetwas fehlte. Ich las wieder das erste Buch, aber gleichzeitig las ich im Internet bei Zeno den Roman in der Übersetzung von Hermann Röhl, die für mich viel mehr Sinn machte als die Übersetzung des Desch Verlages.

Hermann Röhls Übersetzung von Anna Karenina erschien 1922 beim Insel Verlag in deren Reihe Bibliothek der Romane. Da dort beinahe gleichzeitig die halbe russische Literatur des 19. Jahrhunderts in seiner Übersetzung erschien, kann man wohl davon ausgehen, dass er Anna Karenina schon früher übersetzt hat, man nimmt das Jahr 1913 an. Die Übersetzung ist heute beim Fischer Taschenbuch Verlag lieferbar, und bei Suhrkamp gibt es heute noch beinahe den ganzen Dostojevski in Röhls Übersetzung. Und beim Insel Verlag gibt es immer noch Röhls Übersetzung von Krieg und Frieden.

Ich hatte nun das erste Buch von Anna Karenina doppelt gelesen. Ich gab die Lektüre in meiner Ausgabe vom Kurt Desch Verlag aus dem Jahre 1960 (die eine Lizenzausgabe des Eduard Kaiser Verlags war) erst einmal auf und suchte eine bessere Übersetzung. Durch einen Zufall fand ich ein nagelneues Exemplar der Übersetzung von Rosemarie Tietze zu dem unglaublichen Preis von fünf Euro bei ebay. Portofrei. Ich las das erste Buch von Anna Karenina jetzt zum drittenmal, und alles war ganz anders. Rosemarie Tietze ist ja als Übersetzerin immer wieder gelobt worden und hat, sicherlich zu recht, eine Vielzahl von Preisen und Auszeichnungen erhalten (ich habe hier ein interessantes Interview mit der Übersetzerin).

Bevor ich die mittlerweile ungeliebte Anna Karenina Übersetzung in die zweite oder dritte Reihe des Buchregals stellte, wollte ich doch wissen, von wem diese Übersetzung gewesen war. Und jetzt wird es ein wenig undurchsichtig. Im Buch findet sich das Wort Übersetzung nicht, stattdessen steht da Deutsche Bearbeitung: Leomare Seidler und Textrevision: Hertha Lorenz. Wer hat was gemacht? Die Wienerin Leomare Seidler war Journalistin und Kinderbuchautorin. Und die erste Ehefrau von Helmut Qualtinger. Hat sie Anna Karenina wirklich übersetzt oder nur irgendeine Übersetzung bearbeitet

Interessanter ist der zweite Name, Hertha Lorenz. Die 1916 geborene Schriftstellerin war Lektorin im Klagenfurter Eduard Kaiser Verlag, ein Verlag, der nichts von dem Renommee von Insel, Suhrkamp oder Hanser hat (Sie können hier die Verlagsgeschichte lesen). Hertha Lorenz hat für diesen Verlag viel übersetzt: Boccaccio, Charlotte Brontë, Bulwer-Lytton, Dickens, Dostojewskij, Dumas, Hugo, Maupassant, Ovid, Poe, Puschkin, Sienkiewicz, Stendhal, Tolstoj, Mark Twain u. a. Es bleibt fraglich, ob sie die Originaltexte gelesen hat. Wenn man ihren Namen bei booklooker eingibt, erhält man einen Eindruck von ihrem gewaltigen Oeuvre. In neueren Texten von Anna Karenina des Kaiser Verlags wird der Name Leomare Seidler weggelassen, da steht dann nur noch Aus dem Russischen übertragen und zeitgemäss bearbeitet von Hertha Lorenz.

Sie muss es zeitgemäß bearbeiten. Sie kann gar kein Russisch. Da kann man dann ja leicht Krieg und Frieden und Anna Karenina übersetzen. Wir sind jetzt in der Kategorie Ich war jung und brauchte das Geld. Als die erste Anna Karenina Ausgabe bei Eduard Kaiser 1948 herauskommt, ist Hertha Lorenz zweiunddreißig. Sie hat zwei kleine Kinder, ihr Mann ist nicht aus dem Krieg heimgekehrt. Sie trifft 1946 den Sudentendeutschen Eduard Kaiser: Im Kulturamt der Kärntner Landesregierung traf ich zum ersten Mal mit Eduard Kaiser zusammen, dem Johannes Lindner mich als junge Kärntner Autorin vorstellte, worauf Eduard Kaiser mich sofort fragte, was ich geschrieben und ob ich nicht Lust hätte, auch sonst im Verlag mitzuarbeiten. Sie nimmt das Angebot sofort an. Was sie nun macht, hat nichts mit der übersetzerischen Tätigkeit von Barbara Conrad oder Rosemarie Tietze zu tun.

Als wir 1976 in Schleswig die Moby-Dick Ausstellung organisierten, hatte Dr Joachim Kruse die Idee, alle deutschen Übersetzer von Melvilles Roman zu kontaktieren, damals habe ich Fritz Güttinger kennengelernt, der die wohl beste Moby-Dick Übersetzung vorgelegt hat. Vieles von dem, was die Übersetzer uns von ihren Erfahrungen berichteten, wanderte nicht in den Katalog. Da gab es nämlich mehrfach das Geständnis, dass sie so gut wie kein Englisch konnten und die maritimen Fachausdrücke überhaupt nicht verstanden, aber in der Nachkriegszeit das Geld brauchten. Und da wurde dann eine vorhandene Übersetzung genommen und bearbeitet. Und bearbeitet. Substantive, Verben und Syntax geändert. Und vieles weggelassen.

Im Weglassen ist Hertha Lorenz eine Meisterin. In einer wissenschaftlichen Arbeit wurde bemängelt, dass ihre Übersetzung von Charlotte Brontës Jane Eyre nur noch den Rumpf einer Handlung enthält. Kein Wunder, die Ausgabe des Eduard Kaiser Verlags hat nur 270 Seiten. Bei Diogenes hat der Roman 688 Seiten, bei Suhrkamp 646. Und das ist bei ihrer Anna Karenina Bearbeitung nicht anders, das erste Buch hat 85 Seiten, in der Übersetzung von Rosemarie Tietze ist es doppelt so lang. Auf Seite 447 ist bei Hertha Lorenz der Roman zuende. Bei Rosemarie Tietze kommt der Roman auf 1.227 Seiten. Und dann kommen noch Anmerkungen, die häufig sehr witzig sind, und ein Nachwort.

Die Übersetzung/Bearbeitung des Eduard Kaiser Verlags im Jahre 1948 ist Teil einer ganzen Welle von Neuübersetzungen von Tolstois Roman, die nach dem Ende des Krieges beginnt: Fega Frisch (1946), Bruno Goetz (1952), Fred Ottow (1955), Hermann Asemissen (1956), Franz Xaver Graf von Schaffgotsch (1959) und Gisela Drohla (1966). Zu der letzten Übersetzung muss etwas gesagt werden: in der Insel Taschenbuch Ausgabe ist allerdings kein Übersetzer angegeben, da steht nur herausgegeben von Gisela Drohla

Angeblich war es die alte Übersetzung von Hermann Röhl, die aber von der Lektorin des Insel Verlages und renommierten Übersetzerin Gisela Drohla (Bild) noch überarbeitet wurde. Bei ihr bedeutet das Überarbeiten aber etwas ganz anderes als bei Hertha Lorenz. In Wirklichkeit war es eine völlige Neuübersetzung, der Verlag hatte nur vergessen, Drohlas Namen in das Buch zu setzen. Die Lektorin Dr Anneliese Botond schrieb am 4. April 1966 an Gisela Drohla: Das Versäumnis trifft uns, gewiß, aber es wäre vermeidbar gewesen, wenn Sie sich hätten entschließen können, einen Blick auf die Umbruchbogen zu werfen. Jetzt ist das Unglück geschehen. Wir können uns nur noch hochdramatisch und nutzlos die Haare raufen. Dazu kann man nur sagen: Habent sua fata libelli.

Ich lese also jetzt Anna Karenina in der Übersetzung von Rosemarie Tietze (es gibt das Buch inzwischen auch bei dtv als Taschenbuch); und ich lese jetzt, wie Nabokov voraussagte, einfach weiter, weil ich nicht mehr aufhören kann. Ich bin mittlerweile schon in den Moskauer und Petersburger Salons, in der russischen Landwirtschaft und der Schnepfenjagd zuhause. Tolstoi hat fünf Jahre für seinen Roman gebraucht, Rosemarie Tietze zwei Jahre für die Übersetzung. Sie hat dabei Anna Karenina liebgewonnen (der letzte Satz ihres Nachworts ist Nein, nein, Anna lebt!), so wie sie Tolstoi beim Schreiben diese Anna Arkadjewna immer mehr liebgewann. Das war am Anfang nicht so: Anna ist mir abscheulich wie ein bitterer Rettich. Ich kümmere mich um sie, wie um eine angenommene Tochter, welche, wie sich erwiesen hat, von schlechtem Charakter ist. Aber sagen sie bitte nichts Schlechtes über sie und wenn, dann bitte mit Nachsicht, denn ich habe sie trotz allem nun einmal adoptiert, schreibt er an eine Freundin. 

Nicht jedem gefällt Tietzes detailreiche Übersetzung. Ich habe gelesen, dass ein Kritiker namens Dieter Wirth an ihrer Übersetzung viel auszusetzen hat, aber das wird es bei jeder Neuübersetzung geben. Übersetzungen sind Interpretationen, das ist wie in der Musik. Die Noten sind dieselben, aber Glenn Gould und Lang Lang (über den ich demnächst mal schreiben werde), spielen die Goldberg Variationen völlig anders. 

Dies ist das Cover der Paperbackausgabe des Aufbau Verlags, bei dem es ja einmal eine zwanzigbändige Tolstoi Ausgabe gab. Die Übersetzung ist die von Hermann Asemissen, von der gibt es im Internet eine Leseprobe. Ich habe alles gelesen, was es da zu lesen gab, und ich muss sagen, es liest sich sehr flüssig. Das ist mein Eindruck, andere Leser können einen anderen Eindruck haben. Denn wenn wir auch denselben Text lesen, können wir ganz andere Impressionen haben als andere Leser. Proust hat das sehr schön gesagt: Jeder Leser liest einen Text anders. In Wirklichkeit ist jeder Leser, wenn er liest, ein Leser nur seiner selbst. Das Werk des Schriftstellers ist dabei lediglich eine Art von optischem Instrument, das der Autor dem Leser reicht, damit er erkennen möge, was er in sich selbst vielleicht sonst nicht hätte erschauen können. Dass der Leser das, was das Buch aussagt, in sich selber erkennt, ist der Beweis für die Wahrheit eben dieses Buches und umgekehrt.

Ich könnte mir natürlich die neue englische Übersetzung von Rosamund Bartlett (Oxford University Press) bestellen. Oder die von Marian Schwarz (Yale UP). Witzigerweise sind beide Übersetzungen im selben Jahr erschienen. Englische Übersetzungen von Tolstois Roman gab es seit 1886 schon genug. Zählt man die beiden neuesten aus dem Jahr 2014 mit, dann kommt man auf 18 Übersetzungen, das sind beinahe soviel wie hier in Deutschland. Die Übersetzerinnen Rosemarie Tietze, Rosamund Bartlett und Marian Schwarz hatten gegenüber allen Vorgängern und Vorgängerinnen einen Vorteil: sie konnten die historisch-kritische Moskauer Akademie Ausgabe von 1970 benutzen.

Aber ich glaube, ich lasse das mal mit den englischen Übersetzungen. Weil ich mir gerade vorhin bei booklooker für 4,95€ die Übersetzung von Hermann Asemissen (Rütten und Loening, 2 Leinenbände) gekauft habe. Ich berichte irgendwann darüber. Oder schreibe mal über Anna und Wronski, Kitty und Ljewin. On verra.

Noch mehr zu Übersetzungen in den Links bei dem Post Übersetzer

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