Samstag, 18. September 2010

Fritz Güttinger


Da am heutigen Tag der höchst gelehrte Dr. Samuel Johnson gestorben ist, muss ich doch einmal an den Schweizer Fritz Güttinger erinnern. Denn der hat nämlich Boswells berühmte Biographie von Dr. Johnson aus dem Englischen übersetzt und mit einem Vorwort versehen, das nach einem halben Jahrhundert immer noch die beste Einführung in das Thema ist. Friedrich Sieburg schrieb seinerzeit über Güttingers Einleitung: Fritz Güttinger hat das Werk mit einem Essay eingeleitet, der zu den besten kritischen Leistungen der Gegenwart gehört. Mit unvergleichlicher Sicherheit wird dem ‘schwer gelehrten Bären Dr. Johnson‘ sein Standort im Zentrum der polite literature zugewiesen.

Fritz Güttinger ist für mich die Autorität in allen Fragen der Übersetzung, auch wenn er nicht das vielzitierte Buch Zielsprache: Theorie und Technik des Übersetzens geschrieben hätte. Aber vor jemandem, der Herman Melvilles Moby-Dick übersetzt hat, kann man nur ehrfürchtig den Hut ziehen. Der Schleswiger Museumsdirektor Joachim Kruse hatte 1976 bei der Vorbereitung der Ausstellung Illustrationen zu Melvilles Moby-Dick die famose Idee, alle deutschen Übersetzer von Melvilles Werk anzuschreiben.

Illustrationen zu Melvilles Moby- Dick
Dass ich nicht auf diese Idee gekommen war! Wo ich doch damals sein literaturwissenschaftlicher Berater war. Ich hatte manchmal in der Zeit unserer Zusammenarbeit auch gute Ideen. Als ich mit einem Cartoon aus dem Playboy ankomme (auf dem eine übergewichtige nackte Prostituierte zu einem Seemann sagt And stop calling me Moby Dick!), druckt ihn Kruse ohne zu zögern ab. Ein amerikanischer Professor wird mir später gestehen, dass ihn dieser Cartoon zu seiner eigenen Forschungsarbeit über Moby-Dick in Popular Culture angeregt hat. Noch vor wenigen Jahren schrieb mir Joachim Kruse, dass er in diese Ausstellungsarbeit geradezu blind, wie in einen Nebel, hineingetappt sei. Ohne mich hätte er nicht gewusst, was er täte. Das ist sehr nett von ihm. Aber es stimmt nicht ganz, ein Museumsprofi wie Kruse (der später noch Direktor in Coburg wurde) weiß, was er tut. Wir denken aber beide noch Jahrzehnte danach an die Sisyphusarbeit des Jahres 1976, als alle deutschen Bundesländer zur Zweihundertjahrfeier der Declaration of Independence eine Kunstausstellung machten.

Aber das mit den Übersetzern, das war schon ein Geistesblitz. So lernte ich damals Fritz Güttinger kennen, mit dem ich dann für die nächsten fünfzehn Jahre eine wunderbare Brieffreundschaft hatte. Die anderen Übersetzer interessierten mich nicht sonderlich, schließlich habe ich Moby-Dick mit siebzehn zuerst in Güttingers Übersetzung in dem kleinen grünen Manesse-Band gelesen. Und auch wenn ich danach den Moby-Dick selbstverständlich im Original gelesen habe (während der Ausstellungsarbeit ein halbes Dutzend mal), habe ich meine kleine grüne Manesse Ausgabe immer behalten. Die Selbstzeugnisse und Erinnerungen der ersten Übersetzer bieten ein disparates Bild. Manche gestehen, dass sie nach dem Krieg dringend das Geld gebraucht haben, aber so gut wie kein Englisch gekonnt hätten. Dass sie eine ältere Übersetzung genommen und diese überarbeitet hätten. Andere geben zu, dass sie keinerlei Ahnung von den nautischen Ausdrücken gehabt hätten, an denen das Werk überreich ist, und diese frei übersetzt hätten. Das merkt man, nichts, aber auch gar nichts, stimmt hier.

Das kann Güttinger nicht passieren. Obgleich er nicht aus Bremen sondern aus Zürich kommt und nicht wie ich beinahe in dem Heimatmuseum eines Walfangortes aufgewachsen ist. Aber eine galley ist bei ihm eine Kombüse, keine Galerie wie bei seinen Übersetzerkollegen. Alles aus der christlichen Seefahrt hat bei Güttinger seinen richtigen Namen, alle Nuancen von Melvilles Wortspielen werden erfasst. Es gibt inzwischen neuere Übersetzungen. Es gibt auch eine im Feuilleton leidenschaftlich geführte Kontroverse, ob die von Friedhelm Rathjen (bei Zweitausendeins) oder die von Matthias Jendis (bei Hanser) zu bevorzugen sei. Die Rathjen-Übersetzung wird von Zweitausendeins agressiv vermarktet, man kann sie eigentlich nur wegen der schönen Holzschnitte von Rockwell Kent kaufen. Dieter E. Zimmer, der langjährige Feuilletonchef der Zeit, der sich ja viel mit Literaturübersetzungen beschäftigt hat, hat von einer Verholperung und Verhässlichung des Textes gesprochen. Rathjen hatte ursprünglich einen Vertrag mit Hanser, der Verlag hat im seine Übersetzung zurückgegeben. Daniel Göske, der über Melville-Übersetzungen promoviert hat und seit Jahren an seiner Universität ein Projekt zu Übersetzungen leitet, hatte dem Verlag eine radikale Überarbeitung des Rathjenschen Textes durch Matthias Jendis empfohlen, was dann auch geschah. 

Von Güttingers Übersetzung aus dem Jahre 1944 redet heute leider niemand mehr. Dabei hat sie einen vielen größeren Charme mit einer leicht altertümlichen Sprache, die genau den Ton von Herman Melville trifft. Und man merkt, dass hier ein Übersetzer am Werk ist, der die gleiche immense literarische Bildung besitzt wie der Autor. Neuere Übersetzer sind versiert im Benutzen von neueren Wörterbüchern, aber die literarische Qualität, den Ton und den Stil eines Autors treffen sie selten. Dazu fehlt ihnen eine ganze Dimension. Vor allem dem selbstgefälligen Friedhelm Rathjen, der sich ja auf einer Stufe mit James Joyce und Arno Schmidt wähnt. Der Artikel bei Wikipedia widmet Rathjen großen Raum. Von Güttingers Übersetzung ist in diesen Kreisen nicht mehr die Rede. Einen Wikipedia Artikel hat Güttinger erst vor kurzem bekommen (Friedhelm Rathjen hatte den da lange schon), aber der Artikel macht den Umfang der übersetzerischen Tätigkeit Güttingers nicht annähernd deutlich.

Nun würde ja die Übersetzung von dem unübersetzbaren Moby-Dick schon für ein Lebenswerk ausreichen, aber nicht für Fritz Güttinger. Da ist er dem Bremer Otto Gildemeister ähnlich. Der Gottfried Keller Preisträger von 1981, der 1939 über die romantische Komödie promoviert hat, übersetzt die halbe englische und amerikanische Literatur: Fielding, Sterne, den ganzen Boswell, Poe, Thoreaus Walden, Mark Twain, Samuel Butler, Max Beerbohm, Frank Norris, Nathanael West, Aldous Huxley. Übersetzt Joseph Conrads Heart of Darkness und Ray Bradburys Fahrenheit 451, Roald Dahl und Alan Sillitoe. Aber auch weniger bekannte wie George Borrow, Kenneth Ainsley, David Garnett und Vardis Fisher. Viele Leser, die in der Nachkriegszeit zum ersten Mal mit der englischen und amerikanischen Literatur in Berührung kamen, werden diese durch ihn kennengelernt haben.

Er hat Thornton Wilder in Zürich zu Gast, und beim gemeinsamen Spaziergang um den Zürichsee kommt Wilder die Idee für Our Town. Güttinger wird das Stück übersetzen, wenn es fertig geschrieben ist. Den Tristram Shandy hat er nicht neu übersetzt, aber er hat die alte Bodesche Übersetzung behutsam verbessert und wo nötig korrigiert. Er schreibt auch lesenswerte Vor- und Nachworte für viele Textausgaben Schweizer Verlage. Und schreibt für die Neue Zürcher Zeitung. Der Manesse Verlag wird 1966 eine Sammlung seiner Essays unter dem Titel Ein Stall voll Steckenpferde: Über amerikanische und englische Literatur nicht ganz ohne Film veröffentlichen. Wenn man brillante Essays lesen will (außer denen von Otto Gildemeister), dann sollte man Güttinger lesen. 

Der Untertitel des Bandes nicht ganz ohne Film, weist auf etwas hin, was mir Güttinger immer etwas unheimlich gemacht hat. Er hat nicht nur die halbe englische und amerikanische Literatur ins Deutsche übersetzt, er ist so ganz nebenbei auch noch einer der bedeutendsten Filmwissenschaftler der Schweiz. Als wir uns in den achtziger Jahren an meiner Universität bemühen, film studies in das Fach Englisch zu integrieren, da konnte Güttinger darauf hinweisen, dass er schon in den fünfziger Jahre erreicht hatte, dass man im Deutschunterricht bei der Matura in einigen Kantonen der Schweiz das Thema Film anstelle des Themas Literatur wählen kann. Er wird unsere Bemühungen mit Interesse betrachten. Während wir an der Uni mit bürokratischen Hindernissen kämpfen, organisiert er Ausstellungen für das Frankfurter Filmmuseum. Dafür braucht er keine Universität (obgleich er immer wieder an Universitäten gelehrt hat), er hat eine der größten Privatsammlungen von Stummfilmen in der Schweiz. Ich wundere mich immer wieder, dass er Zeit findet, meine Briefe zu beantworten.

Er hat niemals einen Computer gehabt, keinen word processor. Der englische Schriftsteller Len Deighton wird eins der ersten Modelle haben, kostet damals soviel wie ein Mercedes. Er berichtet damals voller Stolz in einem Interview im Observer, was er mit dieser Maschine alles machen kann. Dass er mit einem Knopfdruck feststellen kann, ob eine Romanfigur auf Seite 500 noch die gleiche Augenfarbe hat wie auf Seite 87 (das kann heute jeder, aber vor Jahrzehnten war's noch eine Sensation). Thackeray hätte das für Vanity Fair gut brauchen können, da geht es mit Haar- und Augenfarben doch etwas durcheinander. Aber bei aller Begeisterung für den elektronischen Schnickschnack sollte man bedenken, dass der größte Teil der Weltliteratur vor der Erfindung des PC geschrieben ist. Güttinger schreibt immer auf seiner Maschine mit der leicht kursiven Schreibschrift. Er hat die Maschine geliebt, wird mir seine Frau nach seinem Tod sagen. Sie schickt mir sein neuestes Buch, weil sie einen Zettel mit meiner Adresse auf seinem Schreibtisch gefunden hat, auf dem steht, dass er mir unbedingt das Buch schicken muss.

Ich bedauere es sehr, dass es den Band Ein Stall voll Steckenpferde nicht mehr gibt (noch ein Exemplar beim ZVAB). Ich hätte auch immer gerne so geschrieben wie er, und vielleicht kopiere ich ihn sogar ein wenig. Aber Dr. Samuel Johnsons Leben und Meinungen von James Boswell in Güttingers Übersetzung, die gibt es glücklicherweise noch. Es gibt das Buch natürlich auch auf englisch, bei der Seitenzahl sollte man aber keine Paperpack Ausgabe nehmen. Ich habe eine schöne Ausgabe der Oxford University Press, die durch ein Verwendung eines sehr dünnes Papiers von aussen nicht so leicht erkennen lässt, dass es sich doch um anderthalbtausend Seiten handelt (das ist ziemlich genau die Hälfte der Länge von Johnsons Dictionary). Natürlich leider ohne Güttingers Vorwort.

Der schwer gelehrte Bär, wie Lichtenberg Johnson einmal genannt hat, hat uns neben seinem von Boswell aufgezeichneten Leben noch eins der ersten ernstzunehmenden englischen Wörterbücher hinterlassen. Nun wird sich eine Privatperson kaum Dr. Johnsons Dictionary aus dem Jahre 1755 kaufen, aber es gibt hervorragende Auszüge daraus. Auch Becky Sharp, die in Thackerays Vanity Fair Dr. Johnsons Dictionary aus dem Fenster der Kutsche wirft, muss eine gekürzte Ausgabe verwendet haben. Die Originalausgabe wirft vielleicht der Dr. Klitschko mal eben so aus dem Kutschenfenster, aber nicht Becky. Ich habe eine von dem berühmten Linguisten David Crystal edierte Penguin Ausgabe, die auf 650 Seiten vierhundert ausgesuchte Beispiele aus dem Dictionary zitiert. Downhil ist auch drin, Dr. Johnson schrieb es mit einem L, weil es eben mit einem L schneller bergab geht. Im 19. Jahrhundert ist diese kleine Exzentrizität von irgendwelchen Bearbeitern leider schon gelöscht. Man kann in diesem Wörterbuch lesen wie in einem Roman. Wird feststellen, dass es 1755 higgledy-piggeldy schon gibt, und auch ein high flier dem guten Doktor schon bekannt ist. Das berühmte Vorwort ist auch drin enthalten. Als ich in Hamburg mein Studium begann, gehörte das noch zur Pflichtlektüre, heute wissen Anglistikstudenten nicht mehr, wer Dr. Johnson ist.

Über die Entstehung des Dictionary gibt es nur eine einzige wissenschaftlich haltbare Version. Und die findet sich auf der DVD Blackadder the Third in der Folge Ink and Incapability. Lassen Sie sich von niemandem ein X für ein U vormachen und glauben Sie nur das, was Rowan Atkinson, Hugh Laurie und Tony Robinson (zusammen mit einem glänzend aufgelegten Robbie Coltrane als Dr. Johnson) Ihnen hier vorspielen.


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