Dienstag, 8. Oktober 2013

Helmut Qualtinger


Vor 85 Jahren wurde Helmut Qualtinger in Wien geboren. Seinen letzten großen Auftritt im Film hatte er in Der Name der Rose. Da ging es ihm schon nicht mehr gut, der lebenslange Suff machte sich bemerkbar. Wenn man einer wie Qualtinger ist, kann man das Leben wahrscheinlich nur so ertragen. Ich weiß nicht weshalb, aber irgendwie erinnert mich der Wiener Helmut Qualtinger immer an den Wiener H.C. Artmann. Die beiden haben sich natürlich gekannt. Und Qualtinger hat Artmanns François Villon Übertragungen auf ➱Platte gesprochen.

Den Schriftsteller H.C. Artmann sieht man allerdings weniger in Filmen. Obgleich er angeblich in Carol Reeds The Third Man als Statist mitgespielt hat. Ich habe mal ein Interview mit ihm gehört, wo er das sagte, aber ich habe die Szene nie gesehen. Vielleicht hat man sie herausgeschnitten. Obgleich es sie geben muss, so sagt Klaus Reichert in seiner Laudatio auf H.C. Artmann: Man sieht ihn in einem Publikum, das ausgerechnet von Joseph Cotton einen Vortrag über englische Literatur erwartet. Der stammelt und stottert, hat Wichtigeres zu denken - Sie erinnern sich, er ist auf der Suche nach seinem auf rätselhafte Weise im Kriminellenmilieu verschwundenen Freund -, aber Artmann reißt die Geduld und er brüllt ihn mit flammenden Augen an: 'Was halten Sie von James Joyce?' Das ist an dieser Stelle sicher die falsche Frage, denn Joseph Cotten spielt in dem Film einen Schriftsteller, der pulp fiction schreibt und bestimmt nicht Joyce liest. In der Pressekonferenz sagt er auf die Frage, welcher Schriftsteller ihn beeinflusst habe: Zane Grey. Die Sache mit James Joyce steht im ➱film script von ➱Graham Greene aber drin.

Ein wunderbarer kleiner Monolog im Film stammt aber nicht von Graham Greene, sondern von Orson Welles. Den hat er sich auf den Leib geschrieben, wenn er in seiner Rolle als Harry Lime sagt: ...in Italy, for thirty years under the Borgias, they had warfare, terror, murder, bloodshed, but they produced Michaelangelo - Leonardo Da Vinci, and the Renaissance...In Switzerland, they had brotherly love. They had five hundred years of democracy and peace, and what did that produce?...The cuckoo clock. So long, Holly. Das hätte auch von Qualtinger sein können.

H.C. Artmann hat den Wiener Prater bedichtet, Helmut Qualtinger hat über den Wiener Prater geschrieben, Graham Greene hat mit Carol Reed den Wiener Prater für den Film unsterblich gemacht. Die ➱Musik von Anton Karas, die uns so wienerisch vorkommt (was wäre der Film ohne sie?), hasste er übrigens. Und er hatte für den Film auch einen anderen Schluss. Nicht diese traurige Szene, die alle Cineasten begeistert, wenn Alida Valli an Joseph Cotten vorbeigeht und einsam die Allee hinunter geht: Anna in the middle of the road, coming downstage toward camera. She passes Martins without a glance, and continues on, looking straight ahead of her and out of picture - Martins takes out a cigarette and lights it. Fade out the end. Graham Greene hatte da seine Bedenken: I was afraid few people would wait in their seats during the girl's long walk from the graveside towards Holly, and the others would leave the cinema under the impression that the ending was still going to be as conventional as my suggested ending of boy joining girl.

In der Novelle von Graham Greene sieht der Schluss so aus: I watched him striding off on his overgrown legs after the girl. He caught her up and they walked side by side. I don't think he said a word to her: it was like the end of a story except that before they turned out of my sight her hand was through his arm — which is how a story usually begins. He was a very bad shot and a very bad judge of character, but he had a way with Westerns (a trick of tension) and with girls (I wouldn't know what). Die gleichnamige ➱Novelle von Graham Greene The Third Man war eigentlich eine Art Rohfassung für das ➱Drehbuch: 'The Third Man' was never written to be read but only to be seen und For me it is impossible to write a film play without first writing a story. Und als kleine Verbeugung an Carol Reed hat er gesagt: The film in fact is better than the story because it is in this case the finished state of the story.

Obgleich Helmut Qualtinger auch ein Schriftsteller gewesen ist, kennen wir ihn doch mehr als Schauspieler. Ich sehe ihn immer noch vor mir. In Filmen wie Radetzkymarsch, Der Richter und sein Henker und Das falsche Gewicht. Und natürlich als Herr Karl. In die k.u.k Welt von Joseph Roth passte er wunderbar hinein. Ich habe ihn einmal in der Wirklichkeit gesehen, das habe ich in diesem Blog schon einmal geschildert, als ich über ➱Erwin Chargaff schrieb:

Zu Karl Kraus fällt mir gerade beim Schreiben ein, dass ich einmal (es war 1964 in Hannover) eine Karte für ➱'Die letzten Tage der Menschheit' gekauft hatte. Wegen dem Qualtinger. Der Beethovensaal, in den beinahe achthundert Leute gehen, war so gut wie leer. Dreizehn Leute habe ich gezählt, die sich quer über den leeren Saal verteilten. Und dann kam Helmut Qualtinger. Blickte einmal durch den Saal. Wenn ich Qualtinger gewesen wäre, wäre ich jetzt wieder gegangen. Aber der Qualtinger lässt sich die Enttäuschung über die geringe Zuschauerzahl mit keiner Miene anmerken, er bittet die Zuschauer im schönsten Wienerisch, dass wir uns doch um ihn herum in die erste Reihe setzen möchten, san’s kommod. Setzt sich dann auf die Bühnenkante, zum Greifen nahe und rezitiert das ganze Stück von Karl Kraus, ganz privat und ohne den Text zu konsultieren. Das war cool. Ich werde das nie vergessen. Immer wenn ich den Namen Karl Kraus höre, muss ich an diesen Abend im Bethovensaal denken.

Und zur Feier des Tages hören wir jetzt mal in dieses YouTube ➱Video hinein. Qualtinger spricht François Villons ➱Ballade de la grosse Margot. Etwas genauer: Artmanns Übersetzung, also die balade fia de blade magoo. Für alle, die mit einem Text wie glaubt s, i bin da lezte dreg, wäul e auf mei glane schdee? glaubt s, i bin a r oasch med uan, wäul e ia r en schane moch? ans kaun i eich mich song: dee hod s insich - hawedere .. do brauxt kane zwika z drong! Probleme haben, hätte ich ➱hier das Ganze in schriftlicher Form. Wir alle kennen einen Teil davon von Bertolt Brecht. Der den Schlussvers der Strophen (en ce bordeau oü tenons nostre estat) so gefällig mit So hielten wir’s ein volles halbes Jahr  In dem Bordell, wo unser Haushalt war übersetzt hat. Heißt bei Artmann in den buff wo mia zwaa hausn. Klingt ruppiger, aber echter.

Ein Helmut Qualtinger Portrait mit bewegten ➱Bildern habe ich auch anzubieten. Und jetzt bestelle ich mir eine DVD von The Third Man und gucke so lange, bis ich H.C. Artmann gefunden habe.

1 Kommentar:

  1. In meiner (englischen) Fassung mit der Länge von 1:45:13 gibt es zwei Zwischenfrager bei 52:55 und 52:21. Der erste bezieht sich auf den "stream of consciousness", der zweite auf "Mr. James Joyce, where would you put him". Keiner der beiden Männer ist mit H.C. Artmann identisch (dazu kenne ich den zu gut).

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