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Montag, 4. September 2023

Literaturstadt Bremen


Seit dem Jahr 2004 verleiht die UNESCO den Titel einer City of Literature. Die einzige deutsche Stadt, die diesen Titel bisher erhalten hat, ist Heidelberg. Nun hat sich der Bremer Senat auch beworben, dazu können Sie mehr auf dieser Seite lesen. Das ist mutig für eine Stadt, in der 31% der Viertklässler nicht den Mindeststandard im Lesen erreichen. Die Zeiten, da die Bremer einen Schriftsteller und Übersetzer wie Otto Gildemeister als Bürgermeister hatten, sind lange vorbei. Der dichtete einmal auf seine Heimatstadt:

Wenn Bremen man beschreit,
So ist das nichts als Neid;
Die Stadt ist arm an nichts als Mängeln;
Die Frauen gleichen alle Engeln;
Die Männer drin sind ganze Kerle;
Kurzum, die Stadt ist eine Perle;
Die Gegend glatt und drum bequem,
Das Klima feucht und angenehm,
Die Küche einfach und geschmackvoll,
Die Luft von edelstem Tabak voll;
Denn jede Sorte, die nichts taugt,
Wird nur für den Export gebraucht;
Mit einem: Süd, Nord, Ost, West,
In Bremen ist es allerbest!

Vielleicht hätte man diesen Text bei der Bewerbung mit zur UNESCO schicken sollen. Im Juni hatte man eine Social Media Kampagne begonnen und die Stadt mit Plakaten vollgepflastert. Mein Freund Peter wetterte als Denkmalschützer immer gegen diese überhandnehmenden Plakataktionen. Die Bremer Stadtmusikanten wurden jetzt auch schon als Werbeträger bemüht. Im Internet findet man Seiten vom Bremer Literaturhaus und vom Bremer Literaturkontor. Das sitzt in der Villa Ichon neben dem Theater am Goetheplatz. Vor fünfzig Jahren wollte man die Villa abreißen, aber dann wurde sie von Klaus Hübotter gerettet, der dafür 1984 den Deutschen Preis für Denkmalpflege erhielt. Zuerst war das ein klassizistisches Gebäude gewesen, aber dann wurde es 1871 von Johann Georg Poppe im Stil der Neorenaissance umgebaut. Poppe hat auch die Bremer Baumwollbörse gebaut, und zusammen mit seinem Kollegen Heinrich Müller ist er für viele repräsentative Hässlichkeiten des fin de siècle in Bremen verantwortlich. Die Villa Ichon enthält Wandgemälde des Bremer Malers Arthur Fitger. Der Mann, der die Worpsweder hasste und furchtbar scheußliche Bilder gemalt hat, hat hier schon einen Post.

Mein Heimatort Vegesack gehört seit 1939 offiziell zu Bremen. Der Ort war schon früh in der deutschen Literatur, Karl Philipp Moritz hat ihn in seinen psychologischen Roman Anton Reiser hineingeschrieben. Da erlebt sein Held 1786 den Anblick des Vegesacker Hafens mit den Schiffen als unbeschreiblich ergötzlich: Den Nachmittag erreichte er Vegesack und betrachtete hier mit hungrigem Magen, was er noch nie gesehen hatte, eine Anzahl dreimastiger Schiffe, die in dem kleinen Hafen lagen. – Dieser Anblick ergötzte ihn ohngeachtet des mißlichen Zustandes, worin er sich befand, unbeschreiblich – und weil er an diesem Zustande durch seine Unbesonnenheit selber schuld war, so wollte er es sich gleichsam gegen sich selber nicht einmal merken lassen, daß er nun damit unzufrieden sei.

Auch ein Nachbarort wie Lesum ist schon in der Literatur. In dem Theaterstück Besucher von Botho Strauß sagt die Hauptfigur Karl JosephIn Bremen vierundsechzig oder fünfundsechzig — ich gastierte im Danton— da hatten wir einen jungen Kollegen, der ist eines Abends, also es war schon Viertel eins. Dantons Tod, eine Viecherei, kein Bus fuhr mehr, da ist er plötzlich zur Rampe gelaufen, mitten im Text, und fragt ins Publikum hinunter, ob ihn jemand nach der Vorstellung mit nach Lesum nehmen kann. Dort hat er nämlich gewohnt. Der Ort Lesum ist schön länger in der Literatur, weil es diesen schönen Roman Sommer in Lesmona von Marga Berck gibt. 

Als ich an der Uni aufhörte und mit dem Computer, den mir mein Seminar geschenkt hatte, so etwas wie eine Autobiographie mit dem Titel Bremensien schrieb, hatte ich die ganze Bremer Literatur direkt vor mir. Denn ich blickte auf ein Bücherregal, in dem etliche Regalmeter von Büchern  (es sind drei Meter vierzig) über Bremen standen. Manches habe ich von meinem Freund Peter geschenkt bekommen, der eine besondere Bindung an seine Heimatstadt hatte, weil er dort Denkmalpfleger war. Vieles hatte ich in Eschis Antiquariat gefunden. Mit vielem ließ ich mich von Händlern wie Udo Seinsoth beliefern, aber dessen Bremer Antiquariat gibt es heute auch nicht mehr. Auch die Buchhandlung Geist am Wall, die 1829 von Arthur Geist gegründet wurde, ist verschwunden. Immerhin existiert in meinem Heimatort noch die Buchhandlung Otto & Sohn, Conrad Claus Otto leider nicht mehr. Bei dem konnte man Karten für die Vorträge der Wittheit to Bremen bekommen, diese Gesellschaft gibt es glücklicherweise immer noch. Die Zahl der Buchhandlungen ist übrigens ein Kriterium für die Vergabe des Titels City of Literature. 

Als ich anfing, das Internet vollzuschreiben, kam immer wieder Bremen in diesen Blog. Schon im ersten Monat musste ich in dem Post Ästhetik unbedingt eine kleine Anekdote erzählen, die viel über das Wesen der Bremer sagt: 

In Der Tragödie zweiter Teil fragt Mephistoteles: Sind Briten hier? Sie reisen doch so viel. Goethes Teufel weiß, wovon er spricht. Thomas Cook wird ein Reisebüro aufmachen, um die Engländer sicher in die Bergwelt zu bringen. Der Schöpfer von Sherlock Holmes und Dr Watson wird sich von seinem Schneider extra dicke Tweedhosen machen lassen, damit er auf dem Hosenboden die schneebedeckten Berghänge herunterrutschen kann. Aus der Zeit von Sir Arthur Conan Doyle datiert auch eine kleine Geschichte, die man sich in Bremen erzählt. Wo man sich ja englischer als die Engländer gibt. Das tun die Hamburger ja auch, aber die sind für die Bremer ja nicht wirklich zurückhaltend englisch, eher schon neapolitanisch leichtlebig. Also, eine Bremer Senatorenfamilie fährt mit der Eisenbahn in die Alpen. Und angesichts des Panoramas der schneebedeckten Berge und des ewigen Eises springt der Sohn auf und ruft: Guck mal, Vadder. Was scheun. Die Alpens. Und der Vater sagt: Junge, exaltier Dir nicht so. Worauf die Mutter, das Verhalten des Juniors erklärend, einwirft: Das musst Du verstehen, er studiert ja nun schon ein Semester in Hamburg.

Kurze Zeit später schrieb ich den Post Arno Schmidts Wohnwagen, eine Geschichte, die auch viel mit Bremen zu tun hat. Und so ging das weiter. Raymond Chandler hatte das Wort cannibalizing dafür gebraucht, dass er aus älteren Geschichten neue Geschichten oder Romane machte. Und dieses cannibalizing wurde jetzt auch zu meiner Methode, ich bediente mich reichhaltig an dem, was ich in meiner erst einmal zur Seite gelegten Autobiographie Bremensien geschrieben hatte. Und fütterte das von Zeit zu Zeit in meinen Blog.

Die Literatur aus der Hansestadt wurde dabei nicht vergessen. Es gab einen Post, der Geistiges Bremen heißt. Und viele Posts zu Bremer Schriftstellern: Hermann Allmers und Otto Gildemeister aus dem 19. Jahrhundert, aber auch zu dem Schweden Carl Jonas Love Almqvist, der mal in Bremen gelebt hat. Sein Roman Die Woche mit Sara aus dem Jahre 1839 ist immer noch aufregend neu. Mein Freund Peter hat mir Josef Kasteins Melchior: Ein hanseatischer Kaufmannsroman geschenkt, von meiner Freundin Heidi bekam ich Rudolf Lorenzens Alles andere als ein Held. Konrad Weichberger entdeckte ich selbst. Karl Lerbs kannte ich, seit ich klein war. Manfred Hausmann stand bei uns zuhause im Bücherschrank, da stand aber auch Friedo Lampe. Das ist ein Autor, der viel wichtiger als Hausmann ist. Die neue Friedo Lampe Biographie von Johann-Günther König habe ich im letzten Jahr hier vorgestellt.

1875 brachte Julius Graefe die Anthologie Bremer Dichter des neunzehnten Jahrhunderts heraus, die mit Gedichten von Hermann Allmers begann (Gedichte von Julius Graefe sind da auch drin). Hundert Jahre später erschien Bremer Autoren: Texte und Biographien von Detlef Michelers und Helmut Hornig, das ich für zwei Mark im Antiquariat fand. Von den achtundzwanzig Autoren kenne ich nur Heinrich Hannover. Der ist in dem Band, weil er Kinderbücher und plattdeutsche Geschichten schreibt. Alle andere kenne ich nicht. Muß ich die kennen? Die Hefte der Zeitschrift Stint habe ich immer gekauft, wenn ich ein Heft sah. Natürlich kannte ich das Werk von Gerd-Peter Eignerder dort auch erwähnt wurde. Dessen nachgelassenen autobiographischen Roman Der blaue Koffer habe ich hier letztens erwähnt. Zu meinem großen Erstaunen war das ein Post, der sehr, sehr viele Leser hatte. Zur Bremer Literatur und Kultur sollte man auch die Briefe der Arbeiterfamilie Pöhland im Ersten Weltkrieg zählen. Die kann ich hier von dem Bremer Schauspieler Rolf Becker vorgelesen präsentieren.

Ich bin nilly-willy über die Jahre zu einer Art Chronisten der Kultur meiner Heimatstadt geworden. Die Kunst habe ich dabei auch nicht vergessen, ob das die Kunsthalle Bremen oder die vielen Posts zu Worpswede waren. Das alles ist nicht unbeobachtet geblieben. Denn der Schriftsteller und Publizist Johann-Günther König, der im Frühjahr seine Literaturgeschichte Bremens Diese Stadt ist echt, und echt ist selten herausbrachte, hatte darin auch Platz für einen Blogger namens Jay, der diesen Blog SILVAE schreibt. Die UNESCO muss Bremen unbedingt zur Literaturstadt machen, dann wird Königs Buch ein Bestseller. 

Ich könnte dann vielleicht auch meinen kleinen Roman que reste-t-il de nos amours, den ich für diese Frau hier geschrieben habe, als Buch herausbringen. Und auf den Buchumschlag schreiben lassen: von einem Autor aus der Literaturstadt Bremen. Ich könnte natürlich die Geschichten mit der schönen Buchhändlerin als Buch herausbringen, müsste allerdings noch ein paar Geschichten dazu schreiben. Das wäre auch nicht schlecht. Am 31. Oktober fällt die Entscheidung, ob Bremen nach Heidelberg die zweite deutsche Stadt wird, die diesen Titel bekommt. Das könnte der Stadt nur gut tun. Denn in der Hansestadt sieht es eher so aus, wie Michael Augustin das in seinem Gedicht Bremen beschreibt: 

Reich die Stadt? Die Stadt der Reichen?
Wo Massen zum Sozialamt schleichen?
Ringel, Dank für deine Zeilen
Doch die Stadt hängt in den Seilen
Heutzutag ist unser Bremen
Ziemlich reich nur an Problemen
Echt ist die Stadt, die Stadt ist echt!
Doch den Leuten geht es schlecht
Steintor, Walle und Domsheide
Alle Mann stehn in der Kreide
In der Bildung letzter Sieger
Fußball? Zweite Bundesliga
Die Tageszeitung ist verblödet
Und die Innenstadt verödet
Wird gebaut, darf’s Dudler bauen
Und das Stadtbild uns versauen
Der Hafen wurde zugeschüttet
Und die Werften sind zerrüttet
Liegt was auf Kiel, dann sind es Archen
Für skrupellose Oligarchen
Ahoi! Die Schifffahrt sitzt auf Grund
Ach, Daddeldu … du armer Hund
Weil die ganze Stadt verrottet
Wird die Zukunft eingemottet
Ringel, Ringel, ahnungsloser
Doch nun reicht’s mit dem Gemoser
Marmor, Stein und Eisen bricht
Was uns bleibt, ist dein Gedicht


Das Gedicht, auf das sich Michael Augustin, mit dem ich zusammen studiert habe, bezieht, ist natürlich das Gedicht von Ringelnatz aus dem Jahre 1927:

Hier gelt ich nix, und würde gern was gelten,
Denn diese Stadt ist echt, und echt ist selten.
Reich ist die Stadt. Und schön ist ihre Haut.
Sag einer mir:
Welch Geist hat hier
Die Sankt Ansgarikirche aufgebaut?
Groß schien mir alles, was ich hier entdeckte.
Ein Riesenhummer lag in einem Laden.
Wie der die Arme eisern von sich reckte,
Als wollte er durchs Glas in Frauenwaden,
In Bremer Brüste plötzlich fassen
Und – wie wir’s von den Skorpionen lesen –
Restweg im Koitus sein Leben lassen, –
Wär er nicht längst schon rot und tot gewesen.
Als ich herauskam aus dem Keller, wo
Schon Heine saß, da sagte ich: „Oho!“
Denn auf mich sah Paul Wegener aus Stein,
Und er war groß und ich natürlich klein.
Brustwarzen hatte er an beiden Knien,
Vielleicht war’s auch der Roland von Berlin.
Und als ich, wie um eine spanische Wand
Mich schlängelnd, eine seltsam leere
Doch wohlgepflegte Villengasse fand
Und darin viel verlorene Ehre,
Stand dort ein Dacharbeiter.
Den fragt ich so ganz nebenbei:
Ob er wohl ein Senator sei?
Da ging er lächelnd weiter.
 

1 Kommentar:

  1. Wiederholt eine wunderschöne Hommage. In Bremen bin auch immer gern gewesen.
    Viele Grüße aus MeckPom

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