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Dienstag, 28. November 2023

tüddelig im Kopf


Die Südsee, das bedeutete Walfang. Das wusste ich schon, als ich noch klein war. Immer wenn Opa am Sonntag das Heimatmuseum für die Besucher aufschloss, hatte ich schon eine Stunde mit dem Walfang verbracht. Jede Harpune im Saal angefasst. Alle Shrimshaw Objekte auch. Im Erdgeschoss war in einem kleinen Zimmer alles über den Afrikaforscher Gerhard Rohlfs, im Obergeschoss war alles über die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger, weil die von Adolph Bermpohl aus unserem Ort gegründet worden war. Aber der große Saal des Erdgeschosses und das Treppenhaus waren ganz dem Walfang gewidmet. Schließlich hatten sich viele Kapitäne, die im 19. Jahrhundert ihr Vermögen mit dem Robbenschlag und dem Töten von Walen gemacht hatten, hier im Ort niedergelassen. Dies Bild von Carl Justus Fedeler zeigt Bremer Segelschiffe beim Walfang in der Südsee. Das Schiff in der Mitte ist die Europa der Reederei D.H. Wätjen. Das war einmal die größte deutsche Segelschiffsreederei. Wätjen verdiente mit seinen Schiffen so gut, dass er sich in Blumenthal ein Schloss bauen ließ. Als ich 1976 mit Dr Joachim Kruse die Melville Ausstellung in Schleswig machte, wunderte sich Kruse immer wieder, was ich alles über den Walfang wusste.

Es gab im Heimatmuseum auch Photos vom modernen Walfang. Modern heißt in diesem Fall: aus den dreißiger Jahren. Damals als Walter Rau aus Hilter und sein Konkurrent Fritz Hohmann aus Dissen (FriHoDi) ihre Fabrikschiffe zum Abschlachten von Walen auf die Weltmeere schickten. Auf Rau und Hohmann war Opa nicht so gut zu sprechen, aber das hatte damit etwas zu tun, dass er aus dieser Gegend kam und die Familien kannte. Dieses Bild vom Walfangschiff Walter Rau findet sich in dem Artikel Schlachthof auf hoher See des Bremer Weser Kurier.

Als Symbol für den historischen Walfang hatten wir am Utkiek an der Weser die Kiefer eines Blauwals stehen. Als die bröckelig und brüchig wurden, hat mein Freund Peter als Landeskonservator sie 1987 durch einen Bronzeabguss von der Bildhauerin Christa Baumgärtel ersetzen lassen. Manche Kapitäne hatten sich von ihren Reisen auch Walkiefer als Gartentor mitgebracht, aber die sind mit der Zeit alle verschwunden. Als der Afrikaforscher Gerhard Rohlfs nach Weimar gezogen war, schickten ihm die Vegesacker ein Paar Walkiefer nach, die er vor seiner Villa aufstellte. Es war klar, dass ich mit meinem Erfahrungen irgendwann Melvilles Moby-Dick lesen musste. Las ich zum erstenmal 1959 in dem Manesse Band mit der Übersetzung von Fritz Güttinger, der Jahre später mein Brieffreund wurde. 1962 war ich schon weiter, da las ich Billy Budd und White-Jacket, das weiß ich noch genau.

Als ich an der Uni war, habe ich natürlich Seminare über Herman Melville gemacht, über Moby-Dick und Benito Cereno. Und dann hatte ich die Idee, ausgehend von den Südseeerfahrungen von Herman Melville, ein Seminar über die Südsee in der amerikanischen Literatur zu machen. Ich las nicht nur Melvilles Typee und Omoo und alles, was er über die Südsee geschrieben hatte; ich las alles, was ich in die Hände bekam. Auf Richard Francis Burtons Buch Goa, and the Blue Mountains; or, six months of sick leave war ich durch einen Zufall gestoßen, weil das Buch gleichzeitig mit Melvilles Moby-Dick bei Melvilles Verleger Richard Bentley in London erschienen war.

Auch zufällig fand ich das Buch des Matrosen Heinrich Zimmermann, das Reise um die Welt mit Capitain Cook heißt. Ein Buch, das er eigentlich gar nicht hätte schreiben dürfen. Berichte über die Reise waren Captain Cook und den Wissenschaftlern wie Georg Forster und seinem Vater vorbehalten. Heinrich Zimmermanns Buch habe ich in der von Hans Bender herausgegeben Ausgabe des Insel Verlags gelesen. Der Link da oben führt zum Originaltext von 1781, wenn er funktioniert. Irgendwie kriegt die Staatsbibliothek Bamberg das mit dem Internet noch nicht so richtig hin. Forsters Reise um die Welt ist auch bei Insel erschienen, ist aber mit über tausend Seiten etwas dicker als Zimmermanns 161-seitiges Buch. Aber da ich gerade einmal dabei war, las ich auch noch Louis-Antoine de Bougainvilles Reise um die Welt: Durch die Inselwelt des Pazifik 1766-1769. Wir müssen immer bedenken, dass die Südsee nicht nur Walfängern aus Nantucket und Bremen, nicht nur Captain Cook und Captain Bligh gehörte, sondern auch den Franzosen. Den schönen Ausstellungskatalog  James Cook und die Entdeckung der Südsee gab es damals leider noch nicht. Das hätte mir viel Arbeit erspart.

Das ungewöhnlichste Buch, das ich in jenem Vierteljahr las, hieß Tyrannei und Herrschaft: Die Wurzeln von Individualismus, Despotismus und modernem Staat. Hawaii - Tahiti - Buganda, das bei Rowohlt erschienen war. Der Autor Eli Sagan hatte in Harvard studiert, aber er war kein Anthropologe oder Kultursoziologe wie Clifford Geertz oder mein Freund Peter Gutkind. Auf dem Gebiet der Kultursoziologie war Sagan Aitodidakt, Amateur. Sein eigentlicher Beruf war etwas ganz anderes, er war Chef der Konfektionsfirma The New York Girl Coat Company, die eine der größten Kleiderfirmen der USA war.

Es passte gut, dass ich in meiner Südsee Lesephase von meinem Freund Peter die Briefe von Robert James Fletcher (Isles of Illusion: Letters from the South Seas) geschenkt bekam. Und  durch Zufall fand ich den kuriosen kleinen Roman von Friedrich Wilhelm IV, Die Königin von Borneo. Ich war die ganzen Semesterferien mit dem Lesen beschäftigt, aber für die Uni konnte ich das alles leider nicht gebrauchen. Ich musste die Veranstaltungen eines erkrankten Kollegen übernehmen, mein Seminar fiel aus. Ich betrachtete das nicht als Verlust, ich hatte viel gelernt. Und Lesen ist nie ein Verlust. Und meine Bibliothek hatte sich um einen knappen Meter vergrössert.

An all das fühlte ich mich erinnert, als mir letztens ein polynesisches Wort begegnete, das ich nicht aus meiner Südseelektüre kannte, das auch nicht in Melvilles Omoo vorkommt. Es heißt Taravana, es hat offenbar mehrere Bedeutungen. Es kann ein Song des auf Tahiti lebenden Sängerns Ken Carlter sein; es kann ein Computerspiel sein, in dem es um Seeungeheuer geht. Aber eigentlich ist Taravana eine Taucherkrankheit, die die Einwohner der Tuamotu Inseln befällt, wenn sie dreißig Mal am Tag ohne Druckluft nach Perlen tauchen. Sie können hier auf einer Seite für medizinische Fachjournale alles über das Taravana Syndrom lesen, das in der Übersetzung verrückt hinfallen bedeutet. Diese Dekompensationskrankheit bei Apnoetauchern, bei der man die Kontrolle über den Körper verliert, ist vor sechzig Jahren zum erstenmal wissenschaftlich beobachtet worden. Bestenfalls ist man da etwas tüddelig im Kopf, aber es kann auch zum Tod führen.

Kaum war diese Taucherkrankheit in der Fachliteratur beschrieben, da tauchte sie als Modellname für eine Taucheruhr der Firma Nivada auf. Und dort hatte ich das Wort gefunden. Die Grenchener Uhrenfirma, die damals auch die ZentRa Savoy Uhren herstellte, war sehr erfindungsreich mit ihren Modellnamen. Da gab es die berühmte Antarctic, es gab eine Aquamatic, eine Depthmaster, eine Sea Diver, eine Aviator und eine Chronomaster. Eine Leonardo da Vinci hatten sie auch mal im Angebot (das Modell gab es auch als ZentRa). Eigentlich waren es immer die gleichen Uhren, die Uhrwerke von der ETA oder der ASSA hatten, sie hatten nur andere Namen. Die meisten dieser Namen wie Aviator oder Sea Diver findet man auch bei anderen Firmen, aber dieses Taravana Modell, das gab es nur bei Nivada. Die Firma Nivada baut heute, wie so viele in der Quarzkrise angeschlagenen Firmen, ihre Klassiker nach. Relaunch ist das Wort. Ich glaube aber nicht, dass die Taravana Taucheruhr bei den neuen Retro-Klassikern dabei ist, die ist einfach zu exzentrisch.

Mit Uhren hat die Südsee einiges zu tun. Die Eroberung und Kartographierung der Südsee geht einher mit der Entwicklung immer besserer und genauerer Marinechronometer. Bougainville hatte Uhren von Ferdinand Berthoud an Bord (Alexander von Humboldt wird einen Chronometer von dessen Neffen Louis Berthoud benutzen). Der Engländer John Harrison, der mit seiner H1 zum erstenmal in der Weltgeschichte eine genau gehende Uhr baute, entwickelte seine Uhren weiter, bis sie transportabel waren. Dies hier ist die Harrison H4. Sieht aus wie eine Taschenuhr, ist aber dreizehn Zentimeter groß und wiegt anderthalb Kilo. Der Uhrmacher Larcum Kendall stellte im Auftrag der Admiralität eine Kopie her, die Larcum Kendall K1, die Captain Cook benutzte. Er hat die Uhr als our trusty friend the Watch und our never-failing guide the Watch bezeichnet. Obgleich er zuerst Vorbehalte gegen die Uhr hatte, musste er doch anerkennen, dass sie so genau ging, dass er damit sozusagen auf den Millimeter genau navigieren konnte. Das Rule Britannia, Britannia rule the waves wird jetzt von den englischen Uhrmachern garantiert, die die Royal Navy an jeden Ort navigieren lassen, an den sie will. Larcum Kendall hat hier schon einen Post, und für Marinechronometer gibt es natürlich auch einen. Und in dem Post über Thor Heyerdahls KonTiki kommt auch eine Menge Südsee vor. Zu dem Longitude Problem, das die britische Admiralität und die britischen Uhrmacher energisch angehen, habe ich hier noch ein Video.  Und natürlich gibt es hier auch noch den Film Longitude aus dem Jahr 2000 für Sie.

Diese Taucheruhr der Firma Nivada fand ich beim Uhren-Surfen auf ebay. Ich war fasziniert von dieser potthässlichen Uhr. Auf der Rückseite der 39 x 42 mm großen Uhr sind Wellen zu sehen, eine kleine Insel mit drei Palmen und eine übergroße Sonne. Dies grüne Scheusal mit dem Modellnamen Taravana war einmal eine richtige Taucheruhr, 200 Meter wasserdicht (dafür sorgte der Conpensamatic Boden), mit verschraubter Krone und Taucherlünette. Als ich sie sah, musste ich sie unbedingt haben. 

So als Krönung meiner 70er Jahre Monster Sammlung. Ich habe die Uhr am letzten Wochenende bei ebay ersteigert, sie war gar nicht so teuer, wie ich befürchtet hatte. Jetzt hoffe ich nur, dass ich nicht diese Taravana Krankheit kriege und tüddelig im Kopf werde, wenn ich die Uhr am Arm habe. Die kam kam mit einem neuen Band auf Haifischleder, so etwas findet sich ja häufiger an Taucheruhren. Sie musste das Band abgeben,  weil die Dugena Watertrip das Band brauchte. Und weil ich ihr längst ein zeittypisches Stelux Band verpasst hatte. Jetzt sieht sie wirklich nach was aus.


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