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Sonntag, 29. November 2020

Taxi nach Leipzig

In meinem ersten Jahr als Blogger gab es am 29. November einen Post, der Tatort hieß. Dass der Post am 29. November 2010 erschien, hatte natürlich seinen Grund: vierzig Jahre zuvor war der erste Tatort gesendet worden, der Taxi nach Leipzig hieß. Heute kann man beinahe jeden Tag auf irgendeinem Sender einen Tatort sehen, damals war das etwas ganz Neues. Der Post brachte mir damals mehr als 2.500 Leser ein, aber das wusste ich nicht, weil ich meine Statistikseite noch nicht gefunden hatte. Noch mehr Leser bekam ich am 29. November 2015 mit dem Post Tatorte und am 29. November mit dem Post 1970. Das alles waren Variationen zu dem ewigen Thema Tatort. Ich weiß, dass es inzwischen ein Re-Make von Taxi nach Leipzig gibt, aber dafür gibt es hier keinen Post, ich hasse Re-Makes.

Walter Richter, der den Hamburger Kommissar Paul Trimmel spielte, ist schon lange tot. Renate Schroeter, für die ich damals schwärmte, auch schon. Nur Hans Peter Hallwachs, den ich in Bremen neben Bruno Ganz in Zadeks Hamlet gesehen hatte, der lebt noch. Ist überall im Fernsehen zu sehen. Er war auch in dem Re-Make von Taxi nach Leipzig zu sehen. Die ARD feiert den fünfzigsten Geburtstag des Tatorts heute natürlich mit einem Tatort, der ein doppelter Tatort ist. Am nächsten Sonntag geht es weiter. Für diejenigen, denen das noch nicht genug ist, gibt es heute in der Nacht noch drei Tatort Sendungen.

Das kann man sich wahrscheinlich alles schenken. Was man heute sehen sollte ist das Original: Taxi nach Leipzig.


Donnerstag, 26. November 2020

Sehnsucht


Am Todestag von Joseph von Eichendorff wollte ich ein Gedicht hier einstellen, nämlich das schöne Gedicht Sehnsucht, das neben der Mondnacht das wohl bekannteste Gedicht von Eichendorff ist. Ich fischte mir den Text aus dem Internet und merkte, dass ich ein kleines Problem bekam. Denn Sehnsucht steht nicht in einer Sammlung von Gedichten von Eichendorff, es findet sich zum erstenmal in einem Roman (erst drei Jahre später findet es sich in seinen Gedichten), es ist ein funktionaler Teil des Romans. Kann man das Gedicht einfach so aus dem Text herausnehmen?

Der Roman heißt Dichter und ihre Gesellen, es ist ein weniger bekanntes Werk von Eichendorff. Was meine Poesie anbetrifft, so schreibe ich jetzt - außer einigen eintzelnen Gedichten für den nächsten 'Deutschen Musenalmanach' - an einem größeren Roman, der die verschiedenen Richtungen des Dichterlebens darstellen soll. Ob u. wann ich damit fertig werde, hängt von der Muse u. Muße ab, schreibt Eichendorff im April 1833 an seinen Freund Theodor von Schön. Muse und Muße sind ihm offenbar wohlgesonnen, denn Weihnachten 1834 erscheint der Roman. Es ist ein seltsamer Roman mit verschnörkelten Handlungen und Nebenhandlungen, auf beinahe jeder Seite wird ein Lied gesungen oder ein Gedicht deklamiert. Es ist ein romantischer Roman, wohl der letzte romantische Roman, der im 19. Jahrhundert geschrieben wird. Danach kommt in der Geschichte der deutschen Literatur der realistische Roman. Wilhelm Raabe und Theodor Fontane haben mit dieser Art Literatur nichts mehr zun tun.

Im siebten Kapitel des ersten Buches singt der Dichter Dryander ein Lied (er ergriff seine Geige und spielte und sang, daß es weit durch den Wald erschallte):

Mich brennt's an meinen Reiseschuh'n,
Fort mit der Zeit zu schreiten —
Was wollen wir agiren nun
Vor so viel klugen Leuten?

Es hebt das Dach sich von dem Haus
Und die Koulissen rühren
Und strecken sich zum Himmel raus,
Strom, Wälder musiziren!

Und aus den Wolken langt es sacht,
Stellt alles durcheinander,
Wie sich's kein Autor hat gedacht:
Volk, Fürsten und Dryander.

Da gehn die einen müde fort,
Die andern nah'n behende,
Das alte Stück, man spielt's ſo fort
Und kriegt es nie zu Ende.

Und keiner kennt den letzten Akt
Von allen die da spielen,
Nur der da droben schlägt den Takt,
Weiß, wo das hin will zielen.


Der Roman präsentiert uns ein theatrum mundi, alle sind da: Volk, Fürsten und Dryander. Wir haben einen Baron, einen Fürsten, einen Maler, einen italienischen Marchese (das zweite Buch des Romans spielt in Rom), den dichtenden und Geige spielenden Dr Dryander, einen Beamten, einen Philosophen namens Grundling und einen Tenor. Und noch viele mehr, es wimmelt von Personen in dem Roman, den der Verleger als Novelle deklarierte (Eichendorf selbst sprach immer von einem Roman). Frauen gibt es auch in dieser Welt, da ist die wildschöne, dämonische Gräfin Juanna und Fiametta, die Tochter des römischen Marchese. Der hat gerade bankerutt gemacht und muss seinen Palazzo verlassen, die kleine Fiametta ist heimatlos. 

Wenn unser Held, der Baron Fortunat, sie zum erstenmal erblickt, ist er in Rom: Er sah durchs Fenster und konnte bei dem Schein einer Fackel nur noch bemerken, wie eine schlanke Mädchengestalt aus der altmodischen Karosse behende in das Haus schlüpfte. Im andern Flügel des Palastes hörte man nun Türen auf- und zuwerfen, gehen und lachen, dann war plötzlich alles wieder still. – Bald darauf aber vernahm er im Garten einzelne, langgezogene Klänge einer weiblichen Stimme, wie eine Nachtigall, durch das Rauschen der Wipfel, durch welche die Glühwürmer leuchtend hinzogen. Der Mond trat eben hervor und verwandelte alles in Traum. Da öffnete Fortunat alle Flügeltüren, ergriff seine Gitarre und schritt durch die lange Reihe der Gemächer singend auf und nieder. Das geht es nicht anders, wenn Fiametta, die kleine Flamme, singt, muss auch er singen:

Es rauschen die Wipfel und schauern;
Als machten zu dieser Stund
Um die halb versunkenen Mauern
Die alten Götter die Rund.
Hier hinter den Myrtenbäumen
In heimlich dämmender Pracht,
Was sprichst du wirr, wie in Träumen,
Zu mir, phantastische Nacht?
Es funkeln auf mich alle Sterne
Mit glühendem Liebesblick,
Es redet trunken die Ferne
Wie von künftigem, großem Glück!


Das künftige, große Glück wird kommen, Fortunat und Fiametta finden zueinander, aber erst im dritten Buch, nach vielen Irrungen und Wirrungen. Es sind beinahe filmische Szenen, in denen Eichendorff seine Personen präsentiert, und es sind immer wieder Szenen mit Mandolinen und Mondschein: 

Nur Fortunat und Fiametta saßen noch vor der Haustür und hörten zu, wie die Mädchen unten im Dorfe vor dem Johannesbilde und die Heimchen von der fernen Wiese sangen. Fiametta saß zu seinen Füßen im Gras, sie hatte die Gitarre auf ihren Knien uns sah still in die mondbeschienene Gegend hinaus, er hatte sie noch nie so nachdenklich gesehen. – Da erklang auf einmal weiter oben ein Waldhorn. Es war der verliebte Förster, der den Herrschaften ein Ständchen blies. Und als nun allmählich Waldhorn und Johanneslieder verklangen und alles still geworden war im Hause und im Tal, da nahm Fiametta ihre Gitarre und sang:

Es schienen so golden die Sterne,
Am Fenster ich einsam stand
Und hörte aus weiter Ferne
Ein Posthorn im stillen Land.
Das Herz mir im Leib entbrennte,
Da hab ich mir heimlich gedacht:
Ach, wer da mitreisen könnte
In der prächtigen Sommernacht!

Zwei junge Gesellen gingen
Vorüber am Bergeshang,
Ich hörte im Wandern sie singen
Die stille Gegend entlang:
Von schwindelnden Felsenschlüften,
Wo die Wälder rauschen so sacht,
Von Quellen, die von den Klüften
Sich stürzen in die Waldesnacht.

Sie sangen von Marmorbildern,
Von Gärten, die überm Gestein
In dämmernden Lauben verwildern,
Palästen im Mondenschein,
Wo die Mädchen am Fenster lauschen,
Wann der Lauten Klang erwacht
Und die Brunnen verschlafen rauschen
In der prächtigen Sommernacht
.

Wenn Fiametta das Lied gesungen hat, das wir als Sehnsucht kennen, weint sie bitterlich. Aber der Baron tröstet sie, 'Wir reisen wieder hin!' flüsterte ihr Fortunat zu. Da hob sie das Köpfchen und sah ihn groß an. 'Nein', sagte sie, 'betrüg mich nicht!' Er betrügt sie nicht, er hat mittlerweile den Palazzo in Rom zurückgekauft. Alles wird gut. Wir sind im 24. Kapitel des Romans, wir sind in Deutschland; Fiametta träumt mit dem Lied von ihrer Heimat Italien, dem Land, in dem in Goethes Mignon die Citronen blüh'n. Und mit Goethes vier Mignon Liedern und Eichendorffs Sehnsucht beginnt die deutsche Italiensehnsucht, die mit Borgwards Isabella (und Arabella) und Rudi Schurickes Capri Fischer endet.

Aber nicht alles wird gut in dieser Welt der Mondnächte, die vom Kosen und vom Flüstern sacht sind, bis daß die erste Lerche erwacht. Der lebenslustige Fürst wird wahnsinnig, der Maler Albert begeht Selbstmord und die Ehe des Dr Dryander, der so schön über die Liebe dichtet, wird eine Katastrophe. Er will auch nichts mehr vom Dichten und der Literatur wissen:

Dryander aber war an den Abhang des Gartens getreten und schaute in das dunkle Tal hinaus; man unterschied nur noch einzelne Massen von Wald, Feldern und Dörfern, durch die weite Stille kam der dumpfe Schlag eines Eisenhammers herüber. – »Das ist schön!« sagte er, »es ist mir, als hört' ich den Pendul der Zeit einförmig picken. – Ich bleibe hier«, wandte er sich schnell zu Manfred: »ich habe das wüste Treiben satt; Profession vom Dichten machen, das ist überhaupt lächerlich, als wenn einer beständig verliebt sein wollte und noch obendrein auf öffentlicher Straße – ich will hier bei Euch die Landwirtschaft lernen!« – »Sie?« – erwiderte Manfred erstaunt, »das gäbe eine schöne Wirtschaft!« – Aber Dryander hörte nicht darauf. »Ich will mich«, fuhr er fort, »ich will mich hier wie auf den Grund des Meeres versenken, daß ich von der Welt nichts mehr höre – aber Ihr müßt mir die Hand darauf geben, daß Ihr so lange kein Wort von Literatur mit mir reden wollt. Wenn Sie in dieser Idylle das Wort Eisenhammer stört, dann sollten Sie mal eben den Post Eisenhammer lesen.

Mit der wildschönen Gräfin Juanna nimmt es ein schreckliches Ende. Gerade noch hat ihr Lothario, der in Wirklichkeit der Graf Victor von Hohenheim ist, einen Heiratsantrag gemacht: Hier blitzte plötzlich eine furchtbare Ahnung durch Juannas Seele, sie konnte kein Wort hervorbringen, dem Unglaublichen finster nachsinnend, während Büsche, Täler und ferne Dörfer geheimnisvoll an ihnen vorüberflogen. Lothario war wie verwandelt. 'Juanna!' rief er aus Herzensgrunde zu, 'blick um dich, die Erde ist so still und schön wie eine Brautnacht! Frei sollst du wohnen auf hohem Schloß, wo die Rehe an den Abhängen einsam grasen, dort will ich unter deinem offenen Fenster ruhen in den Sommernächten und dich in Traum singen, bis die Sterne verlöschen und die erste Lerche mich ablöst hoch in der stillen Luft. Und fallen die Blätter und die Vögel ziehen fort und dich befällt Heimweh, wenn du vom Schloß über die einsamen Wälder siehst: ich führe dich weit über die Berge fort, du arme Fremde! Auf dem Meere wollen wir fahren an glänzenden Küsten vorüber, bis die Laute deiner Muttersprache gleich bunten Wundervögeln herschweifen und deine ernste, schöne Heimat emportaucht, duftige Gärten, Gebirge und maurische Schlösser in den trunkenen Fluten spiegelnd – o Juanna, mir ist's wie von einem hohen Berg ins Morgenrot zu sehen!'

Das Kapitel hat mit einem Lied Lotharios begonnen, das den Ton für alles, was jetzt kommt, angibt:

Und wo noch kein Wandrer gegangen,
Hoch über Jäger und Roß,
Die Felsen im Abendrot hangen
Als wie ein Wolkenschloß.
Dort zwischen den Zinnen und Spitzen,
Von wilden Nelken umblüht,
Die schönen Waldfrauen sitzen
Und singen im Wind ihr Lied.
Der Jäger schaut nach dem Schlosse:
Die droben, das ist mein Lieb!
Er sprang vom scheuenden Rosse,
Weiß keiner, wo er blieb.

Das erinnert nun stark an das Gedicht Waldgespräch, in dem ein Ritter in der Nacht im Wald der Hexe Lorelay begegnet (Eichendorff hatte das schon in seinem Roman Ahnung und Gegenwart hineingeschrieben); wenn Lothario die schöne Waldfrau besingt, dann ist das schlimme Ende nicht mehr fern, die wildschöne spanische Gräfin stürzt sich von einem Felsen in den Fluß. Lothario versucht noch, sie zu retten: So sprach er voll Freude, während sie ritten, Juanna war immerfort still, in der Tiefe neben ihnen rauschte ein Strom, sie horchte manchmal hinunter. Auf einmal blinkte das Wasser zwischen den dunklen Bäumen hinauf, da warf sie ihr Roß gewaltsam zur Seite, setzte die Sporen ein und schwang es mit sich in den Fluß hinab. Erschrocken stürzte Lothario nach, er sah sie mit dem weitaufgelösten Haar gleich einer Nixe in klarem Mondlicht über die Flut dahinschweben, sinken und wieder emportauchen. Endlich hatte er sie gefaßt, sie ruhte an seiner Schulter, ihre feuchten Locken verdunkelten ihm Stirn und Augen. So sank er mit seiner Beute erschöpft am jenseitigen Ufer auf den Rasen hin und lauschte in der entsetzlichen Stille kniend über ihr – aber sie atmete nicht mehr, stumm und bleich in strenger Todesschönheit.

Es schwimmen jetzt viele Frauen, die Undine oder ähnlich heißen, in Flüssen und Seen herum. Oder kämmen sich auf einem Felsen am Rhein ihre blonden Haare (lesen Sie mehr in dem Post Meerjungfrauen + Waldnixen), Eichendorff kann der Versuchung nicht widerstehen die wildschöne Juanna mit dem weitaufgelösten Haar gleich einer Nixe in klarem Mondlicht über die Flut dahinschweben zu lassen. Eichendorff weiß schon, dass alles, was er hier schreibt, nichts mit der Alltagswirklichkeit zu tun hat. In der wirklichen Welt ist er ein steifer preußischer Verwaltungsbeamter, ein rechtschaffener Oberpräsidialrat. Er ist viel gereist (und er wird viele Reise- und Wanderlieder schreiben), und er war schon einmal auf einer Bildungsreise in Paris, aber da verspürt er nur einen Heißhunger auf Deutschland. Er wird Paris wiedersehen, als junger Leutnant zieht er 1815 in das besiegte Frankreich ein.  

In Italien, das bei ihm immer wieder vorkommt, war er nie. Vielleicht ist das Lied Sehnsucht, das Fiametta singt, nicht nur die Sehnsucht der kleinen Italienierin, vielleicht ist es aucht die Sehnsucht des schlesischen Freiherrn: Alle diese Gedichte, wie meine ganze bisherige Poesie, könnten eben auch 'Sehnsucht' überschrieben werden. Aber dieß giebt mir Muth u. Stolz in meiner Demuth. Denn sezt nicht jede wahrhaftige treue unbezwingliche Sehnsucht eine Erfüllung voraus, wie unser ganzes irdisches Leben die Ewigkeit? Ich komme mir vor , wie in einer alten dunklen Kirche. Alle Fenster gehn nach Osten, drauß vor den Fenstern liegt Italia, schreibt er im Jahre 1808. Da ist er zwanzig und beginnt zu schreiben, dass draußen vor den Fenstern Italia liegt, das wird er nicht vergessen. Bevor er seinen Taugenichts nach Italien reisen läßt, bevor er Dichter und ihre Gesellen schreibt, schreibt er das Gedicht Täuschung:

Ich ruhte aus vom Wandern,
Der Mond ging eben auf,
Da sah ich fern im Lande
Der alten Tiber Lauf,
Im Walde lagen Trümmer,
Paläste auf stillen Höhn
Und Gärten im Mondesschimmer –
O Welschland, wie bist du schön!

Und als die Nacht vergangen,
Die Erde blitzte so weit,
Einen Hirten sah ich hangen
Am Fels in der Einsamkeit.
Den fragt ich ganz geblendet:
'Komm ich nach Rom noch heut?'
Er dehnt' sich halbgewendet:
'Ihr seid nicht recht gescheut!'
Eine Winzerin lacht' herüber,
Man sah sie vor Weinlaub kaum,
Mir aber ging's Herze über –
Es war ja alles nur Traum.

Montag, 23. November 2020

Corona

Der Dichter Paul Celan war hier im Blog am Karfreitag schon mit einem Gedicht. Er wurde heute vor einhundert Jahren geboren, da muss an den Dichter der Todesfuge erinnert werden. Das Gedicht, das ich heute ausgewählt habe, heißt Corona. Dass dieses lateinische Wort neuerdings eine Krankheit bezeichnet, konnte Celan nicht ahnen, als er das Gedicht schrieb. John Donne auch nicht, als der La Corona schrieb. Denn dieses Wort, das eine Krone oder ein Kranz sein kann, ein Sternbild und eine Menschenmenge (und noch viel mehr), soll mal für einen Augenblick von der Assoziation covid-19 befreit werden. Bei dem 1948 geschriebenen Gedicht wird es wohl Kranz heißen, und sich auf die Beziehung zwischen Celan und Ingeborg Bachmann beziehen. Es ist ein Liebesgedicht auf Ingeborg Bachmann, die ihm 1949 nach Paris schrieb: Ich habe oft nachgedacht, 'Corona' ist Dein schönstes Gedicht, es ist die vollkommene Vorwegnahme eines Augenblicks, wo alles Marmor wird und für immer ist.


Aus der Hand frißt der Herbst mir sein Blatt: wir sind Freunde.
Wir schälen die Zeit aus den Nüssen und lehren sie gehn:
die Zeit kehrt zurück in die Schale.

Im Spiegel ist Sonntag,
im Traum wird geschlafen,
der Mund redet wahr.

Mein Aug steigt hinab zum Geschlecht der Geliebten:
wir sehen uns an,
wir sagen uns Dunkles,
wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis,
wir schlafen wie Wein in den Muscheln,
wie das Meer im Blutstrahl des Mondes.

Wir stehen umschlungen im Fenster, sie sehen uns zu von der
Straße:
es ist Zeit, daß man weiß!
Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt,
daß der Unrast ein Herz schlägt.
Es ist Zeit, daß es Zeit wird.

Es ist Zeit.

Samstag, 21. November 2020

vergessen


Der Landschaftsmaler Carl Robert Croll wurde heute vor zweihundertundzwanzig Jahren geboren, er ist so gut wie vergessen. Im Gegensatz zu seinem jüngeren Bruder, der hier mit Kometenschwanzleben schon einen Post hat. Croll hat an der Dresdner Akademie studiert, aber einen Einfluss von Johan Christian Clausen Dahl und Caspar David Friedrich spürt man bei ihm nicht. Es sind akribisch gemalte Bilder aus Dresden, Böhmen und Prag, die sein Werk ausmachen, aber sie sind ziemlich inhaltsleer. Wie diese Landschaft von Mariaschein (Bohosudov), das Bild hat mit den Landschaften von Dahl und Friedrich wenig gemein. Eher gibt es bei Croll einen Einfluss von Ludwig Richter, weil Croll häufig an der Zeichnerschule in Meißen bei Richter gewesen ist. 1931 schrieb der Kunsthistoriker Karl Wilhelm Jähnig in Das schöne Sachsen einen Aufsatz: Carl Robert Croll: Ein vergessener sächsischer Landschaftsmaler. Das war Croll: vergessen.

Karl Wilhelm Jähnig ist heute auch beinahe vergessen, er hat keinen Wikipedia Artikel, und auch das Dictionary of Art Historians kennt ihn nicht. Denn den Ruhm für sein Lebenswerk hat ein anderer abgesahnt. Jähnig, der als Kustos der Dresdner Galerie 1937 entlassen wurde, weil er mit einer jüdischen Ärztin verheiratet war, ist natürlich nicht ganz vergessen. Vor zehn Jahren schrieb der Oberkonservator an der Dresdner Galerie Neue Meister im Albertinum Gerd Spitzer den Aufsatz Caspar David Friedrich in der Dresdener Galerie: Karl Wilhelm Jähnig zum Gedächtnis.

Und mit Caspar David Friedrich komme ich zu einem anderen Vergessenen. Wir können uns das heute kaum noch vorstellen, aber vor hundertzwanzig Jahren war der deutsche romantische Maler so gut wie vergessen. Es war der norwegische Kunsthistoriker Andreas Aubert, der über Johan Christian Clausen Dahl promoviert hatte (was ihm eine kleine jährliche Rente des schwedischen Königs einbrachte), der schon in den 1890er Jahren in Zeitschriften wie Kunstchronik und Kunst und Künstler über Caspar David Friedrich geschrieben hatte. 1935 konnte Ilse Meyer-Lüne in ihrem Aufsatz Der Maler Johan Christian Dahl und sein Biograph Andreas Aubert in der Zeitschrift Der Norden schreiben: Andreas Aubert ist uns Deutschen kein Fremder. Seine Studien über Dahl führten ihn bekanntlich zur Wiederentdeckung Caspar David Friedrichs, auf dessen Bedeutung er bereits in den neunziger Jahren in mehreren Zeitschriftenartikeln hingewiesen hat. Seine geplante umfassende Monographie über Friedrich, die ein Gegenstück zu seinem Dahl zu werden versprach, blieb leider unvollendet, und nur ein Bruchstück ist unter dem Titel 'Gott, Freiheit, Vaterland' aus seinem Nachlaß veröffentlicht.

Was da 1915 in der Übersetzung von Luise Wolf mit einem Vorwort von Guido Joseph Kern übersetzt wurde, war nur ein einziges Kapitel des von Andreas Aubert geplanten Werkes, aber mit einem patriotischen Vorwort, das den Durchhaltewillen des deutschen Volkes ansprach, und diesem Gott, Freiheit, Vaterland im Titel gelangte jetzt der zuvor in Vergessenheit geratene Maler Caspar David Friedrich in ein ganz anderes Terrain. So schreibt ein gewisser Jochen Krüger 1838 in seinem Aufsatz Das 'Patriotische Bild' in der deutschen Romantik (abgedruckt in Nationalsozialistische Monatshefte): Hundert Jahre nach den Freiheitskriegen, in einer Zeit, als wir plötzlich in ähnlicher Lage uns befanden, verstanden wir sofort die Bildersprache der Romantik und ihre Parole: Gott, Freiheit, Vaterland.

Den Maler für die Nazis zu vereinnahmen, damit hat der Kunsthistoriker Karl Wilhelm Jähnig nichts zu tun, 1937 verliert er seine Stelle in Dresden, 1944 wird ihm die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt, sein Haus in Dresden verliert er auch. Aber er macht im Schweizer Exil damit weiter, womit er nach dem Ende des Ersten Weltkrieges begonnen hat: einen Katalog aller Werke von Caspar David Friedrich zu erstellen. Ein vollständiges beschreibendes Verzeichnis der älteren Gemälde der Dresdner Galerie hatte er schon 1929 vorgelegt. Jähnig wird es nicht mehr erleben, dass 1973 der große Caspar David Friedrich Katalog erscheint, er stirbt im Jahre 1960. Und neben seinem Namen steht noch ein anderer Name auf dem Buch: Helmut Börsch-Supan. Und der wird danach so agieren, als sei das alles seins.

Was er hinzugetan hat, ist Symbolik, Symbolik und Symbolik. Ich zitiere mal eben etwas, was schon in dem Post Kreidefelsen über dieses Bild steht, das Caspar David Friedrich auf Rügen gemalt hat: Das auf das Ufer gezogene Boot bezeichnet den Zustand der Seele nach dem Tod. In diesem Zusammenhang sollen die zum Trocknen aufgehängten Fischernetze vermutlich die Ruhe nach der Vollendung des Lebenswerkes ausdrücken. Der aufgehende Mond bedeutet die Erscheinung Christi im Jenseits... Und so weiter und so fort es gibt nur wenige Katalogeintragungen, bei denen Börsch-Supan notiert: ein allegorischer Sinn ist kaum zu erkennen. Ich kann's nicht mehr hören. Wie Sigmund Freud schon sagte: Manchmal ist eine Zigarre eben nur eine Zigarre. Und ein Boot auf dem Strand eben nur ein Boot auf dem Strand.

Das einzige Bild von Croll, das mir wirklich gefällt, ist vielleicht gar nicht von ihm. Aber diese Landschaft mit Fischern, die ihm vom Auktionshaus Dorotheum in Wien zugeschrieben wurde, gefällt mir sehr. Wurde für weniger als tausend Euro zugeschlagen. Der alte Trick der Holländer, den Horizont ganz tief zu legen, funktioniert immer wieder. Ob der kleine Mann im Vordergrund von besonderer Symbolik ist, weiß ich nicht. Vielleicht sollte man dazu Herrn Börsch-Supan fragen, der in den letzten Jahrzehnten als Gutachter für Auktionshäuser schönes Geld verdient hat. Der findet bestimmt in dieser Studie von licht en lucht noch tiefliegende Symbolik.



Mittwoch, 18. November 2020

Der Tod von Marcel Proust


Der Erzähler Marcel Proust redet in seinem letzten Roman über die Krankheit, die ihn aus der Welt genommen hat, über die Liebe zu Albertine, über sein Werk: Je me disais aussi: « Non seulement est-il encore temps, mais suis-je en état d’accomplir mon œuvre? » La maladie qui, en me faisant, comme un rude directeur de conscience, mourir au monde, m’avait rendu service (car si le grain de froment ne meurt après qu’on l’a semé, il restera seul, mais s’il meurt, il portera beaucoup de fruits), la maladie qui, après que la paresse m’avait protégé contre la facilité, allait peut-être me garder contre la paresse, la maladie avait usé mes forces et, comme je l’avais remarqué depuis longtemps, au moment où j’avais cessé d’aimer Albertine, les forces de ma mémoire. Or la recréation par la mémoire d’impressions qu’il fallait ensuite approfondir, éclairer, transformer enéquivalents d’intelligence, n’était-elle pas une des conditions, presque l’essence même de l’œuvre d’art telle que je l’avais conçue tout à l’heure dans la bibliothèque?

Marcel Proust schreibt hier in Le Temps Retrouvé über sich selbst. Aber die maladie des Romans ist längst zu einer wirklichen Krankheit geworden. Er ist krank, sterbenskrank. Er korrigiert die Druckfahnen der letzten Bände seines Romans. Er entschuldigt sich bei seiner Haushälterin Céleste Albaret, dass er so oft husten muss und ständig das Gleichgewicht verliert. Im Frühjahr hatte er ihr gesagt, dass er das Wort Fin unter sein Werk geschrieben hat. Jetzt kann ich sterben, sagte er. Und fügt hinzu: Ich möchte, daß mein Werk in der Literatur eine Kathedrale darstellt. Eben deswegen ist es nie beendet. Selbst wenn der Bau beendet ist, muß immer noch dies oder jenes als Schmuck hinzugefügt werden, ein Fenster, ein Kapitell, eine kleine Kapelle mit einer kleinen Statue in der Ecke.

Aber wirklich fertig ist die Kathedrale noch nicht, da sind die Korrekturfahnen, die wollen gelesen sein. Und er schreibt Briefe, immer wieder Briefe: Sie werden sehen, Céleste, kaum dass ich tot bin, werden alle meine Briefe veröffentlichen. Ich habe einen Fehler gemacht, ich habe zu viel geschrieben, viel zu viel, sagt er zu Céleste. Im April hatte er sich einen Sterilisationsapparat gekauft, der mit Formalin die an ihn gerichteten Briefe sterilisiert, der Asthmatiker fürchtet sich vor Röteln und Keuchhusten, die gerade umgehen. Er sterilisiert seine Briefe, aber die Arzneien, die ihm sein Arzt verschreibt, die nimmt er nicht. Er lässt sie aus der Apotheke holen, aber sie bleiben in ihrer Verpackung. 

Er kommt aus einer Arztfamilie, sein Vater war Professor der Medizin, sein Bruder ist Professor der Medizin. Er versteht viel von Medizin, und es ist viel von Medizin in seinem Werk die Rede. Es wäre gut, wenn er jetzt ins Krankenhaus ginge, wie ihm sein Bruder rät, aber er bleibt in seinem mit Korkplatten ausgeschlagenen schalldichten Zimmer, toujours au lit. Im Oktober besucht er noch einmal eine Soiree des Grafen Etienne de Beaumont, dem er im Mai des vorigen Jahres geschrieben hatte, dass er seine Einladung zum Besuch einer Ingres Ausstellung nicht annehmen könne: Ich war seit einiger Zeit derart – nicht krank, sondern – todkrank, daß ich für diesen Besuch keine Möglichkeit sehe... Es wäre für Sie ja wohl auch nicht sehr angenehm, wenn ich zur 'Sensation' (Schlaganfall, plötzlicher Tod usw.) Ihrer Ausstellung würde, die genügend Meisterwerke vereinigt, um auf den 'überfahrenen Hund' verzichten zu können.

So krank kann er nicht gewesen sein, er wird die Ingres Ausstellung (und die Vermeer Ausstellung) noch zusammen mit seinem Freund Jean Louis Vaudoyer besuchen. Lieber Freund, ich bin nicht zu Bett gegangen, um heute morgen Ver Meer und Ingres zu sehen. Wollen Sie den Toten, der ich bin und der sich auf ihren Arm stürzen wird, dorthin geleiten? … Wenn Sie zusagen, werde ich Sie gegen viertel nach neun Uhr abholen lassen, schreibt er ihm. Vaudoyer wird ihn auf der Terrasse des Jeu de Paume photographieren, es ist eins der letzten Photos, die wir von Proust haben. Während des Museumsbesuchs verspürt Proust ein Unwohlsein, doch er bewahrt Haltung wie auf dem Photo und speist mit Vaudoyer im Ritz. Wenn er nach Hause kommt, ist er völlig erschöpft und hat Schwindelanfälle, aber seine Begeisterung für Vermeer ist ungebrochen, wie er seiner Haushälterin mitteilt: sein Blick war so verzückt, dass man hätte glauben können, er habe das Bild noch vor Augen. 'Ach Céleste, diese Sorgfalt im Detail , diese Subtilität. Das kleinste Sandkörnchen! Wie das ausgefeilt werden musste! Ich sollte noch korrigieren und korrigieren und Sandkörner hinzufügen ...' Auch wenn es nur Sandkörner und keine Details einer Kathedrale sind, es bleibt immer etwas hinzuzufügen.

Die Sache mit einem plötzlichen Tod in einer Ausstellung wandert in den Roman La Prisonnière, wenn der Schriftsteller Bergotte in der Vermeer Ausstellung stirbt: Endlich stand er vor dem Vermeer, den er strahlender in Erinnerung hatte, noch verschiedener von allem, was er sonst kannte, auf dem er aber dank dem Artikel des Kritikers zum erstenmal kleine blaugekleidete Figürchen wahrnahm, ferner, daß der Sand rosig gefärbt war, und endlich auch die kostbare Materie des ganz kleinen, gelben Mauerstücks. Das Schwindelgefühl nahm zu; er heftete seine Blicke – wie ein Kind auf einen Schmetterling, den es gern festhalten möchte – auf das kostbare kleine Mauerstück. So hätte ich schreiben sollen, sagte er sich. Meine letzten Bücher sind zu dürr, ich hätte die Farbe in mehreren Schichten auftragen, hätte meine Sprache so kostbar machen sollen, wie dieses kleine gelbe Mauerstück es ist. 

Indessen entging ihm die Schwere seines Schwindelgefühls nicht. In einer himmlischen Waage sah er auf der einen Seite sein eigenes Leben, während die andere Schale das kleine so trefflich in Gelb gemalte Mauerstück enthielt. Er spürte, daß er unvorsichtigerweise das erste für das zweite hingegeben hatte. Ich möchte doch nicht, sagte er sich, für die Abendzeitungen die Sensation dieser Ausstellung sein. Er sprach mehrmals vor sich hin: 'Kleines gelbes Mauerstück mit einem Dachvorsprung, kleines gelbes Mauerstück.' Im gleichen Augenblick sank er auf ein Rundsofa nieder; ebenso rasch dachte er nicht mehr, daß sein Leben auf dem Spiel stehe, sondern in wiederkehrendem Optimismus beruhigte er sich: Es ist nur eine Verdauungsstörung, die Kartoffeln waren nicht ganz gar, es ist weiter nichts. Ein neuer Schlag streckte ihn nieder, er rollte vom Sofa auf den Boden, wo die hinzueilenden Besucher und Aufseher ihn umstanden. Er war tot. Tot für immer? Wer kann es sagen? Das runde Ledersofa im Jeu de Paume kennt Proust genau, er hatte sich während des Besuchs der Vermeer Ausstellung wegen des Schwindels mehrfach dort hinsetzen müssen.

Die Soiree beim Comte Beaumont im Ritz ist das letzte Mal, dass Proust einen Frack anzieht, dass letzte Mal, dass er in großen Welt, die er in seinem Werk immer wieder beschreibt, erscheinen wird. Auf dem Rückweg in der kalten Nacht erkältet er sich, Fieber hatte er schon die ganzen Tage. Jetzt folgt eine Bronchitis, dann eine Lungenentzündung. Am 1. November erscheint in der Nouvelle Revue Française ein Vorabdruck aus La Prisonnière, die zwei kleinen Stücke enthält (alle Vorabdrucke aus À la recherche du temps perdu, die ab 1910 erschienen, sind 2004 in deutscher Erstausgabe als Der gewendete Tag veröffentlicht worden): La regarder dormir und Mes réveils. Die Leser sollten nicht wissen, dass diese Stücke aus dem Roman La Prisonnière stammen, deshalb heißt die im Schlaf beobachtete Frau hier nicht Albertine sondern Gisèle. Es ist passend, dass La regarder dormir jetzt erscheint, denn Proust ist mit den Korrekturen von La Prisonnière gerade fertig geworden (genaugenommen ist er bis zur Seite 136 des Typoskripts von La Prisonnière gekommen) und macht sich an die Bearbeitung von Albertine disparue. Beide Romane werden posthum erscheinen. Der letzte Band des Romans Le temps retrouvé, in dem sich das Bild von dem literarischen Werk als Kathedrale findet, wird 1927 erscheinen.

Proust ist im Juli einundfünfzig geworden. Er hat jetzt, wo La regarder dormir erschienen ist, noch zwei Wochen zu leben. Und er lebt sie, wie er es will, ohne Ärzte und Medikamente, aber mit unermüdlichem Arbeitseifer, auch wenn er in einem halbkomatösen Zustand ist. In den Tagen vor seinem Tod bringt sein Bruder ein Sauerstoffgerät ins Haus, damit er besser atmen kann. Proust stirbt am 18. November 1922, sein Bruder und Céleste Albaret sind bei ihm. In der Nacht zuvor hatte er noch gearbeitet. Wenn ich diese Nacht überlebe, werde ich den Ärzten beweisen, dass ich stärker bin als sie, hatte er zu Céleste gesagt. Er kann den Ärzten nichts beweisen. Der Abbé Arthur Mugnier soll nach seinem Tod an seinem Bett beten, darum hatte Proust ihn gebeten. Er kennt ihn gut, weil der Abbé in derselben Gesellschaft verkehrt, die Proust in À la recherche du temps perdu beschreibt und in Künstlerkreisen ein gern gesehener Gast ist. Aber der Abbé (der wahrscheinlich das Vorbild für Prousts Abbé Poiré ist) kann kein Gebet über dem Leichnam sprechen, er ist erkrankt.

Der Beichtvater des Faubourg Saint-Germain wird jedoch eine Totenmesse für Proust lesen. Und das wird er jedes Jahr am 18. November in Saint Pierre de Chaillot tun, darum hatte Proust nicht gebeten. Doch die Prinzessin Marthe Bibesco, die der Abbé zum Katholizismus bekehrt hatte, hatte ihren Beichtvater darum gebeten. Die Beerdigung findet in der Kapelle von Saint Pierre de Chaillot statt. Mit militärischen Ehren. Proust ist Ritter der Ehrenlegion, da steht einem das zu. An Musik gab es die Pavane pour une infante défunte von Maurice Ravel, einem Komponisten, dessen Musik Proust nie besonders mochte. Roger Martin du Gard, mit dem sich Proust im Vorjahr wegen einer schlechten Rezension beinahe duelliert hatte, beschreibt den Aufmarsch von halb Paris in Les Memorables: Was für eine stattliche Beerdigung! Und in der Tat, wie viele Zylinder! Herzöge, Fürsten, Botschafter, der Jockey-Club, der Cercle de l'Union in Schnürstiefeln, Monokel, sauber gezogene Scheitel teilten die glänzenden Locken... In der Menge das vornehme Pariser Judentum und die ganze in die Jahre gekommene Pariser Päderastrie, geschminkt, mit lackierten Fingernägeln und umherschweifenden Blicken.

Der Korrespodent des Manchester Guardian wird nach Prousts Tod unterkühlt und sachlich schreiben: Marcel Proust, foremost of 'young novelists' of France, died yesterday. He was fifty years old and had been in poor health from childhood. It is probable that he was as well known abroad, especially in Holland and England, where Marcel Proust Societies have recently been formed, as in Paris, where his work was enjoyed by a select minority. His style was difficult and obscure, and his intricate, exquisitely delicate meditations and analysis of emotions could never have appealed to the mass of readers. Outwardly and in his habits he was a strange being. Very pale, with burning black eyes, frail and short in stature, he lived like a hermit in his home, which was open to a few privileged friends, amongst precious furniture. Yet by fits and starts he loved to re-enter the fashionable 'night-life' of Paris. His apartment was lined throughout with cork in an ineffectual attempt to keep out the uproar of the noisiest city in the world. Most of his best-known work was done after he reached the age of forty-five years. Of all idols and masters of present-day literature in France he is most likely to have won a place which time will not take away.

Mit dem he is most likely to have won a place which time will not take away wird er natürlich Recht behalten.


Sonntag, 15. November 2020

Teufelsmoor


Teufelsmoor. Allein schon der Name. Wenn man sechs Jahre alt ist und die ganze Familie aus westfälischen Geschichtenerzählern besteht, in deren Geschichten der Teufel eine Person ist, die Opa, Onkel Gustav, Onkel Werner oder wem auch immer schon mehrfach begegnet ist, dann hat der Teufel schon eine Bedeutung. Zumal Pastor Hemmelgarn auch jeden Sonntag von der Kanzel herunter gegen den Teufel wettert. Aber irgendwie schien Pastor Hemmelgarns Teufel anders zu sein als der Teufel von Opa. Der Teufel von Opa erschien natürlich nicht, ohne eine schweflige Spur zu hinterlassen: die kannste da noch sehen, in Drebber (oder war es Hilter? oder Dissen? Bad Rothenfelde?). Die Spuren des Teufels waren für mich in meiner Vorstellung gleich neben der Brandspur des Feuerrades, das Opa mitternachts die ganze Dorfstraße herunter verfolgte und dem er nur durch einen Sprung in die Tenne von Vahlenkamps Bauernhaus entkommen konnte, und da an der Tür, da kannste die Brandspur noch sehen. Die Geschichten mit den übernatürlichen Erscheinungen spielten alle in der Heimat meines Großvaters, niemals in Bremen. Immer wenn wir von Bremen kommend die Dammer Berge am Horizont sahen, waren wir in einem Land, in dem sich Sagen, Märchen und familiäre Anekdoten übergangslos vermischten. Vorher hatten wir noch eine Pause eingelegt, bei der Opa im Wald verschwand. Erst Jahre später habe ich erfahren, dass dies keine normale Pinkelpause war: der Gang Opas in den Wald war ein Gang zu einem Albert Leo Schlageter Denkmal, dem Opa rituell seine militärische Reverenz erweisen musste.

Aber über den Teufel redete mein Opa an diesem Sonntag im Teufelsmoor nicht. Während die Familie, Bauern und einige Lohnarbeiter mit Torfstechen und Verladen beschäftigt war, klärte er uns über das Lebenswerk des Königlichen Moorkommissars Jürgen Christian Findorff auf, der dieses Moor der Natur abgerungen hatte und Vater aller Moorbauern genannt wurde. Diese zivilisatorische Leistung wurde verglichen mit Friedrich dem Großen und dem Oderbruch. Diejenigen, die den ganzen Tag gearbeitet und keine Maulaffen feilgehalten hatten, nahmen solche Belehrungen eher unwillig auf, auch wenn sie mit plattdeutschen Weisheiten wie Den ersten sien dood, den tweeten sien noot, den drütten sien broot gewürzt waren. Aber wahrscheinlich erwarteten sie von einem pensionierten Lehrer auch nichts anderes. Findorff kannte ich, ein Bremer Stadtviertel hieß nach ihm, und damals konnte man da auf einem Kanal auch noch die Halbhuntschiffe sehen, die den Torf aus dem Teufelsmoor zum Findorffer Torfhafen brachten. Dort war auch ein kleiner Markt mit Buden, das war immer aufregend. Das Oderbruch sagte mir nichts, ich war noch nicht bis zu Fontane vorgedrungen. Ich war ja auch erst sechs.

Der kleine Lastwagen von Onkel Gustav ist in der letzten Woche nicht gewaschen worden, Johnny Otten hatte strikte Anweisung von Onkel Gustav, nicht wie üblich morgens den Wasserschlauch zu nehmen. Es ist der gleiche Lastwagen, mit dem Mammi wenige Jahre zuvor ihre Schwiegermutter aus dem Feuersturm von Hamburg herausgeholt hat. Jetzt steht er staubüberzogen am Straßenrand, und man kann die blaue Schrift Färberei, Wäscherei, Chem. Reinigung nur ahnen. Camouflage, sagt Opa, und ich weiß nicht, was das ist. Meine Mutter und Tante Tilla tragen geblümte Baumwollkleider und Gummistiefel. Sie kochen Kaffee auf einem Karbidkocher, der noch aus Wehrmachtsbeständen stammt. Wir Kinder dürfen uns dem Karbidkocher nicht nähern. Zu gefährlich, verkündet Opa und erzählt Schauergeschichten von explodierenden Karbidöfen. Im Schauergeschichtenerzählen ist er gut. Oma strickt an einem Pullover, der bestimmt wieder aus dieser immer kratzigen Wolle meiner Kindheit sein wird.

Der Frühsommertag geht zu Ende, es wird langsam dunkel. Der Lastwagen ist mit Torf beladen. Alle sitzen auf der anderen Seite der Birkenallee, die eigentlich nur ein besserer Knüppeldamm ist, unter einer kleinen Baumgruppe. Es sind die einzigen Bäume weit und breit, die Birken zählt hier keiner als Bäume. Man kann hier ungehindert bis zum Horizont sehen. In der Ferne gibt es eine kleine Erhebung und etwas Wald, das muss der Weyerberg sein. Der Sage nach ist er entstanden, als der schlaue Fischer Dietrich den gefürchteten Riesen Hüklüt überredet hatte, sich den Sand der Bremer Düne in die Taschen zu stopfen. Woraufhin dieser prompt im Teufelsmoor versank, noch einmal in die Tasche griff und eine Handvoll Sand nach Dietrich schleuderte, und das ist nun der Weyerberg. Neben dem Berg muss Worpswede sein. Wo die Roten wohnen, sagt mein Opa. Ich weiß nicht, wer die Roten sind. Aber für meinen Großvater, den kaisertreuen Hauptmann des Ersten Weltkriegs, Träger des EK I und des weinroten Hanseatenkreuzes, sind sie überall. Ein weißes Bettlaken ist auf dem Heideboden ausgebreitet, darauf stehen Kaffeetassen und anderes Geschirr. Die Fahrräder sind an einen Baumstamm gelehnt. Unser Schäferhund Hasso liegt hechelnd im Schatten. Ein Kuchen wird angeschnitten, Gustav holt eine Flasche Doppelkorn aus dem Fahrerhaus.

Es wechselt kein Geld den Besitzer an diesem Sonntagnachmittag, Geld gibt es nicht, oder wenn es welches gibt, dann ist es nichts wert. Niemand weiß, was die Währungsreform demnächst bringt. Mein Vater, Onkel Gustav und die Moorbauern stehen in einer kleinen Gruppe zusammen und trinken Doppelkorn. Die Ladung Torf wird in Naturalien bezahlt werden. Gustav wird die Wäsche der Bauern waschen, Kleider und Mäntel umfärben. Und bei meinem Vater ist die nächste Zahnbehandlung umsonst. Die Währungsreform kommt wenige Wochen später, dann werde ich mit meiner Mutter in einer langen Schlange vor dem Backsteingebäude der Oberschule stehen. Später darf ich Oma und Opa ihr Geld nach oben bringen, Opa guckt die Scheine skeptisch an. Die Generationen, die in einem Deutschland geboren wurden, das noch einen Kaiser hatte, haben schon alle möglichen Geldscheine gesehen. Findorff fängt mit hundert Reichstalern an, wir fangen mit vierzig Mark an, jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. Vor allem, wenn man noch Kind ist.

Freitag, 13. November 2020

madness


Das hier kann es heute nicht mehr geben, 1984 (man fühlt sich ein bisschen an George Orwells 1984 erinnert) war das allerdings möglich. Da sagten 1.189 amerikanische Psychiater in der Zeitschrift Fact, dass Barry Goldwater ein klein bisschen plemplem sei. Per Ferndiagnose wurde ihm Paranoia, Narzissmus und eine schwere Persönlichkeitsstörung attestiert. Das würden heute bestimmt mindestens 1.1.89 amerikanische Psychiater über Donald Trump sagen, aber das verbietet leider jetzt die sogenannte Goldwater Rule. Ist irgendwie schade. Als ich in den Nachrichten hörte, dass Trump sich vorzeitig zum Wahlsieger ausgerufen hatte, und als ich las, was er bei Twitter so schrieb, war meine erste Assoziation der Refrain eines Schlagers aus den sechziger Jahren: 

And they're coming to take me away ha-haaa
They're coming to take me away ho-ho hee-hee ha-haaa    
To the funny farm
Where life is beautiful all the time
And I'll be happy to see those nice young men
In their clean white coats
And they're coming to take me away ha-haaa

Der Gedanke ist nicht so abwegig, so schrieb zum Beispiel Florian Harms gerade bei T-Online: Falls der Patient Donald John Trump seinen Feldzug gegen die Demokratie fortsetzt und sich weigert, das Weiße Haus zu verlassen, ist es spätestens am 20. Januar Zeit, den Krankenwagen zu rufen. Die Pfleger sollten für alle Fälle eine Zwangsjacke mitbringen. Da kann man nur mit Thomas von Kempen sagen: O quam cito transit gloria mundi!

Als Donald Trump im letzten Jahr verkündete: I am the chosen one, druckte die Financial Times diesen Cartoon von Jeremy Banks, der seit 1989 für das Blatt arbeitet. Wir mögen über diese Variante des Oval Office schmunzeln, aber die Frage bleibt: was ist mit einem Präsidenten, der offenbar seine fünf Sinne nicht mehr beisammen hat?O! let me be not mad, not mad, sweet heaven; Keep me in temper; I would not be mad! sagt der König Lear in Shakespeares Tragödie schon im ersten Akt. Wir wissen, wie die Sache ausgeht. Spätestens im dritten Akt.

Das elisabethanische Theater (und die jakobäische Rachetragödie) bemühen immer wieder die Themen melancholy, madness und insanity. Trump ist den Elisabethanern ähnlich. Wenn er sagt: I'm the only thing standing between the American dream and total anarchy, madness and chaos, dann erinnert das ein wenig an Hamlets Sätze The time is out of joint. O cursèd spite, That I was ever born to set it right! Aber im Gegensatz zu Trump ist Hamlet nicht wahnsinnig, er spielt nur den Wahnsinnigen: I am but mad north-north-west. When the wind is southerly, I know a hawk from a handsaw, sagt er den Schauspielern. Wenn man einen Habicht von einem Reiher unterscheiden kann, ist man nicht verrückt. Polonius ahnt das, wenn er sagt: Though this be madness, yet there is method in 't

Aber gibt es auch eine Methode in Trumps wirrem Agieren? Der Pulitzer Preisträger David K. Shipler sah das in seinem Artikel The Method to Trump’s Madness. Alle Nachrichten als Fake News zu deklarieren, die Presse als enemy of the American people zu bezeichnen, alle gesellschaftlichen Werte auszuhöhlen, das hat nach David Shipler System: The wheels of pluralistic democracy are greased by consensus, goodwill, common respect for facts, shared beliefs in institutional legitimacy, and the civil balance of competing interests. Donald Trump has found that his narrowest interest in growing and preserving his power are best served by eroding these principles. He is not doing so as erratically as his tweets suggest. Watch him. He is progressing step by deliberate step. Shipler hätte seinen Artikel auch Highway to Hell überschreiben können.

Das bringt mich wieder zur Pop Musik und zu dem Magazin Rolling Stone. Das hatte nämlich vor drei Jahren dieses schöne Titelbild und den Leitartikel The Madness of Donald Trump von Matt Taibbi. Der Artikel, der ähnlich klingt wie Raibbis Buch Insane Clown President, ist ganz hervorragend, Taibbi schreibt ein wenig wie Hunter S. Thompson oder Tom Wolfe, die ja auch mal für den Rolling Stone arbeiteten. Das Titelbild von Victor Juhasz gefällt mir sehr. Trump ähnelt ein bisschen einem brüllenden Löwen, aber Löwen haben natürlich kein Handy in der Hand, sie können nicht twittern. Da steht er nun auf dem Dach. Was wird er jetzt tun? Da Rolling Stone etwas mit Pop Musik zu tun hat, fiel mir als erstes das Ende von Marianne Faithfulls The Ballad of Lucy Jordan ein:

The evening sun touched gently on
The eyes of Lucy Jordan
On the rooftop where she climbed
When all the laughter grew too loud
And she bowed and curtsied to the man
Who reached and offered her his hand
And he led her down to the long white car 
that waited past the crowd

Und ich dachte mir: warte nur Donald, noch magst Du triumphieren, aber am Ende holt Dich der Mann mit dem großen weißen Auto. Der Gedanke hat etwas Tröstliches.

Montag, 9. November 2020

9. November

Ein Tag der ewigen Schande für Deutschland. Der Begriff der Reichskristallnacht ist wahrscheinlich zuerst eher ein ironischer Ausdruck des Zorns gegen den barbarischen Terror gewesen, bevor die Nazis diesen Euphemismus zynisch für sich vereinnahmten. Mit dem Zerwerfen der Schaufensterscheiben kam die sogenannte Arisierung der Geschäfte, Enteignung, Vertreibung, Ermordung der Geschäftsinhaber.

Ich möchte heute eine kleine, leider wahre Geschichte erzählen, die mich seit Jahrzehnten verfolgt. In Bremen lebt man ja gerne mit der Vorstellung, dass wir Bremer alle immer vornehm und hanseatisch gewesen seien. Und wer hanseatisch ist, ist natürlich immun gegen den Nationalsozialismus. Es ist leider keineswegs so gewesen. Die Zahlen und Statistiken in dem hervorragenden Buch von Inge Marssolek und René Ott Bremen im Dritten Reich sprechen da eine ganz andere Sprache. Nein, die Bremer können nicht sagen, sie seien nicht dabei gewesen. Und die Flaggen auf der Obernstraße im Jahre 1938 auf diesem Photo sind auch nicht wegzuleugnen.

In meinem Heimatort Vegesack erhielt die NSDAP bei der Reichstagswahl vom 6. November 1932 30.8 Prozent der Stimmen. In keinem Bremer Wahlbezirk hat sie mehr Prozente erreicht. Im feinen Schwachhausen sind es immerhin 21.7 Prozent, das zweithöchste Ergebnis. Nur die Arbeiterstadtteile haben die Nazis nicht gewählt. Doch es sind diese Stadtteile, die von den Alliierten bombardiert werden. Sie werden die schlimmsten Verluste haben, darin liegt eine Tragik. Meine Geschichte heute kommt wieder einmal, wie die Geschichte über meinen Freund Peter Gutkind oder die über die Bremer Revolution 1968, aus meinen unfertigen Bremensien. Und sie beginnt mit meinem Schulweg. Springen Sie mit mir für einen Augenblick zurück in die Kindheit. Aber wir werden in dieser Zeit der Unschuld nicht verweilen können.

Wenn ich die Weserstraße mit meinem Ranzen entlanggehe, treffe ich morgens Mitschüler wie Roder oder Gabi, und wir gehen gemeinsam zur Schule. Zwischen der Kimmstraße und der Breiten Straße kennen wir jede Gehwegplatte, weil wir hier Hüpfspiele wie Himmel und Hölle spielen oder die Platten einmal im Jahr hochnehmen, um nach Maikäfern zu suchen. In der Breiten Straße begegnen uns einmal in der Woche Kälber und quiekende Schweine, die zur Schlachterei Pohl in der Bahnhofstraße getrieben werden. Danach gehen wir bei Többens über den Zebrastreifen. Es ist der einzige Zebrastreifen über die Bundestraße 75, den wir im Ort haben. Deshalb soll ich diesen Weg nehmen, sonst könnte ich auch die Kimmstraße entlang gehen und dann bei Viole durch den Gang flitzen. Aber bei Viole, wo immer ein Fass mit Heringen vor der Ladentür steht, ist leider kein Zebrastreifen, und so muss ich bei Többens vorbei.

Neben Többens ist früher ein Schuhgeschäft gewesen. Da hat ein Verwandter meiner Großeltern in der sogenannten Reichskristallnacht ein Paar Schuhe geklaut. Um dann morgens festzustellen, dass er zwei linke Schuhe erwischt hatte. Die Familie lacht immer noch über diese Geschichte, obgleich der Verwandte ansonsten ungern erwähnt wird. Der hatte nämlich in Osnabrück eine kriminelle Pleite hingelegt und war im Gefängnis gewesen, danach war er bei den Bremer Verwandten abgetaucht. Im Osnabrücker Land wollte er sich erstmal nicht mehr sehen lassen.

Wenn wir beim Zebrastreifen sind, macht Herr Többens seinen Laden gerade auf. Das ist ein Herrenmodegeschäft der armseligen Sorte. Ich grüße den Herrn Többens nie. Meine Eltern auch nicht. Wir kaufen da auch nicht, ich war nie in meinem Leben in dem Laden. Walter Caspar Többens ist ein Nazi gewesen und ein Kriegsverbrecher. Das mit dem Kriegsverbrecher habe ich lange nicht gewusst. Dass beinahe alle Vegesacker Geschäftsleute Nazis waren und viele in der SS waren, kommt eines Tages dank unserer Schulzeitung Das Echo heraus, die zum Entsetzen der Schulleitung einen gut recherchierten Artikel aus dem Neuen Deutschland über die Nazis in Vegesack nachdruckt. Dass die Ausgabe des Echo überhaupt erschien, war damals in der Adenauerrepublik immerhin ein kleiner Sieg der Pressefreiheit. Dass Többens ein Kriegsverbrecher war, erfahre ich erst durch einen photokopierten Artikel, den mir mein Freund Gert Börnsen Jahrzehnte nach Többens’ Tod gegeben hat. Ich hatte den Artikel einer Freundin geliehen, die auch aus dem Ort kommt, habe ihn aber nie wiederbekommen. Manche Leute sind ein Bermuda Dreieck für Leihgaben. Aber ich bekomme eines Tages heraus, wer den Artikel geschrieben hat, auch wenn ich die Photokopie von Gert niemals wiedersehe.

Der Verfasser heißt Günther Schwarberg, er schreibt für den Stern. Er ist in Vegesack geboren. Sein Vater war Lehrer an Opas Volksschule. Opa und Schwarberg Senior haben sich nicht ausstehen können, denn Schwarbergs Vater war ein Sozialdemokrat. Das ist für meinen kaisertreuen Opa ja das Schlimmste auf der Welt. Über die Többens dieser Welt macht Opa sich weniger Gedanken. Walter Caspar Többens ist 1954 gestorben, mit seiner Geliebten im Auto verunglückt. Zu dem Zeitpunkt ermittelt die Staatsanwaltschaft nicht mehr gegen das CDU-Miglied, den gläubigen Katholiken und erfolgreichen Geschäftsmann. Aber 1949, da war er von einer Bremer Spruchkammer als Kriegsverbrecher verurteilt worden, zehn Jahre Arbeitslager, Einziehung des Vermögens, Verlust aller bürgerlichen Rechte und jedes Anspruchs auf Rente und Unterstützung. In Polen gab es ein Todesurteil gegen ihn, aber er ist der Auslieferung durch die Amerikaner zweimal durch Flucht entkommen. Und auch das Bremer Urteil wird nicht vollstreckt, nach 1950 wird in Bremen niemand mehr verfolgt. Das Vermögen bleibt nicht eingezogen. Többens wird 1952 als Mitläufer eingestuft und wohnt dann im feinen Schwachhausen. Vom Kriegsverbrecher zum Mitläufer in drei Jahren, auch das ist Bremer Wirklichkeit. Auf die wir nicht stolz sein können.

Günther Schwarberg, der auch die Geschichte der Kinder vom Bullenhuser Damm öffentlich gemacht hat, hat Walter Caspar Többens’ Geschichte in seinem Buch Das Getto: Spaziergang in die Hölle aufgeschrieben. Eine Musterkarriere im Dritten Reich: Arisierung der Firma von Adolf Herz in Vegesack, die fortan Többens heißt, dann Großunternehmer und Wehrmachtslieferant für Uniformen in Warschau. Millionengewinne. In Warschau kann man viel Geld machen, auch Oskar Schindler war ja ursprünglich nicht dahin gegangen, um gute Werke zu tun.

Die Deutschen haben sich nach dem Überfall auf Polen hier sozusagen wohnlich eingerichtet. Das kleine, sorgfältig gedruckte Büchlein Soldatenführer durch Warschau, das ich unter Vatis Unterlagen gefunden habe, vermittelt einem den Eindruck einer deutschen Mustersiedlung. Die Soldatengaststätte am Adolf Hitler Platz ist täglich von 7 bis 22 Uhr geöffnet, Uniformen (wahrscheinlich bei Többens genäht) kann man im Deutschen Uniformhaus im Hotel Bristol (Bild) kaufen. Das Heft ist voller Anzeigen deutscher Firmen, von Thonet-Möbeln (Slotnastraße 9) bis Telefunken Radios. In dem Soldatenführer liegt auch eine Quittung des Geschäftes von Julius Meinl, wonach Vati (der damals als junger Leutnant durch einen Irrtum einen halben Tag vor der offiziellen Einnahme Warschaus als erster deutscher Soldat mit dem Jeep durch die menschenleere Stadt gefahren ist) für sechzig Gramm Butter und ein Pfund Keks eine Mark dreiundzwanzig bezahlt hat. Die Firma Julius Meinl hat nach 1939 über tausend Filialen in Europa, jetzt auch in Warschau. Der Soldatenführer durch Warschau (gekauft bei der Deutschen Buchhandlung, der Heim- und Pflegestätte deutschen Schrifttums) weist, ähnlich wie ein Baedeker, auch auf die architektonischen und landschaftlichen Schönheiten hin.

Die interessieren Walter Többens weniger. Er wäre ja aus dem Getto davongelaufen, wenn er nicht so gut verdient hätte, sagt er im Prozess. Und gut verdienen tut er. Für 1,4 Millionen Reichsmark kann er plötzlich das Bambergerhaus in Bremen kaufen. In den zwanziger Jahren im expressionistischen Backsteinstil erbaut, war es das erste Hochhaus in Bremen, hatte die ersten Rolltreppen. Und im Erdgeschoss kann man von einem Photomaton in acht Minuten acht Portraitphotos bekommen. Von den Bremern wurde das Kaufhaus liebevoll Bambüddel genannt. Es besaß sogar eine Armenküche. Julius Bamberger tat nicht nur gute Werke, er kämpfte auch zusammen mit dem Bremer Pastor Emil Felden gegen den grassierenden Antisemitismus. 1933 wird Bamberger vorübergehend verhaftet, flieht 1937 in die Schweiz. Baut sich in Paris eine neue Existenz auf. Als die Deutschen kommen, landet er im KZ. Kann wieder fliehen, diesmal in die USA. Er bekommt nach dem Kriege gerade mal 50.000 Mark für das, was man ihm weggenommen hat.

Walter Többens, der ehemalige mittellose Angestellte bei der Firma Leffers in Vegesack, der den Nazis und seiner kriminellen Energie sein Geld verdankt, ist zu dem Zeitpunkt schon wieder im Besitz seines ganzen Vermögens. Er hat kurz vor Kriegsende dank geschmierter Helfer in Berlin auch alles aus seinen Többens-Werken von Warschau und Poniatowa nach Delmenhorst verlagern können. Zu diesem Zeitpunkt kriegen kein Soldat und kein Flüchtling mehr einen Platz in einem Zug nach Westen, Többens kriegt ganze Eisenbahnzüge von seinem Kumpel Dr. Heinrich Lauts im Berliner Reichwirtschaftsministerium zur Verfügung gestellt. Das 1944 zerstörte Bambergerhaus ist 1955 wieder aufgebaut worden. Auch der Schriftzug Bamberger steht heute wieder am Haus, in dem jetzt die Volkshochschule residiert. Im Treppenhaus gibt es eine Dauerausstellung über das Leben und Wirken Julius Bambergers.

Zehntausende von jüdischen Arbeitern, die für Többens in Warschau und Umgebung Uniformen nähen, wandern ins KZ. Der Tod ist ein Meister aus Deutschland. Többens, der mit einer Peitsche in der Hand durch seine Fabriken geht (sie aber natürlich nie benutzt hat, wie er im Prozeß sagt), ist Großunternehmer. Ein Oskar Schindler mit umgekehrten Vorzeichen. In dem Bremer Spruchkammerverfahren hatte der Verteidiger von Többens ihn in einem fünfstündigen Plädoyer als einen Wohltäter darzustellen versucht. Und sich zu der Behauptung verstiegen: Lebten die Juden aus dem Warschauer Getto noch, so stünde Többens nicht vor einem Gericht, sondern im Goldenen Buch von Palästina. 1988 legen die Nachkommen von Walter Többens eine kriminelle Millionenpleite hin.

Vor Jahrzehnten ist ein Bundestagspräsident nach dem 9. November zurückgetreten, weil er ein schlechter Redner war. Denn wäre der Philipp Jenninger am fünfzigsten Jahrestag des 9. Novemer 1938 rhetorisch versierter gewesen, und wären die Zuhörer bereit gewesen, ein rhetorisches Mittel wie das der erlebten Rede als ein rhetorische Mittel zu erkennen und nicht als eine Meinung des Redners, nichts wäre geschehen. Vielleicht wäre Jenninger besser beraten gewesen, wenn er einen kurzen Text von Erich Kästner vorgelesen hätte:

In jener Nacht fuhr ich, im Taxi auf dem Heimweg, den Tauentzien und den Kurfürstendamm entlang. Auf beiden Straßenseiten standen Männer und schlugen mit Eisenstangen Schaufenster ein. Überall krachte und splitterte Glas. Es waren SS-Leute, in schwarzen Breeches und hohen Stiefeln, aber in Ziviljacken und mit Hüten. Sie gingen gelassen und systematisch zu Werke. Jedem schienen vier, fünf Häuserfronten zugeteilt. Sie hoben die Stangen, schlugen mehrmals zu und rückten dann zum nächsten Schaufenster vor. Passanten waren nicht zu sehen. (Erst später, hörte ich am folgenden Tag, seien Barfrauen, Nachtkellner und Straßenmädchen aufgetaucht und hätten die Auslagen geplündert). Dreimal ließ ich das Taxi anhalten. Dreimal wollte ich aussteigen. Dreimal trat ein Kriminalbeamter hinter einem der Bäume hervor und forderte mich energisch auf, im Auto zu bleiben und weiterzufahren. [. . .] In der gleichen Nacht wurden von den gleichen Verbrechern, von der gleichen Polizei beschützt, die Synagogen in Brand gesteckt. Und am nächsten Morgen meldete die gesamte deutsche Presse, die Bevölkerung sei es gewesen, die ihrem Unmut spontan Luft gemacht habe. Zur selben Stunde in ganz Deutschland - das nannte man Spontaneität. Ignatz Bubis hat übrigens ein Jahr nach Jenninger Teile aus Jennigers Rede vorgetragen. Es gab keine nationale Entrüstung.

Das Buch von Günther Schwarberg Das Getto: Spaziergang in die Hölle ist noch antiquarisch zu bekommen. Das Buch von Inge Marssolek und René Ott Bremen im Dritten Reich ist nach einem Vierteljahrhundert leider vergriffen (lässt sich aber auch noch finden). Man sollte sich bei Carl Schünemann und beim Senator für Kultur wirklich mal überlegen, ob man das nicht wieder auflegt. Der Kriegsverbrecher Walter Többens, den die historische Forschung jahrzehntelang unbeachtet gelassen hat, besitzt inzwischen einen Wikipedia Artikel und hier bei Bremen History eine informative Seite (zur Zeit leider offline).

Dieser Text stand hier seit 2010 schon mehrfach. Ich stelle ihn an diesem 9. November noch einmal hier hin, genügend Brandstifter haben wir in Deutschland ja wieder. Und jetzt sitzen sie auch schon im Bundestag und wollen sich ihr Land und ihr Volk zurückholen.

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Samstag, 7. November 2020

Roy Cohn

Er hatte doch schon gewonnen. Und dann verschwanden Stimmen auf mirakulöse Weise. War das nicht seltsam? Jetzt wollen sie ihm die Wahl stehlen. Sein Sohn zitiert schon Joseph Goebbels und redet vom totalen Krieg. Hysterie und Paranoia. Hatten wir es uns anders vorgestellt? Steht das nicht alles schon 1964 in Richard Hofstadters Aufsatz The Paranoid Style in American Politics?

Where's my Roy Cohn? soll Donald Trump einmal ausgerufen haben. Ein Ausdruck der Verzweiflung, ungefähr so etwas wie A horse, a horse, my kingdom for a horse bei Shakespeare. Der junge, aufstrebende Geschäftsmann kann nicht ohne den Juristen leben. Roy Cohn hat ihn zu dem gemacht, was er ist. Roy Cohn, schamlos, eiskalt, machtversessen, so der Spiegel, ist Amerikas Dr Frankenstein, der mit Trump sein eigenes Monster erschaffen hat.

Donald Trump ist nicht der einzige Klient von Roy Cohn; der Mann, der schon der Rechtsberater des rechtsradikalen Senators McCarthy war, hat noch andere Klienten. Die Tony Salerno, Carmine Galante und John Gotti heißen. Kurz gesagt: die ganze New Yorker Mafia. Donald Trump ist in guter Gesellschaft. Roy Cohn, den die Süddeutsche einen amerikanischen Alptraum nannte, bringt Trump die Dinge bei, mit denen der nach oben kommen wird. Sagen wir es einfach: leugnen, lügen, angreifen, verleumden, verklagen. Niemals entschuldigen.

Roy Cohn war schon häufig in diesem Blog, zum Beispiel in dem Post Ray Bradbury, in dem es um den Film Fahrenheit 451 und Bücherverbrennungen geht. Ich zitiere mal eben: Nein, da ist jemand, der von seinen Feinden im Kongress als the junior senator from Wisconsin bezeichnet wird, damit man den scheußlichen Namen Joseph McCarthy nicht aussprechen muss. Der hat sich nämlich gerade den Sender Voice of America und die vom United States Information Service unterhaltenen Bibliotheken der deutschen Amerika Häuser vorgenommen, muss alles vom Kommunismus gereinigt werden. Seine beiden Henkersknechte Roy Cohn und David Schine machen eine book burning mission durch Deutschland. All das, was durch die Re-Education aufgebaut worden war, gerät jetzt unter Generalverdacht. 

Triumphierend findet Roy Cohn im Amerika Haus in Frankfurt zwei Krimis von Dashiell Hammett. Da kann man doch sehen, wie weit die kommunistische Unterwanderung schon fortgeschritten ist! Viele Bibliotheksleiter finden originelle Wege, um die Anweisung der Buchvernichtung aus Washington zu umgehen, das hat mir einmal ein pensionierter Bibliotheksdirektor erzählt. Präsident Eisenhower ist das Treiben seines Parteifreunds McCarthy zuwider, er hält sich zwar meistens öffentlich zurück, aber privat sieht er auch die Gefahr und sagt: I will not get in the gutter with that guy. Doch in dieser Situation ringt er sich zu einem erstaunlich klaren öffentlichen Statement durch: Don't join the book burners. […] Don't be afraid to go in your library and read every book. Das hätte McCarthy eine Warnung sein sollen, aber der attackiert in seinem Größenwahn die US Army. Das wird sein Untergang. 

Schon vorher hatte Cohn Dashiell Hammett verhört, er insinuierte, dass alle Einkünfte aus dessen Romanen und Filmen nach Moskau geflossen seien. Hammett, Soldat im Ersten und im Zweiten Weltkrieg, schweigt zu den Vorwürfen des Mannes, der sich um den Wehrdienst gedrückt hat. Hammetts Lebensgefährtin Lillian Hellman wird das trio infernale Roy Cohn, David Schine und Joe McCarthy in ihrer Autobiographie Scoundrel Time Bonnie, Bonnie and Clyde nennen. Womit sie natürlich etwas über die sexuelle Orientierung der Herren sagt.

At long last, have you left no sense of decency? wird Joseph Welch, der Anwalt der US Army, den Senator McCarthy fragen. Es ist der Wendepunkt der Anhörungen des Kongresses, die landesweit übertragen werden. Es ist das Ende von McCarthy, er wird sich zu Tode saufen. Roy Cohn wird wieder auftauchen, trinkt Champagner und fährt Rolls Royce. Und hat Klienten, die in der Mafia oder im Pädophilie Business sind. Als Cohn starb, hatte er nach einer Entscheidung des Supreme Court von New York alle Rechte als Anwalt verloren. Schon dreimal war er wegen dishonesty, fraud, deceit and misrepresentation angeklagt worden (diese schönen Wörter passen irgendwie auch auf Donald Trump). Jetzt endlich setzte man dem Treiben des Mannes ein Ende, der wie Trump keine Steuern bezahlte (the closest thing we have in this country to a Nazi or Soviet-type agency, nannte er die Finanzbehörde).

L'avocat du diable hat der französische Journalist Philippe Corbé den Anwalt in einem gerade erschienenen Buch genannt. Für den englischen Historiker Eric Hobsbawm war er in dem Kapitel Epitaph for a Villain in seinem Buch Uncommon People ein Nichts: Apart from a few unrequited personal favors to friends and lovers, and an ability to entertain, he did good to none and brought ruin to many. Tony Kushner hat Roy Cohn in dem Theaterstück Angels in America auf die Bühne gebracht, Al Pacino hat ihn in der Verfilmung des Stückes gespielt. Emile de Antonios Dokumentarfilm Point of Order aus dem Jahre 1964 kann ich hier anbieten, und ich habe noch etwas ganz Neues. Where's my Roy Cohn? ist nicht nur ein Satz von Donald Trump, es ist auch ein Dokumentarfilm aus dem letzten Jahr. In dem noch ein zweiter Film über Roy Cohn mit dem Titel Bully, Coward, Victim: The Story of Roy Cohn erschienen ist. Sie können beide Filme hier sehen, Donald Trump wird sie sich bestimmt nicht angucken. Ivy Meeropol, die Regisseurin von Bully, Coward, Victim, ist übrigens die Enkelin von Julius and Ethel Rosenberg, für deren Verurteilung der junge Roy Cohn damals gesorgt hatte.

Dienstag, 3. November 2020

once more, with feeling

Woodrow Wilson war der letzte amerikanische Präsident, der sich seine Reden selbst schrieb, dann kamen die Ghostwriter. Franklin Delano Roosevelt hatte mit Archibald MacLeish sogar einen richtigen Dichter, der ihm die Reden schrieb. Mit dem übrigens Thomas Mann befreundet war, der auch einmal in den amerikanischen Wahlkampf eingriff: Ich bin öffentlich für FDR herausgekommen, aber man hört auf mich immer noch viel zu wenig. Das ist die Tragik, man hört immer zu wenig auf die Dichter. Dabei hatte doch Shelley gesagt: Poets are the unacknowledged legislators of the world. Seit Woodrow Wilson sind hundert Jahre vergangen. Hundert Jahre schöner Reden von Ghostwritern, was haben sie bewirkt? Lassen Sie uns einmal in das Jahr 1998 zurückspringen. Da ist der Saxophonist Bill Clinton Präsident, und Mike Nichols dreht seinen Film Mit aller Macht (Primary Colors), ein Film über den Wahlkampf von Bill Clinton.

Wir kennen Mike Nichols als den Regisseur von Filmen wie Wer hat Angst vor Virginia Woolf, Die Reifeprüfung. Und Catch-22. Und vielen anderen Filmen. Auch sein letzter Film Der Krieg des Charlie Wilson war eigentlich gar nicht schlecht. Gestern Abend sendete Tele 5 den Film Mit aller Macht. Darin spielt Larry Hagman einen ehemaligen amerikanischen Gouverneur namens Fred Picker. Und der alte Saufkopp Hagman wirkt da als Präsidentschaftskandidat elegant und überzeugend, nicht so schmierig wie dieser prollige dirty old man, der in einigen Wochen amerikanischer Präsident sein wird. Hagman hält in dem Film eine Rede, eine wunderbare Rede, aus der ich einmal einen Teil zitiere:

Thank you…would all of you do me a favor? Don’t shout quite so loud. Thanks. I really mean it. I wish everyone would just calm down a little. When I say “everyone”, I mean the press and the TV crews and all my colleagues, and all the people who advise my colleagues. I think we need to calm down some. 

You know, this is a terrific country. But sometimes we go a little crazy. Maybe that’s part of our greatness, part of our freedom. But if we don’t watch out and calm down, it all may spin out of control. The world is getting more and more complicated. Politicians have to explain things to you in simpler terms, so that they can get their little oversimplified explanations on the evening news. And eventually, instead of even trying to explain, they give up and start slinging mud at each other. And it’s all to keep you excited, keep you watching, like you watch a car wreck or a wrestling match. 

That’s just what it’s like – professional wrestling. It’s staged and it’s fake and it doesn’t mean anything… but it seems it’s the only way we know how to keep you all riled up. So what I want to do is quiet things down and start having a conversation about what sort of country we want this to be in the next century.


Am besten machen Sie sich jetzt ein Lesezeichen für diesen Post. Wir werden ihn nach dem 20. Januar noch gebrauchen können.

Das stand hier unter dem Titel Rhetorik am 4. Januar 2017, über fünftausend Leser haben das angeklickt. Ich stelle es noch mal ein. Heute wird in den USA gewählt, vielleicht wird ja alles anders. Oder es wird so, wie sich das Ambrose Bierce in seiner Rational Anthem satirisch vorgestellt hat:

My country, 'tis of thee,
Sweet land of felony,
Of thee I sing —
Land where my fathers fried
Young witches and applied
Whips to the Quaker's hide
And made him spring.

My knavish country, thee,
Land where the thief is free,
Thy laws I love;
I love thy thieving bills
That tap the people's tills;
I love thy mob whose will's
All laws above.

Let Federal employees
And rings rob all they please,
The whole year long.
Let office-holders make
Their piles and judges rake
Our coin. For Jesus' sake,
Let's all go wrong!