Der Erzähler Marcel Proust redet in seinem letzten
Roman über die Krankheit, die ihn aus der Welt genommen hat, über die Liebe zu Albertine, über sein Werk:
Je me disais aussi: « Non seulement est-il encore temps, mais suis-je en état d’accomplir mon œuvre? » La maladie qui, en me faisant, comme un rude directeur de conscience, mourir au monde, m’avait rendu service (car si le grain de froment ne meurt après qu’on l’a semé, il restera seul, mais s’il meurt, il portera beaucoup de fruits), la maladie qui, après que la paresse m’avait protégé contre la facilité, allait peut-être me garder contre la paresse, la maladie avait usé mes forces et, comme je l’avais remarqué depuis longtemps, au moment où j’avais cessé d’aimer Albertine, les forces de ma mémoire. Or la recréation par la mémoire d’impressions qu’il fallait ensuite approfondir, éclairer, transformer enéquivalents d’intelligence, n’était-elle pas une des conditions, presque l’essence même de l’œuvre d’art telle que je l’avais conçue tout à l’heure dans la bibliothèque?
Marcel Proust schreibt hier in
Le Temps Retrouvé über sich selbst. Aber die
maladie des Romans ist längst zu einer wirklichen Krankheit geworden. Er ist krank, sterbenskrank. Er korrigiert die Druckfahnen der letzten Bände seines Romans. Er entschuldigt sich bei seiner Haushälterin
Céleste Albaret, dass er so oft husten muss und ständig das Gleichgewicht verliert. Im Frühjahr hatte er ihr gesagt, dass er das Wort
Fin unter sein Werk geschrieben hat.
Jetzt kann ich sterben, sagte er. Und fügt hinzu:
Ich möchte, daß mein Werk in der Literatur eine Kathedrale darstellt. Eben deswegen ist es nie beendet. Selbst wenn der Bau beendet ist, muß immer noch dies oder jenes als Schmuck hinzugefügt werden, ein Fenster, ein Kapitell, eine kleine Kapelle mit einer kleinen Statue in der Ecke.
Aber wirklich fertig ist die Kathedrale noch nicht, da sind die Korrekturfahnen, die wollen gelesen sein. Und er schreibt Briefe, immer wieder Briefe: Sie werden sehen, Céleste, kaum dass ich tot bin, werden alle meine Briefe veröffentlichen. Ich habe einen Fehler gemacht, ich habe zu viel geschrieben, viel zu viel, sagt er zu Céleste. Im April hatte er sich einen Sterilisationsapparat gekauft, der mit Formalin die an ihn gerichteten Briefe sterilisiert, der Asthmatiker fürchtet sich vor Röteln und Keuchhusten, die gerade umgehen. Er sterilisiert seine Briefe, aber die Arzneien, die ihm sein Arzt verschreibt, die nimmt er nicht. Er lässt sie aus der Apotheke holen, aber sie bleiben in ihrer Verpackung.
Er kommt aus einer Arztfamilie, sein Vater war Professor der Medizin, sein Bruder ist Professor der Medizin. Er versteht viel von Medizin, und es ist viel von Medizin in seinem Werk die Rede. Es wäre gut, wenn er jetzt ins Krankenhaus ginge, wie ihm sein Bruder rät, aber er bleibt in seinem mit Korkplatten ausgeschlagenen schalldichten Zimmer, toujours au lit. Im Oktober besucht er noch einmal eine Soiree des Grafen Etienne de Beaumont, dem er im Mai des vorigen Jahres geschrieben hatte, dass er seine Einladung zum Besuch einer Ingres Ausstellung nicht annehmen könne: Ich war seit einiger Zeit derart – nicht krank, sondern – todkrank, daß ich für diesen Besuch keine Möglichkeit sehe... Es wäre für Sie ja wohl auch nicht sehr angenehm, wenn ich zur 'Sensation' (Schlaganfall, plötzlicher Tod usw.) Ihrer Ausstellung würde, die genügend Meisterwerke vereinigt, um auf den 'überfahrenen Hund' verzichten zu können.
So krank kann er nicht gewesen sein, er wird die Ingres Ausstellung (und die Vermeer Ausstellung) noch zusammen mit seinem Freund Jean Louis Vaudoyer besuchen.
Lieber Freund, ich bin nicht zu Bett gegangen, um heute morgen Ver Meer und Ingres zu sehen. Wollen Sie den Toten, der ich bin und der sich auf ihren Arm stürzen wird, dorthin geleiten? … Wenn Sie zusagen, werde ich Sie gegen viertel nach neun Uhr abholen lassen, schreibt er ihm. Vaudoyer wird ihn auf der Terrasse des Jeu de Paume photographieren, es ist eins der letzten
Photos, die wir von Proust haben. Während des Museumsbesuchs verspürt Proust ein Unwohlsein, doch er bewahrt Haltung wie auf dem Photo und speist mit Vaudoyer im Ritz. Wenn er nach Hause kommt, ist er völlig erschöpft und hat Schwindelanfälle, aber seine Begeisterung für Vermeer ist ungebrochen, wie er seiner Haushälterin mitteilt:
sein Blick war so verzückt, dass man hätte glauben können, er habe das Bild noch vor Augen. 'Ach Céleste, diese Sorgfalt im Detail , diese Subtilität. Das kleinste Sandkörnchen! Wie das ausgefeilt werden musste! Ich sollte noch korrigieren und korrigieren und Sandkörner hinzufügen ...' Auch wenn es nur Sandkörner und keine Details einer Kathedrale sind, es bleibt immer etwas hinzuzufügen.
Die Sache mit einem plötzlichen Tod in einer Ausstellung wandert in den Roman
La Prisonnière, wenn der Schriftsteller Bergotte in der Vermeer Ausstellung stirbt:
Endlich stand er vor dem Vermeer, den er strahlender in Erinnerung hatte, noch verschiedener von allem, was er sonst kannte, auf dem er aber dank dem Artikel des Kritikers zum erstenmal kleine blaugekleidete Figürchen wahrnahm, ferner, daß der Sand rosig gefärbt war, und endlich auch die kostbare Materie des ganz kleinen, gelben Mauerstücks. Das Schwindelgefühl nahm zu; er heftete seine Blicke – wie ein Kind auf einen Schmetterling, den es gern festhalten möchte – auf das kostbare kleine Mauerstück. So hätte ich schreiben sollen, sagte er sich. Meine letzten Bücher sind zu dürr, ich hätte die Farbe in mehreren Schichten auftragen, hätte meine Sprache so kostbar machen sollen, wie dieses kleine gelbe Mauerstück es ist.
Indessen entging ihm die Schwere seines Schwindelgefühls nicht. In einer himmlischen Waage sah er auf der einen Seite sein eigenes Leben, während die andere Schale das kleine so trefflich in Gelb gemalte Mauerstück enthielt. Er spürte, daß er unvorsichtigerweise das erste für das zweite hingegeben hatte. Ich möchte doch nicht, sagte er sich, für die Abendzeitungen die Sensation dieser Ausstellung sein. Er sprach mehrmals vor sich hin: 'Kleines gelbes Mauerstück mit einem Dachvorsprung, kleines gelbes Mauerstück.' Im gleichen Augenblick sank er auf ein Rundsofa nieder; ebenso rasch dachte er nicht mehr, daß sein Leben auf dem Spiel stehe, sondern in wiederkehrendem Optimismus beruhigte er sich: Es ist nur eine Verdauungsstörung, die Kartoffeln waren nicht ganz gar, es ist weiter nichts. Ein neuer Schlag streckte ihn nieder, er rollte vom Sofa auf den Boden, wo die hinzueilenden Besucher und Aufseher ihn umstanden. Er war tot. Tot für immer? Wer kann es sagen? Das runde Ledersofa im Jeu de Paume kennt Proust genau, er hatte sich während des Besuchs der Vermeer Ausstellung wegen des Schwindels mehrfach dort hinsetzen müssen.
Die Soiree beim Comte Beaumont im Ritz ist das letzte Mal, dass Proust einen Frack anzieht, dass letzte Mal, dass er in großen Welt, die er in seinem Werk immer wieder beschreibt, erscheinen wird. Auf dem Rückweg in der kalten Nacht erkältet er sich, Fieber hatte er schon die ganzen Tage. Jetzt folgt eine Bronchitis, dann eine Lungenentzündung. Am 1. November erscheint in der
Nouvelle Revue Française ein Vorabdruck aus
La Prisonnière, die zwei kleinen Stücke enthält (alle Vorabdrucke aus
À la recherche du temps perdu, die ab 1910 erschienen, sind 2004 in deutscher Erstausgabe als
Der gewendete Tag veröffentlicht worden):
La regarder dormir und
Mes réveils. Die Leser sollten nicht wissen, dass diese Stücke aus dem Roman
La Prisonnière stammen, deshalb heißt die im Schlaf beobachtete Frau hier nicht Albertine sondern Gisèle. Es ist passend, dass
La regarder dormir jetzt erscheint, denn Proust ist mit den Korrekturen von
La Prisonnière gerade fertig geworden (genaugenommen ist er bis zur Seite 136 des Typoskripts von
La Prisonnière gekommen) und macht sich an die Bearbeitung von
Albertine disparue. Beide Romane werden posthum erscheinen. Der letzte Band des Romans
Le temps retrouvé, in dem sich das Bild von dem literarischen Werk als Kathedrale findet, wird 1927 erscheinen.
Proust ist im Juli einundfünfzig geworden. Er hat jetzt, wo
La regarder dormir erschienen ist, noch zwei Wochen zu leben. Und er lebt sie, wie er es will, ohne Ärzte und Medikamente, aber mit unermüdlichem Arbeitseifer, auch wenn er in einem halbkomatösen Zustand ist. In den Tagen vor seinem Tod bringt sein Bruder ein Sauerstoffgerät ins Haus, damit er besser atmen kann. Proust stirbt am 18. November 1922, sein Bruder und Céleste Albaret sind bei ihm. In der Nacht zuvor hatte er noch gearbeitet.
Wenn ich diese Nacht überlebe, werde ich den Ärzten beweisen, dass ich stärker bin als sie, hatte er zu Céleste gesagt. Er kann den Ärzten nichts beweisen. Der Abbé
Arthur Mugnier soll nach seinem Tod an seinem Bett beten, darum hatte Proust ihn gebeten. Er kennt ihn gut, weil der Abbé in derselben Gesellschaft verkehrt, die Proust in
À la recherche du temps perdu beschreibt und in Künstlerkreisen ein gern gesehener Gast ist. Aber der Abbé (der wahrscheinlich das Vorbild für Prousts
Abbé Poiré ist) kann kein Gebet über dem Leichnam sprechen, er ist erkrankt.
Der Beichtvater des Faubourg Saint-Germain wird jedoch eine Totenmesse für Proust lesen. Und das wird er jedes Jahr am 18. November in Saint Pierre de Chaillot tun, darum hatte Proust nicht gebeten. Doch die Prinzessin Marthe Bibesco, die der Abbé zum Katholizismus bekehrt hatte, hatte ihren Beichtvater darum gebeten. Die Beerdigung findet in der Kapelle von Saint Pierre de Chaillot statt. Mit militärischen Ehren. Proust ist Ritter der Ehrenlegion, da steht einem das zu. An Musik gab es die
Pavane pour une infante défunte von Maurice Ravel, einem Komponisten, dessen Musik Proust nie besonders mochte. Roger Martin du Gard, mit dem sich Proust im Vorjahr wegen einer schlechten Rezension beinahe duelliert hatte, beschreibt den Aufmarsch von halb Paris in
Les Memorables:
Was für eine stattliche Beerdigung! Und in der Tat, wie viele Zylinder! Herzöge, Fürsten, Botschafter, der Jockey-Club, der Cercle de l'Union in Schnürstiefeln, Monokel, sauber gezogene Scheitel teilten die glänzenden Locken... In der Menge das vornehme Pariser Judentum und die ganze in die Jahre gekommene Pariser Päderastrie, geschminkt, mit lackierten Fingernägeln und umherschweifenden Blicken.
Der Korrespodent des
Manchester Guardian wird nach Prousts Tod unterkühlt und sachlich schreiben:
Marcel Proust, foremost of 'young novelists' of France, died yesterday. He was fifty years old and had been in poor health from childhood. It is probable that he was as well known abroad, especially in Holland and England, where Marcel Proust Societies have recently been formed, as in Paris, where his work was enjoyed by a select minority. His style was difficult and obscure, and his intricate, exquisitely delicate meditations and analysis of emotions could never have appealed to the mass of readers. Outwardly and in his habits he was a strange being. Very pale, with burning black eyes, frail and short in stature, he lived like a hermit in his home, which was open to a few privileged friends, amongst precious furniture. Yet by fits and starts he loved to re-enter the fashionable 'night-life' of Paris. His apartment was lined throughout with cork in an ineffectual attempt to keep out the uproar of the noisiest city in the world. Most of his best-known work was done after he reached the age of forty-five years. Of all idols and masters of present-day literature in France he is most likely to have won a place which time will not take away.
Mit dem he is most likely to have won a place which time will not take away wird er natürlich Recht behalten.