Donnerstag, 25. Juli 2024

Olympia


Auf dem Gehäuseboden dieser Uhr lodert die olympische Flamme. In 750er Gold. Ein Goldplättchen hat meine alte Eterna Kontiki auch. Dies hier ist eine Omega Seamaster Diver, die gerade zu den Olympischen Spielen in Paris erschienen ist. Das wirklich potthässliche Teil mit einer goldenen Lünette kostet 9.700 Euro. Wer kauft sich so etwas? Die Firma Omega war über hundert Jahre eine inhabergeführte Firma, heute ist sie eine Tochtergesellschaft der Swatch Group. Und der geht es schlecht, sehr schlecht. Das ganze Chinageschäft ist weggebrochen.

Aber Werbung mit den Olympischen Spielen lässt sich die Firma Omega nicht nehmen, Olympia ist ihre Werbeplattform. Seit 1932 statten sie die Olympischen Spiele mit Zeitmessern aus. Mit der Ausnahme der Olympischen Spiele 1964 in Tokio, da wurden die Zeiten von Seiko gestoppt. Die brachten auch eine Olympia Uhr heraus, die war aber nicht so teuer. Das hier ist die Schweizer Sprinterin Léa Sprunger, die teure Omega am Arm hat sie bestimmt nicht selbst bezahlt. Aber so nett sie aussieht, auf die Seite der Omega Botschafter hat sie es noch nicht geschafft. Nicole Kidman schon. Doch Omega hat da noch eine Extraseite für sportliche Markenbotschafter. Ich nehme an, dass die jetzt alle so eine Olympiauhr mit Goldplättchen kriegen.

Von vorne sieht das Modell so aus. Als ich die Bilder zum ersten Mal sah, dachte ich mir, das sei eine alte Wostok Columbus, das Goldbronzemodell. Mit Sportlern zu werben, ist nicht ungefährlich. Was ist, wenn der Markenbotschafter beim Doping erwischt wird? Die IWC wird damals nicht so begeistert über ihren Markenbotschafter Jan Ullrich gewesen sein. Während der Spiele dürfen Athleten für nichts Werbung machen. Steht so in der Regel 40 des IOC: Kein Wettkampfteilnehmer, Trainer, Betreuer oder Funktionär darf seine Person, seinen Namen, sein Bild oder seine sportliche Leistung für Werbezwecke während der Olympischen Spiele einsetzen, außer dies wurde vom IOC genehmigt.

Eine vernünftge Regel, würden wir denken. Aber nun klagt das Bundeskartellamt gegen das IOC und den Deutschen Olympischen Sportbund. Sie behinderten durch ihre Marktmacht die armen Athleten, die jetzt nicht mit der Werbung ein klein bisschen Geld machen können. Neun Tage vorher und während der ganzen Olympischen Spiele darf ein Omega Markenbotschafter keine Werbung mit seiner Uhr machen. Das bedeutet für einen Amateur, und es sind ja nur Amateure in Paris, einen goßen Verdienstausfall. Wir reden ja heute nicht mehr über den Geist von Olympia, das citius, altius, fortius gilt nur noch für die Werbung.

Montag, 22. Juli 2024

das Blaue Band

Da läuft sie am 9. Juli 1959 zur ✺Jungfernfahrt nach New York aus, die neue Bremen. Sie wird für die Fahrt zwanzig Stunden mehr brauchen als jene Bremen, die heute vor fünfundneunzig Jahren in der Rekordzeit von vier Tagen, 17 Stunden und 42 Minuten den Atlantik überquert hatte. Die Bremen von 1959 war das fünfte Schiff des Norddeutschen Lloyds, das diesen Namen trug. Vorher hieß das Schiff Pasteur. Der Norddeutsche Lloyd hatte das 32.336 BRT große französische Schiff für dreißig Millionen Mark gekauft, um es beim Bremer Vulkan wieder zum Luxusdampfer umbauen zu lassen. Der Umbau, zu dem ich hier einen kleinen Fernsehfilm von Radio Bremen habe, wird das Doppelte des Kaufpreises kosten. Der Verkauf der Pasteur hatte in Frankreich zu großem Unmut geführt, weil die Franzosen hier ein Symbol Frankreichs an die boches verkauft sahen. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie sie die Weser herauf geschleppt wurde, der ganze Ort stand unten am Strand. Das Schiff wurde zuerst nach Bremen geschleppt, dort bei Hochwasser im Hafen gedreht und dann wieder nach Vegesack gebracht. Da lag sie nun, sozusagen direkt vor der Haustür. Und da konnten wir zwei Jahre lang bewundern, wie sie immer schöner wurde.

Als das Schiff ankam, hatte es nichts mehr von einem stolzen Passagierschiff an sich. Dass die Pasteur zuvor kein Passagierschiff mehr war, sondern nur noch ein Truppentransporter, wusste ich damals nicht. Aber Hans Fander hat mir erzählt, dass er mit diesem Schiff zusammen mit tausenden anderer Fremdenlegionäre aus Indochina nach Frankreich zurückgekommen war. Von 1945 bis 1956 hatte die Pasteur 750.000 französische Soldaten befördert. Hin und her zwischen Marseille und Indochina. 

Als sie 1959 den Vulkan mit dem gelben Schornstein vom Norddeutschen Lloyd verließ, galt sie als das schönste Schiff seiner Zeit. Das Piano im großen Salon war schneeweiß. Das hat mir der Peter erzählt, der die Bremen dank einer Führung des Direktors vom Vulkan besichtigte, bevor sie abgeliefert wurde. Ich hätte auch dabei sein können, war es aber nicht. Ich konnte diesen Direktor des Bremer Vulkans nicht ausstehen. Der Vater meines Klassenkameraden Dirk Havighorst, der eine Bootswerft in Rönnebeck hatte, hatte einen Teil der Rettungsboote der Pasteur gekauft. Für jeden Passagier gab es im Rettungsboot eine kleine Kurbel. Wenn man mit sechs Mann ordentlich kurbelte, konnte man mit dem Boot auf der Weser fahren. War eine tolle Sache. Als Hans Fander mir erzählte, dass er während der ganzen Überfahrt nach Frankreich beinahe immer in einem Rettungsboot gelegen hätte, weil es unter Deck nicht auszuhalten war, habe ich ihm gesagt, dass wir vielleicht mit genau diesem Rettungsboot auf der Weser herumschipperten.

Hier, wo gerade die alte Bremen in den dreißiger Jahren von der Bremerhavener Kolumbuskaje ablegt, ist mein Opa mit Oma bei einer der ersten Fahrten der Bremen an Bord gegangen. Einmal Bremerhaven nach Southampton, Touristenklasse. Zurück ging's mit Fähre und Bahn. Er hatte eine Speisekarte von dieser Reise aufbewahrt, die meine Mutter 1959 blöderweise der Reederei der neuen Bremen geschenkt hat. Sie kriegt einen Dankesbrief dafür und einen bunten Prospekt. Ich fand das richtig doof, eine originale Speisekarte von einem Bremer Schiff wegzuschenken, welches einmal das Blaue Band errungen hatte. Vor allem, weil der Kapitän Ziegenbein seinen Gästen zu Ehren des Blauen Bandes ein ganz neues Gericht namens Cordon Bleu serviert haben soll.

Denn als der Kommodore Leopold Ziegenbein mit seiner Bremen in New York ankam, war das die schnellste ✺Atlantiküberquerung, seit die Mauretania der Cunard Line 1909 das Blaue Band erobert hatte. Das Schiff konnte nur deshalb so schnell sein, weil der Hundt hinter dem Ziegenbein her war, wie es später hieß. Der Hundt ist Julius Hundt, der Chefingenieur des Schiffes. Die Engländer werden den Deutschen diese Trophäe wieder abnehmen, die Queen Mary wird 1936 schneller sein als die Bremen. In Erinnerung daran hatte die englische Pfeifenfirma Comoy's ein Modell Blue Riband herausgebracht. Über den Schnelldampfer Bremen gibt es in diesem Blog schon einen Post, den ich heute noch einmal einstelle, überarbeitet und erweitert.

Wir springen mal eben in das Jahr 1939. Hier wird die Bremen noch einmal angestrichen für die große Fahrt über den Atlantik. Die Bremer Speckflagge flattert stolz am Bug. Während der letzten Überfahrt der Bremen über den Atlantik hat der neue Kapitän Adolf Ahrens das Schiff von Freiwilligen (das heißt: der gesamten Besatzung einschließlich der Musiker des Bordorchesters) als Tarnfarbe grau streichen lassen. Während der Fahrt. Er wollte nicht, dass sein Schiff dem Engelsmann, wie er sich ausdrückte, in die Hände fällt. Der Zweite Weltkrieg steht vor der Tür.

Als er mit seiner Bremen den New Yorker Hafen verließ, hat er nicht die amerikanische Nationalhymne The Star-Spangled Banner, sondern das Horst Wessel Lied spielen lassen. Was ja eigentlich nichts anderes als das Lied vom Wildschütz Jennerwein ist (lesen Sie doch einmal den Post The Happy Wanderer). Aber es ist natürlich ein schlimmes Lied, das der Bremer Kapitän da spielen lässt: Als die 'Bremen' in den Hudson hinausgleitet, mehr als die halbe Strombreite einnehmend, intonierte die Kapelle das Deutschland- und das Horst-Wessel-Lied. Mit erhobenen Armen steht die Mannschaft und singt die Lieder der Nation. Machtvoll schallt das stolze Bekenntnis zu Deutschland über die Piers und den Strom. Seine Schriften wie Die Siegesfahrt der Bremen oder Männer Schiffe Ozeane, aus denen dies Zitat stammt, werden nach dem Krieg in der Sowjetisch Besetzten Zone wegen ihres nationalsozialistischen Gedankenguts verboten werden. 

Allerdings muss man bedenken, dass der größte Teil seiner Bücher von einem Ghostwriter namens Christian Hilker stammt, der aus Die Siegesfahrt der Bremen (man beachte allein den Titel) ein Propagandawerk gemacht hat. 1936 war Ahrens als Nachfolger von Kommodore Leopold Ziegenbein Kapitän der Bremen geworden, dem schnellsten und schönsten Schiff der Welt. Bei dem sogar der Schiffsname nachts beleuchtet war. Auf der Fahrt im September 1939 allerdings nicht mehr. Da ist alles dunkel. Es ist das Ende der deutschen Passagierschiffahrt.

Ich hoffe, dass es mir gelingt, euch gesund nach Hause zu bringen, hatte er der Besatzung am 30. August 1939 gesagt, als die Bremen ihre Heimfahrt antrat. Im letzten Krieg war er mit seinem Dampfer Derfflinger in Alexandria von den Engländern aufgebracht und fünf Jahre auf Malta interniert worden. Seit 1894 ist Ahrens auf See, da hat er als Schiffsjunge auf der Viermastbark Renée Rickmers angefangen. Den Bremerhavener Werftbesitzer Rickmer Clasen Rickmers kannte er, sein Vater war bei Rickmers der Gärtner. 1901 besteht der junge Ahrens sein Kapitänsexamen, danach ist er für den Norddeutschen Lloyd auf allen Weltmeeren. Meist in Ostasien. Nach dem Ersten Weltkrieg hatte Ahrens den elterlichen Gemüsehandel in Nordenham übernommen. Dass er kaufmännisch tätig war (wie es im Wikipedia Artikel steht) klingt natürlich besser, aber es war nun mal der Gemüsehandel.

Schon auf der Reise nach New York hatte er am 25. August 1939 südlich von Neufundland den Befehl empfangen, sofort nach Deutschland zurückzukehren und nur noch verschlüsselt zu funken. Der Kapitän Ahrens ist seit 1934 in der NSDAP, aber er gehorcht den Befehlen nicht. Er ist nicht ganz dumm. Er hat hohe amerikanische Diplomaten an Bord und der Sprit reicht nicht bis zurück nach Deutschland.

Doch als er in New York ist, tut er alles, um sofort wieder auszulaufen. Ohne Passagiere. So etwas wie die fünf Jahre Malta soll ihm nicht noch einmal passieren. Die Behörden machen ihm das Leben schwer. Ahrens ahnt, dass man ihn aufhalten will, um sein Schiff den Engländern zu übergeben. Aber als die Zollbeamten am Nachmittag des 30. September das Schiff verlassen, legt Ahrens ab. Zuvor hatte man noch Strafantrag gegen einen desertierten Tellerwäscher gestellt, das ist deutsche Gründlichkeit. Da steht dann im Logbuch: Heute desertierte der Tellerwäscher R.M. geboren 30.8.1913, unter Mitnahme seiner Effekten, Strafantrag wird gestellt. Ich weiß nicht, ob dieser Tellerwäscher Millionär geworden ist, aber glücklicher als im Nazideutschland wird er in Amerika wohl geworden sein.

Dass er solche Photos von Passagieren an Bord der Bremen, die die Silhouette von New York betrachten, nicht mehr machen wird, das ist Hanns Tschira klar. Hanns Tschira arbeitet seit Ende der zwanziger Jahre als Photograph für den Norddeutschen Lloyd. Bei dieser Reise ist er auf der Bremen. Auf dem Leuchtband der Nachrichten am Times Building kann er Englands Erklärung lesen, bei einem deutschen Angriff auf Polen die Polen zu unterstützen. Mit einem Male ist mir die ganze Stadt verleidet. Daß unser Führer die polnischen Provokationen weiter hinnimmt, ist ausgeschlossen, das steht in dem Buch Die Bremen kehrt heim, das den Untertitel Deutscher Seemannsgeist und deutsche Kameradschaft retten ein Schiff hat. Herausgegeben in Kooperation mit der NS Gemeinschaft Kraft durch Freude. Die meisten Bilder in diesem Post stammen von Hanns Tschira, sie können auf dieser Seite beinahe alles sehen, was er an Bord der Schiffe des Norddeutschen Lloyd photographiert hat.

Die Bremen (zweite von unten) wird eins der letzten deutschen Schiffe sein, das Amerika verlässt. Eigentlich wollte Ahrens lieber nach Kuba, aber die Telegramme aus Berlin sind jetzt eindeutig. Kuba ist nicht drin. Der Kapitän der französischen Normandie, die neben der Bremen liegt, lässt als Gruß einmal die Trikolore dippen. Sein Schiff wird den Rest des Krieges in New York bleiben. Ahrens schafft es, ohne dass ihn die Engländer aufhalten, über den Atlantik. Zwar nicht nach Bremerhaven, erst einmal in den noch neutralen Hafen Murmansk. Und von da aus im Dezember dann endlich doch nach Bremerhaven. Den Triumph, gleich zu Beginn des Krieges das schönste und größte Schiff der deutschen Handelsflotte zu erbeuten, wird der Engländer jedenfalls nicht erleben, wird er schreiben. 1940 verleiht ihm der Norddeutsche Lloyd den Titel eines Kommodore und der Bremer Senat die goldene Ehrenmedaille. Ein Jahr später wird er pensioniert.

Es ist viel Gewese um die Rückreise (die ja zu einer Siegesfahrt stilisiert wird) der Bremen gemacht worden. Niemand redet von dem Kommodore Friedrich Ferdinand Heinrich Kruse von der Hamburg Amerika Linie. Das Flaggschiff New York der Hapag ist auch Ende August vor New York. Es wird betankt und erreicht Murmansk zwei Tage nach der Bremen. Am 10. November 1939 ist die New York nach einer Schleichfahrt entlang der norwegischen Küste in Kiel-Holtenau. Aber da ist kein bekannter Photograph an Bord, der sofort ein Buch über die Fahrt schreibt wie Hanns Tschira. Und wahrscheinlich ist Kruse auch nicht in der Partei. Die New York wurde 1945 durch einen Luftangriff der Amerikaner vor dem Seebad Bellevue in der Kieler Förde versenkt.

Am dritten September 1939, als die Bremen den sechzigsten Breitengrad erreicht, sagt Ahrens der Mannschaft, dass er niemals zulassen werden, dass sein Schiff der britischen Marine in die Hände fiele. vorher werde er es versenken. Und setzt hinzu: Obendrein zünde ich das Schiff noch an! Das Anzünden soll zwei Jahre später angeblich der siebzehnjährige Decksjunge Gustav Schmidt besorgt haben, der deshalb nach Marinerecht (die Bremen gehörte inzwischen der Kriegsmarine) zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Aber es gibt erhebliche Zweifel an dieser Darstellung. Das Schiff wird in Bremerhaven ausbrennen.

Ahrens war die Verkörperung des befähigten Seemannes und Nautikers, der die angeborene Gabe besaß, mit bewunderswerter Sicherheit schwierige Situationen vorauszuahnen und unnachahmlich zu meistern, heißt es in der Bremischen Biographie über ihn. Dort wird auch sein Engagement für die Stiftung Haus Seefahrt in Grohn gelobt. Eine Leistung, die vielleicht größer ist, als die Bremen nach Hause zu bringen. Ahrens war als Schiffahrtsexperte von 1949–1953 als Mitglied der Deutschen Partei im Bundestag. Die konservative Partei, die nur in den norddeutschen Bundesländern antrat (und in Bremen die meisten Stimmen bekam) war damals sogar Regierungspartei.

Die Entnazifizierungsakte stuft Ahrens als Mitläufer ein. Das Kommando der Bremen hätte er wohl nicht bekommen, wäre er nicht in der Partei gewesen. Das war sein Vorgänger, der Kommodore Leopold Ziegenbein, auf keinen Fall. Der war 1936 in Pension gegangen, offiziell aus Altersgründen (er war zweiundsechzig), in Wirklichkeit war es wohl eher eine Zwangspensionierung, an der er und die Reederei gleichermaßen interessiert waren. Er wäre nie auf die Idee gekommen, seine Briefe Mit deutschem Gruß und Heil Hitler zu unterzeichnen, wie Ahrens das tut. Er beendet offizielle Feiern der Mannschaft an Bord der Bremen mit einem dreifachen Hurra, nicht mit Sieg Heil. Dass 1934 das jüdische Bordpersonal entlassen wurde, hatte er nicht verhindern können. Dass 1935 in New York die Hakenkreuzflagge vom Heck der Bremen gerissen wird, hat ihn nicht besonders berührt.

Er war ein Mann, der mit allen Situationen fertig wurde. Als er noch ein junger Seeoffizier auf der Prinz Ludwig war und sich eine Diplomatengattin kreischend über eine Ratte in ihrer Kabine beschwerte, wäre der gute Ruf der Schiffe des Norddeutschen Lloyds beschädigt gewesen. Wenn da nicht der Erste Offizier Leopold Ziegenbein gewesen wäre. Mit gewinnendem Lächeln dankte er der Dame für das Wiederauffinden des schon schmerzlich vermissten Maskottchens des Schiffes. Es braucht wohl nicht hinzugesetzt werden, dass die Ratte natürlich kein Maskottchen war.

Er war der berühmteste deutsche Kapitän seiner Zeit, die Stadt New York hatte ihn zum Ehrenbürger gemacht (oben ist er mit Graf Luckner zu sehen). Ziegenbein war Freimaurer (und Rotarier), er verstand sich als nationaler Patriot und Weltbürger, der sich und seine Reederei immer als Botschafter seines Landes ansah. Albert Ballins Satz Mein Feld ist die Welt könnte ihn charakterisieren. Aber das Deutschland der Nazis war nicht mehr das seine. Das waren sowieso freudlose Fahrten für den Mann geworden, der die schönen Frauen liebte: der internationale Jet Set meidet deutsche Schiffe. Die Bremen ist zu einem Nazischiff geworden. Im Oktober 1936 teilt er dem Norddeutschen Lloyd seinen bevorstehenden Rücktritt aus gesundheitlichen Gründen mit.

Ziegenbein zog sich in sein Haus in Bremerhaven (wo es heute eine Kommodore Ziegenbein Promenade gibt) zurück und hisste die schwarz-weiß-rote Flagge, wenn die Bremen zurückkam. Niemals die mit dem Hakenkreuz. Es war für ihn der schmerzlichste Augenblick seines Lebens, die Bremen brennen zu sehen. Das war sein Schiff gewesen, er hatte schon die Bauaufsicht bei der AG Weser gehabt. Hatte der Mauretania das Blaue Band abgenommen. Da hatte sogar Willem aus seinem Exil in Doorn ein Glückwunschtelegramm gesandt. Natürlich kam auch ein Telegramm von Hindenburg, der das Schiff getauft hatte. In Uniform mit Pickelhaube. Als die Amerikaner Bremerhaven besetzten, verbannten sie Ziegenbein in seinem Haus unters Dach. Das hat der Ehrenbürger von New York ihnen übelgenommen. Die Bremische Biographie 1912-1962, die eine ganze Seite für Adolf Ahrens übrig hat, erwähnt Leopold Ziegenbein mit keinem Wort. Ein Schiff, zwei Kapitäne. Und ein hingerichteter Schiffsjunge. Auf einer Sandbank bei Blexen kann man bei starker Ebbe noch die Reste des Schiffes sehen. 

Der erste Kapitän der neuen (fünften) Bremen hieß 1959 Heinrich Lorenz. Er sitzt auf diesem Photo rechts neben Fidel Castro. Seine Tochter Marita sitzt links neben Castro. Lorenz' Gattin, Alice June Lofland (eine Cousine von Henry Cabot Lodge), war unter dem Künstlernamen June Paget einmal Ballerina am Broadway gewesen. 1932 haben die beiden in Bremerhaven geheiratet. Im Krieg verhalf sie gefangenen französischen Widerständlern zur Flucht. Sie wurde denunziert und landet mit ihrer kleinen Tochter Marita im KZ Bergen-Belsen. Sie haben beide Bergen-Belsen überlebt. 

Die Tochter Marita Lorenz wird noch berütmt, weil sie eines Tages eine Liebesaffäre mit Fidel Castro hat. Hier sind Marita und Fidel bei einem Tête-à-Tête und rauchen kubanische Zigarren. Marita arbeitet dann nicht wie ihre Mutter für das NSC, sondern für die CIA. Bekam von Frank Sturgis den Auftrag, Fidel Castro zu vergiften. Tat sie aber nicht, stattdessen schlief sie mit ihm. Aber das ist eine andere Geschichte.

Adolf Ahrens' Buch Die Siegesfahrt der Bremen lag bei meinem Opa herum, ich habe es gelesen, als ich noch klein war. Es war nicht so interessant wie die Erzählungen der Kapitäne, mit denen mein Vater befreundet war. Wenn Sie mehr zu der denkwürdigen Fahrt der Bremen lesen wollen, kann ich noch empfehlen: Gertrud Ferber, 'Acht Glas': Kommodore Ziegenbein. Wesen und Wirken eines deutschen Seemannes (1940). Klaus-Peter Kiedel, Die letzte Transatlantikreise des Schnelldampfers Bremen. In: Jahrbuch der Schiffbautechnischen Gesellschaft 98 (2004). Nils Aschenbeck, Schnelldampfer Bremen (1999). Peter A. Huchthausen, Shadow Voyage: The Extraordinary Wartime Escape Of The Legendary SS Bremen (2005) und Thomas Siemon, Ausbüxen, Vorwärtskommen, Pflicht erfüllen: Bremer Seeleute am Ende der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus 1930-1939 (2002), Schnelldampfer Bremen Hg. Norddeutscher Lloyd 2013.

Freitag, 19. Juli 2024

Ellen Andrée: nue et habillée

Der Maler Edgar Degas wurde heute vor hundertneunzig Jahren geboren, das wäre ein Grund, über ihn zu schreiben. Was ich aber nicht tun werde, weil ich ihn nicht mag. Weshalb ich ihn nicht mag, das steht in dem Post Edgar Degas. Und auch in dem Post Ratten sage ich nichts Nettes über ihn. Dieses Bild wird immer mit dem Titel L'Absinthe zitiert, original hieß es Dans un Café. Das grünliche Zeug, das die Dame vor sich hat, ist Absinth, ein Getränk, das Baudelaire in seinem Gedicht →Le vin des chiffonniers den Wein der Bettler, genannt hat. Die Dame trinkt in Wirklichkeit keinen Absinth, der Herr neben ihr wohl schon. Es ist der Maler Marcellin Gilbert Desboutin, der neben der Schauspielerin Hélène (oder mit ihrem Künstlernamen Ellen) Andrée sitzt. Die war über das Bild überhaupt nicht glücklich, fünfzig Jahre später hat sie gesagt: Je suis devant une absinthe. Desboutin devant un breuvage innocent, le monde renversé, quoi ! Et nous avons l’air de deux andouilles. Das ist es, die beiden sehen aus wie Idioten, eine Nutte und ein Penner. Soll das die Bohème sein oder nur die Demimonde?

Als Degas das Bild malte, war Ellen Andrée zwanzig Jahre alt. Sie war Schauspielerin, war aber auch das Modell für viele Maler. Sie hat für Degas, Manet und Renoir (und andere) Modell gesessen. Die Maler liebten sie, nicht weil sie besonders schön war, sondern weil sie lange in der Position sitzen oder stehen lonnte, die der Maler gerne haben wollte. Die Wikipedia hat eine schöne Seite für die Schauspielerin, mit vielen Bildern. Hier ist sie das Modell für Édouard Joseph Dantans Bild Un Moulage sur Nature. Das ist eins der wenigen Male, wo sie nackt posiert. Das zweite Bild mit der nackten Ellen habe ich natürlich auch, es war ein Bild, dass 1878 ein Pariser Skandal war.

Das Bild Rolla, das Henri Gervex gemalt hat, war schon zweimal in diesem Blog, einmal in Ratten und zum zweiten Mal in les grandes horizontales. Das Bild Rolla hat etwas mit einer Verserzählung von Alfred de Musset zu tun, in der der Lebemann und Wüstling Jacques Rolla gerade Sebstmord begehen will. Er hatte sich in die junge Marie (die hier auf dem Bett liegt), verliebt. Für die kleine Marie war die Prostitution eine Flucht aus der Armut. Ich zitiere einmal die passende Stelle und dann haben wir das Bild besser verstanden:
 
»Was mit mir ist?« sprach er – »beim Himmel, liebe Kleine,
Weißt du denn nicht, daß ich seit heute Nacht ruiniert?
Das weiß ja alle Welt! – Drum muß ich sterben gehen,
Und kam die Nacht hierher, noch einmal dich zu sehen.«
»Ja hast du denn gespielt?« – »O nein, ich bin ruinirt!«
»Ruiniert?« frug sie; und wie zur Statue gerührt,
Ließ sie den vollen Blick starr auf der Decke ruhn –
»Ruiniert? Ruiniert? Hast du denn keine Mutter? Hör!
Verwandte? Keinen Freund? Auf Erden niemand mehr?
Und tödten willst du dich? Weshalb willst du es thun?«
Vom weichen Kissen hob plötzlich das Haupt Marie,
Und süßer glomm ihr Blick als wie in allen Tagen.
Es bebte ihr der Mund im Drang von tausend Fragen,
Doch keine wurde laut – nur schluchzend neigte sie
Ihr Angesicht auf seins zu einem langen Kuß. –
»Jakob – zürnst du, wenn ich um etwas bitten muß?«
So schluchzte sie – »du weißt, Jakob – Geld hab ich nie –
Denn was du mir auch gabst, nahm mir die Mutter ab –
Jedoch – dies Halsband hier – 's ist Gold – soll ich's verkaufen?
Du nimmst das Geld und spielst – laß, Jakob – ich will laufen ....«
Ein mattes Lächeln war die Antwort, die er gab;
Drauf zog ein Fläschchen er hervor, trank's langsam leer,
Neigte sich über sie und küßte ihren Schmuck.
Dann sank auf ihre Brust sein Haupt mit leisem Druck –
Und als Marie es hob, da war es kalt und schwer.
Durch diesen keuschen Kuß ließ er die Seele scheiden,
Und, einen Augenblick, hatten geliebt die Beiden.

Der Salon hatte das Bild 1878 schon angenommen, aber kurz vor der Ausstellungseröffnung ließ der Direktor das Bild von der Wand nehmen. Weil es unmoralisch sei. Das Moralische ist ja bei der Aktmalerei immer ein Problem. Dass es hier gerade Sex gegeben hat, das ist uns klar. Den Spazierstock des Herrn, der zwischen ihrer Unterwäsche auftaucht, haben die Betrachter als Penissymbol verstanden: L'attitude d'abandon de cette nudité voluptueuse, à laquelle la chemise ouverte de l'homme fait écho, suggère, sans équivoque, l'ivresse sensuelle d'une nuit d'amour que conforte au premier plan, telle une nature morte, l'amoncellement de dessous féminins - corset rouge doublé de blanc, jarretière de soie rose et jupon empesé - dans lesquels s'enchevêtrent la canne et le chapeau haut de forme de l'amant, sagt Sophie Barthélémy, die Direktorin des Musée des Beaux-Arts de Bordeaux, dazu. 

Und Betrachter hat das Bild gehabt. Zwar nicht im Salon, aber für drei Monate im Schaufenster eines Kunsthändlers in der Rue de la Chaussée d’Antin. In einem Interview hat Gervex 1924 gesagt: Manet, Degas, Stevens, die Alten und die Jungen, alle drängten sich vor dem Gemälde, das schon berühmt war, bevor es den Salon betrat... Doch kaum hing es an der Wand, als Turquet, der Superintendent des Beaux-Arts, unterstützt von der Jury des Salons, den brutalen Befehl gab, es aus Gründen der Unmoral zu entfernen... So kam es, dass ein Kunsthändler mir anbot, 'Rolla' in seinem Geschäft in der Chaussée-d'Antin auszustellen... Ich nahm, wie Sie sich vorstellen können, dankbar an, und tatsächlich gab es drei Monate lang einen ununterbrochenen Besucherstrom mit einer Reihe von Kutschen, die sich bis zur Oper stauten. Eine von Gervex angefertigte Kopie des Bildes mit der nackten Ellen Andrée brachte bei Sothebys im Jahre 2016 den erstaunlichen Preis von 1,38 Millionen Pfund, der Schätzwert hatte bei 400.000 bis 600.000 Euro gelegen. Vielleicht kam dieser Preis zustande, weil es gerade im Musée d’Orsay die Ausstellung Splendeurs et misères: Images de la Prostitution, 1850-1910 gegeben hatte, in der das Original von Gervex auch zu sehen war. Dies Bild von Manet, das La Parisienne heißt, zeigt uns Ellen Andrée (die auch Gervex gerne als Modell nahm) vollständig bekleidet. Manet hat sie mehrfach gemalt, nie nackt.

Sophie Barthélémy sagte zu sensationellen öffentlichen Ausstellung des Bildes von Gervex, die zu erheblichen Verkehrsbehinderungen führte: On venait y respirer le même parfum de scandale qui avait accompagné un an plus tôt la subversive 'Nana' de Manet. Das mit dem respirer le même parfum de scandale finde ich sehr schön ausgedrückt. Manets Nana besitzt die Hamburger Kunsthalle, 1973 stand das Bild im Zentrum der Ausstellung Nana – Mythos und Wirklichkeit. Das schöne Katalogbuch von DuMont kann man antiquarisch noch für wenige Euro finden. Auch so gut wie garnichts kostet das Buch Monet und Camille: Frauenportraits im Impressionismus, das ich schon in dem Post Camille in grün erwähnt habe. Noch mehr zu dem Thema findet sich in dem Buch Painted Love: Prostitution in French Art of the Impressionist Era von Hollis Clayson (hier im Volltext).

Ellen Andrée, hier von Degas gemalt, ist siebenundsiebzig Jahre alt geworden. Sie hat alle Maler, die sie malten, überlebt. Der Skandal um das Bild Rolla begünstigte ihre Karriere als Theaterschauspielerin. Und zum Schluss habe ich in diesem Post, der es geschickt vermeidet, den spießigen Kleinbürger und virulenten Judenhasser Degas zu erwähnen, noch ein wunderbares Gedicht von Mascha Kaléko, das zu dem Bild von Gervex passt. Er heißt Der nächste Morgen: 

Wir wachten auf. Die Sonne schien nur spärlich
Durch schmale Ritzen grauer Jalousien.
Du gähntest tief. Und ich gestehe ehrlich:
Es klang nicht schön. Mir schien es jetzt erklärlich,
Dass Eheleute nicht in Liebe glühn.
Ich lag im Bett. Du blicktest in den Spiegel,
Vertieftest ins Rasieren dich diskret.
Du griffst nach Bürste und Pomadentiegel.
Ich sah dich schweigend an. Du trugst das Siegel
Des Ehemanns, wie er im Buche steht.

Wie plötzlich mich so viele Dinge störten!
Das Zimmer, du, der halbverwelkte Strauss,
Die Gläser, die wir gestern abend leerten,
Die Reste des Kompotts, das wir verzehrten.
... Das alles sieht am Morgen anders aus.
Beim Frühstück schwiegst du. 
(Widmend dich den Schrippen.)
Das ist hygienisch, aber nicht sehr schön.
Ich sah das Fruchtgelée auf deinen Lippen
Und sah dich Butterbrot in Kaffee stippen –
Und sowas kann ich auf den Tod nicht sehn!

Ich zog mich an. Du prüftest meine Beine.
Es roch nach längst getrunkenem Kaffee.
Ich ging zur Tür. Mein Dienst begann um neune.
Mir ahnte viel –. Doch sagt ich nur das Eine:
"Nun ist es aber höchste Zeit! Ich geh..."

Dienstag, 16. Juli 2024

Bankgeschäfte


Als ich meinen Namen auf den Verrechnungsscheck schrieb, fragte mich der Bankangestellte: Können Sie mir sagen, was dieses 'VG Wort' auf dem Scheck bedeutet? Ich habe in dieser Woche schon dutzende solcher Schecks in der Hand gehabt. Ich sagte ihm, dass VG Wort die Verwertungsgesellschaft Wort ist. Sozusagen die GEMA der Schriftsteller und Wissenschaftler. Einmal im Jahr zahlen die Tantiemen, mit Verrechnungsschecks. Die Tantiemen waren nicht großartig, eher zweistellig. Aber die Zeit, in der ich Bücher (eins hat mir mal einen Golf finanziert) und Aufsätze schrieb, liegt nun auch schon lange zurück. Ich könnte als Blogger für Posts, die mehr als tausendmal angeklickt werden, auch ein Honorar bekommen, aber dann müsste ich für jeden Post einen Antrag stellen. Hat mir die VG Wort gesagt. Posts mit mehr als tausend Lesern habe ich genug, aber fülle ich dafür einen Antrag von der Größe einer Einkommensteuererklärung aus? Ich habe der VG Wort höflich mitgeteilt, dass sie ein klein wenig weltfremd seien. Dieser Blog kostet den Leser nichts, und ich will auch nichts daran verdienen. Punkt.

Samstag, 13. Juli 2024

Prinzenbad


Ich sehe durch einen Spalt und sehe: ihre roten Haare. Ich tippe: an die Tür und sie lehnt auf dem Tisch mit der Klebepresse und der Andere fickt sie von hinten und er ist immer noch klein und schmächtig und er trägt immer noch Lackschuhe und in seinen Haaren ist immer noch Pomade und sie sagt: das ist geil, und ich sehe ihnen zu und dann stehe ich auf und dann laufe ich leise über das Dach und dann schleiche ich - Vorgreifen, Stützen, Schwung und drei Stufen die Eisentreppe hinunter und dann gehe ich über den Hof und dann winkt die Frau im Foyer und dann winke ich nicht, wozu auch, und dann gehe ich durch die Einfahrt und dann bin ich in der Stadt. So hört der Roman Prinzenbad von Michael Wildenhain auf. Er hatte mit Sex angefangen, dann muss er auch mit Sex mit der kleinen Rothaarigen aufhören. Bei dem Sex auf der ersten Seite des Romans ist die kleine Rotharige allerdings nicht dabei. Weil der Text der ersten Seite gar nicht von Wildenhain stammt, der ist aus Samuel Becketts Molloy. Das wissen wir als Leser, weil es auf der letzten Seite des Romans einen Zitatnachweis gibt. Wir sind in der Postmoderne, da wird in Romanen gerne zitiert, aber dies war der erste Roman, den ich las, in dem die Zitate mit Seitenzahlen aufgelistet wurden. Eine ganze Seite kleingedruckt und pickepackevoll.

Reiner Brasch wird in dem Roman häufig zitiert, immer wieder. Und eine Autorin namens Jayne Anne Phillipps mit ihrem Buch Das himmlische Tier. Auch David Bowie und Jim Morrison, Bertolt Brecht und William Faulkner sind mit Zitaten in dem Roman. Aber auch Humphrey Bogart mit Ich schau dir in die Augen, Kleines. Wer hier nicht genannt wird, ist Louis-Ferdinand Céline, denn manches hier klingt ein wenig nach Célines Voyage au bout de la nuit. Bei Célines Tod sprach der Spiegel von Célines rüde, entfesselte, krakeelende, unflätige, wortgewaltige Trümmersprache voll Hohn, Haß und galligem Humor. Manchmal klingt Prinzenbad auch so.

Wir sind mit diesem Roman nicht in dem Prinzenbad auf der Prinzeninsel im Großen Plöner See, wo die Söhne des Kaisers das Schwimmen erlernt haben. Und wo Jil Sander wohnte. Wir sind in dem Sommerbad Kreuzberg, das an der Prinzenstrasse liegt und von den Berlinern auch Prinzenbad genannt wird. Mein Kreuzberg sah in den frühen sechziger Jahren ganz anders aus als das Kreuzberg von Wildenhain. Mit dem Roman Prinzenbad sind wir in der Berliner Hausbesetzerszene der achtziger Jahre. Deren Teil der Autor selbst gewesen ist. Jetzt ist er dreißig Jahre alt, macht sich als Schriftsteller selbstständig und schreibt diesen Roman. Im Berliner Rotbuch Verlag, wo sonst.

Die Cheflektorin vom Rotbuch Verlag Gabriele Dietze hatte Wildenhains ersten Roman zum beispiel k. angenommen, weil sie von der Sprache beeindruckt war: und k, schmeißt und fühlt sich gut, im kopf die bilder von brokdorf noch frisch, im bauch die Lust, ein fiebern, und eine ahnung von frühling, revolution, k, flankt über den zaun zum mittelstreifen, wannen, wannen, ein brett auf die straße. Ein müllcontainer, DIE STRASSEN KOMME ICH ENTLANGGEWEHT / VOM WEICHEN GLÜCKE GANZ BELAUBT, k rennt, rennt mit wenigen leuten [...] k, läuft, die Luft ist lachen. Sie hat später dazu geschrieben: Und doch scheine ich die Kladde bald zur Hand genommen zu haben. Kleinschreibung, stöhne ich, das ist so mühsam zu lesen. Impressionen in abgehackten Sätzen, keine narrative Grundlinie. Ich bin schon dabei das Manuskript für später, die Manuskriptablehnungstage, zur Seite zu legen, als ich auf die Zeilen stoße DIE STRASSEN KOMME ICH ENTLANG GEWEHT, VON WEICHEM GLÜCKE GANZ BELAUBT. Ich stutze. Das ist ja fast nicht zu glauben. Ein Hausbesetzer zitiert meinen Lieblingslyriker, den Expressionisten Ernst Blass. Den kennen eigentlich nur Eingeweihte und Germanisten. Dietze wird Prinzenbad, den Gedichtband Das Ticken der Steine und den Roman Die kalte Haut der Stadt lektorieren. Falls Sie den Expressionisten Ernst Blass kennenlernen wollen, Projekt Gutenberg hat hier seine Gedichte.

Oliver Tolmein hat im Deutschlandfunk über Prinzenbad gesagt Wildenhains Roman ist kein Touristenguide, er führt die Szene nicht vor, sondern schreibt aus ihr heraus. Der Deutschlandfunk hat 2018 zum sechzigsten Geburtstag ein langes Feature über Wildenhain gesendet. Prinzenbad ist ein schmutziger kleiner Roman, hundert Seiten lang. Aber er zeigt, welches Potential in dem Autor steckt. Irgendwie hat er etwas mit Karl Mickinns Altweibersommer und Gerd-Peter Eigners Roman Brandig zu tun. So schmutzig der Roman ist, enthält er doch viel Lyrisches. Auch ein wenig Expressionismus.

Wildenhain wird neben den vielen Romanen noch ein halbes Dutzend Gedichtbände veröffentlichen. Und viele Literaturpreise bekommen. Zu seinem sechzigsten Geburtstag hat er eine Art Festschrift von seinen Freunden bekommen. Gabriele Dietze war auch dabei. Ich habe mal mit ihr korresondiert, als sie beim Rotbuch Verlag eine Krimireihe etablierte. Sie hat dann eine Doktorarbeit geschrieben, die als Buch unter dem Titel Hardboiled Woman erschien. Kostet bei ebay 10€, Sie können das aber hier unentgeltlich lesen, wenn Sie den Titel anklicken. Ist kein gutes Buch. Ich habe ja zu den amerikanischen Hardboiled und Tough Guy Helden, den femme fatales und den Good-Bad Girls eine Menge geschrieben, lange bevor ich Blogger wurde. Aber mein Name taucht nirgends in ihrem Literaturverzeichnis oder in den Fußnoten auf. Da wollen wir mal hoffen, dass sie mit dem Edieren der Texte von Wildenhain etwas sorgfältiger gewesen ist.

Prinzenbad ist in gewisser Weise die Vorstudie für den Kreuzbergroman Die kalte Haut der Stadt (wenn Sie den Link anklicken, sind Sie mittendrin). Man kann die ersten drei Romane zum beispiel k., Prinzenbad und Die kalte Haut der Stadt als eine Kreuzberg Trilogie sehen. Von dem, was einmal war, ist der Autor inzwischen weit weg, wie man diesem Interview entnehmen kann. Prinzenbad war für mich vor Jahrzehnten ein Grabbelkastenfund. Ich wusste nichts über Wildenhain, und es gab kein Internet, in dem man alles fand, was man suchte. Aber als ich hier zu schreiben anfing, dachte ich mir, dass ich über diesen Roman schreiben müsste und legte ihn mir auf den Schreibtisch. Ich legte mit der Zeit noch andere Bücher drauf. Jetzt habe ich das Buch aus dem Stapel herausgezogen, jetzt ist es in meinem Blog. Trappatoni würde sagen: ich habe fertig. Das Buch kostet bei ebay vier Euro, es ist mehr wert.

Dienstag, 9. Juli 2024

Centenaire

Der Schulrat war früh gekommen, der Examenskandidat war noch nicht da. Ich musste vor der Prüfung noch ein wenig Konversation machen. Das ist eine schöne Omega Seamaster, die Sie da am Arm haben, sagte ich. Ja, sagte er, Ich habe sie schon lange. Woher wissen Sie, dass das eine Seamaster ist? Ich sammle Uhren, sagte ich. Teures Hobby, sagte er. War es wirklich ein teures Hobby? Vor mehr als dreißig Jahren bekam man für zehn Mark schon etwas Schönes auf dem Flohmarkt, für einen Fuffi schon etwas Besseres. Teurer wurde es, als der Euro kam, weil die Flohmarkthändler alles im Verhältnis 1:1 umrubelten. Heute ist das Sammeln von Uhren wirklich zu einem teuren Hobby geworden. Ich höre auch langsam damit auf, diese Eterna habe ich mir gerade noch gegönnt. Jetzt habe ich ein Dutzend Uhren der Präzisionsuhrenfabrik aus Grenchen, die zwei Quarzuhren nicht mitgezählt. Mein Opa hatte sich vor hundertzwanzig Jahren eine silberne Eterna Taschenuhr gekauft, mein Vater hatte eine Eternamatic, Eterna lag für mich also gewissermaßen in der Familie.

In der Mitte des 19. Jahrhunderts hatte Grenchen (Granges) anderthalbtausend Einwohner, das wird sich durch die Uhrenfabriken Eterna, ETA und ASSA (Adolph Schild SA) gewaltig ändern. Aber vorher ist das einzig Erwähnenswerte im Ort das Heilbad, das der Landwirt Josef Girard 1818 gegründet hat. Girard war ein liberaler Politiker, sein Sohn, der auch Josef Girard heißt, wird Arzt werden und als Kurarzt das Bad leiten. Das Wasser der Bachtelen Quelle scheint eine große Heilwirkung gehabt zu haben. Das Bachtelen-Bad wurde in den 1830er Jahren auch zu einem Zufluchtsort liberaler Emigranten wie Karl Mathy und Giuseppe Mazzini. Auch der Schriftsteller Gustav Freytag war einmal hier, er wird 1870 die Geschichte des Karl Mathy (hier im Volltext) schreiben.

Der Dr Josef Girard, der sich in den politischen Richtungskämpfen der Schweiz nach Abzug der Franzosen wie sein Vater auf die Seite der Liberalen schlägt, gründet 1852 mit seinem Bruder Euseb die erste Uhren- beziehungsweise Rohwerkfabrik in Grenchen, die Firma Girard Frères & Kunz. Diese Fabrik hat kein langes Leben, 1855 wird die Fabrik, die vieleicht hundert Arbeiter beschäftigte, wieder geschlossen. Ein Jahr später wagt Dr Girard einen zweiten Versuch und gründet zusammen mit dem Lehrer Urs Schild die Fabrique d'Ebauches, Finissages et Echappements Dr. Girard & Schild. Der 28-jährige Lehrer Urs Schild hatte bei seinem Vater Anton schon eine erste Ausbildung als Uhrmacher bekommen, denn 1851 hatte Anton Schild zusammen mit Josef Girard eine Lehrwerkstätte für Uhrmacher gegründet. Mit Zuschüssen der Gemeinde wurden die ersten Uhrmacherlehrlinge in Grenchen ausgebildet. 

Zehn Jahre nach der Gründung von Dr Girard & Schild lässt sich der Arzt von Urs Schild seine Anteile für 35.000 Franken ausbezahlen und kehrt in seinen Arztberuf zurück. Die Uhrenfabrik, die zuerst nur Rohwerke (blancs) herstellte und erst seit 1875 ganze Uhren baut, wird seit 1882 Eterna heißen. Das ist lateinisch und heißt ewig. Die Eterna wird über hundert Jahre im Familienbesitz bleiben, das ist nicht ewig, aber doch sehr lange. Schilds Bruder Adolph Schild, ein gelernter Uhrmacher, ist Technischer Direktor der Eterna, er wird schon in dem Post AS 5008 erwähnt. Im Streit mit dem Sohn seines Bruders verlässt er nach dem Tod von Urs Schild die Eterna und gründet mit Hilfe seiner Ehefrau Pauline Schild-Hugi seine eigene Rohwerkefabrik A. Schild & Cie, die nach dem Börsengang Adolph Schild SA heißen wird. 

In einem halben Jahrhundert ist Grenchen aus einem Bauerndorf, das einmal die Zufluchtsstätte liberaler europäischer Emigranten war, mit drei Uhrenfabriken (Eterna, ETA und ASSA) zu einem Zentrum der Uhrenfabrikation der Schweiz geworden. Dazu hat natürlich auch beigetragen, dass die Eisenbahn von Solothurn nach Biel seit 1858 auch in Grenchen hielt. Eine Poststelle hatte Grenchen gerade bekommen, als Girard und Schild ihre Fabrik eröffneten, aber zwanzig Jahre später war die Straße zu Schilds Fabrik immer noch nicht gepflastert. Fortschritt bedeutete in der Schweiz damals, dass alles etwas länger dauert. Aber einen kleinen Flugplatz wird die Stadt 1931 doch noch bekommen, dafür sorgt Adolf Schild-Behnisch, der Sohn von Adolph Schild.

1956 kann der Enkel des Gründers Dr Rudolf Schild-Comtesse auf hundert Jahre Eterna zurückblicken. Man tut das mit einer großen Feier und einem neuen Uhrenmodell, der Eterna Centenaire. Aber Dr Schild wird in seiner Festrede auch sagen, dass es trotz aller Erfolge der Eterna, für die Schweizer Uhrenindustrie schwere Zeiten geben wird. Meine alte Centenaire sieht nicht so schön aus wie diese Uhr hier, das Zifferblatt ist bräunlich geworden. Es steht auch nicht Centenaire auf dem Zifferblatt, nur 21 Jewels. Denn das war neu, einundzwanzig Steine hatten die Automatikwerke der Firma bisher nicht gehabt. Die gab es nur in den neuen Kalibern 1427, 1428 und 1429, die eine Werkhöhe von 4,5 mm hatten. Mit denen wurde die Uhr damals die flachste Automatikuhr der Schweiz. Das Werk hatte einen glatten Glucydur Unruhreif (keine Schräubchen mehr an der Unruhe) und ein bewegliches Spiralklötzchen (damit kann man eine Asymmetrie des Ganges korrigieren). Es ist 13 Pariser Linien (beinahe drei Zentimeter) groß und hat mit 11,5 mm eine relativ große Unruhe. Das Werk hat bei Vollaufzug eine Gangreserve von 48 Stunden. Nach einem halben Jahrhundert sind diese Werke immer noch state-of-the-art.

Es ist auch das erfolgreichste Automatikwerk der Schweiz, denn es ist die Basis für alle Automatikwerke der ETA gewesen. In jedem ETA 2824-2 (auch in den Tudor Uhren von Rolex) steckt heute noch ein wenig von dem Centenaire Werk. Die Centenaire wurde damals mit Prominenten beworben, da finden sich in Anzeigen dann solche Sätze: Grosse Künstler wissen, dass die Uhr ihre Persönlichkeit widerspiegelt. Die Wahl Yehudi Menuhins, des grossen Violin-Virtuosen, fiel auf Eterna Matic 'Centenaire', die allein seine hohe Forderung nach äussertster Präzision und ausgeprägtem Stil erfüllt. Bei der goldenen Uhr von Yehudi Menuhin (die damals 465 Mark und mehr kostete) stand das Centenaire auf dem Zifferblatt, bei meiner steht es nur in schöner Schreibschrift auf dem Gehäuseboden. Mit einem großen C mit Kringelchen dran.

Bei meiner neuesten Eterna steht noch das Wort Chronometer auf dem Zifferblatt, denn die Firma Eterna stellte auch Uhren her, die eine Chronometerzertifikat besaßen. Man schrieb aber nur Chronometer auf das Zifferblatt, nicht officially certified, wie Omega und Rolex das taten. 1955 konnte man in dem Magazin DU lesen: Eterna gehört zu den 'Grossen Drei'. Die offizielle Statistik erwähnt Eterna unter den drei größten Chronometer-Produzenten der Schweiz. Damals war Eterna hinter Omega und Rolex auf Platz drei der Chronometerproduzenten. Allerdings nicht mehr lange, denn die Zahlen von Eterna Chronometern waren doch eher klein. Von 1938 bis 1975 hat es nur 36.000 geprüfte Chronometer gegeben, so viele Chronometer bauen sowohl Omega als auch Rolex 1958 in einem einzigen Jahr. Ob mein neuer Eterna Chronometer so genau gehen wird wie im Jahr seiner Herstellung 1960, das weiß ich nicht. Aber meine alte Centenaire, die letztens beim Uhrmacher war, die geht jetzt sehr genau.

Eterna warb nicht nur mit Yehudi Menuhin, Brigitte Bardot und Gina Lollobrigida, man warb auch 1956 mit dem Uhrmacher Hans Koller, der seit fünfzig Jahren für die Fabrik arbeitete. Eigentlich hätten sie mit ihrem Chefkonstrukteur Heinrich Stamm, firmenintern nur Daniel Düsentrieb genannt, werben sollen. Denn der hatte 1948 die Eternamatic erfunden. Eine Automatikuhr, bei der der Rotor in einem Kugellager mit fünf winzig kleinen Kugeln gelagert wird (30.000 von ihnen würden in einen Fingerhut passen). Die fünf Kugeln werden zum Markenzeichen von Eterna. Beinahe 95 Prozent aller Schweizer Automatikuhren, die heute gebaut werden, das muss ich noch einmal wiederholen, basieren auf dem Eterna Automatikwerk von Heinrich Stamm.  

Das hier ist Rudolf Schild-Comtesse mit seinen Söhnen. Claude, der die Solothurner Zeitung liest, wird der letzte aus der Familie bei der der Eterna sein.Bettina Hahnloser, die Enkelin von Dr Rudolf Schild, hat ein sehr informatives Buch über ihren Großvater geschrieben: Der Uhrenpatron und das Ende einer Ära: Rudolf Schild-Comtesse, Eterna und ETA und die schweizerische Uhrenindustrie. Das Buch, das 2015 im Verlag der Neuen Zürcher Zeitung erschien, ist noch lieferbar. 

Obwohl die Eterna Quarzuhren baut (und 1980 sogar die flachste Quarzuhr der Welt), beginnt sie, in der Quarzkrise unterzugehen. Wie so viele Schweizer Firmen. Um nicht Konkurs anmelden zu müssen, schliesst man sich mit der Société suisse pour l’industrie horlogère zusammen. Dann wird die Eterna von der SMH (die heute Swatch Group heißt) aufgekauft. Dann kaufte der Schweizer Industrielle Franz Wassmer mit seiner Portland Cement Werk Gruppe, die schon de Sede und Charles Jourdan besaß, die Firma. Dann kam der Designer Ferdinand Alexander Porsche. Und Eterna muss bauen, was der Designer erfindet. Eine englische Zeitung schrieb über den schwarzen Porsche Design Chronographen (hier rechts im Bild), dass man das hässliche Teil bestenfalls zu einer Beerdigung tragen könne. Aber es gibt immer noch Sammler dafür. Ich würde das Teil nicht für geschenkt nehmen. Meine Eterna Uhren sind aus der Zeit von 1937 bis 1969, als Eterna die Concept 80 Linie kreierte. Was danach kam, war für mich nicht mehr so interessant. Heute gehört die Eterna der chinesischen Unternehmensgruppe China Haidian, an die die Familie Porsche das Unternehmen 2011 verkaufte. Die waren nach dem Tod von F.A. Porsche heilfroh, dass sie die Firma endlich loswurden.

Das hier ist die neueste Eterna, die ich besitze. Sie hat noch die fünf Eternamatic Kügelchen auf dem Zifferblatt, obgleich sie gar kein Automatikwerk mehr hat. Es ist eine Quarzuhr, klein und elegant. Das auf dem Photo gelbliche Zifferblatt, das so aussieht wie meine Centenaire, ist in Wirklichkeit blendend silberweiß. Es gibt für Eterna Sammler leider kein gutes Buch in der Art der Bücher, die Marco Richon für Omega geschrieben hat (Omega Saga und Omega: Reise durch die Zeit). Das schnell zusammengeschusterte 247-seitige Buch Eterna: Pioniere der Uhrmacherkunst aus dem Jahr 2006 ist die 120 Euro nicht wert, die es antiquarisch kostet. Das Beste daran ist der opulente Bildteil, den Christian Pfeiffer-Belli und Urs Schild aus dem Firmenarchiv und aus Werbeanzeigen zusammengetragen haben. Es gibt allerdings eine wirklich exzellente Eterna Seite von Gerhard Schmidt im Internet. Das Buch Omega: Reise durch die Zeit von Marco Richon ist kaum noch zu bekommen, man nennt es inzwischen die Omega Bibel, und es kostet viele hundert Euro. Es wäre schön, wenn es irgendwann auch mal eine Art Eterna Bibel geben würde.