Samstag, 30. November 2019

Oase in der bremischen Wüste


Ich persönlich mag Böhmermann nicht, ich finde ihn nicht witzig. Aber ich rufe deshalb nicht Angela Merkel an. Böhmermann trägt slimline Anzüge und möchte gerne Harald Schmidt sein. Er kommt aus Aumund (einem Stadtteil Bremens, aus dem man nicht kommt) und war mal auf meinem Gymnasium (das auch nicht mehr das ist, was es einmal war). Das habe ich vor Jahren in dem Post Erdogan geschrieben, und ein Leser hat sich über dieses in Klammern gesetzte einem Stadtteil Bremens, aus dem man nicht kommt köstlich amüsiert. Der Post, der den Titel des türkischen Diktators trägt, war im übrigen eine Verteidigung von Böhmermann. Auch wenn ich ihn nicht besonders mag. Doch ich habe ihn jetzt schon beinahe liebgewonnen, weil in seinem Urlaub in diesem Jahr auf dem Sendeplatz eine Blondine auftauchte, die von sich sagte, sie sei das Sommerloch von ZDFneo. Und auch noch hinzufügte: Mir wird oft gesagt: Du bist gar nicht so billig, wie du aussiehst. Das lassen wir mal so stehen.

Ich möchte heute noch einmal auf die Grenzen zwischen Stadtteilen zurückkommen, das hat etwas mit einem gewissen Snobismus zu tun, mit dem ich aufgewachsen bin. Wir alle wissen, dass es in einer Stadt feine und nicht so feine Gegenden gibt, Gegenden, aus denen man kommen kann, und Gegenden aus denen man besser nicht kommt. Wenn man in Hamburg in Blankenese residiert, dann ist das etwas anderes als wenn man in St Georg wohnt, obgleich es dort auch schon eine Gentrifizierung gegeben hat. Die es im Karoviertel, in dem ich während meines Studiums in Hamburg wohnte, auch gegeben hat.

Wenn man die Lebenserinnerungen von Ascan Klée Gobert liest, wird man erfahren, dass es vor hundert Jahren auch in den feinen Stadtteilen Hamburgs unsichtbare Grenzen gab. Das Hamburg von Goberts Jugend bestand hauptsächlich aus Harvestehude und Blankenese. Wo sich der regionale Hamburger Uradel angesiedelt hatte: Kaufleute und Reeder wie die Slomans, Amsincks, Laeiszs und Blohms, Bankiers wie die Lutteroths und Mäzene wie Nicolaus Hudtwalcker, Gründungsmitglied des Hamburger Kunstvereins. Von den 723 Millionären, die 1911 in Hamburg Steuern zahlten, wohnten mehr als vierzig am Harvestehuder Weg, weshalb die Straße im Volksmund auch Straße der Millionäre hieß.

Da ich den Ort Aumund erwähnt habe, in dem Jan Böhmermann aufwuchs, möchte ich heute noch einmal auf solche Grenzen zwischen Ortsteilen zurückkommen. Es ist kein Zufall, dass zwischen Aumund und meinem Heimatort Vegesack eine Straße liegt, die Zollstraße heißt. Wir in Vegesack waren nicht bremisch, wir gehörten einmal zu Schweden, später zu Frankreich (Département des Bouches-du-Weser), aber eigentlich gehörten wir seit 1715 zum Kurfürstentum Hannover. Die Hannoveraner hatten damals den Dänen das gerade von denen eroberte Herzogtum Bremen abgekauft. Unser berühmter Botaniker Albrecht Roth bekam das Gelände für seinen Park vom englischen König George III geschenkt, die Hannoveraner waren damals auf dem englischen Thron. Aumund, auf der anderen Seite der Zollstraße, gehörte zum Amt Blumenthal, und das war bremisch. Erst 1939 wurde Vegesack in die Stadt Bremen eingemeindet.

Mein Opa war aus dem Osnabrücker Land nach Vegesack gekommen. Dorfschullehrer zu sein und sonntags in der Kirche die Orgel zu spielen, genügte ihm nicht mehr. Er wohnte zuerst mit seiner Frau Johanna in der Breiten Straße, gleich neben seiner Schule. Als meine Mutter geboren wurde, suchte er eine größere Wohnung, denn die Neugeborene hatte von einem sehr reichen Onkel zu ihrer Geburt eine ganze Wohnzimmerausstattung geschenkt bekommen. Mit Klavier. Mein Opa hätte die an der Lesum gelegene Villa eines pleite gegangenen Zigarrenfabrikanten in St Magnus in den zwanziger Jahren relativ preiswert kaufen können. Aber dann hätte er jeden Morgen zu seiner Schule durch den Arbeiterstadtteil Grohn (der für ihn den bösen Beinamen Kamerun bei Pumpe hatte) marschieren müssen, und das war dem kaisertreuen Ex-Hauptmann nun wirklich nicht zuzumuten.

Also kaufte er von seinem Kollegen, dem Heimatforscher Diedrich Steilen, das Haus in der Weserstraße, als Steilen nach Bremen ziehen wollte. Die Weserstraße war nicht der Harvestehuder Weg, aber es war die vornehmste Straße, die der Ort hatte. Das Kapitänshaus aus dem Jahre 1840 hätte mein Opa nicht von seinem Lehrergehalt kaufen können, doch er hatte am Anfang des Jahrhunderts reich geheiratet. Hundert Jahre nach der Hochzeit wird mein Onkel Karl fragen: Wie hatte diese Prinzessin aus der reichen Kornhändlerdynastie zu uns herabsteigen können? Er hat meine stille Oma Johanna immer bewundert.

Hier liegen die Villen der Aristokraten, deren Anlagen das Weserufer eine kleine Strecke hin wirklich sehr verschönern, schrieb Friedrich Engels über seine Dampferfahrt auf der Weser. Er schrieb auch: Vegesack ist die Oase der bremischen Wüste, in Vegesack gibt’s Berge von sechzig Fuß Höhe, und der Bremer spricht wohl von der 'Vegesacker Schweiz'. Vegesack liegt nun auch ganz hübsch oder wie man hier sagt, 'niedlich' oder 'süß'. Der Flecken selbst bietet der Weser eine anmutige Front dar; ehe man hinkommt, sieht man eine Menge Schiffsrümpfe in der Weser liegen, teils ausgediente, teils hier neugebaute. Die Lesum fließt hier in die Weser und bildet mit ihren Hügeln ebenfalls ganz 'niedliche' Ufer, die sogar romantisch sein sollen, wie mich der Schulmeister von Grohn, einem Dorf bei Vegesack, auf Ehre versicherte.

Das mit der Oase der bremischen Wüste hören die Vegesacker natürlich gerne. Die Villen, aus denen man auf die Weser schauen kann, die gibt es, aber man kann sie zählen, dies ist nicht Blankenese. Früher wohnten hier reiche Bremer Kaufleute und Kapitäne (1856 waren es 37 Kapitäne und 9 Steuerleute), heute nicht mehr. Bei einer Frau namens Else Arens kann man lesen, dass die Weserstraße in Bremen-Vegesack zu den schönsten Straßen in Deutschland gehört. Allerdings finden sich in ihrem Buch Kapitäne, Villen, Gärten: Die Weserstraße in Vegesack mindestens drei Fehler pro Seite, Namen und Jahreszahlen stimmen selten. Dass im Haus neben dem unserem in den dreißiger Jahren der SA-Sturmführer Westphal wohnte, den die Nazis 1933 anstelle des entlassenen Dr Werner Wittgenstein zum Bürgermeister gemacht hatten, das steht nicht in dem Buch. Dass Diedrich Steilen in unserem Haus gewohnt hat, auch nicht. Glücklichweise ist dessen Geschichte der bremischen Hafenstadt Vegesack zuverlässiger als das Machwerk von Frau Arens.

Die Weserstraße beginnt bei der Bäckerei Schnatmeyer, gegenüber von dem Kolonialwarenladen von Frau Gießel. Sie zieht sich dann (mit den paar Villen der Aristokraten) über die ganze Geestkante und fällt am anderen Ende zum Bremer Vulkan hin ab. Da unten, wo man im Winter den Berg hinunter mit dem Schlitten fahren konnte, ist sie nicht mehr so fein, Verwaltungsgebäude der Werft und Arbeiterwohnungen bestimmen da das Bild. Die Gärtnerei von Dierksen an der Ecke zur Sandstraße bildet eine Art Grenze. Die Straße ist, wenn wir ehrlich sind, sowieso nicht wirklich fein. Zwar sitzen hier ein halbes Dutzend Ärzte und zwei Werftbesitzer, aber der Rest ist solider Mittelstand: Lehrer (einer davon ein unbeliebter Lateinlehrer), Rechtsanwälte Kapitänswitwen und Ingenieure vom Bremer Vulkan. Doch auch viele Handwerker finden sich hier, wie unser Nachbar, der Malermeister Wenzel, oder die Polsterei von Ühne Flügel. Die Tanzschule von Nico Arff und die Freiwillige Feuerwehr, die in der Straße sind, wollen wir nicht vergessen.

Es war eine stille Straße. Das erste Geräusch am Morgen sind die genagelten Stiefel von hunderten von Vulkanesen, die zur Arbeit marschierten. Sie gingen immer in der Mitte der Straße, der Bürgersteig links und rechts schien für Arbeiter tabu zu sein. Unser Milchmann Martin Bogaschinski kam immer pünktlich mit dem Pferdewagen, sein Pferd wäre wahrscheinlich auch ohne ihn pünktlich gekommen. Es kannte die Strecke. Die Weserstraße hatte nichts vom Lärm der Gerhard Rohlfs Straße, die damals noch Teil der B75 war. Sie hatte auch nichts vom Leben und Treiben der Hafenstraße unten im Ort.

Die Weserstraße ist inzwischen in der deutschen Literatur aufgetaucht, Per Leo, dessen Vorfahren Reeder und Werftbesitzer (Weserstraße 84) waren, hat sie in seinen Roman Flut und Boden hineingeschrieben. Klaus Groth, der viele Sommer in der Villa Finkenhof seiner Schwiegereltern in der Weserstraße verbrachte, hat sie allerdings nicht literaturfähig gemacht. Obgleich er im Jahr seiner Hochzeit einigen Gedichte das Datum und den Ortsnamen Vegesack hinzufügte. Ein Gedicht, das er in der Weserstraße schrieb, sei hier zitiert weil es nirgendwo im Internet steht:

Zu zweien sitzen wir an trauter Stelle, 
Die Welt ist draußen, und das Thor verschlossen, 
Wir treiben Ernst, wir treiben süße Possen, 
Die Lampe leuchtet jetzt behaglich helle. 

Rauscht dort der Strom nicht? und mit Windesschnelle
Vorüber rauscht es wie mit wilden Rossen?
Zieht nur dahin! wir sitzen unverdrossen 
Am stillen Ufer, an des Glückes Schwelle. 

Wir sind wie die, die selig hier gelandet, 
Wo nun den Hafen sanfte Wellen kräuseln, 
Wo Flut und Blut nicht wogt und schäumt und brandet. 
Wir hören Stimmen, die wie Lüfte säuseln. 

Der Strom, der weiter treibt, ist uns versandet, 
Wir sitzen still vertraulich zu karmäuseln.

Vegesack, 2. September 1859 steht unter dem Gedicht, da haben die beiden gerade geheiratet. Die Preussische Akademie der Wissenschaften wird im Jahre 1900 die Verwendung des stillosen Wortes karmäuseln in diesem Sonett kritisieren. Es ist ein Wort, das Google nicht kennt, ab heute wird das anders. Dieses karmäuseln ist nichts als die hochdeutsche Form des plattdeutschen karmüsseln (oder kalmeusern), und das heißt plaudern. Wenn auch das junge Eheglück perfekt ist, so richtig glücklich ist Klaus Groth bei seinen Besuchen in der Weserstraße (die manchmal Monate dauern) nicht. Das Verhältnis zu den reichen Schwiegereltern, die es den armen Dichter bei jedem Aufenthalt spüren lassen, was sie von plattdeutsch dichtenden Nichtsnutzen halten, ist getrübt. Die Tagebücher von Doris Groth, die 1985 unter dem Titel Wohin das Herz uns treibt veröffentlicht wurden, zeigen diese Spannungen deutlich auf. Den Finkenhof gibt es nicht mehr, das Hotel Norddeutscher Hof neben Schnatmeyer, das Doris Groth noch unter dem Namen Bellevue kannte, ist auch nicht mehr da. Die Villa von Arnold Duckwitz, die Klaus Groth und seine Frau gekannt haben, auch nicht.

Arnold Duckwitz ist neben Albrecht Roth der berühmteste Mann, der in der Weserstraße gewohnt hat. Eigentlich wohnt der Präsident der Bremer Bürgerschaft und spätere Bürgermeister in Bremen, dies ist sein Sommersitz. 1848 wurde er als einer der beiden Vertreter Bremens nach Frankfurt entsandt und vom Reichsverweser Erzherzog Johann von Österreich zum Reichshandelsminister bestellt. Und er baute, weil man ihn auch noch mit dem Marinedepartement betraut hatte, die Reichsseewehr - die erste deutsche Flotte -  der 48er Regierung auf. Die hat unter dem ersten deutschen Admiral Rudolf Brommy kein langes Leben. Vier Jahre nach dem Gründungsbeschluss von 1848 wird ihre Auflösung beschlossen, viele Einzelstaaten sind nicht mehr bereit, sie zu finanzieren. Und Preußen will längst unter dem Prinzen Adalbert eine eigene Flotte aufbauen.

Die deutsche Flotte kommt unter den Hammer, Rudolph Brommy hat die traurige Pflicht, all das, was er in kürzester Zeit aufgebaut hat, jetzt wieder abzuwickeln. Er tut das mit peinlich genauer Pflichterfüllung, kümmert sich noch um das Wohlergehen des letzten Matrosen. Aber die Flagge von seinem Flaggschif Barbarossa, die gibt er nicht zurück, die behält er. Sieben Jahre später wird sie seinen Sarg bedecken. Man hat ihn noch zum Contre-Admiral befördert, zahlt ihm eine Abfindung von 2.500 Talern und setzt ihm eine kleine Pension aus. Doch er hatte reich geheiratet und verbringt seinen Lebensabend in einer Villa an der Lesum. Da gibt es am Lesumufer heute noch einen Admiral Brommy Weg. Wäre Brommy ein Engländer gewesen, es gäbe Bücher und Romane über ihn, die Engländer lieben ihre Seehelden.

Der Dichter Hermann Allmers wird nach dem Tode von Brommy ein Gedicht für den Grabstein schreiben, das noch etwas vom Geist von 1848 enthält:

Karl Rudolf Brommy ruht in diesem Grabe
Der ersten deutschen Flotte Admiral
Gedenkt des Wackren und gedenkt der Tage,
An schöner Hoffnung reich und bittrer Täuschung.

Ein großer Teil der Gebäude der Weserstraße, vor allem die Kapitänshäuser zwischen der Breiten Straße und der Kimmstraße, steht heute unter Denkmalschutz. Dafür hat mein Freund Peter gesorgt. Von großen Kriegsschäden sind wir verschont geblieben. Lediglich, als die Engländer in den letzten Wochen den Ort von der anderen Weserseite beschossen, hat das Dach unseres Hauses etwas abbekommen. Der Bremer Vulkan ist während des Krieges im Gegensatz zur AG Weser nicht ständig bombardiert worden, nur am 18. März 1943 gab es schwere Schäden. Der Angriff der amerikanischen B-17 Bomber galt der U-Boot Produktion des Bremer Vulkan, die es nach dem Direktor Robert Kabelac niemals gegeben hat. Kabelac wohnte auch in der Weserstraße, aber niemand von meiner Familie hat ihn je gegrüßt, obgleich sich sonst beinahe alle in der Straße grüßten.

Zehn Jahre nach Kriegsende behauptete Kabelac noch frech, dass der Bremer Vulkan keine U-Boote gebaut hätte. Die vierundsiebzig in Vegesack gebauten U-Boote seien von der damals neu gegründeten 'Vegesacker Werft GmbH' gebaut worden. Die sei nach Kriegsende aufgelöst und ihre Unterlagen vernichtet worden. Dass die Vegesacker Werft GmbH und der Vulkan identisch waren, davon ist nicht die Rede. Truth is the daughter of time. Kabelac beschäftigt für die Werft und den Bau des U-Boot Bunkers in Farge zehntausende von Fremdarbeitern, die in Lagern und KZs untergebracht sind. Viele von ihnen werden durch Unterernährung und Misshandlungen sterben. Dass der Vulkan so selten bombardiert wurde, hat auch etwas mit seinem Eigentümer zu tun. Denn die Werft gehört  dem Baron Heini Thyssen, der sorgt schon bei den Alliierten dafür, dass sein Kapital nicht zerstört wird. Als die Amerikaner den Ort besetzten, geschieht dem Wehrwirtschaftsführer Robert Kabelac nichts.

Die Amerikaner haben, als ihnen die Engländer, die Vegesack erobert hatten, den Ort übergaben, die ganze Weserstraße abgesperrt. Der große Hof des Kaufmanns Redeker wurde eingezäunt und diente kurzzeitig als Gefangenenlager. Die amerikanischen Besatzer hatten auch die meistens Häuser besetzt. Und das Klavier meiner Mutter aus dem Fenster geworfen. Der Rahmen wurde mal geschweißt, aber richtig gut klang das Klavier, auf dem mein Opa mir das Klavierspielen beibrachte, nie mehr.

Ascan Klée Gobert bringt in seinem Buch Kindheit im Zwielicht die hübsche Anekdote: Niemals wäre es umgekehrt einem Pöseldorfer eingefallen, etwa auf der 'anderen Seite', rund um die Alster spazierenzugehen. Die Frau eines Überseekaufmanns vom Mittelweg, in Hongkong befragt, ob sie wohl fast täglich mit ihrer verheirateten Tochter und den Enkeln zusammenkäme, erwiderte klagend 'O nein, sie wohnt auf der Uhlenhorst, und die Alster trennt so rasend!' Ja, diese Trennung von Ortsteilen, es ist etwas, was Sigmund Freud den Narzissmus der kleinen Differenzen genannt hat.

Für Bremer war Vegesack weit weg. Marga Berck gibt in ihrem Buch Die goldene Wolke die schöne Geschichte wieder, die Alfred Heymel seinen Gästen zum Abschied erzählt. Sie handelt von einem Freund, der sich ein flottes Pferd kaufen will, keinen langweiligen Traber. Da sagt der Pferdehändler: Dann kann ich Ihnen nur diesen Braunen empfehlen, sehr empfehlen. Wenn Sie mit dem um neun Uhr früh hier abreiten, sind Sie um zehn in Vegesack. Worauf Heymels Freund antwortet: Dann will ich das Pferd nicht haben, was soll ich denn um zehn in Vegesack?

Für Vegesacker war Bremen weit weg, es wurde zwar beim Nikolauslaufen gesungen: Halli, halli, hallo, nu geiht nach Bremen to, aber im Gegensatz zu den Bremer Stadtmusikanten kamen wir nie dahin. Da mussten wir älter werden, um mit Bahn, Bus und Trolleybus die Stadt zu erreichen. Wenn man nach dem Krieg in Vegesack aufwuchs, war einem der kleine Ort genug an Welt. Und deshalb war das Aumund jenseits der Zollstraße für Vegesacker eine terra incognita. Wobei das ja nur Alt-Aumund ist, nicht das ganze Aumund. Denn das Aumund, in dem einmal die Ritter von Oumünde herrschten, reicht von Fähr, Lobbendorf und Löhnhorst bis Leuchtenburg, bis zur Borchshöhe und Schönebeck. Wenn man so will, ist Vegesack von Aumund umgeben, sozusagen eingekesselt.

Und das bringt mich wieder zu Jan Böhmermann. Er ist stolz darauf, dass er aus Aumund (Aumund-Hammerbeck, um genau zu sein) kommt: Wir haben in einer Genossenschaftswohnung gewohnt. Und es war eine Top-Kindheit. Meine Freunde waren, grob gesagt, kiffende Antifas. Uns verbindet dieses Gefühl von fröhlicher Perspektivlosigkeit, das man hat, wenn man in Bremen Nord aufgewachsen ist. Ich weiß nicht, was aus Jan Böhmermann geworden wäre, wenn er in der Weserstraße aufgewachsen wäre. Bestimmt kein Blogger, der von Zeit zu Zeit nostalgisch über seinen Heimatort schreibt.

Böhmermann hat seine Herkunft aus Aumund immer wieder in seiner Sendung oder dem Podcasts Fest & Flauschig erwähnt. Aber neuerdings wird immer weniger der Stadtteil Aumund und immer mehr der Stadtteil Vegesack erwähnt: Du kriegst den Jungen aus Vegesack raus, aber Vegesack nicht aus dem Jungen. Auf YouTube kann man mit Böhmermann als Fremdenführer mit einem digitalen Bus durch ein digitales Bremen-Nord, eine der traurigsten Regionen Deutschlands, fahren. Er vergisst bei seiner Fahrt auch nicht zu erwähnen, dass die Geiselgangster von Gladbeck einmal hier gewesen sind (wenn die Polizei damals nicht so trottelig gewesen wäre, wäre aus dem Ganzen keine Tragödie geworden). Das Computerspiel OMSI 2-AddOn Bremen-Nord, das Böhmermann zeigt, kann man für 28,99 € kaufen. Ist ganz witzig, den Kommentar von Böhmermann gibt es aber nur bei YouTube. Durch die Weserstraße fährt der digitale Bus allerdings nicht.

Mittwoch, 27. November 2019

No sex please, we're British


Es tut sich etwas in England. Nicht in Sachen Brexit, sondern in Sachen englischer Film. Die in der Directors UK organisierten Filmregisseure haben gerade Richtlinien veröffentlicht, wie beim Drehen mit der Nackheit umzugehen ist. Also Richtlinien, die über das ✺No sex please, we're British hinausgehen. Dieses Photo stammt aus dem Film ✺Naked as Nature Intended (1961), der damals als Dokumentarfilm deklariert wurde und so die Regeln des British Board of Film Censors unterlief.

Zeitgleich mit den neuen puritanischen Regeln hat eine gewisse Emilia Clarke, von der ich noch nie gehört habe, erklärt, dass sie bei den Dreharbeiten zu Game of Thrones (offensichtlich einem filmischen Meisterwerk) zu Nacktszenen gezwungen wurde. Die BZ titelte: Nur mit Alkohol überstand sie die Nacktszenen.  Im Jahre 2011 redete sie noch ganz anders über ihre Rolle: One of the many things I love about Daenerys is she's given me an opportunity to fly the flag for young girls and women, to be more than just somebody's wife and somebody's girlfriend.

In der Zeitschrift Marie Claire konnte man lesen: Thanks to HBO's 'the more naked people, the better' policy, 'Game of Thrones' has gotten to explore some boundary-pushing sex scenes—and not all of them are without controversy. But the show's *best* sex scenes aren't the ones that are simply controversial. They're the ones that are gorgeously filmed, sex-positive, and a break from the norm. Here's the best of the best, which we went ahead and rated on a scale of dracarys (dragonfire) flames, because we are unabashed nerds. Dass diejenigen, die sich so etwas angucken unabashed nerds sind, will ich gerne glauben.

Auch Charlotte Rampling, die sich von 1974 (The Night Porter) bis 2009 (Life During Wartime) beinahe in jedem Film nackt ausgezogen hat und dem Playboy und Helmut Newton hüllenlos zur Verfügung stand, hat neuerdings Bedenken: I’ve always thought this. Despite all that ‘Oh, Charlotte Rampling, you’ve stripped off so much in your life’ stuff, I’ve always thought that unless you’re into group sex you don’t want to share those intimate moments with people watching. Hätte sie sich das nicht früher überlegen können? All das sieht ja eher danach aus, dass man wieder einmal in die Schlagzeilen kommen möchte.

Wenn man in England schon keine wirklich erotischen Filme drehen kann, so hatte man in dem Jahrzehnt, das vom Geschmack vergessen wurde, doch ein Schmuddelkino, das beim Publikum Anklang fand. Why is it that the heart sinks, the knees sag and stark horror grips the soul at those three words: British Sex Comedy? fragt Tim Healey, der das Buch The World's Worst Movies herausgegeben hat. Vor allem in den Carry On Filmen (dieses Photo ist aus Carry On England) konnte man sicher sein, dass sich Barbara Windsor mindestens einmal ein wenig entblösste. One of her most iconic scenes was in Carry On Camping in 1969, where her bikini top flew off during outdoor aerobic exercises, heißt es im englischen Wikipedia Artikel. Für solche iconic scenes kann man in England geadelt werden, Barbara Windsor ist inzwischen Dame Barbara.

1959 kam Jack Claytons Film Der Weg nach oben (Room at the Top) in die Kinos, der das British Board of Film Censors vor große Probleme stellte. Laut Wikipedia ist die Verfilmung von John Braines gleichnamigen Roman mit Simone Signoret und Laurence Harvey der erste britische Film, in dem Sexualität realistisch und lustvoll dargestellt wird und nicht nur als Quelle der Sünde. Ich muss gestehen, dass ich damals bei der durchaus ernstzunehmenden Literaturverfilmung davon überhaupt nichts gemerkt habe. Bei Ingmar Bergman merkte man schon, dass es da Erotik auf der Leinwand gab.

Im gleichen Jahr wie Jack Clayton drehte Michael Powell den Film Peeping Tom, der große Ähnlichlichkeiten mit Hitchcocks Film Psycho hat, es geht um Sex, Voyeurismus und Tod. Das war den Engländern zuviel. Der Film hat der Karriere von Michael Powell und Karlheinz Böhm sehr geschadet. Krankhaft, abwegig und peinlich geschmacklos, urteilte der Katholische Filmdienst. So etwas müssen die sagen, das geht nicht anders. Aber auch die englischen Kritiken waren vernichtend. Derek Hill schrieb in der TribuneThe only really satisfactory way to dispose of Peeping Tom would be to shovel it up and flush it swiftly down the nearest sewer. Even then the stench would remain. Der Film gilt heute als ein Klassiker.

Der erotischste britische Film ist nach Meinung des BFI Peter Stricklands The Duke of Burgundy aus dem Jahre 2014, das BFI schränkte diese Aussage aber sogleich wieder ein: serious British films about eroticism remain as rare as the more exotic butterflies on display in Strickland’s film, despite the considerable relaxation in censorship post-2000. Manche Filmkritiker fanden die Filmmusik noch das Beste an Stricklands Film.

Dieser Cartoon von Ronald Searle erschien 1955 im französischen Figaro, nicht in einer englischen Zeitung. Das sagt uns viel über die Engländer. Die Briten haben keinen Sexfilm, sie haben auch keinen Sex mehr. Sagt der GuardianIf, as Philip Larkin claimed, sex began in 1963, it appears to be fizzling to an end in the early decades of the 21st century. We British, never international avatars of sexual prowess, now seem to be living up to our billing: we are too tired, too stressed, or too drunk to screw. Vielleicht ist der Brexit doch keine so schlechte Idee.

Einen Film sollte ich noch erwähnen, der auf der Liste des BFI für die zehn besten englischen Erotikfilme steht. Er heißt Eskimo Nell, und die BFI Seite sagt über den Film: this one isn’t particularly erotic either, but it does cast a keenly satirical eye on how the sex-film business was run at the time, with wide-eyed ingénues on both sides of the camera and a plot that contrives multiple adaptations of the notoriously filthy poem to please different backers: hardcore porn, a gay western, a kung-fu musical and a family-friendly compromise.

Der neueste englische Film zu dem Thema heißt Proper British Sex. Er dauert sechs (sex?) Minuten.

Sonntag, 24. November 2019

die Schimanski Jacke


Diese Frau sehen wir normalerweise nicht an seiner Seite, das ist Maja Maranow in dem Tatort ✺Der Fall Schimanski. Schimanski erkennen wir natürlich sofort, weil er die berühmte schmuddelige Schimanski Jacke trägt. Ein ewiger Modeklassiker, kann man heute noch kaufen. Ist modisch aber genau so langweilig und spießig wie AKK. Eigentlich ist es die so genannte M-65 Feldjacke der Firma Alpha Industries, die 1965 bei den US Streitkräften eingeführt wurde. Götz George hatte sie in einem Army Shop entdeckt, im Laufe der Jahre wurden aber einige Jacken verbraucht.

Dieser Mann hat auch nur eine Jacke, aber ich glaube nicht, dass der Kurzmantel des Dortmunder Hauptkommissars Faber Mode machen wird. Dafür ist dieser Faber einfach zu bescheuert. Auf einer Seite der ARD wird er als depressiv, sperrig und äußerst unberechenbar beschrieben, das ist zurückhaltend. Die Helden des Kriminalromans (und heute der Fernsehserien) sollen ja etwas exzentrisch sein, das garantiert einen Wiedererkennungseffekt.

Das ist ein Effekt, den wir als Leser oder Zuschauer offenbar brauchen. Wenn sie nicht exzentrisch wie Sherlock Holmes oder Hercule Poirot sind, müssen wir sie an ihrer Kleidung, diesem vestimentären Zeichen, erkennen. Der Detective Chief Superintendent Foyle trägt in Foyle's War den ganzen Krieg hindurch diesen Mantel und diesen Hut. Er braucht auch bei Befragungen seinen Dienstgrad nicht zu betonen wie der DCI Barnaby, er sagt schlicht: I am a police officer. In der ersten Folge von ✺Derrick wollte Horst Tappert auch ein wenig englisch sein und trug einen British Warm, aber das passte nun gar nicht. Vielleicht wäre die Schimanski Jacke für ihn das richtige Kleidungsstück gewesen.

Den Engländer hier links (gespielt von Basil Rathbone) erkennen wir sofort an seiner Kleidung. Er ist ziemlich exzentrisch. Er besitzt eine Stradivari (die er mal für 55 Shilling gekauft hat) und schwärmt für die Geigenfee Wilma Franziska Neruda. Er selbst spielt grauenhaft schlecht Violine, konsumiert Kokain und Morphium und schießt von Zeit zu Zeit die Initialen der Königin Victoria mit einem Revolver in die Tapete. Kommissar Faber hätte sicher seine Freude an ihm.

Wir als Zuschauer haben sicher mehr Freude an dieser kriminalistischen Phantasiefigur, die immer denselben Regenmantel trägt: In 1966 I was walking on 57th Street in New York when it started to rain. I entered a shop and bought a raincoat. When I had to find one for Columbo, I simply took this one. Der kurze Regenmantel, der sicherlich ebenso berühmt wurde wie die Schimanski Jacke, kam von der spanischen Firma Cortefiel, die gibt es immer noch, aber ich glaube, sie stellen keinen Columbo Raincoat mehr her.

Der Herr in der Mitte hat den Trenchcoat berühmt gemacht: The role is a cinch. The role doesn't bother me. I've been doing the role for years. I've worn that trench coat of mine in half the pictures I've been in. Die Photo ist aus dem Film ✺Casablanca, in ✺The Big Sleep trägt Humphrey Bogart auch einen Regenmantel (der kommt schon im Roman vor, in dem es immer regnet), aber der ist nicht weiter bemerkenswert.

Die Trenchcoats werden in dem Genre bleiben, bis zur Karikatur in der Sesamstraße, wo wir diesen Detektiv, aber auch Sherlock Humbug (im Original Sherlock Hemlock), finden. Sie haben ihre große Zeit in den Edgar Wallace Filmen. Die sind ohne Trenchcoats gar nicht denkbar (lesen Sie mehr dazu in Hexer, Zinker et al.). Alle tragen Regenmäntel, ob sie nun Joachim Fuchsberger, Heinz Drache oder Siegfried Lowitz heißen. Nur Siegfried Schürenberg als Chef von Scotland Yard nicht. Gangster und Kommissare können Trenchcoats tragen, Chefs tun das nicht.

Auf einer filmisch etwas höheren Ebene als dem German Grusel der sechziger Jahre finden wir den Trenchcoat im Polar, dem französischen Kriminalfilm. Was wäre Alain Delon in ✺Le Samurai ohne seinen Burberry und seinen Borsalino? Hier sehen wir Yves Montand in ✺Le cercle rouge, einem Klassiker von Jean-Pierre Melville. Und, seien wir ehrlich, Yves Montand oder Alain Delon hätte nie eine Schimanski Jacke getragen. Die französischen Schauspieler haben immer gute Schneider (lesen Sie mehr in dem Post Lino Ventura). Horst Tapperts Anzüge stammten angeblich alle von Max Dietl, sie sehen aber alle nicht nach einem Maßanzug, sondern eher nach Cheap & Awful aus.

Ebenso wiederkehrend wie die Militärjacke (auf der die Schulterstücke der M-65 abgetrennt waren) ist Schimanskis Dauerfreundin Marie-Claire (Denise Virieux) mit den krisseligen Haaren. Sie ist in fünfzehn Tatort Folgen zu sehen, hält ihm über Jahrzehnte die Treue. Trotz der scheußlichen Schimanski Jacke. Das muss wahre Liebe sein.

Donnerstag, 21. November 2019

Mio caro Händel


Mein lieber Händel, beginnt die Sängerin ihren Brief, welche Ehrfurcht und Demut empfinde ich für Sie! Ich verneige mich vor Ihrem Genie und fühle mich mit Ihnen so tief verbunden wie eine Seelenverwandte. Am Ende des Briefes geht sie von dem Sie zum Du über: Deine Musik atmet Erhabenheit, tiefe Menschlichkeit und Wahrhaftigkeit. Und ihre spirituelle Kraft strahlt bis ins Heute. Eines Tages werden wir uns begegnen, zu himmlischen Klängen. Ich liebe Dich von Herzen und umarme Dich mit meiner ganzen Seele. Und sie zeichnet den Brief mit Deine Simone Berlin, im Sommer 2018. Die Liebeserklärung an Georg Friedrich Händel findet sich in dem Booklet zu der CD Mio caro Händel von Simone Kermes, die in diesem Jahr auf den Markt gekommen ist.

Sie war mal ein Punk mit roten Haaren, aber jetzt sieht sie anders aus: Soll ich auf dem Cover meiner neuen Händel-CD aussehen wie die junge Helene Fischer? Das sieht gut aus, gar keine Frage. Aber es hat mit der Sache nichts zu tun, mit dieser Musik. Also mache ich meine eigenen Fotos mit meiner eigenen Fotografin und bezahle die auch selbst. Ich kann nicht anders, ich habe mich immer schon eingemischt. Ein wenig von der Zeit als Punk ist übrig geblieben, wenn man ihre Kleidung betrachtet. Julia Frasi, Händels Sängerin bei The Triumph of Time and Truth, soll auch etwas exzentrisch gewesen sein, aber sicher nicht so wie die Die verrückte Königin der Barockmusik, wie die Welt die Sängerin nannte. Das hier trug sie bei der Echo Klassik Verleihung im Jahre 2014.

Sie entwirft ihre Kleider selbst, sie orientiert sich am Stil des 2010 verstorbenen Modeschöpfers Alexander McQueen, den sie bewundert hat. Über die Kleider ihrer Kolleginnen hat sie wenig Schmeichelhaftes zu sagen: Die stehen auf der Bühne in einem langen, uninspirierten Kleid von der Stange, das aussieht wie ein Scheuerlappen. Das kommt nicht immer gut an: Viele Sängerinnen haben ein Problem mit mir und meiner Art, mich zu kleiden. Es ist kein Zufall, dass ich vor allem Solokonzerte gebe. Sie kann leicht Solokonzerte geben, denn sie hat mit den Amici Veneziani ihr eigenes Orchester.

Sie hat lange mit Teodor Currentzis zusammengearbeitet und hat die Gräfin Almaviva in Le nozze di Figaro gesungen. Sie singt das Porgi amor anders, als man es sonst hört. Auf jeden Fall anders als die Callas. Ein Kommentator namens Kedem Berger schrieb dazu bei YouTube: This is so awful in so many ways, I can't even begin to explain why. She should be executed. Ich dachte, die Hasskommentare finden sich nur bei Politikern, jetzt sind die Klatschenkallis auch schon bei Mozart angekommen.

Currentzis (hier mit Simone Kermes als Donna Anna) hat das ganz gerne, wenn seine Sänger und Sängerinnen die Arie etwas anders angehen, er ist ja häufig bemüht, das Opernhafte aus der Oper zu nehmen. Sein Ottavio (Kenneth Tarver) in Don Giovanni zum Beispiel singt das Dalla sua pace ganz anders, als der es gemeinhin tut. Der Rezensent der Zeit fand übrigens ihr Porgi amor nicht awful: 'Porgi amor' die Cavatine der Gräfin aus dem zweiten Akt, die Klage einer betrogenen Ehefrau, klingt bei Kermes, als wüsste die Gräfin bereits, was nach dem Leben mit dem Grafen kommt. In jedem Fall scheint sie zu wissen, dass es gut sein wird, bei aller seidigen Traurigkeit der Töne. Und schön. Das ist etwas anderes als die Argauer Zeitung, die schrieb: Die fundamentlose Stimme von Barockstar Simone Kermes flattert milchweiss durch ihre Auftrittsarie 'Porgi amor'. Lassen wir das mal unkommentiert. Kermes ist bei den Mozart Opern von Currentzis, den sie mit einem Vampir verglich, die Contessa, die Donna Anna und die Fiordiligi. Man kann sich für alle drei Rollen andere Stimmen vorstellen, aber gegen ihre engelsgleiche Stimme im Contessa, perdono (zu dem es schon zwei Posts gibt) wird kein Kritiker etwas sagen können.

Ich hörte die Stimme von Simone Kermes letztens nachts im Radio, da sang sie Guardian Angels aus Händels Oratorium Il trionfo del Tempo e del Disinganno, das war in der Dunkelheit der Nacht sehr schön. Es ist auch am Tag noch schön:

Guardian angels, oh, protect me,
And in Virtue's path direct me,
While resign'd to Heav'n above.
Let no more this world deceive me,
Nor let idle passions grieve me,
Strong in faith, in hope, in love.
Guardian angels...

Händels Oratorium hat eine seltsame Geschichte. 1707 in Rom zum erstenmal aufgeführt (als Oratorium, um das römische Opernverbot zu umgehen), damals noch italienisch. Später gab es eine englische Fassung The Triumph of Time and Truth, und kurz vor seinem Tod konnte Händel noch die letzte Fassung in London erleben, dirigiert von seinem Assistenten John Christopher SmithRaymond Chandler hat vom cannibalizing gesprochen, wenn er Teile von frühen Stories noch einmal verwendete, Händels Oratorium ist ein einziges cannibalizing. Alles kommt noch mal hinein, auch das Lascia ch'io pianga, das er schon in zwei Opern verwendet hatte. Simone Kermes singt auf Mio caro Händel zwei Stücke aus dem Oratorium. Wenn Sie Teile daraus sehen wollen, dann habe ich hier einen Schnipsel von Jürgen Flimms Inszenierung. Ist vielleicht nicht so schlimm wie die Mozart Oper, die ich in Flimm ist schlimm erwähnte, aber doch irgendwie komisch.

Für Simone Kermes' CD Mio caro Händel brauche ich keine Werbung zu machen, das macht die Firma Sony schon, doch wenn Sie sie kaufen, weil Sie Händel lieben, machen Sie keinen Fehler.

Montag, 18. November 2019

Ertrinken verboten


Sie steht am frühen Morgen unter der Dusche, als sie hört, dass zwei Einbrecher ihren Freund im Nebenzimmer bedrohen. Sie nimmt ihre Pistole, die in dem Halfter an der Wand hängt, und fordert die maskierten Eindringlinge auf, ihre Waffen fallen zu lassen. So beginnt der Kriminalfilm La Guerre des polices, den Dominik Graf in seiner Liebeserklärung an den Polar, den französischen Kriminalfilm, zitiert. Ich wollte das heute zuerst Polar nennen, aber ich weiß nicht, ob Sie mit diesem Wort, das aus Police und Argot gebildet wurde, etwas hätten anfangen können. Dominik Graf habe ich mit seinem Film Zielfahnder schon in dem Post Nackt erwähnt, seit Monaten will ich etwas über ihn schreiben (er wird schon in dem Post Klaus Wennemann erwähnt, aber das reicht nicht). Irgendwann kriege ich das hin. Marlène Jobert hat natürlich ihre Pistole in der Dusche, weil sie bei der Polizei ist, sie hat in diesem Film eine ganz andere Rolle als in Le Passager de la pluie. Doch das Photo ist auf jeden Fall ein guter Anfang, um über den französischen Kriminalfilm zu schreiben.

Im französischen Kriminalfilm haben Kommissare große Macht, vielleicht mehr Macht als in der Wirklichkeit. Das hat auch etwas mit der Struktur der französischen Polizei zu tun. Fans von Kommissar Maigret wissen, dass sein Arbeitsplatz der Quai des Orfèvre ist, aber er wird immer wieder in die Provinz beordert, um dort Morde aufzuklären. Wie zum Beispiel in Maigret kennt kein Erbarmen (Maigret et l'Affaire Saint-Fiacre), wo er in seinen Heimatort zurückkehrt. Die Romanvorlage gilt als einer der besten Romane von Simenon.

Die Kommissare kommen aus der Großstadt, aber sie durchschauen die ländliche Gesellschaft schnell. Wie der Inspektor Lavardin, den wir aus den Filmen von Claude Chabrol wie Hühnchen in Essig (Poulet au vinaigre) kennen. Oder der Kommissar Pierre Niémans in dem Film Die purpurnen Flüsse (Les Rivières pourpres). Die haben da zwar in der Provinz auch Polizei, aber das ist die Gendamerie, die kann in der Welt der Filme die schwierigen Fälle nicht lösen, da muss schon ein Kommissar von der police nationale aus der Großstadt kommen.

In dem Film Ertrinken verboten (✺Noyade interdite) kommen gleich zwei, Paul Molinat (Philippe Noiret) und Leroyer (Guy Marchand). Sie können einander nicht ausstehen, und Kommissar Molinat vermutet, dass Leroyer nicht nur wegen der Toten am Strand in dem kleinen Badeort am Atlantik auftaucht, sondern dass er auch wegen seiner Vergangenheit hier ist. Ich habe den Film vor Jahrzehnten einmal gesehen, und ich mochte ihn sehr. Lakonisch, bösartig, mit schwarzem Humor. Ich habe ihn auch schon in dem Post Les Films de ma Vie erwähnt. Ich habe jahrelang versucht, eine DVD zu bekommen, vergeblich. Die Romanvorlage von Andrew Coburn war erhältlich, der Film nicht. Aber dank der russischen Quelle, die ich schon mehrfach empfohlen habe, kann man ihn jetzt sehen.

Kommissar Molinat ist aus Bordeaux angereist, aber der kleine Badeort ist ihm nicht unbekannt. Er hat hier mal gewohnt, ist fortgezogen, als seine Frau ins Meer gegangen war. Nie wieder aufgetaucht. Jetzt finden sich beinahe täglich Leichen am Strand. Guy Marchand kennt den Ort nicht, aber er scheint etwas von der Vergangenheit von seinem Kollegen zu wissen.

Ich mag Philippe Noiret und Guy Marchand (der schon in dem Post Léo Malet auftaucht) und all die schönen Frauen, die in dem Film zu sehen sind. Sie werden noch Karriere machen. Die hübsche Marie Trintignant (die Tochter von Jean-Louis Trintignant), die Noiret hier im Arm hält, leider nicht so lange, weil sie von ihrem Freund im Drogenrausch umgebracht wurde.

Die Blonde in der Mitte ist Gabrielle Lazure. Die hatte eine ihrer ersten Rollen in dem Film✺La Belle Captive, aus dem diese Bild stammt. Der Film, der damals eine Sensation war, ist von Alain Robbe-Grillet, und über dessen Softporno Filme habe ich in dem Post Robbe-Grillet schon Böses gesagt. Der Film hat der Karriere von Gabrielle Lazure allerdings nicht geschadet, sie ist in furchtbar vielen Filmen zu sehen, aber kaum jemals wieder in einem guten Film wie Noyade interdite. Sie hat gerade in dem Buch Maman... cet océan entre nous mit ihrer Mutter abgerechnet, der sie offenbar eine schlimme Kindheit verdankte.

Neben Gabrielle Lazure steht Elisabeth Bourgine. Die kennen wir schon, wir können sie zur Zeit immer wieder bei ZDFneo in den Wiederholungen von Death in Paradise sehen. In dem Post Polanski wird sie auch schon erwähnt. Wir brauchen diese drei hübschen Frauen, nicht nur weil François Truffaut gesagt hat Le cinéma c'est de l'art de faire faire de jolies choses à de jolies femmes, sie sind für die Handlung unentbehrlich.

Kommissar Leroyer hat sich in den schönen jungen Frauen getäuscht, so wie wir uns als Zuschauer in ihnen getäuscht haben. Wenn Leroyer mit Marie Trintignant, mit der er flirtete, wenn sie halbnackt am Strand lag, jetzt im Bett liegt, hat die plötzlich eine Pistole in der Hand. Das wird er überleben. Auch dass ihn Gabrielle Lazure die Treppe hinunterstürzt. Aber das lange Messer, das Elisabeth Bourgine in der Hand hält, das überlebt er nicht. Spätestens jetzt wissen wir, dass auch die Leichen am Strand auf das Konto der jungen Frauen gehen, die so leicht bekleidet durch den Film flitterten und so unschuldig wirkten.

Am Ende des Films verstauen sie ihr Gepäck in einem weißen Golf mit Pariser Kennzeichen und reisen ab. Aber sie kommen nicht bis Paris, die Polizei ist ihnen schon auf den Fersen. Da bleibt ihnen am Schluss nur ein Ende wie in ✺Thelma & Louise. Für unseren Kommissar Molinat wird es ein Happy End geben, er wird in dem kleinen Ort bleiben und sich mit der hübschen Marie (Anne Roussel), der Tochter seiner ehemaligen Geliebten Winny (Stefania Sandrelli) zusammentun.

Solche Kriminalfilme zu drehen, ist etwas, was die Franzosen können. Und sie haben auch die Filmkritiker, die das würdigen: Pierre Granier-Deferre ménage une ambiance chargée d'électricité. L'humour y est noir. Presque dérangeant. Un policier qui sort des sentiers battus, se mouvant au rythme du ressac de l'océan. Un érotisme soft porté par des actrices qui n'hésitent pas à se dévêtir devant l'objectif du cinéaste pour contenter le regard voyeur de certains personnages comme des spectateurs masculins en général. On pourrait lui reprocher son manque de rythme mais connaissant l’œuvre de ce cinéaste auquel il arrive de prendre son temps 'Noyade Interdite', en terme de vélocité, demeure dans la continuité...

Der Film wurde in St Palais sur Mer gedreht. Ich weiß sogar, wo das ist. Als ich die kleine Geschichte Sommerurlaub schrieb, wollte ich meine Heldin da am Strand plazieren. Aber das ging nicht, sie sollte Elisabeth Bourgine und Marie Trintignant keine Konkurrenz machen. Die schöne Buchhändlerin mochte eine Zicke sein, eine femme fatale war sie nicht. Bei den Dreharbeiten suchte die Filmfirma junge Mädchen, die sich am Strand tummeln sollten. Natürlich nicht für einen érotisme soft porté par des actrices qui n'hésitent pas à se dévêtir devant l'objectif du cinéaste. Die Filmfirma verlangte eine Beurlaubung durch die Schule oder die Begleitung von Erwachsenen. Die Schülerinnen des Lyzeums aus dem benachbarten Royan stellten vergeblich einen Antrag auf Unterrichtsbefreiung. Sie waren dennoch bei den Dreharbeiten dabei und präsentierten dem Direktor am Tag danach Entschuldigungsschreiben von ihren Eltern. Vielleicht ist eine von ihnen ja Schauspielerin geworden, das weiß man in Frankreich nie.

Freitag, 15. November 2019

Dunhill


Als ich die Posts Merrie England's Favourite Pipe und Pfeifenkauf schrieb, hatte ich keine Ahnung davon, dass so viele Leser das lesen würden. Es ermutigte mich, den Post Danske piber zu schreiben, der auch ein kleiner Bestseller wurde. Ich habe in dem Post Pfeifenkauf erwähnt, dass Herr Trennt gerade dafür sorgt, dass eine meiner alten Dunhill Pfeifen repariert wird. Loch im Pfeifenkopf, durchgebrannt. So etwas sollte bei Dunhill, die angeblich die besten Pfeifen der Welt machen, eigentlich nicht vorkommen.

Auf der kleinen alten Garantieurkunde, die unten in der Dunhill Pfeifenschachtel liegt, steht, dass die Firma ein Jahr Garantie gibt (die Firma Charatan wird eine unbegrenzte Garantie geben). Ich habe die Firma damals verflucht und mir gesagt, wenn ich die repariert bekomme, dann schreibe ich mal über Dunhill. Aber bevor ich zu Alfred Dunhill komme, muss ich erst einmal über Charatan schreiben. Denn als Alfred Dunhill vor 110 Jahren in das Geschäft mit den Tabakspfeifen einsteigt, kauft er die bei Charatan, er selbst stellt noch keine Pfeifen her.

Im Jahre 1863, als Tolstoi gerade seinen Roman Krieg und Frieden fertig hat, eröffnet ein russischer Jude namens Frederick Charatan seinen Tabakladen in der Mansell Street in London. Die Mansell Street liegt im jüdischen East End, das ist nicht so fein wie die Duke Street. Es ist die Gegend, wo Jack the Ripper sein Unwesen trieb. Jack London wird über das East End sein Buch The People of the Abyss schreiben, aus dem dieses Photo stammt. Wer hier wohnt oder hier seine Werkstatt hat, will da weg. Und Charatan zieht da weg, erst um die Ecke in die Prescott Street, dann in die Leadenhall Street, da ist er schon in der City of London. Und schließlich ist sein Laden in der Jermyn Street, vornehmer geht es nicht.

Das mit dem Jahr 1863, das Charatan zu der ältesten englischen Firma im Pfeifengeschäft machen würde, steht überall im Internet, aber es ist wahrscheinlich völliger Unsinn. Rechnet man von dem angegeben Alter in seiner Einbürgerungsurkunde zurück, wäre der Frederick (oder Fridrick) Charles Charatan damals vierzehn Jahre alt gewesen. In den ersten offiziellen Verzeichnissen taucht die Firma auch erst in den 1880er Jahren auf.

So bleiben erst einmal unumstritten die Firmen von dem Franzosen Emil Loewe am Haymarket und William Astley in der Jermyn Street (die Charatan eines Tages beliefern wird) die ersten Pfeifengeschäfte in London. Es sind viele jüdische Emigranten, die jetzt die englische Wirtschaft ankurbeln. Die Pogrome und die Maigesetze vertreiben sie aus Russland in das liberale England. Aus Bayern kommen die Frankaus, denen das bayrische Judenedikt das Leben schwermacht. England kann diesen geschäftstüchtigen Zuwanderern nur dankbar sein. Folgt man Heinrich Hausers im amerikanischen Exil geschriebenen Buch Battle Against Time: A Survey of the Germany of 1939 from the Inside, dann hat auch die Familie Dunhill jüdische Wurzeln.

Bevor wir zu Alfred Dunhill kommen, müssen wir mal eben nach Frankreich springen. Denn dort sitzen die Fabrikanten, die als erste das Bruyereholz verarbeiten, das sich so vortrefflich für Pfeifen eignet. Frederick Charatan schnitzte noch Meerschaumpfeifen, das kann der Russe im k.u.k. Österreich gelernt haben, über das er nach England kam. Wien ist im 19. Jahrhundert das Zentrum für vornehme verzierte Meerschaumpfeifen.

Neben dem echten Meerschaum aus der Türkei gibt es auch den Wiener-Meerschaum (oder Massa-Meerschaum), der mit Bindemitteln aus gemahlenen Resten von Fehlproduktionen hergestellt wird. Man kann aus den Meerschaumresten übrigens auch Katzenstreu machen. Es brauchte einige Zeit, bis sich die Bruyerepfeifen in der feinen Gesellschaft durchsetzen. Es gibt heute immer noch Meerschaumpfeifen, und eine Pfeife von Andreas Bauer (Wien) kann mehr als eine Dunhill Pfeife kosten.

Das da auf dem Bild sind die Knollen der Baumheide (Erica Arborea), die sich rund um das Mittelmeer findet. Sie sind ein halbes Jahrhundert alt, Knollen, die jünger sind, werden Qualitätshersteller nicht verwenden. Es ist ein langer Weg, bis aus diesem Holz eine Pfeife wird. Es wird gelagert, gekocht und wieder gelagert. Wenn Sie mehr dazu wissen wollen, klicken Sie diesen Link an. 

Es ist wahrscheinlich die Firma von François Comoy in Saint-Claude gewesen, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts nur noch Bruyere verwendet. Vorher hatten sie schon Pfeifenköpfe aus allen möglichen Hölzern (zum Beispiel Buchsbaum, Kirsche oder Olivenholz) gedrechselt. François Comoys Sohn Henri wird am Ende des Jahrhunderts nach England gehen und dort eine Firma begründen, die Qualitätspfeifen herstellt. Die Comoys werden sich mit ihren Verwandten, den Chapuis, zusammentun und die Firma Chacom gründen, die es heute auch noch gibt. Sainte-Claude ist das Zentrum der französischen Pfeifenindustrie, sie haben da im Pfeifenmuseum auch eine Donald Trump Pfeife. Man kann so etwas kaufen, muss man aber nicht. Ist ungefähr so blöd wie die Horst Lichter Collection von Vauen.

Das Bild hier zeigt Reuben Charatan, dem sein Vater 1910 die Firma übergeben hatte, wie er voller Stolz vor seinem Bruyere Vorrat steht. Das Bild ist vom Anfang der fünfziger Jahre, Charatan ist immer noch gut im Geschäft, ist aber umsatzmäßig von Dunhill überholt worden. Die besitzen inzwischen noch andere Firmen wie Parker, Hardcastle und Masta, und sie werden auch Charatan schlucken. Werden die Firma dann wieder verkaufen und wieder zurückkaufen.

Dunhill macht die besten Pfeifen der Welt. Sagt die Dunhill Werbung. Wie kommt dann eine kleine Firma wie Sasieni dazu, ihre Produkte als World's Premier Pipe zu bezeichnen? Und wird nicht von Dunhill verklagt? Das liegt wohl daran, dass die Firma Dunhill weiß, wie gut diese Sasieni Pfeifen sind. Seine ersten fünf Pfeifenmacher hat Alfred Dunhill von Charatan weggelockt, darunter Joel Sasieni, der der Chef der Pfeifenproduktion von Dunhill wurde. Aber irgendwie gefiel ihm das nicht, obgleich er überdurchschnittlich gut verdiente, und so gründete er seine eigene Firma.

Sasieni hatte schnell großen Erfolg, und so konnte er 1926 in der Zeitschrift Vanity Fair diese Anzeige schalten, die den Prince of Wales zeigt. Mit der Überschrift: ... and the Prince said: 'I like a Sasieni Pipe!' Dunhill hat Sasieni dennoch eines Tages verklagt, weil Sasieni Pfeifen als Markenzeichen einen hellblauen Punkt auf dem Mundstück trugen. Dunhill, die ihre Pfeifen seit 1912 mit dem berühmten white spot verzierten, fühlte sich in seinen Markenrechten verletzt, Sasieni brachte hellblaue Spots auf seinen Pfeifen an. Gegen die deutsche Firma Vauen führte Dunhill einen jahrelangen Prozess, weil die auch weiße Punkte auf ihren Pfeifen hatten. Haben sie immer noch, aber nur in Deutschland, für Exporte mussten graue Punkte auf die Pfeifen. So etwas sind echte Sorgen.

Wirkliche Sorgen bekam Dunhill, als am Nachmittag des 17. Aprils 1941 deutsche Bomben Teile der Jermyn Street und der Duke Street zerstörten. Angeblich haben Dunhills Angestellte Winston Churchill in der Nacht um vier angerufen, um ihm zu sagen, dass der Humidor mit seinen Zigarren gerettet sei. Ich weiß nicht, ob die Geschichte wahr ist. Wahr ist aber, dass Alfred Henry Dunhill, Captain im Ersten Weltkrieg und Träger des Military Cross, am nächsten Tag hinter einem Tisch auf der Straße saß und Tabak und Pfeifen verkaufte, wie man auf diesem Photo sehen kann.

1973 veranstaltete die Kieler Firma Tabac Trennt, die damals seit 103 Jahren im Geschäft war, eine große Sonderschau von Dunhill und Stanwell Pfeifen. Es gab auch eine Dunhill und zwei Stanwell Pfeifen zu gewinnen. Ich habe leider nichts gewonnen, aber eine Stanwell gekauft, die ich immer noch habe. Ist auch nie durchgebrannt. Ich weiß nicht, wie gut Dunhill Pfeifen wirklich sind. Wenn man diesen amüsanten Artikel von Ivy Ryan liest, dann bleibt von Dunhills Ruf nicht so viel übrig.

Dunhill ist heute ein Weltkonzern, der zur Richemont Gruppe gehört (zu der auch die IWC gehört), das Geschäft mit den Pfeifen spielt da keine große Rolle mehr. Es sind tausenderlei Produkte, die den Namen Dunhill tragen. Ihre erste Kollektion Herrenmode kam mal von Ermenegildo Zegna, ich weiß nicht, wer die heute herstellt. Ich weiß auch bei der Dunhill Werbung nicht, was sie soll. Macht John Hurt Werbung für einen Dunhill Pullover?

Es ist niemand aus der Familie Dunhill mehr in der Konzernspitze, und die historische Pfeifensammlung von Alfred Dunhill wurde 2004 bei Christie's verkauft. Man braucht auch keine Dunhill Pfeife, man kann mit Qualitätspfeifen von Parker, Comoy's, Barling, BBB oder Ben Wade auch glücklich werden. Vielleicht auch mit einer amerikanischen Kaywoodie oder einer Missouri Meerschaum Pfeife, ich weiß es nicht. Und wenn man sich etwas wirklich Exklusives kaufen will, dann kauft man eine Pfeife von James Upshall (wie meine Straight Grain hier) oder von Karlheinz Joura aus Bremen.