Das ist die Somme bei Picquigny, gemalt von Camille Corot. Irgendwann in den 1860er Jahren, es ist noch kein Krieg, die Deutschen sind noch nicht da. Die kommen erst 1871. Und 1916, dann wird es hier an der Somme die verlustreichste Schlacht des Ersten Weltkriegs geben. Davon kann man auf dem idyllischen Bild von Corot nichts sehen. Wenn man genau hinschaut, kann man in der Bildmitte im Hintergrund die Reste des Schlosses von Picquigny sehen, das hatte auch einmal eine Bedeutung in der französischen Geschichte. Weil hier in Picquigny die Könige von Frankreich und England am 29. August 1475 einen Krieg beendeten, der hundert Jahre gedauert hatte. Allerdings nicht im Schloss, das jetzt gerade zum Verkauf steht, sondern auf einer Brücke über die Somme.
Bei einem unserer längeren Märsche werde ich in Picquigny auf der Geestkante sitzen und in das Sommetal hinunterblicken. Vielleicht ist es die gleiche Stelle, die Laurence Sterne in Sentimental Journey beschreibt. Eine Million Soldaten sind an der Somme gestorben. Die Niederung der Somme leuchtet in sattem Grün, auf den langsam vergilbenden Photographien meines Opas ist alles chamois-bräunlich. In Deutschland ist gerade die Bundeswehr gegründet worden. 12.900 Offiziere werden im Jahre 1958 noch aus der Wehrmacht stammen. Mein Großvater war hier in Frankreich im Ersten Weltkrieg, mein Vater im Zweiten. Jetzt bin ich hier: Versöhnung über Gräbern. Ich komme nicht auf die Idee, dass ich fünf Jahre später als junger Fähnrich in Frankreich sein werde, einer der ersten deutschen Soldaten nach 1945. Das ist eine seltsame Sache.
Der englische Soldatenfriedhof von Picquigny war sauber und gepflegt, an dem kleinen deutschen Friedhof in Ailly fünf Kilometer weiter war seit 1945 nichts getan. Die Engländer ehren ihre Toten, pflegen ihre Friedhöfe. Alle haben den schönen grünen Rasen, den gleichen weißen Stein; der Generalmajor, der hier in Picquigny liegt, ebenso wie der einfache Soldat. Die Engländer machen das wahr, was Rupert Graves gedichtet hat: If I should die, think only this of me: That there’s some corner of a foreign field That is for ever England.
Aber es hat hier an der Somme auch schon einmal einen Krieg gegeben, der kaum Menschenleben gefordert hat. Dafür müssen wir allerdings bis ins Jahr 1475 zurückgehen, als es den Frieden von Picquigny gab. Der englische König Edward IV (hier mit einem schwarzen Barett) ist mit zehntausend Soldaten nach Frankreich gekommen. Weil er auch König von Frankreich ist, so nennen sich die englischen Könige seit Edward III. Erst George III hat 1801 auf diesen obsoleten Titel verzichtet. Edward kann es sich eigentlich nicht leisten, Frankreich anzugreifen, weil zuhause der Rosenkrieg tobt, aber er hat einen Verbündeten in Frankreich. Das ist Charles de Bourgogne, den wir im Deutschen auch unter seinem Spitznamen Karl der Kühne kennen. Er ist der Schwager von Edward und er verspricht ihm im Vertrag von London, ihm mit einem Heer zur Seite zu stehen. Denn die Gegend an der Somme interessiert ihn schon, es ist der äußerste Zipfel seines Reiches, im Vertrag von Arras waren seinem Vater hier einige Orte zugesprochen worden.
Vor fünf Jahren war er mal wieder hier und eroberte das Chateau von Picquigny, weil er Amiens in seine Gewalt bringen wollte, aber daraus ist nichts geworden. Jetzt trifft er seinen Schwager in Calais, das seit 1347 in englischer Hand ist Aber er bringt keine zehntausend Soldaten mit, die zehntausend Soldaten belagern gerade Neuss. Von Neuss bis zur Somme ist ein weiter Weg. Edward wollte diesen Krieg nicht, er soll angeblich schon im Geheimen den französischen König darüber informiert haben, dass er nur nach Frankreich gekommen sei, um seine militanten Anhänger zu befriedigen, die unbedingt einen Krieg mit Frankreich wollen. Der Burgunder überredet den englischen König, nach Reims zu ziehen, um sich dort krönen zu lassen.
Reims ist symbolisch immer wichtig. Adenauer und De Gaulle haben hier die deutsch-französische Freundschaft, zu der das Programm Versöhnung über Gräbern auch beigetragen hat, mit einer Versöhnungsmesse besiegelt. Adenauer, der unserer Gruppe zufällig in Reims begegnete, hat damals der Ehefrau des Diakons Klaus Nebelung einen Hundertmarkschein in die Hand gedrückt, als er hörte, was wir hier in Frankreich machten. Es hält sich hartnäckig das Gerücht, dass sein Außenminister von Brentano nur ein Fünfmarkstück locker machen wollte.Der englische König wird auf seinem Weg nach Reims in Saint-Quentin von Louis I. de Luxembourg aufgehalten, dem Connétable de France. Das ist ein ganz seltsamer Intrigant. Er wird ein Jahr später dem englischen König einen Brief schreiben, in dem er ihn anklagt, ein cowardly, dishonoured and beggarly king zu sein. Edward schickt den Brief an den französischen König, ein Jahr später wird Louis de Luxembourg auf dem Place de Grève (wo auch Cartouche der Bandit zu Tode kam, den wir aus dem ✺Belmondo Film kennen) geköpft. Als hier 1792 die erste Guillotine aufgestellt wurde, war das Publikum so enttäuscht von der Schnelligkeit der Prozedur, dass es am nächsten Tag einen Gassenhauer gab: Rendez-moi ma potence de bois, rendez-moi ma potence (Gebt mir meinen Galgen zurück).
Edward IV, der durch Heirat ein Neffe von Louis de Luxembourg ist, hat keine Lust mehr auf diesen Feldzug, er schickt seine Diplomaten los, die einen Friedensvertrag mit Louis XI aushandeln. Ohne den Charles aus Burgund, ohne den Louis aus Luxemburg. Damit der Hundertjährige Krieg endlich ein Ende hat. Er kündigt sein Bündnis mit Charles von Burgund auf, verpflichtet sich, nie wieder Frankreich anzugreifen, und er bekommt viel Geld dafür. Sehr viel Geld. In allen Schriftstücken des Vertrags bezeichnet er sich als King of France, Louis XI ist für ihn our dearest relative the most illustrious prince, Louis de France. Louis lässt das durchgehen. Auch dass Edward beim Vertragsabschluss mit einer silbernen fleur de lys auf seinem schwarzen Barett erscheint, lässt man ihm durchgehen. Es ist ein kleiner modischer Versuch, noch einmal auf seinen Titel hinzuweisen.