Den Wagen davor hatte er bei einem örtlichen Händler gekauft, Werksvertretung der Automarke. Alles war gut. Bis eines Tages die Kripo in seiner Praxis stand. Beinahe alle Autos, die der Händler verkauft hatte, hatten mehr oder weniger gefälschte Papiere, Kilometerstand des Tachos und Nachweis für Inspektionen waren manipuliert. Der Händler war flüchtig. Er war in die DDR geflohen. Vier Wochen vor dem Fall der Mauer. Der Autohändler war wahrscheinlich einer der wenigen Menschen in Deutschland, der über die deutsche Wiedervereinigung nicht glücklich war. Mein Bruder lernte Mecklenburg-Vorpommern dann später noch genauer kennen, weil der Prozess gegen den kriminellen Autohändler in Schwerin stattfand.
Kurz vor der Grenze überfiel mich bei unserer Fahrt, wie bei jedem Grenzübertritt in den Jahrzehnten zuvor, der übliche Schiss. Aber da war nichts mehr mit Kontrolle. Kein Satzbeginn mit
Gänsefleisch mehr (
Gänsefleisch mal den Kofferraum aufmachen?). Keine im Busch lauernden Vopo Wartburgs mehr, wo man doch mit willkürlichen Strafmandaten so schöne Devisen einnehmen konnte. Ich habe meine Strafmandate aufbewahrt, sie sind ein historisches Zeugnis. Die durch die DDR donnernden Laster aus Skandinavien wurden nie aufgeschrieben, die brachten Devisen. Ich traute dem Frieden noch nicht so recht, aber als ich in Schwerin sah, dass Jugendliche aus einem Trabbi heraus vorbeifahrenden Vopos den Mittelfinger zeigten, da wusste ich, dass eine neue Zeit angebrochen war. Das ist die Symbolik der Freiheit. Und an zerbröckelnden Mauern hing jetzt auch schon westliche Reklame. Das erste Billboard, das ich in der Noch-DDR sah, bedeckte die Wand eines zerbröckelnden Hauses. Es war von einer Zigarettenfirma, auf dem Plakat stand nur: WEST. Ich fand das eine schöne Symbolik. Ich ärgere mich noch immer, dass ich meinen
Photoapparat nicht mitgenommen hatte.
Noch bevor die Mauer fiel, hatte Coca Cola den Weg in die DDR gefunden, wurde tatsächlich für zwei Mark fünfzig (Ost) in Läden gesehen. Eine Studentin von mir, die in den Semesterferien bei Coca Cola jobbte, schenkte mir damals einen Coca Cola Sticker und prophezeite mir, der wäre eines Tages sehr viel wert. Der rote Anstecker zeigte das geeinte Deutschland, mit dem Schriftzug Coca Cola in der Mitte. So, als ob Coca Cola Deutschland geeint hätte. Coca Cola und Kommunismus haben die gleiche symbolische Farbe. Ich weiß nicht, was der kleine Anstecker heute wert ist. Ich habe ihn aber immer noch. Ich stecke ihn jedes Jahr am 3. Oktober an.
Das WEST Plakat an der abbröckelnden Mauer und der rote Cola Sticker stehen als Symbole für das, was jetzt kam: Kommerz. Abwickeln, Umrubeln, Plattmachen. Eine Lehrstunde in angewandtem Kapitalismus. Es gab damals einen Krimi aus der Reihe
Schwarz-Rot-Gold, in dem der Hamburger Zollfahnder Zaluskowski mit seiner Mannschaft jetzt in Berlin sitzt, und lauter Kriminelle dabei sind, an dem ✺
Umrubeln zu verdienen. Da hat es
Dieter Meichsner (dem der NDR und wir alle viel zu verdanken haben) uns mal wieder bewiesen, dass man Fernsehkrimis mit politischer Aufklärung verbinden kann.
Der erste
Tatort, den die ARD
1970 sendete, hieß
Taxi nach Leipzig. Er hatte gezeigt, dass man beide Deutschlands in einem Fernsehkrimi unterbringen konnte. Nach der Wiedervereinigung bekamen wir auf dem Bildschirm viele neue Kommissare, die das deutsch-deutsche Verbrechen bekämpften. Die ganz alten Kommissare gab es auch noch, weil in der Nacht die alten DDR
Polizeiruf 110 Folgen des DFF wieder aufgelegt wurden. Die Kommissare Kurt Böwe und Uwe Steimle aus Schwerin waren mir immer die liebsten. Aber leider ist
Kurt Böwe, den viele noch aus Konrad Wolfs
Der nackte Mann auf dem Sportplatz kannten, inzwischen tot. Und dem Uwe Steimle hat die ARD gekündigt. Die Hauptkommissare Ehrlicher (Peter Sodann) und Kain (Bernd Michael Lade) hat man auch in Rente geschickt. Ich bin immer noch der Meinung, dass
Peter Sodann ein besserer Bundespräsident als Horst Köhler gewesen wäre.

Was war das vor fünfunddreißig Jahren für eine Chance, gemeinsam einen neuen Anfang zu wagen! Aber dazu hätte es anderer Leute bedurft. Obgleich es ja nie an Idealisten gefehlt hat. Ich habe Freunde, die hier hochdotierte Positionen aufgegeben haben, um da drüben bei dem Neuaufbau zu helfen. Ärzte, die ihre Professur ruhen ließen, um drüben eine Klinik aufzubauen. Das ist etwas anderes als jene, die mit der Buschprämie dahin gelockt wurden. Oder die freiberuflichen Juristen, die sich mit der notariellen Beglaubigung von Land- und Immobilienverkäufen eine goldene Nase verdienten. Aber für den dicken Kohl konnte das, woran er keinen Anteil gehabt hatte, jetzt nicht schnell genug gehen, Kanzler der Einheit wollte er sein. Sein Buch Ich wollte Deutschlands Einheit habe ich kurz nach seinem Erscheinen im Grabbelkasten eines Antiquariats gesehen, koste (nagelneu und ungelesen) zwei Euro. Ich habe es aber nicht gekauft. Bei Amazon bekommt man es heute schon für 1,19 Euro.
Wir hätten ja von den Bürgerrechtlern lernen können und von der ganzen Intelligenz der Opposition. Wir hätten ja Jens Reich (hier mit Bärbel Bohley im Oktober 1989) zum Bundespräsidenten machen können. Wenn man bedenkt, was seit den griechischen Philosophen alles über die kluge Staatsführung gesagt worden ist. Und was gab es? Keine Konzeption, nur Gemauschel, und die so genannte
Treuhand und tausenderlei Skandale, von denen die
Leuna Affäre nur einer von vielen ist. Was Leuna bedeutet, weiß ich seit ich klein bin. Weil ich einen Verwandten hatte, der eine Flakeinheit kommandierte, die Deutschlands Chemieindustrie beschützen sollte. Inzwischen haben wir eine Bundeskanzlerin und hatten einen Bundespräsidenten aus der DDR, aber wir können uns noch entsinnen, dass die Kanzlerin alles versucht hat, damit Gauck nicht Bundespräsident wurde. Was hätte sie wohl getan, wenn Peter Sodann Präsident geworden wäre?
Als die DDR Bürger dann in riesigen Zahlen kamen, weil es ein
Begrüßungsgeld gab, und als ihre Rennpappen mit dem bläulichen Auspuffgas die Straßen verstopften, als die Geschäfte hier auch am Sonntag offen hatten, damit das Begrüßungsgeld gleich in ihre Kassen kam, da hatte man das Gefühl: jetzt kommt eine neue Zeit. War aber letztlich auch nur Kommerz. Ich habe dem hellblauen Trabbi, der neben mir auf dem Parkplatz stand, einen Zehnmarkschein unter den Scheibenwischer geklebt. Wochen später standen die Russen in der Einkaufsstraße und vertickten
Russenuhren, alles nur
Komandirskie, die Sowjetarmee bestand offenbar nur aus Kommandeuren. Und wenige Wochen später wurden sie von Leuten abgelöst, die jetzt geschnitzte
geflügelte Jahresendfiguren verkauften. Der Ausverkauf des Ostens hatte begonnen. In Berlin sollen sogar
Kalaschnikows auf dem Flohmarkt verkauft worden sein.

Das Gute mit der Einheit ist, dass ich
Onkel Karl leicht erreichen kann. Der war zum Entsetzen der Berliner Verwandtschaft seinem Lehrer, dem Bildhauer
Gustav Seitz, 1951 von Berlin-West nach Berlin-Ost gefolgt. Vor einem halben Jahrhundert habe ich meine Freundinnen bei Berlinbesuchen immer zur Stalinallee geschleppt und großspurig behauptet, dass all die Skulpturen mit den Helden der Arbeit von meinem Onkel Karl seien. Was nicht ganz stimmte, machte aber so um 1960 auf junge Frauen großen Eindruck. Einige der Figuren waren von ihm, aber von diesen heroischen Jugendsünden war er eigentlich schon lange weg, wie seine
Schwimmerin aus dem Jahre 1952 da links beweist. Und sein
Maxim Gorki sieht ganz, ganz anders aus, als der in Moskau.

Und wenig später hat er in Berlin sogar für die
Bremer Stadtmusikanten gesorgt, das war wohl ein bildhauerischer Gruß an die Bremer Verwandtschaft. Das Photo von 1967 zeigt, dass eine Freiplastik auch von praktischem Nutzen sein kann. Haben wir sonst noch etwas aus der Kultur zu vermelden? Außer dem Roman
Der Turm? Die
Welt war der Meinung, Tellkamp habe
wahrscheinlich den Roman des Jahrzehnts geschrieben. Den ultimativen Roman über die DDR, diese lächerliche sowjetische Satrapie auf deutschem Boden. Aber ist das Ganze wirklich Literatur? Es kann sich kaum mit
Werner Bräunig messen. Die Neuausgabe von
Bräunigs Rummelplatz und seinen Erzählungen
Gewöhnliche Leute muss man unbedingt begrüßen.

Es hatte ja immer eine Literatur gegeben, von der wir im Westens wenig erfuhren. Dichter, die so etwas schrieben: will ich also die Poesie der Straßenbahn erleben, gehe ich zwischen den Gärten der Großstadt umher. Und da möchte ich meinen: Die Großstadt gebe in der Ferne ein Konzert, wo in den Kurven Straßenbahnen Geige spielten. Doch stehe ich an der Ecke und warte auf die 46, ist es wieder Lärm und Alltag und stört. […] Betrachte ich den von der Straßenbahn gewonnenen Eindruck als Feier, wenn er mir gegenüber im Hintergrund, und als Alltag, wenn er mir gegenüber im Vordergrund ertönt, entsteht […] die Feier im Alltag, das heißt dann soviel wie: Vergiß vor lauter Sorgen des Alltags die kleinen das Herz erquickenden Dinge nicht. Sei ein Künstler des Lebens und freue dich mit, etwa wenn der Dackel mit der Zeitung im Maul angeschwanzwedelt kommt und die kurz bevorstehende Ankunft des Herrn im Anzug ankündigt.

Man hat
Uwe Greßmann einen
poète maudit gennannt, er passte nicht ins SED Parteibild. Er war sein halbes Leben lang krank und ist früh gestorben. Dass ich überhaupt wusste, wer Greßmann war, verdankte ich meinem Onkel Karl, der hat dem toten Dichter nämlich die Totenmaske abgenommen. Einen kleinen Eindruck von der DDR Subkultur habe ich gewonnen, als ich zwischen Abitur und Bundeswehr noch einige Wochen Zeit hatte, und mein Freund
Uwe mich zu einer Tagung im Jugendhof Steinkimmen schleppte. Da war Hannes Meyer Leiter, der hatte vorher unser Jugendheim Alt-Aumund geleitet. Ich landete in einem Seminar über DDR Lyrik und Protestsongs. Ich habe leider all meine Unterlagen verloren, aber einige Zeilen eines wunderbaren Liedes aus dem Cassettenrecorder habe ich nie vergessen. Das wurde von einer jungen Frau im frechrotzigen Stil vorgetragen, und es hatte immer wieder den Refrain:
Denn sie wollt' ja immer einen von der Universität. Wenn's geht. Wenn's geht.

Dass viel, viel Geld in die Museen geflossen ist, war natürlich zu begrüßen. Und sicherlich ist die Semperoper ein Schmuckstück, vor allem als Bierreklame, deshalb hat sie ja auch schon den inoffiziellen Namen
Radeberger Arena. Was bleibet aber, stiften die Dichter. Also jetzt einmal von Bräunigs Roman
Rummelplatz abgesehen. Und auch davon abgesehen, dass der von mir sehr geschätzte
Günter de Bruyn Theodor Fontane immer ähnlicher und von Buch zu Buch besser wird. Und die
Fontane Ausgabe, die der Grand Old Man der Fontaneforschung
Gotthard Erler einst begonnen hatte, schreitet voran. Erler ist jetzt zweiundneunzig, hat gerade seine geliebte Frau Therese verloren, aber er arbeitet immer noch an der großen Sache.
Günter de Bruyns Buch
Deutsche Zustände, zehn Jahre nach 1989 veröffentlicht, ist immer noch der Lektüre wert. Was auch etwas mit den schönen Photos von Barbara Klemm zu tun hat, die mit ihrer Ruhe und Ausgewogenheit hervorragend zum Ton des Buches passen. Nicht zuletzt die Duotone Druckqualität der Photos und das ruhige Layout des Buches tragen zum sinnlichen Vergnügen der Lektüre bei. Dies war ein Jahrzehnt nach dem Fall der Mauer ein Buch, das ein anderes Deutschland jenseits des peinlichen politischen Tagesgeschäfts und der bunten Versprechungen der Werbewelt zeigte.
Ein anderes Bild von
einer kommoden Diktatur zeigte uns auch Günter Grass' Roman
Ein weites Feld. Den ich übrigens für seinen besten Roman halte. Ich bin kein Fan von
Günter Grass, irgendjemand hatte mir diesen voluminösen Pappband in die Hand gedrückt und gesagt:
Lies mal! Auf dem Cover stand:
Unverkäufliches Leseexemplar... Bitte keine Rezensionen vor dem 28. August 1995. Ich las, es war ein wunderbares Leseerlebnis. Als ich die Geschichte von
Fonty Wuttke (hinter dem vielleicht der Verlagschef des Aufbau Verlags Gotthard Erler steckt) las, wurde mir plötzlich klar, dass ich durch das Leben gekommen war, ohne je
Fontanes Vor dem Sturm gelesen zu haben. Ein Versäumnis! Als ich mit dem Fontane fertig war, beschloss ich, dass ich jetzt eigentlich auch das tun könnte, wozu mich
Friedrich Hübner jahrzehntelang drängte, nämlich endlich
Tolstois Krieg und Frieden zu lesen.
Ein weites Feld bietet ein Panorama der deutschen Geschichte. Und das wenige Jahre nach der Wende, da kann man nur sagen: Respekt. Der Filmemacher Edgar Reitz brauchte etwas länger.
Mit Heimat 3: Chronik einer Zeitenwende hat Edgar Reitz sein ✺
Heimat Projekt abgeschlossen und Wende und Wiedervereinigung auch nach Schabbach kommen lassen:
Das ist natürlich schon für mich ein tiefgreifendes Erlebnis zu sagen 'dieses ist der letzte Teil von Heimat', also als berufliche Aufgabe. Und ich habe doch immerhin na bald 25 Jahre mit diesem Projekt verbracht, sodass dieses Projekt selbst eine Art Heimat bildet. Und das zu beenden, das ist nicht schmerzlos. Der Stoff geht mir nicht aus, und Geschichten erzählen unter dem Dach eines großen erzählerischen Werkes das Heimat heißt, das könnte ich ewig fortsetzen so lange ich gesund bin und arbeiten kann. Aber mit deutschen Fernsehsendern mich um das Budget zu streiten, und jede Silbe im Drehbuch rechtfertigen zu müssen, das will ich nicht noch einmal, das ist klar. Deswegen ist es Abschied von Schabbach.