Samstag, 25. Oktober 2025

se vuol ballare, Signor Trumpino?


Am Morgen habe ich die New York Times in der Mail, am Abend den New Yorker Daily. Den New Yorker hatte ich mein halbes Leben als Abo oder als Geschenk; und Adam Gopnik, den ich als Autor sehr schätze, hat hier schon einen Post. Die Lektüre der besten Zeitungen aus den USA kostet übrigens nichts, Sie brauchen sich nur mit Ihrer E-Mail Adresse auf die Liste setzen zu lassen. Sie können natürlich auch den White House Newsletter abonnieren, aber das wollen Sie sicher nicht. Obgleich die Selbstinszenierung der Regierung Trump sehr, sehr komisch ist. Was beide New Yorker Blätter im Augenblick beschäftigt, ist der Ostflügel des Weißen Hauses, den Trump gerade abreißen lässt. Weil er dort einen Ballsaal für tausend Leute bauen will, den sich die Nation angeblich schon immer gewünscht hat: For 150 years, Presidents, Administrations, and White House Staff have longed for a large event space on the White House complex that can hold substantially more guests than currently allowed. President Donald J. Trump has expressed his commitment to solving this problem on behalf of future Administrations and the American people.

Als ich die Sache mit dem Ballsaal zu ersten Mal las, fiel mir Figaros Arie se vuol ballare, signor contino ein, das wäre ein witziger Titel für das Ganze gewesen. Signor contino Donald lässt einen Ballsaal bauen und Figaro bringt ihm das Tanzen bei. Im New Yorker beantwortete George E. Condon, die Frage How normal is this sort of White House renovation? mit den klaren Sätzen: The White House wants you to believe this is totally normal, citing all the renovations, big and small, made by past Presidents. They are right that changes were made. But they are dead wrong about how this is being done. With the exception of F.D.R. secretly building a bunker under the East Wing during the Second World War, past renovations of this size were debated, funded by Congress, and done only after the need was manifest. None were rushed and done at the whim of a President.

Keine Diskussionen in Kongress oder Senat, überhaupt keine Diskussionen im Land, wenn der Signor Trumpino at the whim seinen Tanzsaal haben will. So etwas wollte er schon vor Jahrzehnten mal haben und mit 100 Millionen Dollar selbst finanzieren, aber Obama hat seinen Brief gar nicht erst beantwortet. Hatte allerdings, als er sich 2011 um die zweite Amtszeit bemühte, beim jährlichen White House Correspondents Association Dinner ein Photo in seinem Vortrag eingeblendet, das das Weiße Haus nach einem theoretischen Sieg Donald Trumps zeigte. Das war damals ein kleiner visueller Scherz. Heute ist das Bild bitterböse Satire, aber vielleicht wird das ja noch genau so werden. Den Bordell-Stil seines Anwesens Mar-a-Lago mit viel Gold und Glitzer hat Trump ja schon in das Weiße Haus gebracht: Where the Oval Office once conjured gravitas and continuity through its restrained adornments, it now evokes insecurity and petulance. It is awash in gilt.

Das Weiße Haus, das architektonisch sicherlich nicht die Bedeutung von Jeffersons Monticello hat, ist über die Jahre immer wieder umgebaut worden; vom Original von James Hoban ist wenig erhalten. Donald Trump benutzt jetzt eine Auflistung der Umbauten durch Amerikas Präsidenten, um gegen seine Kritiker vorzugehen: In the latest instance of manufactured outrage, unhinged leftists and their Fake News allies are clutching their pearls over President Donald J. Trump’s visionary addition of a grand, privately funded ballroom to the White House — a bold, necessary addition that echoes the storied history of improvements and additions from commanders-in-chief to keep the executive residence as a beacon of American excellence

Wir lassen das Geschwafel mit der manufactured outrage, den unhinged leftists and their Fake New mal so stehen und kommen zu einer kurzen Baugeschichte. 1902 begann Roosevelt mit erheblichen Renovierungsmaßnahmen, die dem Haus diesen Ostflügel (und einen Südflügel) verschafften. Die Bauarbeiten wurden durch Amerikas renommierteste Firma McKim, Mead and White durchgeführt, die dafür berühmt waren, die größten Villen für die Millionäre des Gilded Age im Stil der École des Beaux-Arts von Paris zu bauen (lesen Sie mehr in Dementia Americana). Die verpassten dem Haus auch die weiße Farbe. Und Roosevelt gibt ihm den Namen The White House

Nicht nur McKim, Mead and White haben das Haus umgebaut, das Haus wurde, seit es die Engländer im Krieg 1812-1814 angezündet hatten, ständig umgebaut. Damals hatte man das Gebäude zum ersten Mal weiß gestrichen, um die Brandschäden zu übertünchen. Von nun an baut jeder Präsident ein wenig an dem Haus dran herum. James Monroe ließ den Portikus im Süden errichten, Andrew Jackson zehn Jahre später den North Portico. Am Ende des 19. Jahrhunderts plädierten schon viele für einen Abriss und Neubau des Gebäudes. 

1945 merkte man, dass das Haus wirklich abrissreif war. Die Bausünden von Jahrhunderten wurden evident. Und die eine tragende Wand hätte Roosevelt nicht entfernen sollen. Nachdem das Spinett seiner Tochter durch die Decke des Obergeschosses gebrochen war, zog Präsident Truman mit seiner Familie in das Blair House, wo er die nächsten vier Jahre wohnen wird. So wie auf diesem Bild sah das Weiße Haus im Frühjahr 1950 aus, nur die Außenwände stehen noch, man hatte es vollständig entkernt. Fachleute hatten für einen Abriss des baufälligen Hauses plädiert, aber das wollte der Kongress nicht hören. Er bestand auf dem Erhalt der Fassade. Der Architekt Lorenzo Simmons Winslow wird dem amerikanischen Präsidenten ein neues Zuhause aus Stahlbeton geben. Im Frühjahr 1952 führte Harry S. Truman ein Fernsehteam durch das im Inneren völlig neue Weiße Haus.

Und nun bekommt es eine visionary addition, einen neuen Flügel, der allerdings die ganze Konstruktion ein wenig aus dem Gleichgewicht bringt. Palladio, der für Amerikas öffentliche Bauten der Stilgeber ist, hätte so etwas nicht gebaut. Denn der Ballsaal im Stil von Versailles für Signor Trumpino wird größer als das Weiße Haus sein. I’ve seen drawings of the ballroom next to the White House, and it does a couple of things. First, it dwarfs it. And second, it takes away the symmetry. The White House looks symmetrical from above, from the front, and from the back — and this addition disrupts that, hat die Historikerin Dr Lindsay Chervinsky gesagt. 

Aber für den Bauherren, der das aus seiner Tasche (und den Taschen seiner Milliadärsfreunde) bezahlt, ist das alles nur beautiful: It will be beautiful. It won’t interfere with the current building. It won’t be – it will be near it, but not touching it. And pays total respect to the existing building, which I’m the biggest fan of. It’s my favourite. Der Architekt, den Trump für seinen Ballsaal gefunden hat, war bisher auf katholische Kirchen spezialisiert. Er war mal ein Vertreter moderner Architektur, tendiert aber heute zu irgendetwas, das er als klassisch empfindet. Er ist da wieder angekommen, wo McKim, Mead and White vor hundert Jahren schon waren. Ein bisschen klassischer Touch für Multimillionäre, die viel Geld und ganz wenig Geschmack haben.

Se vuol ballare, signor contino, singt Figaro, und seine Cavatine ist ein Lied der Rebellion. Das wissen wir, die Oper war häufig in diesem Blog. 

Will der Herr Graf ein Tänzchen nun wagen,
mag er's mir sagen, ich spiel ihm auf.
Soll ich im Springen Unterricht geben,
auf Tod und Leben bin ich sein Mann.
Ich will ganz leise
listigerweise von dem Geheimnis
den Schleier ziehn.
Mit feinen Kniffen, mit kecken Griffen,
heute mit Schmeicheln, morgen mit Heucheln
werd' seinen Ränken ich kühn widerstehn.

Nur Googles KI-Modus hat das nicht begriffen. Da steht doch tatsächlich: Der Text lautet: "Will der Herr Graf ein Tänzchen nun wagen, mag er's nur sagen, ich spiel' ihm auf". Dieser Text stammt aus der Cavatine des Figaro aus der Oper Die Hochzeit des Figaro von Wolfgang Amadeus Mozart. Es handelt sich um die Arie, in der Figaro vor Freude, dass der Graf nicht gegen ihn ist, die Musik für den Grafen spielt ... Bedeutung im Kontext: In dieser Arie drückt Figaro seine Freude aus, weil der Graf anscheinend nicht mehr gegen ihn ist. Er spielt die Musik für den Grafen und sagt, dass er ihm gerne aufspielen wird, wenn der Graf tanzen möchte. Nein, ihr Vollpfosten, Figaro will verhindern, dass der Graf Susanna an die Wäsche geht!

Wird man Signor Trumpino zum Tanz aufspielen? Die Musik, die er im Augenblick hört, ist der Krach der Abrißbirne: You probably hear the beautiful sound of construction in the back... When I hear that sound, it reminds me of money. Ach ja, das ist das einzige, das er im Kopf hat. This is Trump’s presidency in a single photo. Illegal, destructive, and not helping you, hat die Senatorin Elizabeth Warren über die ersten Photos gesagt. Und Hillary Clinton schrieb: It’s not his house. It’s your house. And he’s destroying it. Der Historiker Edward G. Lengel hat gesagt: I think Thomas Jefferson, poor old TJ, his head would’ve exploded if he had seen this. Die Frage, die bleibt, ist: wird Signor Trumpino es noch erleben, in seinem Ballsaal zu tanzen? Wird man da jemals solche Szenen sehen? Und wer werden die anderen tausend in dem Saal sein? Repräsentieren die Amerika? Kann man Trumps Ränken, wie Figaro es singt, ganz leise Mit feinen Kniffen, mit kecken Griffen, heute mit Schmeicheln, morgen mit Heucheln kühn widerstehn? Die ersten Klagen gegen die Abrissarbeiten sind eingereicht.

Donnerstag, 23. Oktober 2025

6.666.666

Mit dem Post Literatur tauchte am 3. Januar 2010 um 22:22 ein neuer Blogger im Internet auf. Der wusste noch nicht so recht, was er wollte. Und er wusste auch nicht, wie das Ganze funktioniert. Seit dem Juli 2010 wurde der Blogger Jay von Googles Zählmaschinen gezählt, vorher nicht, das hatte er mit denen so abgemacht. Wie viele Leser er hatte, wusste Jay erst am Endes des Jahres 2010, weil er die Seite mit der Leserstatistik noch nicht gefunden hatte. Inzwischen weiß er das. Heute mittag waren es 6,666,666. 

Genau um 13:15. Das hat mir meine neue Citizen Crystron gesagt. Wo ich nun beinahe alle Seiko Quarzuhren der siebziger Jahre habe, dachte ich, ich müsste auch mal eine von Citizen haben. Die Uhr mit dem Namen Crystron war Citizens Flaggschiff der siebziger Jahre. Es gab davon auch eine Mega Version in Gold, die 4,5 Millionen Yen kostete und die genaueste Uhr der Welt war. Dies hier ist eine einfache schlichte Crystron, keine Crystron 4 Mega. Kostete auch nicht die Welt, die 4 Mega Modelle kosten nach fünfzig Jahren heute immer noch vierstellig. Die Crystrons der siebziger Jahre sind allerdings schon ein wenig rar geworden. Meine 36 mm breite und sehr flache Uhr sieht in der Wirklichkeit besser aus als auf diesem Photo. Charmanterweise hat die Uhr noch ein Acrylglas und geht märchenhaft genau. Nach einem Vierteljahr immer noch an der Atomzeit dran. Das HAQ (High Accuracy Quartz) Werk soll fünf Jahre mit einer Batterie laufen.

Google KI weiß natürlich nicht, woher der Name Crystron kommt, der Blogger Jay weiß das aber. Seikos erste Quarzuhr hieß Astron, und dieser Name hat etwas mit Astronomie zu tun. Aber Crystron? Es sind zwei englische Wörter, aus denen der Name gebildet wurde. Zum einen crystal, zum anderen electronic, mit beiden Dingen hat eine Quarzuhr ja etwas zu tun. Ich fand das Originalband (CQ signiert, für Citizen Quartz) auf dem Photo in der Anzeige nicht so toll, aber der Herr Reitberger von der Firma Tokei Japan hat mir noch ein anderes Citizen Band spendiert. Liegt auf dem Photo links neben der Uhr. Hatte ich dran gebaut, das war aber ästhetisch nix. Diese Uhr, die aussieht, als hätte Dieter Rams sie designed, brauchte das flache Originalband. Das hat sie jetzt wieder.

Die 6.666.666 Leser von heute werden noch nicht mit Whisky gefeiert, weil ich immer noch Husten, Schnupfen, Heiserkeit habe, aber es geht aufwärts.

Dienstag, 21. Oktober 2025

neu im Oktober


Die Tagesschau weiß es auch schon, seit zwei Wochen hat Google etwas Neues: Der neue KI-Modus kann bei der herkömmlichen Suche auf Google.com oder den Landes-Websites von Google aktiviert werden. Die Funktion erscheint als Auswahlmöglichkeit in einem zusätzlichen Reiter ("Tab") neben den bisher üblichen Optionen wie "Alles", Bilder, Bücher, Videos und Nachrichten. Bislang hatte Google bei bestimmten Themen eine sogenannte "Übersicht mit KI" angeboten, unter der aber auch weiterhin herkömmliche Links und bezahlte Werbung zu sehen waren. Über die Übersicht mit KI habe ich mich schon in den Posts Künstliche Intelligenz, 17. Juni und der 22. Juli lustig gemacht. Jetzt wird die KI zu Googles wichtigstem Instrument:

Der KI-Modus ist die leistungsstärkste KI-Suchfunktion von Google. Sie können fragen, was immer Sie möchten, und erhalten eine KI-basierte Antwort. Sie haben auch die Möglichkeit, durch weiterführende Fragen und hilfreiche Weblinks tiefer in das Thema einzusteigen. Im KI-Modus bietet die Übersicht mit KI dank logischem Schlussfolgern und weitergehenden Interaktionsmöglichkeiten noch mehr Möglichkeiten. Ihre Frage wird in Unterthemen aufgeteilt und alle Suchanfragen werden gleichzeitig ausgeführt. So kann der KI-Modus im Web nach noch relevanteren Inhalten suchen, die zu Ihrer Frage passen.

Klingt ganz toll, ist aber meistens Quatsch. Unter den Antworten des Google Orakels steht der Satz KI-Antworten können Fehler enthalten. Ja, und wie. Ich habe das Ganze eine Stunde getestet und keinen Vorteil dieser neuen Algorithmussuche erkennen können. Erschütternde Fehler aber en masse. Meinen Freund Yogi habe ich schon mehrfach in meinem Blog erwähnt, zum Beispiel in den Posts Philologen, da hat er seinem neunzigjährigen Lateinlehrer eine Festschrift gewidmnet. So ausser lamäng, wie man in Bremen sagt. In Print On Demand wird er erwähnt, weil er mich überredet hat, ein  kleines Büchlein zu machen. Da kann man auch lesen, dass er niemand Geringeren als Kissinger rumgequatscht hat, das Vorwort für das Peace Pipe Buch zu schreiben. Und der Post existentialism war eine Laudatio auf das St Olaf College, wo Yogi mal unterrichtet hat.

Jetzt ist da Gordon Marino Professor, sein Buch The Existentialist's Survival Guide: How to Live Authentically in an Inauthentic Age hatte mir der Yogi damals aus Amerika geschickt, er hatte es vom Autor geschenkt bekommen. Mit Widmung, jetzt ist es meins. Ich hatte gleich begonnen, es zu lesen, weil es ein Lesevergnügen ist. Das bei Harper Collins erschienene Buch hat auch sehr gute Kritiken erhalten, und das zu Recht. Professor Gordon Marino hat auch Kierkegaard in the Present Age und The Quotable Kierkegaard veröffentlicht und ist Mitherausgeber des Cambridge Companion to Kierkegaard.. 

Dem Kierkegaard Spezialisten kann man übrigens nicht ansehen, dass er auch etwas ganz anderes kann, was ihn prominent macht. Er war nämlich einmal Boxer und ist heute noch Boxtrainer. Philosophen werden ja nicht unbedingt mit dem Sport assoziiert, obgleich wir natürlich Thomas Hobbes erwähnen müssen, der im hohen Alter noch Tennis spielte. Als Sartre noch am Gymnasium unterrichtete, brachte er seinen Schülern das Boxen bei, das er selbst während seines Studiums erlernt hatte. Ob Heidegger wirklich gesagt hat: Ich war linker Läufer beim FC Meßkirch, weiß ich nicht. Aber wir wissen, dass Albert Camus in seiner Jugend Torwart bei Racing Universitaire d’Alger war. Er hat über diese Zeit gesagt: Alles, was ich schließlich am sichersten über Moral und menschliche Verpflichtung weiß, verdanke ich dem Fußball.

Gordon Marino ist auch Direktor der Kierkegaard Bibliothek des St Olaf College in Northfield (Minnesota), und dass die kleine Universität die vielleicht beste Kierkegaard Bibliothek der Welt besitzt, verdankt sie diesem Herrn hier. Er heißt Howard Hong und hat keinen Wikipedia Artikel, die Bibliothek, die er aufgebaut hat, hat allerdings einen Artikel. Dieses Internet Lexikon weiß auch nicht, was es tut. Wir nehmen einmal für die Beschreibung seines Lebens diesen Nachruf aus der Star Tribune. Und immerhin kriegt der KI-Modus eine halbwegs richtige Würdigung seiner Tätigkeit hin.  Aber es ist eben leider nur halbwegs.

Die Bibliothek, die heute seinen und Kierkegaards Namen trägt, aufzubauen, wäre schon Grund genug dafür, dass es einen Howard Hong Artikel geben müsste. Doch es gibt noch viel mehr. Hong hat zusammen mit seiner Ehefrau den ganzen Kierkegaard ins Englische übersetzt, sieben Bände der Journals and Papers (Indiana University Press) und 26 Bände von Kierkegaards Werk (Princeton University Press). Für den ersten Band bekamen Edna und Howard Hong den National Book Award. Viele Ehrungen wie der Dannebrog Orden und ein Ehrendoktorat in Theologie der Universität von Kopenhagen für Howard Hong sollten folgen. Was wird jetzt aus einem kleinen College wie St Olaf, wenn Trump seinen Vernichtungsfeldzug gegen die Wissenschaft fortsetzt?

Der Yogi hat auch eine eigene interessante Website, was mich jetzt ein bisschen wundert, denn nach Googles KI-Modus ist er am 13. November 2023 im Alter von 66 Jahren verstorben. Er weiß das nur noch nicht, fand das aber sehr witzig, als ich ihm das gestern erzählte. Immerhin kriegte Googles KI meine Biographie so halbwegs hin, auf jeden Fall bin ich da noch nicht tot. Aber mein Blog SILVAE erscheint beim KI-Modus überhaupt nicht als Treffer, geht man in die Option Alles, ist er gleich ganz oben auf dem ersten Platz. Soviel zu dem Thema leistungsstärkste KI-Suchfunktion von Google. 

Der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien Wolfram Weimer hat gesagt, dass Google in gewisser Weise das Internet neu erfunden habe. Die Google KI liefere Antworten auf Basis großer Datenmengen, die Google durch einen Raubzug über die komplette Informationslandschaft dieses Erdballs gewonnen habe. Na ja, so ganz großartig kann der Raubzug nicht gewesen sein, die Antworten des KI-Modus sind häufig erschütternd kläglich. Weil die leistungsstärkste KI-Suchfunktion von Google die Frage von Frank Sinatra Is it the good turtle soup or merely the mock? nicht richtig beantworten kann und meistens zielsicher beim mock landet.

Und was die hervorgehobenen Datenmengen betrifft, gilt immer noch der Satz: Quantität ist nicht Qualität. Oder um Goethe zu zitieren: Getretner Quark wird breit, nicht stark. Vor allem mit den Quellen, die für eine wissenschaftliche Forschung elementar sind, geht Google ziemlich lax um. Häufig sind das keine Fakten, sondern lediglich Sätze aus dem Werbeprospekt einer Firma oder schlicht KI-generierte Texte. Ich werde das Gefühl nicht los, dass Googles KI-Modus das Äquivalent zu der Doktorarbeit von Herrn von und zu Guttenberg ist. Und es gibt natürlich keine bekannte Verbindung zwischen Niels Bohr und einem Motorrad, das wissen die Leser von Silvae inzwischen. 

Ich gebe noch ein Beispiel. Fragt man nach Heinrich van Laack bekommt man die Antwort: Heinrich van Laack ist der Gründer des deutschen Modeunternehmens Van Laack, das für hochwertige Hemden und Blusen bekannt ist. Unternehmensgründung und Vision Jahr und Ort: 1881 gründete Heinrich van Laack zusammen mit zwei Partnern das Unternehmen in Berlin.Vision: Sein Ziel war es, das luxuriöseste Hemd der Welt zu produzieren. Qualitätsanspruch: Von Anfang an setzte das Unternehmen auf exklusive italienische Stoffe, meisterliche Handwerkskunst und die Liebe zum Detail. Kaum ein Satz davon ist richtig, das ist alles Werbelyrik aus der Feder des jetztigen Besitzers der Firma. Die wirkliche Geschichte der Firma findet sich natürlich in dem Post van Laack: königlich?

Was im Oktober neben der leistungsstärkste KI-Suchfunktion von Google auch neu war, ist die Tatsache, dass die Leser dieses Blogs plötzlich verschwunden sind, so etwas habe ich schon vor Jahren on dem Post verschwindende Leser gesagt. Oder in Posts, die Hinterhältiges Pack oder ich kann da nix für heißen. Im August und September hatte ich in jedem Monat mehr als 40.000 Leser, im Oktober werden es wahrscheinlich nur noch die Hälfte sein. Aber was soll das Klagen, schon Henry David Thoreau wusste: Men have become the tools of their tools. Ich schreibe weiter. Langsamer, weil ich gerade Husten, Schnupfen, Heiserkeit habe. Aber irgendwann schreibe ich den angefangenen Post Robert Redfords Rolex zu Ende.

Freitag, 17. Oktober 2025

Was ist das, was in uns lügt, hurt, stiehlt und mordet?


Ich war zwei Jahre im Netz, als ich zum ersten Mal über Georg Büchner schrieb. Ich stellte den Post, den anderthalbtausend Leser gelesen hatten, im nächsten Jahr noch einmal ein. Weil das der zweihundertste Geburtstag von Georg Büchner war. Das kommentierte ein Leser mit den Sätzen: Und ich war schon besorgt, es bloggt gar keiner zum 200. Büchner; die Feierlichkeiten ließen sich doch etwas zäh an. Danke fürs Heraufheben all der persönlichen Belange, wie sie so schnell nicht einer mit Büchner verbindet! Ich begann Büchner zu lesen, als ich neunzehn war, das steht in dem Post perlegi, und das ist auch so richtig. Weil unsere Theater AG damals Leonce und Lena aufführte, und ich Regieassistent und Souffleur war. Große Teile des Stückes habe ich immer noch im Kopf. Man behält viel von Büchner im Kopf, wenn man ihn genau liest. Nicht nur die gelben Nankinghosen von Leonce. 

Ein Satz, der mir nie aus dem Kopf gegangen ist, ist Was ist das, was in uns lügt, hurt, stiehlt und mordet? aus seinem Danton. Der Satz steht in diesem Textzusammenhang: Der Mann am Kreuze hat sich's bequem gemacht: es muß ja Ärgernis kommen, doch wehe dem, durch welchen Ärgernis kommt! – Es muß; das war dies Muß. Wer will der Hand fluchen, auf die der Fluch des Muß gefallen? Wer hat das Muß gesprochen, wer? Was ist das, was in uns lügt, hurt, stiehlt und mordet? Puppen sind wir, von unbekannten Gewalten am Draht gezogen; nichts, nichts wir selbst! die Schwerter, mit denen Geister kämpfen – man sieht nur die Hände nicht, wie im Märchen. Das schreibt Büchner mit zweiundzwanzig Jahren, da wird er schon steckbrieflich gesucht. 

Der wirkliche Georges Danton hat das Was ist das, was in uns lügt, hurt, stiehlt und mordet? nicht gesagt, nicht gedacht. Das ist jetzt alles in Büchners Kopf. Und in seinem Brief an seine Verlobte aus dem Jahre 1834 steht das alles schon, zum Teil wörtlich: Schon seit einigen Tagen nehme ich jeden Augenblick die Feder in die Hand, aber es war mir unmöglich, nur ein Wort zu schreiben. Ich studiere die Geschichte der Revolution. Ich fühlte mich wie zernichtet unter dem Gräßlichen Fatalismus der Geschichte. Ich finde in der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit, in den menschlichen Verhältnissen eine unabwendbare Gewalt, Allen und Keinem verliehen. Der Einzelne nur Schaum auf der Welle, die Größe ein bloßer Zufall, die Herrschaft des Genies ein Puppenspiel, ein lächerliches Ringen gegen ein ehernes Gesetz, es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich. Es fällt mir nicht mehr ein, vor den Paradegäulen und Eckstehern der Geschichte mich zu bücken. Ich gewöhnte mein Auge ans Blut. Aber ich bin kein Guillotinenmesser. Das muß ist eins von den Verdammungsworten, womit der Mensch getauft worden. Der Ausspruch: es muß ja Ärgernis kommen, aber wehe dem, durch den es kommt, – ist schauderhaft. Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt? Ich mag dem Gedanken nicht weiter nachgehen. Könnte ich aber dies kalte und gemarterte Herz an deine Brust legen!

Dantons Tod bekam vom Herausgeber des Literaturblatts Phönix: Frühlings-Zeitung für Deutschland noch den Untertitel Dramatische Bilder aus Frankreichs Schreckensherrschaft verpasst, das sollte zur Besänftigung der Zensur dienen. Hat nicht viel geholfen, das Stück konnte nur zensiert aufgeführt werden. Zensur haben wir noch immer überall auf der Welt. Schreckensherrschaft auch. Jetzt auch schon in dem Land, in dem Life, Liberty and the pursuit of Happiness einmal das Wichtigste waren.


Lesen Sie auch: LandboteDanton

Montag, 13. Oktober 2025

250 Jahre US Navy

Der heutige Tag ist in den USA der Tag der Marine, heute vor 250 Jahren wurde sie gegründet. Das hat Donald Trump in der ihm eigenen pompösen Sprache so angeordnet: NOW, THEREFORE, I, DONALD J. TRUMP, President of the United States of America, by virtue of the authority vested in me by the Constitution and the laws of the United States, do hereby proclaim October 13, 2025, as a day to commemorate the founding of the United States Navy with appropriate ceremonies and programs. I call upon all Americans to honor the Navy’s rich heritage, and the patriotism of all who have served.
     IN WITNESS WHEREOF, I have hereunto set my hand this tenth day of October, in the year of our Lord two thousand twenty-five, and of the Independence of the United States of America the two 
hundred and fiftieth. DONALD J. TRUMP

Aber kann das stimmen? Rechnen wir mal eben zurück auf den 13. Oktober 1775. Wie soll es hier eine United States Navy geben, wo es überhaupt noch keine United States gibt? Das sind da alles noch englische Kolonien. Man ist offenbar etwas großzügig mit der Zeitrechnung. Wenn 1775 eine Navy gegründet wird, dann ist das die Continental Navy, nicht die US Navy. Die Continental Navy wird 1785 aufgelöst, die restlichen Schiffe, die noch nicht von der Royal Navy versenkt wurden, werden verkauft. So wie man 1852 die deutsche Reichsflotte verkauft. 

Aber es ist dem gerade entstehenden neuen Staat schon klar, dass man eine Flotte brauchen wird. It follows then as certain as that night succeeds the day, that without a Decisive Naval force we can do nothing definitive, and with it every thing honourable and glorious schreibt  George Washington (dessen Landsitz den Namens eines Admirals trägt) im November  1781 an Lafayette. Diese Überzeugung hat er durch die Seeschlacht der Chesapeake Bay gewonnen, die wenige Monate zuvor stattfand. The Battle of Chesapeake Bay was one of the decisive battles of the world. Before it, the creation of the United States of America was possible; after it, it was certain, schreibt der Historiker Michael Lewis in The History of the British Navy. Nach der Auflösung der Continental Navy wird die United States Navy am 27. März 1794 offiziell begründet. Für die 250 Jahresfeier müsste man da noch etwas warten.

Dieses Bild zeigt die Andrew Doria, benannt nach dem italienischen Seehelden Andrea Doria. Das war das erste Schiff, dessen Flagge von einer anderen Nation anerkannt wurde. Das können wir in Barbara Tuchmans Buch The First Salute (Der erste Salut) lesen. Dass der 13. Oktober 1775 der Tag der Gründung der Flotte ist, hat der US Congress im Jahre 1971 beschlossen. Weil es an diesem Tag im Continental Congress in Philadelphia einen Beschluss gab: Resolved, That a swift sailing vessel, to carry ten carriage guns, and proportionate number of swivels, with eighty men, be fitted with all possible dispatch, for a cruise of three months . . . That a[nother] Committee of three be appointed to prepare an estimate for expence, and lay the same before Congress, and to contract with proper persons to fit out the vessel . . . That another vessel be fitted out for the same purposes [and] a committee [be] appointed to bring in regulations for [a] navy. Bis zum Jahr 1972, als der Admiral Elmo Zumwalt den Geburtstag verkündete, hatte es nur einen Navy Day am 27. Oktober (dem Geburtstag von Präsident Theodore Roosevelt) gegeben.

Donald Trump benutzt wie seine Vorgänger einen Schreibtisch, der etwas mit der Marine zu tun hat, aber er hat kein besonderes Verhältnis zur Marine. Am ersten Tag seiner zweiten Amtszeit hat er Linda Fagan entlassen, die einzige Frau der Coast Guard, die einen Admiralsrang hatte. Sie war ihm zu woke. Einen Tag später entließ er den Generalstabschef Charles Quinton Brown, weil der wie Fagan für Diversity, Equity and Inclusion eingetreten war. 

Kurz danach verloren auch Lisa Franchetti und Shoshana Chatfield ihren Admiralsrang. 2016 hat man mal einen Admiral gefeuert, weil er angeblich Pornos auf seinem Dienstcomputer geguckt hatte, das war nun etwas anderes. Die →Entlassungen gehen weiter, mehr als ein Dutzend Admiräle und Generäle hat Trump schon gefeuert. Und sein Kriegsminister wird schon dafür sorgen, dass es keine Frauen mehr in der US Navy gibt. Under President Trump, we are putting in place new leadership that will focus our military on its core mission of deterring, fighting and winning wars, hat Hegseth verkündet. Mit Bildern wie diesem von Joe de Mers konnte die US Navy 1951 junge Frauen anwerben, unter einem Kriegsminister wie →Pete Hegseth wird ihr das nicht mehr gelingen.

Den 250. Geburtstag der Flotte hat Trump schon vorzeitig gefeiert, wie man auf diesem Video sehen kann (die ganze Rede ist hier, wenn Sie sich das antun wollen). Er tritt da mit seiner selbstgewählten schmalzigen Hymne God Bless The USA auf, das ist ein Countrysong, Anchors Away wäre passender gewesen. Die beste Zusammenfassung dieses peinlichen Auftritts können Sie bei Mary Geddry lesen. Jimmy Carter war Marineoffizier gewesen. Beinahe alle amerikanischen →Präsidenten in der Zeit von 1961 bis 1993 waren bei der US Navy. Aber das ist schon Geschichte, und zur Geschichte und der Wahrung von Traditionen hat Donald Trump nun überhaupt kein Verhältnis. Trump wird auch die berühmtesten Seehelden der Navy wie John Paul Jones und Stephen Decatur nicht kennen, und wird auch nicht wissen, dass der Regisseur John Ford ein Admiral war.

Vielleicht feiert die US Navy heute auch ihren berühmtesten Midshipman, der am 20. Februar 1808 seinen Eid ablegte: I, James Cooper—having been appointed a Mid­shipman in the Navy of the United States—do solemnly swear to bear true allegiance to the United States of America, and to serve them honestly and faithfully against all their enemies or opposers whomsoever; and to observe and obey the orders of the President of the United States of America, and the orders of the officers appointed over me, and in all things to conform myself to the rules and regulations which now are or hereafter may be directed, and to the arti­cles of war which may be enacted by Congress, for the better government of the navy of the United States, and that I will support the constitution of the United States. Er wird nur zweieinhalb Jahre bei der Navy sein, bleibt ihr aber sein Leben lang verbunden. Und schreibt im Alter The History of the Navy of the United States of America (1839).

Das wäre ja schon genug an Verdiensten, aber der ehemalige Midshipman schreibt auch noch Old Ironsides (eine Geschichte der Fregatte USS Constitution), eine Biographie über den Commodore Richard Dale und die Lives of Distinguished American Naval Officers. Und dann sind da noch seine Seeromane. Sie kennen den Midshipman Cooper unter dem Namen James Fenimore Cooper, da schreibt er dann über Indianer. 

Ich werde heute zur Feier des Tages ein T-Shirt tragen, denn dieses Kleidungsstück wurde für die US Navy erfunden. Die Feierlichkeiten in den USA sind heute allerdings etwas gedämpft, denn es herrscht der shutdown. Aber die Matrosen sollen trotzdem ihr Gehalt bekommen. Als Oberbefehlshaber weise ich unseren Verteidigungsminister Pete Hegseth an, alle verfügbaren Mittel einzusetzen, damit unsere Truppen am 15. Oktober ihren Sold erhalten, schreibt Trump auf seiner Plattform Truth Social, die in Wirklichkeit Lies Anti-Social heißt. Man nimmt dass Geld erst einmal aus dem Etat für Forschung und Entwicklung. Wofür braucht man überhaupt diesen Etat? Da gilt doch immer noch der Satz: If you think education is expensive, try ignorance.


Noch mehr Navy und Admiräle (ohne den Opel Admiral) in den Posts: Chesapeake Bay, Stephen Decatur. Admiral Thomas Cochrane, Admiral John Byng, Admiral John Jervis, Invasion, Jean-Baptiste Kléber, 18th century: Fashion, Hoya, Nelsons Orden, Horatio Nelson, Eisbären, William Beckford, Larcum Kendalls K2, Marinechronometer. Bounty, St Helena, Intertextualität, Gregory Peck, Robert FitzRoy. Hellas, hélas, Admiral Brommy, CSS Hunley, Havanna, Bunga Bunga, Schnellboote, Minen, Rum, Unsere Marine, Max Oertz, Colani, Bundesmarine, Gorch Fock, Willy Stöwer, Reichsflotte, Samuel Pepys, das Blaue Band, Kellerfund,

Dienstag, 7. Oktober 2025

Sommerurlaub, Atomphysiker, Motorräder und Goethes 'Faust'


Als ich bei Wikipedia las, dass der dänische Atomphysiker Niels Bohr heute vor hundertvierzig Jahren geboren wurde, fiel mir zuerst sein Auto ein. Ich gab bei Google Niels Bohr und Autos ein, und die Künstliche Intelligenz sagte mir: Die Anfrage 'Niels Bohr Autos' ist mehrdeutig, kann sich aber auf den Physik-Nobelpreisträger Niels Bohr beziehen, dessen Namen eine Straße trägt, oder auf einen Vorfall mit Autos in Lübeck im Niels-Bohr-Ring. Niels Bohr ist bekannt für das Bohrsche Atommodell, nicht für Autos. Das war nicht das, was ich suchte. Ich weiß inzwischen, dass man Googles AI überhaupt nie benutzen sollte, aber die Einträge sind meistens hochkomisch.

Den Namen des Nobelpreisträgers Niels Bohr hörte ich zum ersten Mal vor fünfundsechzig Jahren, und das hatte etwas mit seinem Auto und seinen Fahrkünsten zu tun. Wir springen mal eben ins Dänemark des Jahres 1960, in eine unendliche Sommergeschichte. Auf dem Campingplatz von Grenaa hatte ich gerade die hübsche Schwedin Gunilla (natürlich blond) kennengelernt, die den ganzen Sommer lang nicht von meiner Seite wich. Genau genommen waren es nur drei Wochen, aber wenn man jung und verliebt ist, dauert alles viel länger. Wir schrieben uns noch jahrelang Liebesbriefe. Ich habe ihretwegen sogar ein Langenscheidt Lexikon und ein Buch Schwedisch für Anfänger gekauft. Zur Not konnte ich jag alskar dig sagen. Aber sie konnte sehr gut Englisch, das half ihr bei ihrem Job als Lektorin bei Bonniers. Englisch wird die Sprache sein, in der wir noch ein Jahrzehnt lang die geheimsten Gedanken und Sehnsüchte der Post zwischen Bremen und Stockholm anvertrauen. Je weiter man voneinander entfernt ist, desto größer wird die Vertrautheit. Was mag aus ihr geworden sein? Ist sie diese Gunilla, die den schwedischen Filmregisseur Pelle Berglund geheiratet hat? Auf dem einzigen Photo im Internet sieht sie ihr sehr, sehr ähnlich.

Unsere Nachbarn auf dem Campingplatz waren ein Ehepaar mit drei Söhnen (und zwei Collies), die aus Odense kamen. Er war dort Organist und las im Urlaub am liebsten immer die Romanen mit die Mörders darinne. Sie hatten einen grünen Buckel-Saab, der neben ihrem Zelt stand. Das war das Modell 92 aus den frühen fünfziger Jahren. Damals wusste ich noch nicht so viel über blonde Frauen mit Sommersprossen, kannte aber alle Automodelle Europas. Und dieser grüne Saab (der dunkler war als dieser) spielt eine Hauptrolle in meiner Niels Bohr Geschichte, die mir der Organist (der ein bisschen aussah wie Piet Klocke) erzählt hat.

Unser rothaariger Organist war mit seinem Saab in Kopenhagen gewesen. Er ist da sehr vorsichtig gefahren, weil er aus der Provinz kam und Kopenhagen eine Großstadt ist. Obgleich da in den fünfziger Jahren noch nicht so viel los war. Meine Mutter hatte mal mit unserem blauen Opel ein Rencontre mit einer Kopenhagener Straßenbahn (die hatte natürlich schuld), hat den Schaden aber sofort ausbügeln lassen. Die Sache wäre unentdeckt geblieben, bis mein Vater fragte: Seit wann haben wir eigentlich einen General Motors Sticker hinten auf der Heckscheibe? Da kam die Sache raus.

Ich schweife ab. Ich fange noch mal an. Also, unser rothaariger Organist fährt mit seinem Saab ganz vorsichtig durch Kopenhagen, als ihm aus einer Straße, aus der gar kein Auto kommen kann, weil es eine Einbahnstraße ist, ein amerikanischer Straßenkreuzer vor den Wagen schießt. Ein kleiner Crash ist unvermeidlich. Als er wutentbrannt auf den Fahrer zustürzt, sieht er, dass er Niels Bohr vor sich hat, dem das schrecklich peinlich war. Aber Herr Bohr, das macht doch gar nichts, sagt er, es ist doch gar nichts passiert, das ist doch nicht der Rede wert. Dann haben sich die beiden die Hände geschüttelt und sind weitergefahren. Er hat den Kotflügel nie reparieren lassen, nur einmal überlackiert. Die Beule, die Niels Bohr da reingefahren hatte, war im Sommer 1960 immer noch da. Und war für den Organisten Ebbe X. natürlich immer ein Anlass, diese kleine Geschichte zu erzählen.

Viele Jahre ist Niels Bohr wie hier mit dem Fahrrad zu seinem Institut gekommen, weil ja jeder in Kopenhagen Fahrrad fährt. Über den Niels Bohr auf dem Fahrrad gibt es keine Anekdoten, aber über den Autofahrer Niels Bohr gibt es sehr viele Geschichten. Sein Freund Abraham Pais hat über ihn gesagt: Einstein never owned or drove a car; Bohr did. As I know from experience, his driving could on occasion be a bit scary. Und er erzählt uns in Niels Bohr’s Times, in Physics, Philosophy, and Polity die Geschichte, wie er Niels Bohr in seinem Sommerhaus Lynghuset in Tisvilde besuchte, das sich Bohr 1924 von dem Geld des Nobelpreises gekauft hatte: 

And then the time came to return to Copenhagen. We went by car. It was an act of faith to sit in an automobile driven by Bohr. On that occasion he complained that he felt too hot and actually let go of the wheel to take off his jacket. Mrs. Bohr’s rapid intervention saved the situation. Und Niels Blaedel schildert uns in seiner Biographie Harmony and Unity: The Life of Niels Bohr, dass der Atomphysiker beim Autofahren große Schwierigkeiten mit dem Beachten von roten Ampeln hatte. Im Alter wird er sich bei größeren Reisen von einem Chauffeur namens Jørgensen in seinem großen Lincoln fahren lassen.

Noch gefährlicher als hinterm Lenkrad ist Niels Bohr auf dem Motorrad. Googles KI sagt uns zwar: Es gibt keine bekannte Verbindung zwischen dem Physiker Niels Bohr und einem Motorrad. Aber hier können wir ihn mit seiner Frau Margrethe auf einem Photo aus dem Jahre 1931 sehen, das im Garten von seinem Sommerhaus Lynghuset gemacht wurde. Das Motorrad gehörte seinem Freund George Gamow, Niels Bohr musste es unbedingt ausprobieren. Die Born to be Wild Fahrt wird schnell enden. Gamows zweite Frau Barbara Perkins Gamow hat die Geschichte in einem Gedicht festgehalten, das sich in Ruth Moores Buch Niels Bohr: The Man, His Science, and the World They Changed findet: 

... that handsome, hearty British Lord
We knew as Ernest Rutherford.
New Zealand farmer's son by birth,
He never lost the touch of earth;
His booming voice and jolly roar
Could penetrate the thickest door,
But if to anger he inclined
You should have heard him speak his mind
In living language of the land
That anyone could understand!

One day George Gamow, as his guest,
By Rutherford was so addressed
At tea in honour of Niels Bohr
(Of whom you may have heard before).
The men talked golf, and cricket too;
The ladies gushed, as ladies do,
About a blouse, a sash, a shawl -

And Bohr grew weary of it all.
'Gamow,' he said, 'I see below
Your motorcycle. Will you show
Me how it works? Come on, let's run!
This party isn't any fun.'
So to the motorcycle Bohr,
With Gamow running after, tore.

Gamow explained the this and that
And Bohr, who on the saddle sat,
Took off to skim along the Backs,
A threat to humans, beasts and hacks,
But though he started full and strong
He didn't sit it out for long.
No less than fifty yards ahead
He killed the nervous engine dead
And, turning wildly as he slowed,
Stopped traffic up and down Queen's Road.

While Gamow, rushing to the fore,
Was doing what he could for Bohr
Who should like Jove himself appear
But Rutherford. In Gamow's ear
He thundered: 'Gamow! If once more
You give that buggy to Niels Bohr
To snarl up traffic with, or wreck,
I swear I'll break your bloody neck!'

Barbara Perkins Gamow wird in dem Wikipedia Artikel irrtümlich als Autorin des Theaterstücks Faust: Eine Historie angegeben, aber sie hat nur die Übersetzung jenes Stückes geliefert, das sich in George Gamows Buch Thirty Years that Shook Physics findet. Der Autor, der wunderbaren Persiflage war wohl zum größten Teil der spätere Nobelpreisträger Max Delbrück, Karikaturen steuerte George Gamov bei. Das Theaterstück wurde im Niels Bohr Institut (das hier auch auf dem Bild zu sehen ist) im April 1932 aufgeführt. Paul Ehrenfest spielte den Dr Faustus, Wolfgang Pauli war Mephistopheles und Niels Bohr war Gott. Max Delbrück, der sich in Kopenhagen schnell mit Gamow angefreundet hatte, gab den Conferencier. In Deutschland wurde 1932 eine Goethe Jahrhundertfeier zelebriert, in Kopenhagen führt die Crème de la Crème der europäischen Physiker (drei Nobelpreisträger sind auf der Bühne) Goethes Werk als Wissenschaftssatire auf. Gino Segre hat darüber das Buch Faust in Copenhagen geschrieben, von dem Sie hier die Einleitung lesen können. Und das Original von Faust: Eine Historie habe ich natürlich auch für Sie. Und Googles AI merkt sich jetzt mal den Satz It was an act of faith to sit in an automobile driven by Bohr, wenn jemand nach Niels Bohr und Autos fragt.

Freitag, 3. Oktober 2025

der dritte Oktober


In der ersten Oktoberwoche 1961 war ich in Berlin. Ich war achtzehn und wollte Don Giovanni in der neuen Oper sehen, eine Karte hatte ich schon. Da war die Mauer schon ziemlich weit gediehen, in der Woche nach dem Beginn des Mauerbaus war das noch nicht so, da war ich auch in Berlin gewesen. Mehr als 150 Kilometer Mauer werden nicht an einem Tag gebaut. Da wechselten noch überall Menschen von Ost nach West und West nach Ost an den Bauarbeitern vorbei. Sparten auch nicht mit launigen Kommentaren. Es waren noch schöne Sommertage, aber es war eine seltsame Stimmung in der Stadt. Der Satz Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten wurde natürlich ständig in Gesprächen zitiert, fiel aber bei dem Überreichtum an Ulbricht Witzen in Berlin nicht weiter auf. Der Busfahrer auf der obligatorischen Stadtrundfahrt konnte auch welche erzählen. An einer Stelle sagte er über sein Mikrophon, dass wir hier nicht weiterfahren könnten, weil hier alles abgesperrt sei. Billy Wilder drehe hier einen Film. Es war aber nichts von Billy Wilder zu sehen, und von einem Film aus Berlin habe ich damals auch nichts gehört. Ich hielt es für eine Geschichte, die Berliner Busfahrer den Jugendlichen aus der Provinz erzählen, weil die alles glauben. Aber ich muss dem Mann Abbitte tun. Billy Wilder drehte da wirklich einen Film. Der Bau der Mauer hatte Wilder völlig die Dreharbeiten zu Eins, Zwei, Drei versaut. Das Brandenburger Tor musste als Kulisse in Geiselgasteig nachgebaut werden.

Als wir sie schleiften, 
ahnten wir nicht, 
wie hoch sie ist in uns
Wir hatten uns gewöhnt 
an ihren horizont
Und an die windstille
In ihrem schatten 
warfen alle keinen schatten
Nun stehen wir entblößt 
jeder entschuldigung

Früher hatten wir den 17. Juni als Nationalfeiertag, weil am 17. Juni 1953 in Bitterfeld (wo der Dreck vom Himmel fällt) 50.000 Demonstranten freie Wahlen forderten. An anderen Orten waren es noch mehr, die von der Freiheit träumten. Jetzt ist unser Feiertag der 3. Oktober. Das hat seinen Grund. Weil Sabine Bergmann-Pohl am 23. August 1990 in der Volkskammer das Abstimmungsergebnis bekanntgab: 

Die Volkskammer erklärt den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes mit der Wirkung vom 3. Oktober 1990. Das liegt Ihnen in der Drucksache Nr. 201 vor. Abgegeben wurden 363 Stimmen. Davon ist keine ungültige Stimme abgegeben worden. Mit Ja haben 294 Abgeordnete gestimmt. Mit Nein haben 62 Abgeordnete gestimmt, und sieben Abgeordnete haben sich der Stimme enthalten. Meine Damen und Herren, ich glaube, das ist ein wirklich historisches Ereignis. Wir haben uns die Entscheidung alle sicher nicht leicht gemacht, aber wir haben sie heute in Verantwortung vor den Bürgern der DDR in der Folge ihres Wählerwillens getroffen. Ich danke allen, die dieses Ergebnis im Konsens über Parteigrenzen hinweg ermöglicht haben.

Ich stelle heute etwas ein, das schon in meinem ersten Jahr als Blogger am 3. Oktober hier stand, als wir zwanzig Jahre Einheit feiern konnten. Damals war Angela Merkel noch Kanzlerin, heute scheint sie trotz ihrer 736-seitigen Memoiren beinahe vergessen zu sein. Wir vergessen alles zu schnell. Aber manches bleibt im Gedächtnis, wie Reiner Kunzes Gedicht die mauer (zum 3. oktober 1990) da oben. Mein Text zum dritten Oktober, den ich immer noch mag, ist in den folgenden Jahren leicht verändert worden. Und länger geworden. Auch heute. Es kann nicht schaden, ihn noch einmal hierher zu stellen. 

Als ich nach der Bundestagswahl 2017 den Post Unser Land schrieb, hatte ich nicht daran gedacht, dass eine Woche später der Nationalfeiertag sein würde. Vielleicht hätte ich dann für Herrn Gauland noch den ein oder anderen Satz übrig gehabt. Ein halbes Jahrhundert nach Adolf von Thadden hatten wir wieder eine rechtsradikale Partei im Parlament. Vielleicht ist das auch ganz gut: indem wir über die AfD diskutieren, diskutieren wir über unser Selbstverständnis, unsere Demokratie. Die Zeitungen versichern uns, dass unser Land zerrissen sei. Wirklich? Die Kanzlerin tut das, was sie immer tut: schweigen und die Raute machen. Ist das genug? Anita Ekberg konnte das mit der Raute besser. Es könnte bei uns etwas mehr sein:

Nein, das gemeine Beste, 
Des eignen Wohlergehens nur einzig sichre Feste 
Erweckt in mir den Trieb; Trieb, den der Himmel ehrt, 
Wenn seines Eifers Glut der Bosheit Spreu verzehrt. 
Die angestorbne Pflicht, das Vaterland zu schützen, 
Der Freiheit Gott zu sein; der Unschuld Recht zu stützen, 
Ist der geheiligte, mit Blut gelegte Grund
Worauf das Wohl des Staats und unserer Väter stund. 

Den lasset uns vereint mit unserm Blut verteidgen.

Gut, es ist ein wenig veraltet, was Justus Möser da in seinem Theaterstück Arminius schreibt, aber es hat auch mit unserer Nation zu tun.

Die Deutschen von heute kommen aus zwei verschiedenen Erfahrungsbereichen; sie gleichen Kindern einer Familie, die getrennt in verschiedenen Umwelten aufwuchsen und auf die eine andere Art von Erziehung eingewirkt hat. Denn der Eiserne Vorhang der 50er-Jahre, der in den 60ern in Deutschland zu einer Betonmauer wurde und erst nach 28 Jahren gewaltlos beseitigt werden konnte, trennte nicht nur Militärblöcke, Wirtschaftsgefüge und Ideologien, sondern auch Lebensgefühle, die nicht so schnell wie die Mauer zu beseitigen sind, schreibt Günter de Bruyn. Mit dem Lebensgefühl hat er sicherlich recht. Ich bin in einer amerikanischen Besatzungszone aufgewachsen, ich habe ein anderes Lebensgefühl als jemand aus den Kriegsjahrgängen, der in der sowjetischen Besatzungszone aufwuchs. Es hat ja lange gedauert, dass man im Westen nicht mehr von der SBZ redete und wahrnahm, dass es einen Staat namens DDR gab. Uns trennt noch vieles, aber wir haben jetzt eine gemeinsame Nationalhymne. Allerdings nicht diese:

Auferstanden aus Ruinen
Und der Zukunft zugewandt,
Laß uns dir zum Guten dienen,
Deutschland, einig Vaterland.
Alte Not gilt es zu zwingen,
Und wir zwingen sie vereint,
Denn es muß uns doch gelingen,
Daß die Sonne schön wie nie
Über Deutschland scheint.

Glück und Frieden sei beschieden
Deutschland, unserm Vaterland.
Alle Welt sehnt sich nach Frieden,
Reicht den Völkern eure Hand.
Wenn wir brüderlich uns einen,
Schlagen wir des Volkes Feind!
Laßt das Licht des Friedens scheinen,
Daß nie eine Mutter mehr
Ihren Sohn beweint.

Laßt uns pflügen, laßt uns bauen,
Lernt und schafft wie nie zuvor,
Und der eignen Kraft vertrauend,
Steigt ein frei Geschlecht empor.
Deutsche Jugend, bestes Streben
Unsres Volks in dir vereint,
Wirst du Deutschlands neues Leben,
Und die Sonne schön wie nie
Über Deutschland scheint. 

Das hätten wir ja als Nationalhymne nehmen können, vom neuen Deutschland. Warum eigentlich nicht? Kann man ja auch zu der Melodie von Gott erhalte Franz den Kaiser singen, braucht man nicht unbedingt (wie Hans Albers in Wasser für Canitoga) zur Melodie von Goodbye Johnny zu singen. Wir haben in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg etwas länger gebraucht, bis wir überhaupt eine Nationalhymne bekamen. Es war Konrad Adenauer sehr peinlich, in Amerika mit Heidewitzka, Herr Kapitän begrüßt zu werden. Oder in seiner engeren Heimat mit Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien. Wir können ja glücklich sein, dass uns nach 1945 diese Hymne erspart blieb:

Land der Väter und der Erben,
uns im Leben und im Sterben
Haus und Herberg, Trost und Pfand,
sei den Toten zum Gedächtnis,
den Lebend'gen zum Vermächtnis,
freudig vor der Welt bekannt,
Land des Glaubens, deutsches Land.

Der Aufruf Macht das Tor auf des Bundestages von 1958 war im Jahre 1989 endlich erhört worden, als Wahnsinn das Wort der Stunde wurde. Das Wort Willkommenskultur gab es noch nicht im Repertoire der Presse, dies war jetzt Wahnsinn. Sind wir jetzt alle glücklich? Wo sind die blühenden Landschaften? Gibt es ein einheitliches Lohnniveau in Deutschland? Hat das alles angefangen mit dem Gedicht, das der fünfundzwanzigjährige Günther Sattler im September 1989 auf ein Flugblatt schreibt?

was für ein leben?
wo die wahrheit zur lüge wird, 
wo der falsche das zepter führt.

was für ein leben?
wo die freiheit tot geboren,
wo schon scheint alles verloren.

was für ein leben?
wo alte männer regieren,
wo noch menschen an grenzen krepieren.

was für ein leben?
wo die angst den alltag bestimmt, 
wo das ende kein ende nimmt.

was für ein leben?
wo man seinen nachbarn nicht mehr traut, 
wo man nicht mehr aufeinander baut.

was für ein leben?
wo man nicht sein kann, der man ist, 
wo man so schnell vergißt.

was für ein leben?
wo träume sterben,
wo es nichts mehr gibt zum vererben, 
außer scherben

was für ein leben?
wo es für wenige alles gibt,
wo der kleine, keinen ausweg sieht.

was für ein leben?
wo liebe nicht existiert, 
wo man langsam erfriert.

WAS FÜR EIN LEBEN? FÜHREN WIR????
ABER LEBEN MUß MAN DOCH UND ZWAR HIER!!

Dieses und zwar hier fand sich auch in dem Aufruf Für unser Land, den Christa Wolf geschrieben hatte: Entweder können wir auf der Eigenständigkeit der DDR bestehen und versuchen, mit allen unseren Kräften und in Zusammenarbeit mit denjenigen Staaten und Interessengruppen, die dazu bereit sind, in unserem Land eine solidarische Gesellschaft zu entwickeln, in der Frieden und soziale Gerechtigkeit, Freiheit des einzelnen, Freizügigkeit aller und die Bewahrung der Umwelt gewährleistet sind. 
           Oder wir müssen dulden, daß, veranlaßt durch starke ökonomische Zwänge und durch unzumutbare Bedingungen, an die einflußreiche Kreise aus Wirtschaft und Politik in der Bundesrepublik ihre Hilfe für die DDR knüpfen, ein Ausverkauf unserer materiellen und moralischen Werte beginnt und über kurz oder lang die Deutsche Demokratische Republik durch die Bundesrepublik Deutschland vereinnahmt wird.
           Laßt uns den ersten Weg gehen. Noch haben wir die Chance, in gleichberechtigter Nachbarschaft zu allen Staaten Europas eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik zu entwickeln. Noch können wir uns besinnen auf die antifaschistischen und humanistischen Ideale, von denen wir einst ausgegangen sind
.

Hofften Christa Wolf und die Unterzeichner des Aufrufs wirklich, dass die DDR noch zu retten war? Es kam eine Revolution ohne Blut. Das Beste an unserer Vereinigung ist, dass kein Blut floss, hat Wolf Biermann gesagt. Niemand ist an die Laterne gehängt oder vor ein Peloton gestellt worden. Erich Mielke ist verurteilt worden. Wegen eines Mordes im Jahre 1931, für nix anderes. Schalck-Golodkowski hat ein Jahr bekommen, aber auf Bewährung. Lebte danach in Rottach-Egern. Ausgerechnet da. Kaum waren wir ein Land, kaum waren die ersten verurteilt, gab es schon die ersten Rufe nach einer Amnestie. Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat, hat Bärbel Bohley gesagt. Aber für die Juristen ist alles gut, wie man hier lesen kann. Und das Wort vom Unrechtstaat hört man auch nicht mehr, seit uns die Linguistin Gesine Lötzsch erklärt hat, dass das ein propagandistischer Kampfbegriff gewesen sei.

Eine Woche nach dem Fall der Mauer bin ich einmal durch das Land gefahren, das heute nur noch Mäck-Pomm heißt (dabei ist das E in Mecklenburg ein langes Dehnungs-E). Ich konnte die Fahrt, das flache Land im sonnigen Herbst mit den wunderbaren alten Alleen, genießen. Mein Bruder saß am Steuer seines nagelneuen Autos. Das auch etwas mit dem Fall der Mauer zu tun hatte. 

Den Wagen davor hatte er bei einem örtlichen Händler gekauft, Werksvertretung der Automarke. Alles war gut. Bis eines Tages die Kripo in seiner Praxis stand. Beinahe alle Autos, die der Händler verkauft hatte, hatten mehr oder weniger gefälschte Papiere, Kilometerstand des Tachos und Nachweis für Inspektionen waren manipuliert. Der Händler war flüchtig. Er war in die DDR geflohen. Vier Wochen vor dem Fall der Mauer. Der Autohändler war wahrscheinlich einer der wenigen Menschen in Deutschland, der über die deutsche Wiedervereinigung nicht glücklich war. Mein Bruder lernte Mecklenburg-Vorpommern dann später noch genauer kennen, weil der Prozess gegen den kriminellen Autohändler in Schwerin stattfand.

Kurz vor der Grenze überfiel mich bei unserer Fahrt, wie bei jedem Grenzübertritt in den Jahrzehnten zuvor, der übliche Schiss. Aber da war nichts mehr mit Kontrolle. Kein Satzbeginn mit Gänsefleisch mehr (Gänsefleisch mal den Kofferraum aufmachen?). Keine im Busch lauernden Vopo Wartburgs mehr, wo man doch mit willkürlichen Strafmandaten so schöne Devisen einnehmen konnte. Ich habe meine Strafmandate aufbewahrt, sie sind ein historisches Zeugnis. Die durch die DDR donnernden Laster aus Skandinavien wurden nie aufgeschrieben, die brachten Devisen. Ich traute dem Frieden noch nicht so recht, aber als ich in Schwerin sah, dass Jugendliche aus einem Trabbi heraus vorbeifahrenden Vopos den Mittelfinger zeigten, da wusste ich, dass eine neue Zeit angebrochen war. Das ist die Symbolik der Freiheit. Und an zerbröckelnden Mauern hing jetzt auch schon westliche Reklame. Das erste Billboard, das ich in der Noch-DDR sah, bedeckte die Wand eines zerbröckelnden Hauses. Es war von einer Zigarettenfirma, auf dem Plakat stand nur: WEST. Ich fand das eine schöne Symbolik. Ich ärgere mich noch immer, dass ich meinen Photoapparat nicht mitgenommen hatte.

Noch bevor die Mauer fiel, hatte Coca Cola den Weg in die DDR gefunden, wurde tatsächlich für zwei Mark fünfzig (Ost) in Läden gesehen. Eine Studentin von mir, die in den Semesterferien bei Coca Cola jobbte, schenkte mir damals einen Coca Cola Sticker und prophezeite mir, der wäre eines Tages sehr viel wert. Der rote Anstecker zeigte das geeinte Deutschland, mit dem Schriftzug Coca Cola in der Mitte. So, als ob Coca Cola Deutschland geeint hätte. Coca Cola und Kommunismus haben die gleiche symbolische Farbe. Ich weiß nicht, was der kleine Anstecker heute wert ist. Ich habe ihn aber immer noch. Ich stecke ihn jedes Jahr am 3. Oktober an.

Das WEST Plakat an der abbröckelnden Mauer und der rote Cola Sticker stehen als Symbole für das, was jetzt kam: Kommerz. Abwickeln, Umrubeln, Plattmachen. Eine Lehrstunde in angewandtem Kapitalismus. Es gab damals einen Krimi aus der Reihe Schwarz-Rot-Gold, in dem der Hamburger Zollfahnder Zaluskowski mit seiner Mannschaft jetzt in Berlin sitzt, und lauter Kriminelle dabei sind, an dem ✺Umrubeln zu verdienen. Da hat es Dieter Meichsner (dem der NDR und wir alle viel zu verdanken haben) uns mal wieder bewiesen, dass man Fernsehkrimis mit politischer Aufklärung verbinden kann.

Der erste Tatort, den die ARD 1970 sendete, hieß Taxi nach Leipzig. Er hatte gezeigt, dass man beide Deutschlands in einem Fernsehkrimi unterbringen konnte. Nach der Wiedervereinigung bekamen wir auf dem Bildschirm viele neue Kommissare, die das deutsch-deutsche Verbrechen bekämpften. Die ganz alten Kommissare gab es auch noch, weil in der Nacht die alten DDR Polizeiruf 110 Folgen des DFF wieder aufgelegt wurden. Die Kommissare Kurt Böwe und Uwe Steimle aus Schwerin waren mir immer die liebsten. Aber leider ist Kurt Böwe, den viele noch aus Konrad Wolfs Der nackte Mann auf dem Sportplatz kannten, inzwischen tot. Und dem Uwe Steimle hat die ARD gekündigt. Die Hauptkommissare Ehrlicher (Peter Sodann) und Kain (Bernd Michael Lade) hat man auch in Rente geschickt. Ich bin immer noch der Meinung, dass Peter Sodann ein besserer Bundespräsident als Horst Köhler gewesen wäre.

Was war das vor fünfunddreißig Jahren für eine Chance, gemeinsam einen neuen Anfang zu wagen! Aber dazu hätte es anderer Leute bedurft. Obgleich es ja nie an Idealisten gefehlt hat. Ich habe Freunde, die hier hochdotierte Positionen aufgegeben haben, um da drüben bei dem Neuaufbau zu helfen. Ärzte, die ihre Professur ruhen ließen, um drüben eine Klinik aufzubauen. Das ist etwas anderes als jene, die mit der Buschprämie dahin gelockt wurden. Oder die freiberuflichen Juristen, die sich mit der notariellen Beglaubigung von Land- und Immobilienverkäufen eine goldene Nase verdienten. Aber für den dicken Kohl konnte das, woran er keinen Anteil gehabt hatte, jetzt nicht schnell genug gehen, Kanzler der Einheit wollte er sein. Sein Buch Ich wollte Deutschlands Einheit habe ich kurz nach seinem Erscheinen  im Grabbelkasten eines Antiquariats gesehen, koste (nagelneu und ungelesen) zwei Euro. Ich habe es aber nicht gekauft. Bei Amazon bekommt man es heute schon für 1,19 Euro.

Wir hätten ja von den Bürgerrechtlern lernen können und von der ganzen Intelligenz der Opposition. Wir hätten ja Jens Reich (hier mit Bärbel Bohley im Oktober 1989) zum Bundespräsidenten machen können. Wenn man bedenkt, was seit den griechischen Philosophen alles über die kluge Staatsführung gesagt worden ist. Und was gab es? Keine Konzeption, nur Gemauschel, und die so genannte Treuhand und tausenderlei Skandale, von denen die Leuna Affäre nur einer von vielen ist. Was Leuna bedeutet, weiß ich seit ich klein bin. Weil ich einen Verwandten hatte, der eine Flakeinheit kommandierte, die Deutschlands Chemieindustrie beschützen sollte. Inzwischen haben wir eine Bundeskanzlerin und hatten einen Bundespräsidenten aus der DDR, aber wir können uns noch entsinnen, dass die Kanzlerin alles versucht hat, damit Gauck nicht Bundespräsident wurde. Was hätte sie wohl getan, wenn Peter Sodann Präsident geworden wäre?

Als die DDR Bürger dann in riesigen Zahlen kamen, weil es ein Begrüßungsgeld gab, und als ihre Rennpappen mit dem bläulichen Auspuffgas die Straßen verstopften, als die Geschäfte hier auch am Sonntag offen hatten, damit das Begrüßungsgeld gleich in ihre Kassen kam, da hatte man das Gefühl: jetzt kommt eine neue Zeit. War aber letztlich auch nur Kommerz. Ich habe dem hellblauen Trabbi, der neben mir auf dem Parkplatz stand, einen Zehnmarkschein unter den Scheibenwischer geklebt. Wochen später standen die Russen in der Einkaufsstraße und vertickten Russenuhren, alles nur Komandirskie, die Sowjetarmee bestand offenbar nur aus Kommandeuren. Und wenige Wochen später wurden sie von Leuten abgelöst, die jetzt geschnitzte geflügelte Jahresendfiguren verkauften. Der Ausverkauf des Ostens hatte begonnen. In Berlin sollen sogar Kalaschnikows auf dem Flohmarkt verkauft worden sein.

Das Gute mit der Einheit ist, dass ich Onkel Karl leicht erreichen kann. Der war zum Entsetzen der Berliner Verwandtschaft seinem Lehrer, dem Bildhauer Gustav Seitz, 1951 von Berlin-West nach Berlin-Ost gefolgt. Vor einem halben Jahrhundert habe ich meine Freundinnen bei Berlinbesuchen immer zur Stalinallee geschleppt und großspurig behauptet, dass all die Skulpturen mit den Helden der Arbeit von meinem Onkel Karl seien. Was nicht ganz stimmte, machte aber so um 1960 auf junge Frauen großen Eindruck. Einige der Figuren waren von ihm, aber von diesen heroischen Jugendsünden war er eigentlich schon lange weg, wie seine Schwimmerin aus dem Jahre 1952 da links beweist. Und sein Maxim Gorki sieht ganz, ganz anders aus, als der in Moskau.

Und wenig später hat er in Berlin sogar für die Bremer Stadtmusikanten gesorgt, das war wohl ein bildhauerischer Gruß an die Bremer Verwandtschaft. Das Photo von 1967 zeigt, dass eine Freiplastik auch von praktischem Nutzen sein kann. Haben wir sonst noch etwas aus der Kultur zu vermelden? Außer dem Roman Der Turm? Die Welt war der Meinung, Tellkamp habe wahrscheinlich den Roman des Jahrzehnts geschrieben. Den ultimativen Roman über die DDR, diese lächerliche sowjetische Satrapie auf deutschem Boden. Aber ist das Ganze wirklich Literatur? Es kann sich kaum mit Werner Bräunig messen. Die Neuausgabe von Bräunigs Rummelplatz und seinen Erzählungen Gewöhnliche Leute muss man unbedingt begrüßen.

Es hatte ja immer eine Literatur gegeben, von der wir im Westens wenig erfuhren. Dichter, die so etwas schrieben: will ich also die Poesie der Straßenbahn erleben, gehe ich zwischen den Gärten der Großstadt umher. Und da möchte ich meinen: Die Großstadt gebe in der Ferne ein Konzert, wo in den Kurven Straßenbahnen Geige spielten. Doch stehe ich an der Ecke und warte auf die 46, ist es wieder Lärm und Alltag und stört. […] Betrachte ich den von der Straßenbahn gewonnenen Eindruck als Feier, wenn er mir gegenüber im Hintergrund, und als Alltag, wenn er mir gegenüber im Vordergrund ertönt, entsteht […] die Feier im Alltag, das heißt dann soviel wie: Vergiß vor lauter Sorgen des Alltags die kleinen das Herz erquickenden Dinge nicht. Sei ein Künstler des Lebens und freue dich mit, etwa wenn der Dackel mit der Zeitung im Maul angeschwanzwedelt kommt und die kurz bevorstehende Ankunft des Herrn im Anzug ankündigt. 

Man hat Uwe Greßmann einen poète maudit gennannt, er passte nicht ins SED Parteibild. Er war sein halbes Leben lang krank und ist früh gestorben. Dass ich überhaupt wusste, wer Greßmann war, verdankte ich meinem Onkel Karl, der hat dem toten Dichter nämlich die Totenmaske abgenommen. Einen kleinen Eindruck von der DDR Subkultur habe ich gewonnen, als ich zwischen Abitur und Bundeswehr noch einige Wochen Zeit hatte, und mein Freund Uwe mich zu einer Tagung im Jugendhof Steinkimmen schleppte. Da war Hannes Meyer Leiter, der hatte vorher unser Jugendheim Alt-Aumund geleitet. Ich landete in einem Seminar über DDR Lyrik und Protestsongs. Ich habe leider all meine Unterlagen verloren, aber einige Zeilen eines wunderbaren Liedes aus dem Cassettenrecorder habe ich nie vergessen. Das wurde von einer jungen Frau im frechrotzigen Stil vorgetragen, und es hatte immer wieder den Refrain: Denn sie wollt' ja immer einen von der Universität. Wenn's geht. Wenn's geht.

Dass viel, viel Geld in die Museen geflossen ist, war natürlich zu begrüßen. Und sicherlich ist die Semperoper ein Schmuckstück, vor allem als Bierreklame, deshalb hat sie ja auch schon den inoffiziellen Namen Radeberger Arena. Was bleibet aber, stiften die Dichter. Also jetzt einmal von Bräunigs Roman Rummelplatz abgesehen. Und auch davon abgesehen, dass der von mir sehr geschätzte Günter de Bruyn Theodor Fontane immer ähnlicher und von Buch zu Buch besser wird. Und die Fontane Ausgabe, die der Grand Old Man der Fontaneforschung Gotthard Erler einst begonnen hatte, schreitet voran. Erler ist jetzt zweiundneunzig, hat gerade seine geliebte Frau Therese verloren, aber er arbeitet immer noch an der großen Sache.

Günter de Bruyns Buch Deutsche Zustände, zehn Jahre nach 1989 veröffentlicht, ist immer noch der Lektüre wert. Was auch etwas mit den schönen Photos von Barbara Klemm zu tun hat, die mit ihrer Ruhe und Ausgewogenheit hervorragend zum Ton des Buches passen. Nicht zuletzt die Duotone Druckqualität der Photos und das ruhige Layout des Buches tragen zum sinnlichen Vergnügen der Lektüre bei. Dies war ein Jahrzehnt nach dem Fall der Mauer ein Buch, das ein anderes Deutschland jenseits des peinlichen politischen Tagesgeschäfts und der bunten Versprechungen der Werbewelt zeigte.

Ein anderes Bild von einer kommoden Diktatur zeigte uns auch Günter Grass' Roman Ein weites Feld. Den ich übrigens für seinen besten Roman halte. Ich bin kein Fan von Günter Grass, irgendjemand hatte mir diesen voluminösen Pappband in die Hand gedrückt und gesagt: Lies mal! Auf dem Cover stand: Unverkäufliches Leseexemplar... Bitte keine Rezensionen vor dem 28. August 1995. Ich las, es war ein wunderbares Leseerlebnis. Als ich die Geschichte von Fonty Wuttke (hinter dem vielleicht der Verlagschef des Aufbau Verlags Gotthard Erler steckt) las, wurde mir plötzlich klar, dass ich durch das Leben gekommen war, ohne je Fontanes Vor dem Sturm gelesen zu haben. Ein Versäumnis! Als ich mit dem Fontane fertig war, beschloss ich, dass ich jetzt eigentlich auch das tun könnte, wozu mich Friedrich Hübner jahrzehntelang drängte, nämlich endlich Tolstois Krieg und Frieden zu lesen.

Ein weites Feld bietet ein Panorama der deutschen Geschichte. Und das wenige Jahre nach der Wende, da kann man nur sagen: Respekt. Der Filmemacher Edgar Reitz brauchte etwas länger. Mit Heimat 3: Chronik einer Zeitenwende hat Edgar Reitz sein ✺Heimat Projekt abgeschlossen und Wende und Wiedervereinigung auch nach Schabbach kommen lassen: Das ist natürlich schon für mich ein tiefgreifendes Erlebnis zu sagen 'dieses ist der letzte Teil von Heimat', also als berufliche Aufgabe. Und ich habe doch immerhin na bald 25 Jahre mit diesem Projekt verbracht, sodass dieses Projekt selbst eine Art Heimat bildet. Und das zu beenden, das ist nicht schmerzlos. Der Stoff geht mir nicht aus, und Geschichten erzählen unter dem Dach eines großen erzählerischen Werkes das Heimat heißt, das könnte ich ewig fortsetzen so lange ich gesund bin und arbeiten kann. Aber mit deutschen Fernsehsendern mich um das Budget zu streiten, und jede Silbe im Drehbuch rechtfertigen zu müssen, das will ich nicht noch einmal, das ist klar. Deswegen ist es Abschied von Schabbach

Sieben Jahre lang Gezerre mit der ARD wegen der Finanzierung für etwas, was der Abschluss des größten filmischen Meisterwerks über ein halbes Jahrhundert Bundesrepublik ist. Aber für einen Pausenclown wie Harald Schmidt, dafür hatten sie Geld bei der ARD. Das ist unser Problem, wieder nix wie Kommerz. Die Intendanten der Rundfunkanstalten haben Gehälter, von denen Bundespräsidenten nur träumen können, und was wird produziert? Dieser erschütternde Degeto-Quark, aber kein Geld für Heimat 3. Am Ende von Heimat 3 kommen Handwerker aus der ehemaligen DDR und bauen das Günderode Haus wieder auf, und Salome Kammer singt Eichendorffs Aus der Heimat hinter den Blitzen rot. Ein Gedicht, das mit dem Verlust der Heimat zu tun hat.

als das haus einstürzte vor dessen 
baufälligkeit sie gewarnt worden waren 
seit langem & mehrfach & immer vergeblich

klammerten sich einige von ihnen 
noch im fallen an einzelne balken 
& lobten die pläne der architekten

rühmten auch das fundament in dessen 
sich rasch verbreiternden rissen 
sie am ende verschwanden

& priesen noch aus der tiefe
das schützende dach dessen trümmer
sie schließlich erschlugen

Das Gedicht von Yaak Karsunke musste mal eben zitiert werden. Denn die Dichter hatten auf beiden Seiten der Grenze etwas zu der deutschen Befindlichkeit sagen. Der berühmte Germanist Karl Otto Conrady, der 2020 im Alter von vierundneunzig Jahren gestorben ist, hatte zwei Jahre nach seiner Emeritierung bei Suhrkamp ein interessantes Buch herausgebracht. Von einem Land und vom andern: Gedichte zur deutschen Wende 1989/1990 heißt es. Man kann es noch antiquarisch preiswert finden. Die Germanistik hat inzwischen ein neues, eigentlich schreckliches, Wort: Wendeliteratur. Es ist viel aufzuarbeiten, nicht nur von der Germanistik. Ich hätte hier für Sie zum Anklicken den sehr interessanten Artikel Die deutsche Wiedervereinigung - gespiegelt in der Lyrik der Professorin Young-Ae Xhon.

Mein Buch der Einheit fiel mir (wie die besten Bücher, die ich gelesen habe) in einem Grabbelkasten in die Hand. Noch auf der Straße im Passantengewühl fing ich an zu lesen. Das Buch heißt Letzten Sommer in Deutschland: Eine romantische Reise. Und ich nehme mal an, dass die Autorin Irina Liebmann mit ihren Büchern nicht auf sechs Millionen verkaufte Exemplare kommt wie Ildikó von Kürthy. Oder Inga Lindström, Charlotte Link und wie sie alle heißen. Obgleich es wirklich schön wäre, wenn sechs Millionen Deutsche Irina Liebmanns Buch lesen würden. Ein sentimental journey durch Deutschland, Ost und West, wechselnd zwischen Prosa und prose poem. Von der Wasserwelt in Lebus bis zum Rhein, hoch poetisch und hoch komisch. Dies ist ein Buch, das uns unsere hässliche Wirklichkeit vergessen lassen kann - obgleich die immer auch im Buch ist. Ich bin dem Zufall dankbar, dass ich das Buch 2010 passend zum zwanzigsten Jahrestag der Einheit gefunden hatte. Und ich bin Irina Liebmanndie vor drei Jahren den Uwe Johnson Preis bekam, ja sowas von dankbar, dass sie dieses Buch geschrieben hat.


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