Freitag, 6. Dezember 2024

Nikolaus


Ick bin en lüttjen König, 
geevt mi nich to wenig,
Laat mi nich so lange stahn,
ick mutt all weder wiedergahn.

Noch bevor man in der Schule Gedichte lernte, lernte man in Bremen diese Verse. Ich habe große Teile von Schillers und Goethes Gedichten vergessen, aber das Halli, Halli, Hallo, So geiht nah Bremen to, das vergisst man nicht. Und so durfte in diesem Blog im Dezember 2010 ein Post zum Nikolaus nicht fehlen, es war mein erster Nikolaustag als Blogger. Da wusste ich noch nicht, wohin die Reise ging. Jetzt kennt mich die Welt. Darf man das so sagen? Meine Leser mögen mich, und ich mag meine Leser. Meine Leser mögen mich, weil ich Geschichten erzähle. Und nebenbei auch noch ein klein wenig Bildung vermittle. Und weil ich hemmungslos subjektiv bin. Ein Zettel mit Goethes Satz: Sieh, liebes Kind, das ist ein Vorzug, den die Leute haben, die nicht schreiben: sie kompromittieren sich nicht, klebt an meinem Schreibtisch. Also da, wo Herman Melville seinen Zettel mit dem Keep true to the dreams of thy youth kleben hatte.

Der Nikolaus Post, der zuerst Sünnerklaas hieß, ist in diesem Blog am 6. Dezember immer wieder aufgetaucht. Ich stelle ihn heute in der Version von 2010 hier hin. Ohne Bilder. Bilder konnte ich noch nicht. Jetzt kann ich alles. Ich wünsche meinen Lesern eine schöne Adventszeit.



Als die Winter noch kälter waren als in diesen Tagen, als die Straßenbeleuchtung noch spärlich war und der Schutzmann noch einen Tschako trug, da waren am Abend des Nikolaustages in Bremen lauter kleine Nikoläuse unterwegs. Der Heilige Nikolaus hieß in dieser Gegend auch Sünnerklaas, was plattdeutsch für Sankt Klaus ist. Je weiter man nach Holland kam, desto mehr verwandelte sich dieses Sünnerklaas (oder Sünnerklaus) zu Sinnerklaas. Es blieb aber immer der gleiche Heilige Nikolaus von Myra, der der Schutzheilige der Kinder und der Seefahrer ist. Weshalb auch jede Hafenstadt eine Nikolaikirche hat. Obgleich Bremen von den Amerikanern besetzt war, hatte Halloween mit trick-or-treat auf uns noch nicht abgefärbt. Bei uns gab es das Nikolauslaufen. Dazu musste man sich verkleiden, eine rote Mütze, ein falscher Bart und ein Stock (die symbolischen Reste des Bischofstabs) gehörten zu dem Outfit. Opas Spazierstock eignete sich hervorragend dafür. Und natürlich ein Sack, in den man die empfangenen Süßigkeiten wie Moppen und Spekulatius tat. Und man musste sein Sprüchlein an jeder Tür in der Nachbarschaft aufsagen:

Nikolaus de gode Mann,
kloppt an alle Dören an.
Lüttje Kinner gifft he wat,
grode steckt he in'n Sack.
Halli, Halli, Hallo,
So geiht nah Bremen to.


Und wenn da nicht schnell genug die Süßigkeiten rausgerückt wurden, dann kam da noch, unter Aufstampfen des Stockes, eine zweite Strophe:

Ick bin en lüttjen König,
geevt mi nich to wenig,
Laat mi nich so lange stahn,
ick mutt all weder wiedergahn.
Halli, Halli, Hallo,
So geiht nah Bremen to.


Es ging immer nah Bremen to, da wollten die Bremer Stadtmusikanten auch hin (Ei, was, du Rotzkopf, sagte der Esel, zieh lieber mit uns fort, wir gehen nach Bremen, etwas Besseres als den Tod findest du überall). Nun macht es ja keinen großen Sinn, halli, halli, hallo, so geiht nah Bremen to zu singen, wenn man sowieso in Bremen ist. Obgleich die Stadt Bremen für uns in Nordbremen weit, weit weg war. Irgendwie scheint diese Sache mit Bremen (wie vielleicht auch das ganze Nikolauslaufen) aus den Liedern zu kommen, die am Martinstag in Ostfriesland gesungen wurden, wo es Sünnematten, Mattenherrn oder Matten Matten Mähren hieß. Da sang man dann:

Matten-, Mattenmähren,
die Äpfel und die Beeren,
gute[r] Frau [Mann], gib uns was.
Lass uns nicht so lange steh'n!
Wir wollen noch nach Bremen geh'n.
Bremen is ne große Stadt,
da kriegen alle Kinder wat,
die Großen und die Kleinen,
sonst fang se an zu weinen.


Im 19. Jahrhundert hat es in Bremen - der Stadt von der man in Liedern und im Märchen träumt, dass dort alles besser ist - noch andere Strophen zu dem Nikolauslied gegeben, wie zum Beispiel:

Miin Vadder is Zigarrenmaaker,
miin Mudder ruppt Toback.
Un wenn ji dat nich glöben wüllt,
denn steck ick jo inn'n Sack.
Halli, halli, hallo
So geiht na Bremen to.


Das wurde nun wohl in den Stadtteilen gesungen (es ist auf jeden Fall aus Hastedt überliefert), wo die weniger Begüterten wohnten. Und man muss wahrscheinlich auch betonen, dass das Nikolauslaufen zuerst eine Sache der ärmeren Schichten gewesen ist, bevor es im 19. Jahrhundert von allen Bremer Kindern adaptiert wurde. Die Zigarrenmaaker kommen in unzähligen Bremer Döntjes aus dem 19. Jahrhundert vor. Man kann der Strophe auch entnehmen, dass Frauenarbeit in den Bremer Fabriken selbstverständlich ist - miin Mudder ruppt Toback - und auch die Kinderarbeit, selbst wenn sie hier im Nikolauslied nicht vorkommt. Die Zigarrenmaakers sind die erste gewerkschaftlich organisierte Gruppe in Bremen, wo es in der Mitte des 19. Jahrhunderts 78 Tabakfabriken gab. Sie bildeten auch ein Element gesellschaftlicher Unruhe in der sonst festgefügten konservativen bürgerlichen Struktur des 19. Jahrhunderts. Das repräsentative Gebäude neben dem Dom, auf dem mit goldenen Lettern Verein Vorwärts steht, gehörte seit 1853 dem Bildungsverein der Zigarrenmacher. Heute ist da die Wittheit zu Hause. Der Zusammenschluss der Zigarrenmacher verfolgte neben der Wahrung sozialer Interessen auch Ziele in der Allgemeinbildung. Und sie hatten Vorleser in der Fabrik.

Vielleicht kann man das mit den Zigarrenmachern in Kuba vergleichen, die in ihren Fabriken einen Vorleser hatten, der ihnen während der Arbeit Romane vorlas. So hörten die Arbeiter Victor Hugo, Alexandre Dumas, Jules Verne, Shakespeare und Emile Zola. Angeblich sollen so die Zigarrenmarken Montechristo und Romeo y Julieta nach dem Grafen von Montechristo und Shakespeares Theaterstück benannt worden sein. Manchmal lasen die Vorleser auch Politisches aus Zeitungen vor, was bei den Fabrikbesitzern nicht so gut ankam (und manchmal verboten wurde). Ob der leidenschaftliche Zigarrenraucher Karl Marx das gewusst hat? Auch in den Bremer Tabakfabriken hat es solche Vorleser gegeben, die von den Arbeitern bezahlt wurden. Manchmal waren das auch Kinder und Handlanger, die kosteten nicht so viel. Der Beginn der Arbeiterbildung liegt, auf jeden Fall in Bremen, im Tabakrauch.

Vorleser gibt es in Kuba heute immer noch, auch wenn sie - wie Guillermo Cabrera Infante in seiner wunderbaren Kulturgeschichte des Rauchens Holy Smoke etwas gehässig sagt - heute die Gesammelten Werke von Fidel Castro vorlesen müssen. Die erste Zigarrenfabrik in Kuba, die einen bezahlten Vorleser gehabt haben soll, hieß El Figaro. Wenig später folgte Don Jaime Partagas (die Firma und die Zigarre heißt immer noch so), der dem Vorleser sogar ein Lesepult spendierte. Als der amerikanische Innenminister W.H. Seward kurz nach dem Bürgerkrieg die Fabrik von Partagas besuchte, war er von diesem System begeistert. Da hatten schon alle Tabakfabriken in Kuba einen Vorleser. Was sie nicht hatten, waren (im Gegensatz zu Bremen) weibliche Arbeitskräfte. Diese Geschichte, dass eine gute Zigarre auf den Schenkeln einer Kubanerin gerollt sein muss, entstammt männlichen Phantasievorstellungen. Erst Ende der 1870er Jahre fängt die erste Frau in einer Zigarrenfabrik auf Kuba an. Da ist die Oper Carmen schon aufgeführt worden.

Ich erwähne die nur, weil da eine Zigarettenfabrik drin vorkommt, die der berühmte Wilfried Minks (von Bremen nach Hannover ausgeliehen) Anfang der sechziger Jahre in Hannover so schön auf die Bühne gezaubert hatte. Und der Regisseur hatte den Einfall, Carmen auf der Bühne rauchen zu lassen. Und sie dann so wahnsinnig cool die Ziggi wegschnippen zu lassen, bevor sie L'amour est un oiseau rebelle singt. Der Effekt wurde aber bei der Premiere noch übertroffen. Ein junger, schlaksiger Verehrer der Sängerin der Carmen wanderte den linken Gang entlang bis zur Bühne und warf der Sängerin eine langstielige rote Rose vor die Füße, als sie mit der Habanera fertig war. Danach verließ er den Zuschauerraum. Die Krönung des Ganzen war, dass er eine rote Lederjacke trug. Wo um alles in der Welt kriegt man Anfang der sechziger Jahre eine quietscherote Lederjacke her? Roter als jeder Nikolausmantel. Ich war die ganze Aufführung lang neidisch. Auf die rote Lederjacke und auf diesen Kerl, der die Sängerin kannte.

Wenn die Strophe mit dem lüttjen König allen geläufig ist, so scheint es in Bremen im 19. Jahrhundert dabei auch noch eine Variation gegeben zu haben, die weniger auf kleine Könige und auf Kinder von Zigarrenmaakers als auf soziales Elend hinweist:

Ick bün so’n lütten Schipperjung,
Mutt all miin Broot verdeen’n,
Den ganzen Dag in’t water stan
Mit mine korten Been’n
Halli, halli, hallo,
Nu geiht’t na Bremen to

Über das allmähliche Verfertigen der Gedanken beim Schreiben: da fange ich mit einer Kindheitserinnerung an, mit Versen, die ich immer noch aufsagen kann, und dann muss ich erkennen, dass wir Bremer mit diesem schönen Brauch nicht allein gewesen sind. Nikolauslaufen hat es überall gegeben. Inzwischen ist es beinahe ausgestorben, jetzt importieren wir kommerzialisierte amerikanische Bräuche wie Halloween. Im Norddeutschen Rundfunk wird darüber abgestimmt, ob die Hörer Last Christmas von Wham hören sollen. 54 Prozent der Anrufer sind dafür. Ich könnte wetten, dass keiner von denen, die den zum Dudelfunk heruntergekommenen NDR hören, ein halbes Dutzend deutscher Weihnachtslieder mit allen Strophen beherrscht.

Und die Zigarrenfabriken in Bremen gibt es auch nicht mehr, wenn man von Resten wie Martin Brinkmann (Lux, Peer Export, Lord Extra) mal absieht. Das ist aber nichts mehr vom Glanz der großen Zeit, als der Zigarrenkönig Friedrich Biermann von der Firma Leopold Engelhardt & Biermann sechstausend Arbeiter beschäftigte. Durch die für Bremen ungünstige Zollordnung, hat sich die Zigarrenfabrikation in der zweiten Häfte des 19. Jahrhunderts nach Bünde in Westfalen verlagert. Mein Opa hätte die Villa von Biermann in St Magnus in den zwanziger Jahren billig kaufen können. Aber dann hätte er jeden Morgen zu seiner Schule durch den Arbeiterstadtteil Grohn (der für ihn den bösen Beinamen Kamerun bei Pumpe hatte) marschieren müssen, und das war dem kaisertreuen Ex-Hauptmann nun wirklich nicht zuzumuten.

Je mehr ich begann, den Anfängen des Nikolauslaufens nachzugehen, musste ich feststellen, dass natürlich die Volkskundler und die Lokalhistoriker sich schon mit dem Thema beschäftigt haben. War ja auch anzunehmen, dass hinter all dem, was wir tun, etwas Mythisches steckt. So wie es uns James George Frazer und Jessie L. Weston (ohne die wäre Eliots The Waste Land nichts geworden) gezeigt haben. Das interessiert einen aber nicht, wenn man mit kalten Füßen, laufender Nase und schidderigem roten Bademantel im Dunkeln an einer fremden Tür klingelt und die magischen Worte sagt: Nikolaus de gode Mann, kloppt an alle Dören an.

Donnerstag, 5. Dezember 2024

demise


Nach dreiundfünfzig Jahren schließt Uli Knecht sein Stuttgarter Stammhaus. Das ist das Ende vom schleichenden Untergang seines kleinen Modeimperiums, das er mit neunzehn Jahren begründete. Im letzten Jahr hatte er seinen Laden auf der Düsseldorfer Königsstraße aufgegeben, den er vierzig Jahre gehabt hatte. Da sollte ein Luxus Tempel namens Calatrava Boulevard entstehen, aber das Projekt scheint schon wieder beerdigt zu sein. Vor drei Jahren schlossen Knechts Geschäfte in Berlin und in Frankfurt. Mal sehen, wie lange ich noch mache, sagte er damals gegenüber der Textilwirtschaft. 2017 hatte er schon seinen Laden in Hamburg in den Großen Bleichen schließen müssen, die Miete war zu hoch geworden. Wir haben 450 Quadratmeter, und pro Quadratmeter zahlen wir mehr als 100 Euro, sagte er der Bild Zeitung. Es geht ihm jetzt wie Thomas Rusche, der 2020 seine Soer Filialen an die Bonavest GmbH übergab, die aber in diesem Sommer auch schon Insolvenz anmelden musste. Hinter dem Namen Bonavest steht Christian von Daniels, dem die Firma van Laack gehört. Rusche verlor nicht nur seine Ladenkette, er verlor auch seine große Kunstsammlung, aber seinen Glauben an Gott hat er nicht verloren, wie man diesem Video entnehmen kann. 

Kunstsammler war Uli Knecht auch gewesen, er kaufte moderne Kunst, wie diesen Baselitz hier und solche Sachen. Eine Lavender Marilyn von Andy Warhol besaß er auch. Thomas Rusche kaprizierte sich auf die alten Niederländer, er besaß auch die größte private Sammlung von Bildern von Wolfgang Heimbach. Uli Knecht war gelernter Photograph, in den siebziger Jahren hatte er, was die Mode betrifft, die Zeichen der Zeit erkannt. Gleichzeitig mit Leuten wie Dietmar Kirsch, Thomas Friese (Thomas-I-Punkt), Dolf Selbach,  Heinrich Zapke oder Hans Carl Kapelle (Kelly's) hatte er eine Marktlücke entdeckt. Es geht um Kleidung, die raffiniert einfach ist, sportiv und bequem, aus den besten Materialien und ausgezeichnet durch den unnachahmlichen Stil ihrer Schöpfer, war seine Devise. Bei Uli Knecht gab es Hemden von Guy Rover und Orian. Und Pferdelederschuhe von Alden. Und ansonsten gab es Kiton und Caruso. Und Lederjacken. Aus dem Laden ist ein kleines Imperium geworden, und wenn es mit den großen Marken mit der Zeit ein wenig nach unten gegangen war, die Lederjacken von Uli Knecht hatten einen sprichwörtlich guten Ruf.

Aber Knechts kleines Reich hört am Ende des Jahres auf zu bestehen. Tatsache ist, dass immer weniger Leute in die Stadt zum Einkaufen kommen und Tatsache ist, dass die Leute immer mehr sparen müssen. Im Grunde spricht alles gegen den stationären Handel, hat Knecht gesagt. Auf seiner Homepage gibt es einen Text, der jetzt schon reine Nostalgie ist: Uli Knecht trifft in den 70er Jahren mit diesem Credo stilsicher den Puls der Zeit. Erst 19 Jahre jung aber als ausgebildeter Fotograf bereits mit dem geschulten Blick für das Detail und dem Gespür für das große Ganze, schließt er mit seinem Angebot an 'Casual Chic' souverän eine Marktlücke. Wohlklingende Namen wie Armani oder Brioni sind zu dieser Zeit nur Kennern ein Begriff, doch was international als 'Sportswear' bekannt ist, stößt auch hierzulande rasch auf Begeisterung. Mittlerweile finden sich Stores in allen angesagten deutschen Großstädten von Stuttgart bis Berlin. Das Sortiment fasziniert neben großen Traditionsmarken auch durch jüngere Luxus-Labels sowie die Eigenmarke. Denn was Uli Knecht ganz zu Beginn in Worte fasst, beschreibt auch heute treffend eine Philosophie, die Sie in jedem einzelnen Stück wieder finden werden.  Der Photograph Uli Knecht scheint in wenig kamerascheu zu sein, denn im Netz findet sich auf der Seite von Burkhard Maus nur ein einziges Photo.

Als ich vor neun Jahren den Post Herrenausstatter schrieb, war das schon ein Abgesang auf viele Geschäfte. Inzwischen mussten noch mehr Läden schliessen, eines Tages wird es nur noch Online Shops geben. Die großen sartorialen Platzhirsche wie Braun in Hamburg und Werner Scherer in München (der mittlerweile die Reste von R. Böll vertickt) werden sicher bleiben. Aber Uli Knecht hat Recht, bei der Verelendung der deutschen Innenstädte spricht im Grunde alles gegen den stationären Handel. Die Multilabel Filialisten aus dem Premium Genre, wie die Textilwirtschaft sie nennt, haben keine Chance mehr. Mey und Edlich (die mal in Paris und London vertreten waren) hatten das als erste erfahren. Die hatten mal einen netten Laden in der Sögestraße in Bremen. Da ist nur noch Stiesing übrig geblieben, aber die haben ihr Angebot weit heruntergefahren, dem Masculin Modekreis gehören sie auch nicht mehr an. Vielleicht ist es mal wieder an der Zeit Si bene calculum ponas, ubique naufragium est zu zitieren. Nicht nur wegen des Modegeschäfts, auch wegen der Politik.

Sonntag, 1. Dezember 2024

Keith R. Kernspecht ✝


Die Dänische Straße war zur Fußgängerzone geworden, die Straßenbahn, die einmal hier fuhr, gibt es schon lange nicht mehr. Keith, der in der Straße ein Büro hatte (auf dem Schild steht nur ichfahrealsobinich und autosapiens), parkte seine Corniche immer frech vor dem Herrenausstatter Kelly's, obgleich er eigentlich gar nicht in die Straße hinein fahren durfte. Aber so ein Rolls vorm Laden sieht immer gut aus und passt ins Ambiente der englischen Herrenkleidung. Wahrscheinlich bezahlte ihm Michael Rieckhof die Tickets und setzte sie als Werbungskosten ab.

Das flaschengrüne Bentley Coupé sah aus wie neu, dabei war es über dreißig Jahre alt. Die Rückleuchten verraten das, da steht noch Lucas drauf. Die Lucas Elektrik reißen Besitzer von englischen Sportwagen normalerweise immer als erstes heraus und ersetzen es durch Teile von Bosch. Aber das kann man einem Rolls nicht antun. Hinten am Heck steht ein schlichtes, silbernes CornicheDu hast doch schon eine Corniche, sage ich zu Keith. Ich habe schon zwei, ist die Antwort. Da muss mir etwas entgangen sein. Die Corniche, die er im letzten Jahr gekauft hat, war ein Cabrio. In einer Farbe, die nur Engländer hinkriegen, fliederfarben oder ein ganz helles Lila, pervers. Und dann war da dieser wunderbare handgemalte hellgrüne Zierstreifen an der Seite. Die haben bei Rolls Royce einen Coachline Painter, der nur für diese handgemalten Striche zuständig ist.

Dieser Bentley mit der Karosserie von Mulliner Park Ward ist schon wieder einer von seinen Exoten. Der Bentley war ursprünglich ein 1977er Rolls-Royce. Das würden Bremer schon wieder gut finden. Einen Rolls Royce gab es in den fünfziger Jahren in meiner Heimatstadt nicht. Nur der Werftbesitzer Ernst Burmester, der mit der Ashanti VI die größte deutsche Hochseeyacht besaß, hatte einen dunklen Bentley. Ein Rolls wäre ihm zu prollig gewesen. So etwas kann man in Hamburg fahren, sagte er, in Bremen nicht. Wahrscheinlich hat Keith deshalb auch seinen Rolls (British Racing Green) in einen Bentley umbauen lassen. Nicht nur den Kühler ausgewechselt, nein, bis in die kleinsten Einzelteile innen im Wagen.

Keith sammelte Autos. Er war keiner von diesen neureichen Sammlern, Rechtsanwälten, Ärzten oder Architekten, die sich einen Jugendtraum wahrmachen wollten und sich einen alten englischen Sportwagen kauften. Um dann nach vier Wochen später herauszufinden, dass die englische starre Hinterachse überhaupt nicht gut für die Bandscheiben ist. Nein, Keith sammelte schon seit Jahrzehnten. In den sechziger Jahren kam er mit Adenauers ausgemustertem alten schwarzen Mercedes 300 zur Uni. Hatte einen 180er Dieselmotor einbauen lassen. Wäre sonst zu teuer gewesen. Er fiel mit dem Auto auf. Es gab wenig Studenten, die mit dem Auto zur Uni kamen. Die Straßenbahn, die auch durch die Dänische Straße fuhr, fuhr direkt bis zur Uni. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich mit ihm zusammen gerade noch eben fahrbereite Autos in Schuppen und Scheunen in Ostholstein bugsiert habe. Die Schuppen mietete er billig von Bauern an; dann kam da massenhaft Heu und Stroh drüber, damit niemand auf den ersten Blick sehen konnte, was hinter dem Scheunentor war. Das, und der schwarze Mercedes 300, waren der Beginn seiner Sammelleidenschaft.

Es waren die kleinen Exoten, die ihm am meisten Spaß bereiteten. Wie der alte Opel Kapitän (das Modell Schlüsselloch), den sein Vater 1959 gefahren hatte. Mit Weißwandreifen. Oder der ✺Opel Kadett B, das Sondermodell Rallye. Den großen Borgward P 100, den er in Berlin in einer Tiefgarage fand, den sollte ich nicht vergessen. Hatte da ein halbes Jahrhundert gestanden, es war noch Luft in den Reifen. Von Zeit zu Zeit trennte er sich von einigen Modellen. 

Dass er den Dino GTS Targa verkaufte, fand ich nicht so schlimm. Dass er den Cadillac Eldorado verkaufte, fand ich gut. Das war kein Auto für ihn gewesen. Dass er den schönen dunkelblauen Aston Martin, mit dem Sean Connery mal eine Probefahrt gemacht hatte, bei Sotheby's zur Auktion gab, das fand ich ein wenig traurig. Aber er nahm den Wagen dann doch aus der Auktion wieder heraus und behielt ihn. Ein Kultauto sollte man immer behalten. Vor allem, wenn man wie er in jedem James Bond Film das Double von Sean Connery hätte spielen können.

Er besaß allerdings keinen Bristol und keinen Alvis, damit zog ich ihn von Zeit zu Zeit auf. Den Jaguar, den der dänische König fuhr, hätte er ohne zu zögern gekauft. Würde wahrscheinlich einen seiner drei Daimler Double Six (von denen kann man nicht genug haben) dafür in Zahlung geben. Einmal treffe ich Keith im Laden meines Uhrmachers, ich hatte ihm den Kauf einer seltenen Fliegeruhr vermittelt, mit einem Chronographenwerk der Geneva Sport Watch Company. Signiert Wempe (obgleich die nicht mal wussten, dass sie so etwas mal gebaut hatten). Aber die lässt er jetzt im Laden liegen und schleppt mich im Gewitterregen die Holtenauer entlang bis zu seinem neuen Ferrari. Wasserglänzend in einem eleganten Grau, auf dem sich das gelbe Ferrari Wapperl mit dem schwarzen Pferd abhebt. Ingridgrau, sage ich. Er guckt mich etwas irritiert an. Ich erkläre ihm, dass Roberto Rossellini für Ingrid Bergman einen Ferrari gekauft hatte, der unbedingt grau sein sollte. Die Farbe hatte es bei Ferrari vorher noch nie gegeben, und so haben sie sie Ingridgrau getauft. Ist als Nuova Grigio Ingrid immer noch im Angebot. Ferraribesitzer können von Filmfreaks immer noch etwas lernen.


Ich habe von ihm auch etwas gelernt. Nicht die Martial Arts, in denen der Gründer der EWTO ein hoch dekorierter Großmeister war. Aber er schenkte mir immer seine Bücher, immer mit persönlicher Widmung. In einer Widmung hat er mich als seinen Sifu bezeichnet, ein Sifu ist in dieser Welt ein Lehrer, ein väterlicher Freund. Das hat mich sehr berührt. Seine Bücher kann man auch lesen, wenn man mit Bruce Lee, Jackie Chan und asiatischer Philosophie überhaupt nichts am Hut hat. Ich las mich hinein in eine fremde Welt, die in seinen Pyjama Editorials aus ostasiatischer Philosophie, der Philosophie der alten Griechen und dem Common Sense der schottischen Aufklärung bestand. Und lernte, dass dieses Wing Tsun eigentlich keine Kampfsportart ist, sondern eine Philosophie zur Vermeidung des Kampfes. Keith hat viel dafür getan, diesem Kampfport einen akademischen Unterbau zu verleihen. Dafür hat er einen Doktortitel und einen Professorentitel von bulgarischen Sportuniversitäten erhalten. Nicht weil er den zehnten Meistergrad des Wing Tsun besaß, sondern weil er wirklich eine Dissertation und eine Habilitationsschrift verfasst hatte.

Keith war auf der Kieler Gelehrtenschule gewesen, er hatte ein großes Latinum und lernte im Alter noch Altgriechisch. Wenn Keith ein klein wenig von dem bürgerlichen Weg abkam, dann hatte das etwas mit Karl Koch zu tun. Einem Hünen, der sein Kneipenpublikum mit Versen aus der Ilias und Shakespeares Dramen unterhielt und besseres Englisch sprach als die Englischlehrer der Gelehrtenschule. Die Gymnasiasten dieser Kieler Lateinschule zählten zu seinem Fanclub. In der Kneipe verbringt der junge Keith viel Zeit, und er wird Jahrzehnte später diesem Mann mit dem Buch Karl von der Küste: Erinnerungen an den Kieler Kiez (1960-1976) mit Hauern, Huren, Hafenloddels ein Denkmal setzen. Die farbenprächtige Milieustudie ist nicht Rousseaus Les Confessions, das Buch erhebt keinen Anspruch auf literarische Qualitäten, es ist kraus und quer erzählt. Aber es bringt einem das Kiel der Nachkriegszeit zurück, wo sich nicht nur Lateinschüler, sondern auch Universitätsprofessoren auf dem Kiez einfanden.

Mein Freund Keith Ronald Kernspecht ist vor einigen Tagen im Alter von neunundsiebzig Jahren gestorben. Er war von Anfang an in meinem Blog, da ich immer wieder mal über eins seiner Autos oder eine seiner Uhren (aber nie über seine Sammlung von 50er Jahre Mickey Mouse Uhren) schreiben musste. In dem Post Traumwagen war er vor zehn Jahren mit diesem schönen Capalbio Maremma Jackett zu sehen. Zum letzten Mal war er vor drei Monaten in diesem Blog. Da stand hier in dem Post Autogeschichten ein kleines Stückchen aus meiner nie veröffentlichten Autobiographie Bremensien. Das hatte er mit Vergnügen gelesen, und er konnte sich noch genau an diesen Sommertag erinnern. Weil das auch der erste Tag war, an dem er mit seinem neuen Jaguar E Type unterwegs war. Ich stelle das heute noch einmal ein:

Ich hatte ihn längere Zeit nicht gesehen, er war nicht mehr hier oben im Norden, er war unten bei Heidelberg gewesen, wo er im Schloss Langenzell ein Wing Tsun Schulungszentrum aufgebaut hatte. Aber an diesem schönen Sommertag saßen wir wieder einmal in der Mitte der Dänischen Strasse zusammen. Ich sagte ihm, dass das eine schöne alte Bubble Back Rolex sei, die er da am Arm hätte. Er sagte mir, dass meine IWC auch toll sei. Neben ihm stand eine Neuerwerbung, ein silbergrauer 3,8 Liter Jaguar E Type. Wenn er die Hand ausstreckte, hätte er ihn streicheln können, so eine Bewegung wie ein Italiener einer Frau mit der Hand über den Po fährt. Keith hatte auch eine Wohnung in Italien, wo er er auch Lehrgänge gab, vielleicht hatte er diese Handbewegung da gesehen. Man darf überhaupt nicht mit einem Auto in die Dänische Straße fahren, und man darf es auch nicht in der Mitte der Straße abstellen, damit man es von einem Stuhl des Lokals Lüneburg aus tätscheln kann. Aber um solche Dinge kümmert sich Keith nicht. Wir redeten über alte Zeiten, schliesslich hatte Keith ja auch mal Englisch studiert und war mal Lehrbeauftragter für Wirtschaftsenglisch am Englischen Seminar gewesen. Und hatte in der 68er Tagen seinem Professor auf dessen Bitten hin die Grundkünste der Selbstverteidigung beigebracht, ich sehe die beiden KungFu Helden immer noch auf dem grünen Rasen kämpfen. Wir waren bei unserem Treffen nostalgiemäßig mitten in den alten Tagen, und ich bei der zweiten Tasse Tee, da wurden wir von einer eleganten Dame angesprochen, die zuvor an einem Nachbartisch gesessen hatte. Sie sagte, dass sie nicht hätte umhin können, unserer Unterhaltung ein wenig zuzuhören. Und ob das Englische Seminar, von dem wir geredet hätten, das Englische Seminar der Universität hier in Kiel sei? Und ob es da einen Professor namens Bö. gäbe? Nachdem ich das bejaht hatte und gleichzeitig rekapitulierte, ob ich in der letzten halben Stunde irgendwelche abfälligen Bemerkungen über Bö. gemacht hatte, hörte ich von ihr Erstaunliches. Sie hatte bei Bö. studiert, bevor er nach Kiel kam, er hatte ihr angeboten, bei ihm Assistentin zu werden. Aber sie hatte das abgelehnt, weil sie ihn für den langweiligsten und dümmsten Menschen unter allen ihr bekannten Anglistikprofessoren hielt. Und sie hätte das nie bereut. Und dann sagte sie zu Keith Schönes Auto und zu mir Das ist wirklich eine tolle IWC, die Sie am Arm haben. Setzte ihren Sommerhut auf und entschwebte zur Fähre nach Norwegen. Stilvoller Abgang. Keith guckte ihr verwundert nach und wollte wissen, wer Bö. sei. Lass uns nicht über den reden, der ist genau so doof, wie die Frau das eben gesagt hat. Lass uns über Autos reden.  

Wenn Sie Keith mit seinem Jaguar E Type durch Kiel fahren sehen wollen, dann klicken Sie hier

Freitag, 29. November 2024

Vegesack

Das kleines Kaff Vegesack, aus dem ich komme, hat es einmal geschafft, in die große Literatur zu kommen. Der Held des 'psychologischen Romans' Anton Reiser von Karl Philipp Moritz erlebt 1786 den Anblick des Vegesacker Hafens mit den Schiffen als unbeschreiblich ergötzlich: Den Nachmittag erreichte er Vegesack und betrachtete hier mit hungrigem Magen, was er noch nie gesehen hatte, eine Anzahl dreimastiger Schiffe, die in dem kleinen Hafen lagen. – Dieser Anblick ergötzte ihn ohngeachtet des mißlichen Zustandes, worin er sich befand, unbeschreiblich – und weil er an diesem Zustande durch seine Unbesonnenheit selber schuld war, so wollte er es sich gleichsam gegen sich selber nicht einmal merken lassen, daß er nun damit unzufrieden sei. Den Hafen, den Moritz in seinem Roman erwähnt, gab es damals schon hundertfünfzig Jahre, es ist der älteste künstliche Hafen Deutschlands. Von Holländern angelegt, die konnten so etwas. Die Bremer, die den Vegesacker Hafen dringend brauchten, weil die Weser versandet war, hätten das nicht hinbekommen.

Mein Heimatort Vegesack, über den Friedrich Engels sagte, Vegesack ist die Oase der bremischen Wüste, ist von Anfang an in diesem Blog gewesen. Mein Freund Konny hat mir im letzten Jahr gesagt, ich würde so viel über den Ort schreiben, da könnte ich doch ein Buch draus machen. Ich machte erst einmal etwas anderes, ich machte einen Vegesack Blog, der die schöne Adresse nordbremenamfluss hat. Und in diesen Blog muss ich jetzt eine kleine Hymne auf den Ort hineinschreiben, die ganz neu ist. Sie heißt ✺Vegesack und wird von Jan Böhmermann gesungen. Der war schon zweimal in meinem Blog, er wird in den Posts Erdogan und Oase in der bremischen Wüste erwähnt. In dem letztgenannten Post können Sie auch lesen, dass Böhmermann gar nicht aus Vegesack kommt, der kommt aus Aumund. Das sollte man der Genauigkeit halber vermerken. Aber hören Sie einfach mal in den Song hinein, der so schöne Verse enthält wie: Wer braucht Paris, New York und Ankara, schaffst du es hier, kommst du überall klar. Vegesack! Oh du, mein Vegesack.

Dienstag, 26. November 2024

Citizen


Dies ist meine erste Citizen, ein Flohmarktfund zur D-Mark Zeit. Auf dem Zifferblatt und dem Schraubboden steht Parawater, so hatte die Firma ab 1959 ihre wasserdichten Uhren benannt. Die Uhr kostete damals nur kleines Geld, und der Händler sagte: Citizen Uhren laufen immer. Das traute ich dieser Uhr zu, sie war nie getragen worden. Die hellgrüne Leuchtmasse zwischen den Indizes und auf den Zeigern (sogar die kleine Kugel auf dem Sekundenzeiger) leuchtet nach einem halben Jahrhundert immer noch. Die Uhr hat ein wirklich gutes Handaufzugswerk mit einundzwanzig Steinen, das die Kalibernummer 1802 hat. 

Das Werk ähnelt dem Seiko Kaliber 6222, und man hat das Gefühl, dass das alles japanische Klone des guten alten Schweizer ETA 1080 der fünfziger Jahre sind. Hier auf dem Bild können wir links das Werk der Seiko Super aus dem Jahre 1950 erkennen, rechts ist das ETA 1080. Auf einer Seiko Seite steht zu diesem Thema: The ETA 1080 was a ground breaking movement and defined the architecture of many manually wound movements for the next decade. The similarity between the Seiko movement and the ETA movement developed at the same time is remarkable. While the size and overall architecture are clearly the same, the actual location of the pinions do not line up exactly so one movement is not a direct clone of the other. However, the ‘Super’ was never claimed by Seiko to be an in-house movement so does this mean the super was in some way related to the Swiss movement? We think it probably was.

Citizen Uhren laufen immer, erzählte mir nicht nur der Flohmarkthändler. Auch mein Uhrmacher sagte das. Er verkaufte die Promaster wie geschnitten Brot an Segler, Camper und Angler. Die Uhren gehen immer, sind wasserdicht  und leuchten nachts im Zelt. Ich habe einen Citizen Wecker bei ihm gekauft, der von einer dicken Batterie gespeist wird. Wenn der klingelt, dann hört man das noch in den nächsten Stockwerken des Hauses.

Ich schreibe heute über die japanische Uhrenmarke Citizen, weil vor hundert Jahren zum ersten Mal der Name Citizen auf einer Taschenuhr erschien. Deshalb hat man in diesem Jahr zur Feier eine Taschenuhr herausgebracht, die so aussieht wie das Modell von früher. Das Snowflake Zifferblatt soll wohl bedeuten, dass in den hundert Jahren viel Schnee in Japan gefallen ist. In Japan liebt man ja diese Snowflake oder Diamond Dust Zifferblätter für Luxusuhren, das ist bei Seiko nicht anders. Das Werk ist auf dem neuesten Stand der Technik, hat sogar eine Stoßsicherung. Und es ist mit seinen Côtes de Genève und der perlierten Platine ja auch optisch schön anzusehen.

Aber zu Schönheit kommt bei Uhren noch die Genauigkeit, und auch da glänzt das Werk. Auf den Schenkeln der Unruh können Sie Schrauben und Gewichte sehen. Wenn man so etwas baut, dann will man eine Uhr feinregulieren. So fein, dass sie ein Chronometerzeugnis bekommt. Denn damit wird sie ausgeliefert, allerdings wird es schwierig, solch eine Jubiläumsuhr zu kaufen. Zum einen liegt sie preislich mit 7.000 Euro erheblich über dem Flohmarktpreis meiner hundert Jahre alten IWC Taschenuhr, zum anderen wird es weltweit nur hundert Stück geben.

Meine Zenith Taschenuhr, die neben dem Computer liegt, ist schon erwähnt worden. Wenn der Uhrmacher Petersen die überholen würde, wäre sie bestimmt wieder ein Chronometer. Aber der Uhrmacher hat im Augenblick zu viel zu tun; und ich warte noch, dass ich meinen Eterna Chronometer zurückbekomme. Meine Bunn Special schafft die Chronometernorm bestimmt ohne Schwierigkeiten, die superflache goldene Hamilton aus den 1930er Jahren auch. Die beiden letztgenannten und meine alte IWC sind Uhren, die nach hundert Jahren auch noch dieses Chronometerzeugnis bekommen würden, das die Jubiläums Citizen hat. Taschenuhren können sehr genau gehen, wenn man sie über hundert Jahre in einer Lage laufen lässt. Und ihnen von Zeit zu Zeit ein Tröpfchen Öl an der richtigen Stellen spendiert.

1918 war das Shokosha Watch Research Institute von Kamekichi Yamazaki gegründet worden, aus dem die Firma Citizen hervorging. Uhren produzierte man noch nicht, man bildete erst einmal Uhrmacher aus. Aber im Dezember 1924 hat man diese erste 15-steinige Taschenuhr (es gab sie auch mit zehn Steinen) fertig, die den Namen Citizen trägt. Den Namen soll der Bürgermeister von Tokio Shimpei Goto vorgeschlagen haben, eine Uhr für die Bürger sollte es sein. Eine der ersten Uhren verehrt man dem Kaiser, der mit dieser Uhr sehr zufrieden ist. 1924 taucht auch ein anderer japanischer Firmenname auf, da erscheint zum ersten Mal der Markenname Seiko auf dem Zifferblatt einer Armbanduhr der 1881 gegründeten Firma von Kintarō Hattori. Den Namen Seiko lässt sich die Firma auch gleich als Markennamen schützen. Aber im Gegensatz zu Seiko ist Citizen noch keine Firma, es ist erst einmal nur der Name einer Uhr. Sechs Jahre später wird daraus mehr. Da kauft Yosaburo Nakajima (Bild), der vorher für eine Schweizer Firma in Tokio tätig war, das Shokosha Watch Research Institute und gründet mit einigen anderen die  Citizen Watch Co., Ltd. Es wird die größte japanische Uhrenfabrik werden. 

Es ist auch Schweizer Kapital und Know-How bei der Gründung dabei gewesen. Und man muss auch betonen, dass alle japanischen Uhren der 1920er Jahre mit Schweizer Maschinen gefertigt wurden. Ohne die Schweiz geht noch nichts in Japan. Der eigentliche Gründer von Citizen ist ein Schweizer namens Rodolphe Schmid, der in Neuchâtel eine Uhrenfabrik mit dem Namen Cassardes besaß. Schmid war als Dreiundzwanzigjähriger 1894 nach Yokohama gekommen, handelte mit Uhren und hatte in den 1920er Jahren eine Uhrenfabrik mit zweihundert Beschäftigten in Tokio. In seiner Firma arbeiteten als Geschäftsführer Yosaburo Nakajima und Ryoichi Suzuki, die heute als die Citizen Gründer gefeiert werden. 

Der Markenname Citizen wurde 1930 in der Schweiz von der Uhrenfabrik R. Schmid & Co. eingetragen, die auch als Lieferant von Uhrenteilen und Zifferblättern von Citizen auftrat. Schmid hatte zusammen mit seinen Geschäftsführern Yosaburo Nakajima und Ryoichi Suzuki auch noch eine kleine Firma namens Star Watch Company, mit der sie Schweizer Uhren importierten. Insbesondere die Mido Multifort. Denn jetzt sind unkaputtbare Armbanduhren wie die Mido Multifort und die Wittnauer Allproof (die sich schon in dem Post Sportuhren findet) angesagt, nur so etwas kann man in Asien verkaufen. 

Alle drei Armbanduhren, die Citizen in den dreißiger und vierziger Jahren herausbringt, sind Kopien von Mido Uhren. Die ersten Citizen Werke nach Schweizer Vorbild sehen noch recht einfach aus. Im Absatz oben ist das 15-steinige Werk der Type F, der ersten Armbanduhr im Jahre 1931. Diese schlichte und einfache Uhr kostet heute bei ebay tausend Euro. Vielleicht gibt es ja Sammler dafür. Ich hätte lieber den Chronometer, den Citizen von 1962 bis 1966 gebaut hat, um der Firma Seiko mit ihren Grand und King Chronometern zu zeigen, dass sie so etwas auch könnten. Zwischen dem ersten Armbanduhrenwerk von Citizen und diesem Chronometer liegen genau dreißig Jahre und ganze uhrmacherische Welten.

Heute ist Citizen, die durch ihren Werkehersteller Miyota auch andere Firmen beliefern, der größte japanische Uhrenhersteller. Wenn man sich einmal die Chinesen wegdenkt, über deren Produktionszahlen man nichts weiß, ist Citizen wahrscheinlich der größte Uhrenhersteller der Welt. Genaue Verkaufszahlen gibt es nicht, aber man schätzt, dass die Firma zweihundert Millionen Uhren im Jahr verkauft. Dagegen nimmt sich der Schweizer Riese Rolex mit einer Million wie ein Zwerg aus. Wenn bei der Gründung der Firma Citizen auch die Schweiz ein bisschen mit ihm Spiel war, sieht das heute anders aus: Citizen kauft sich ein bisschen von der Schweiz. Im März 2012 erwarb die Citizen Watch Ltd die in La Chaux-de-Fonds ansässige Firma Prothor Holding, zu der die Prototec SA, die La Joux-Perret SA und die Luxusuhrenhersteller Graham Watches SA und Arnold & Son (The British Masters) gehörten. Im Mai 2016 kaufte Citizen die Schweizer Frédérique Constant Gruppe mit den Marken Frédérique Constant, Alpina und Ateliers de Monaco.

Früher sagte man zu den Uhren von Citizen Kaufhausuhren, weil man sie bei Karstadt und Hertie kaufen konnte und nicht beim Juwelier erwarb. Von den Kaufhäusern ist wenig übriggeblieben. Karstadt heißt jetzt Galeria, hat aber immer noch Citizen im Angebot. Die preiswerteste Citizen Uhr kostet 99 Euro, die teuerste 695 Euro. Was man nicht bei Galeria kaufen kann, ist das Luxusmodell The Citizen, das soviel wie eine Rolex kostet und zur Hundertjahrfeier auch in Deutschland erhältlich sein soll.

Ich weiß nicht, ob Citizen etwas für Sammler ist, aber ich habe mir im Jubiläumsjahr eine Citizen gegönnt, die vielleicht eine kleine Seltenheit ist. Denn da, wo normalerweise der Firmenname auf dem Zifferblatt steht, steht bei dieser Uhr Nippon Express Co. Ltd. Es ist eine Jubiläumsuhr aus dem Jahre 1968, die an verdiente Mitarbeiter von Nippon Express ausgegeben wurde. Die Uhr hat eine schöne Größe von 36 mm und liegt dank der tief gezogenen Hörner (spider lugs) auch sehr gut auf dem Arm. In der Uhr werkelt ein 17-steiniges Automatikwerk, das ist nix Dolles. Aber die Uhr geht immer, sogar sehr genau. Weil eine Citizen immer geht.

Donnerstag, 21. November 2024

Magic Mountain


Thomas Manns Roman Der Zauberberg wird hundert, das Feuilleton hat jetzt etwas über den Jahrhundertroman zu schreiben, der als Kurzgeschichte geplant war und dann ein unförmiges Opus wurde. Viele Journalisten zitieren Susan Sontags Satz No book has been more important in my life than 'The Magic Mountain'. Als sie fünfzehn war, hatte sie ihr Tagebuch a book for all of one’s life eingetragen. Als sie sechzehn war, interviewte sie Thomas Mann in Pacific Palisades und schrieb in ihr Tagebuch: I interrogated God this evening at six. Das ist jugendlicher Enthusiasmus, wir lassen das mal so stehen. Ich habe Susan Sontag nie für eine bedeutende Kritikerin gehalten, ich habe Joan Didion immer höher eingeschätzt. Susan Sontag hat sich immer reichhaltig auf dem französischen Markt der Ideen bedient und das dann in Amerika verkauft. Originell an ihren Ideen war wenig, aber als Teenie hatte sie ein Interview mit Gott.

Es gibt in diesem Blog viel Thomas Mann (der Post mit den meisten Lesern heißt Fickfackerei), aber es gibt keinen Post zum Zauberberg. Es gibt zwar einen Post Zauberberg, aber der handelt von einem italienischen Film mit Michael Caine: Es wird viel geredet in dem mit vielen Stars besetzten Film, aber inhaltlich gesehen, sagt uns eine Seite von Thomas Manns 'Zauberberg' mehr als der ganze Film. Und an Clawdia Chauchat kommen die ganzen exotischen Schönheiten auch nicht heran. Paolo Sorrentino, der den wunderbaren Film 'La Grande Bellazza' (lesen Sie dazu mehr in Felliniesque) gedreht hat, hat Michael Caine einen schönen Urlaub in einem alpinen Wellness Hotel verschafft. Ein Teil der Dreharbeiten wurde in dem Hotel gemacht, in dem Thomas Mann an seinem Zauberberg geschrieben hatte.

Ich habe den Zauberberg zum ersten Mal 1966 in einer Ausgabe von Gottfried Bermann Fischer (der ja die Tochter von S. Fischer geheiratet hatte) als Lizenzausgabe des S. Fischer Verlags gelesen, 657 eng bedruckte Seiten lang. Thomas Manns Verleger Samuel Fischer hat hier schon einen viel gelesenen Post. In der G.B. Fischer Ausgabe ist auch eine Rede abgedruckt, die Thomas Mann im Mai 1939 vor den Studenten von Princeton gehalten hat. Es ist eine Art Gebrauchsanweisung für die Lektüre des Romans. 

Die Rede (die ich hier zusammen mit dem ganzen Roman habe) beginnt mit der sehr arroganten Forderung, dass man den Roman zweimal lesen müsse. Was Mann sogleich relativiert: Diese Forderung wird natürlich sofort zurückgezogen für den Fall, daß man sich das erste Mal dabei gelangweilt hat. Kunst soll keine Schulaufgabe und Mühseligkeit sein, keine Beschäftigung contre coeur, sondern sie will und soll Freude bereiten, unterhalten und beleben, und auf wen ein Werk diese Wirkung nicht übt, der soll es liegen lassen und sich zu andrem wenden. Es lohnt sich immer noch, diese Rede zu lesen, die in vielen deutschen und englischen Ausgaben des Romans als Vorwort abgedruckt ist.

Seinem Roman Doktor Faustus (den ich in der Stockholmer Erstausgabe besitze) hat Thomas Mann das nützliche kleine Buch Die Entstehung des Doktor Faustus folgen lassen, das den Untertitel Roman eines Romans hat. So etwas haben wir für den Zauberberg leider nicht, deshalb sollten wir den Princeton Vortrag von 1939, den Thomas Mann übrigens in englischer Sprache hielt, als ein  wichtiges Hilfsmittel zum Verständnis des Romans nehmen. Ich kann Ihnen hier die originale Rede The Making of 'The Magic Mountain' anbieten.

Den 'Zauberberg' habe ich nie zu Ende gelesen, das war mir zu langweilig, hat Karl Lagerfeld gesagt. Der Mann, der angeblich 200.000 Bücher besaß, hat auch gesagt, dass er die Buddenbrooks auswendig kenne. Man muss Präferenzen setzen im Leben. Tolstois Krieg und Frieden lese ich jetzt zum dritten Mal, James Joyces Ulysses habe ich zwei Mal gelesen, Prousts Recherche auch. Mindestens. Moby-Dick habe ich sechs Mal gelesen, aber das war auch berufsbedingt. Den Zauberberg habe ich gleich wieder gelesen, als ich die erste Lektüre beendete. Was ich von Thomas Mann nie zu Ende gelesen habe, ist Joseph und seine Brüder. Der fette Band steht so gut wie ungelesen im Regal. Im Originalschuber. Als ich 1966 den Zauberberg las, studierte ich noch Germanistik. Das wissen Sie, wenn Sie den Post Kafka? gelesen haben. Ich habe dieses Studium aufgegeben, weil ich da wenig lernen konnte, ich hatte schon alles gelesen. Auf der 15-seitigen Leseliste, die Karl Otto Conrady 1966 seinem Buch Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft anfügte, konnte ich achtzig Prozent mit einem Häkchen versehen, perlegi. Als ich das Proseminar über Thomas Manns Erzählungen besuchte, stellte ich nach wenigen Wochen fest, dass der Dozent und ich die einzigen in dem Hörsaal Alte Mensa waren, die alle Erzählungen Thomas Manns gelesen hatten.

Germanistikstudenten hatten sich frühzeitig angewöhnt, Thomas Mann ein bisschen liebevoll, aber auch ein bisschen herablassend, den Tommy zu nennen. Ich habe das auch wohl einige Male getan, wenn ich ihn erwähnte. Und er ist häufig in diesem Blog gewesen. Häufig mit Nebensächlichkeiten wie in dem Post Segelboote. Ich bitte zu beachten, dass das einer meiner ersten Posts war. Es geht darin um unser Ruderboot F-47, Mahagoni geklinkert, gebaut bei Abeking und Rasmussen. In solch einem Boot ist Thomas Mann auch gerudert, denn die Familie Pringsheim hatte bei A+R gleich zwei Boote gekauft (Baunummern 369 und 370). Und dann ist da noch eine weitere Segelbootverbindung. A+R baute eine Segelyacht des Typs Concordia, die bei den Millionären der amerikanischen Ostküste sehr beliebt war. Es war die erste Yacht, die sich Elizabeth Meyer kaufte, die später durch ihre Yachtkäufe berühmt wurde. Elizabeth Meyer ist die Enkelin von Agnes Meyer, die als Mäzenin Thomas Mann im amerikanischen Exil durchfütterte. Aus diesem kleinen Post könnte man einen ganzen Roman machen.

Der Zauberberg kommt immer wieder in diesem Blog vor. Wie zum Beispiel in dem Post Blauer Dunst, wo es um eine Bremer Zigarrenmarke geht. Denn die Maria Mancini aus Bremen kommt auch schon im Zauberberg vor: »Wie schmeckt der Krautwickel, Castorp? Lassen Sie mal sehen, ich bin Kenner und Liebhaber. Die Asche ist gut: was ist denn das für eine bräunliche Schöne?« »Maria Mancini, Postre de Banquett aus Bremen, Herr Hofrat. Kostet wenig oder nichts, neunzehn Pfennig in reinen Farben, hat aber ein Bukett, wie es sonst in dieser Preislage nicht vorkommt. Sumatra-Havanna, Sandblattdecker, wie Sie sehen. Ich habe mich sehr an sie gewöhnt. Es ist eine mittelvolle Mischung und sehr würzig, aber leicht auf der Zunge. Sie hat es gern, wenn man ihr lange die Asche läßt, ich streife nur höchstens zweimal ab. Natürlich hat sie ihre kleinen Launen, aber die Kontrolle bei der Herstellung muß besonders genau sein, denn Maria ist sehr zuverlässig in ihren Eigenschaften und luftet vollkommen gleichmäßig. Darf ich Ihnen eine anbieten?« Ich weiß zwar nicht, weshalb in einem Sanatorium für Lungenkranke Zigarren geraucht werden, aber der Schriftsteller, der jeden Tag ein Dutzend Zigaretten und zwei leichte Zigarren rauchte, will das so.

In dem Post Frauen und Zigarren können Sie lesen: Dem Zigarrenraucher Mark Twain verdanken wir eine Vielzahl von schönen Zitaten zum Thema Zigarren. Wie zum Beispiel: 'Zuerst schuf der liebe Gott den Mann, dann schuf er die Frau. Danach tat ihm der Mann leid, und er gab ihm den Tabak'. Zigarren können den Namen von Frauen tragen wie die Maria Mancini, die Thomas Mann in den 'Zauberberg' hineinschreibt. Da heißt es über den jungen Hans Castorp, dass er die bürgerliche Arbeit nicht liebe, weil sie dem ungetrübten Genuß von Maria Mancini etwas im Wege war. Thomas Mann bezog seine Zigarren von der Bremer Firma Hagedorn und Söhne, die Marke Maria Mancini ist übrigens wiederbelebt worden. Und nicht nur das, ein Jahr nach der Publikation von Der Zauberberg überlegte die Bremer Firma ernsthaft, ob sie nicht eine Zigarre mit dem Markennamen Thomas Mann herausbringen sollte.

1931 rauchte man im Münchener Rotary Club noch Zigarren: Wir hatten beim letzten Lunch, als Ihr Brief vorgelesen wurde, leider keine geeignete Pfeife zur Hand und mussten uns daher mit Zigarren begnügen. Der Brief aus dem amerikanischen Keokuk, der an alle Rotary Clubs der Welt gegangen war, enthielt den Wunsch, dass alle eine Friedenspfeife rauchen sollten. Aus dieser schönen Idee wird nichts werden. Zwei Jahre später stößt der Münchener Rotary Club seinen berühmtesten Zigarrenraucher aus den Reihen aus. Thomas Mann schreibt am 8. April 1933 in seinem Tagebuch, es bliebe ihm nur ein Staunen über den Seelenzustand dieser Menschen, die mich, eben noch die ,Zierde' ihrer Vereinigung, ausstoßen ohne ein Wort des Bedauerns, des Dankes, als sei es ganz selbstverständlich

Neben den Nebensächlichkeiten gibt es auch Substantielleres im Blog. In dem Post Grand Hotel findet sich eine sehr nützliche Literaturempfehlung: Ich muss noch ein Buch erwähnen, dessen Verfasser ebenso detektivisch wie Luzius Keller in seinem Buch 'Proust im Engadin' vorgeht und das auch mit dem Grand Hotel zu tun hat. Es ist von keinem Literaturwissenschaftler, sondern von einem Journalisten. Der Hamburger Günther Schwarberg hat vor Jahren mit 'Es war einmal ein Zauberberg: Eine Reportage aus der Welt des deutschen Zauberers Thomas Mann' ein wirklich nettes Buch (die NZZ fand es nicht so gut, aber die Schweizer haben an Büchern über die Schweiz ja immer etwas zu mäkeln) über Thomas Mann und das Grand Hotel in Davos geschrieben. Günther Schwarberg kommt aus dem gleichen Bremer Vorort wie ich, sein Vater war ein Kollege meines Opas an der Schule. Sie konnten sich nicht leiden, Schwarbergs Vater war Sozialdemokrat, mein Opa hing immer noch an seinem Kaiser. Günter Schwarberg ist nach einer Vielzahl von journalistischen Stationen beim 'Stern' gelandet. Er hat wichtige Bücher geschrieben, wie zum Beispiel 'Der SS-Arzt und die Kinder vom Bullenhuser Damm' oder 'Das Getto: Spaziergang in die Hölle' (über unseren Vegesacker Kriegsverbrecher Többens). Von solcher Bedeutung ist 'Es war einmal ein Zauberberg' nicht. Dies ist der Versuch, die reale Basis von Thomas Manns Roman 'Der Zauberberg' zu finden, vom Bechstein Klavier (Fabrikationsnummer 112629) bis zum Bleistift, den Madame Chauchat dem jungen Hans Castorp leiht. Aber Schwarberg wäre nicht Schwarberg, wenn er nicht auch Politisches in das Buch brächte. Und so fehlt hier auch die Ermordung von Wilhelm Gustloff in Davos und die Vertreibung Thomas Manns aus Deutschland nicht.

In dem Post François Truffaut können wir lesen: Das Schwarzweiß Photo zeigt Truffaut im Smoking an der Seite von Marie-France Pisier. Mit siebzehn war sie in Truffauts Antoine und Colette zu sehen. Da hat sie Truffaut so verzaubert, dass er gleich seine Frau verlassen hat. Aber es hat nicht lange gehalten mit den beiden. Das ist bei Truffaut immer so. Zwanzig Jahre später ist sie Clawdia Chauchat, die Hans Castorp im 'Zauberberg' den Kopf verdreht. Und noch einmal Jahrzehnte später konnten wir sie als Madame Verdurin in Raúl RuizLe Temps retrouvé sehen. Das ist eine Romanverfilmung, die man sich ansehen kann.

Von Geißensdörfers Verfilmung von Der Zauberberg (die ich hier für Sie in der langen TV-Version habe) halte ich nicht so furchtbar viel. Literatur zu verfilmen, ist eine schwierige Sache. Große Literatur zu verfilmen, ist noch schwieriger. Sie können einiges dazu in dem Post The Go-Between lesen, in diesem Blog ist ja viel von Literaturverfilmungen die Rede. Bertrand Tavernier wäre meiner Meinung nach der richtige Regisseur für den Roman von Thomas Mann gewesen. Denn Un dimanche à la campagne nach dem Roman Monsieur Ladmiral Va Bientot Mourir von Pierre Bost, das ist schon richtige Kunst. 

Geißendörfers Film, den es in einer 150-minütigen Kinofassung und einer doppelt so langen Fernsehfassung gibt, ist eher eine Nummernrevue für bekannte Filmschauspieler (mit einer guten Kameraarbeit von Michael Ballhaus) als eine Romanverfilmung. Ich mag den Film trotzdem, weil Marie-France Pisier als kirgisenäugige Clawdia Chauchat, die breite Backenknochen und schmale Augen hat, in dem Film ist. Und weil Hans Christian Blech gut in die Rolle des Hofrats Dr Behrens passt. Und wenn der Film jemanden dazu bringt, den Roman zu lesen, dann ist das ja auch eine gute Sache.

Bei dieser Blütenlese aus Erwähnungen von Der Zauberberg in diesem Blog, muss natürlich ein Post hervorgehoben werden, in dem sehr viel zu dem Roman steht. Dieser Post heißt Gerhart Hauptmann, das hat einen einfachen Grund. Weil Thomas Mann sich einen kleinen literarischen Spaß daraus gemacht hat, den Schriftsteller Gerhart Hauptmann in den Mynheer Peeperkorn zu verwandeln: Kurz: einem Holländer, einem Säufer, einem Giftmischer, einem Selbstmörder, einer intellektuellen Ruine, von einem Luderleben zerstört, behaftet mit Goldsäcken und Quartanfieber, zieht Thomas Mann meine Kleider an. Der Golem lässt Sätze unvollendet, wie es zuweilen meine Unart ist. Wie ich, wiederholt er oft die Worte 'erledigt' und 'absolut'. Ich bin sechzig Jahre alt, er auch. Ich trage, wie Peeperkorn, Wollhemden, Gehrock, eine Weste, die bis zum Halse geschlossen ist. In dem herrlichen Hiddensee'er Klima hatten sich meine Fingernägel beinahe zu Teufelskrallen entwickelt, wie die Peeperkorns. Meine Augen sind klein und blass und werden nicht größer, wenn ich auch, wie Peeperkorn, nach Kräften versuche, die Augenbrauen heraufzuziehen. [...] Thomas Mann hat mich einmal auf seine Verantwortung den "ungekrönten König der Republik" genannt, daraus ist ein Kaffeekönig geworden. Und wenn Peeperkorn eine 'sommersprossige Kapitänshand' zeigt, so ist zu erwägen, dass Kapitän eben auf deutsch Hauptmann heisst. Das schreibt Hauptmann im Januar 1925 an Samuel Fischer, er war ziemlich beleidigt.

Wenn man Thomas Mann Der Zauberberg bei ebay oder booklooker eingibt, findet man erst einmal seitenlang Sekundärliteratur zu dem Roman. Die lässt man am besten weg. Ab fünfzehn Euro bekommt man schon den Roman; nehmen Sie keine Paperbackausgabe, die Geschichte liest sich am besten in einem schönen großen Buch mit einem Leinenrücken. Wer aber mit dem 'Zauberberg' überhaupt einmal zu Ende gekommen ist, dem rate ich, ihn noch einmal zu lesen, denn seine besondere Machart, sein Charakter als Komposition bringt es mit sich, da das Vergnügen des Lesers sich beim zweiten Mal erhöhen und vertiefen wird, sagt uns Thomas Mann. Glauben Sie ihm.