Sonntag, 27. Juli 2025

Gassenvenus


Heute vor 195 Jahren begann die Pariser Julirevolution, sie dauerte drei Tage, die man später Les Trois Glorieuses nannte. Der Marschall Marmont soll seinen König retten, aber es gelingt ihm nicht. Der König flieht nach England und Louis Philippe von Orléans, der einmal unter dem Namen Ludwig Philippe de Vries Tanzlehrer in Friedrichstadt war, wird Bürgerkönig, roi citoyen. Delacroix, der das riesige Gemälde La liberté guidant le peuple im Herbst des Jahres malte, war nicht bei den Straßenkämpfen dabei. Aber er will seinen Beitrag zur Revolution leisten, das schreibt er im Oktober 1830 seinem Bruder: Pour le spleen, il s'en va grâce au travail. J'ai entrepris un sujet moderne, une barricade, et si je n’ai pas vaincu pour la patrie, au moins peindrai-je pour elle. Cela m'a remis en belle humeur

Das englische Wort spleen, das Verärgerung, Schwermut und Melancholie bedeuten kann (Melvilles Ishmael bekämpft seinen spleen, indem er zur See fährt), ist noch nicht so gebräuchlich in der französischen Sprache. Erst wenn Baudelaire von dem spleen redet, gelangt es in die Sprache. Delacroix konnte Englisch, er war in England gewesen und bewunderte die Bilder von Turner und Constable, von daher ist es nicht verwunderlich, dass er das Wort spleen benutzt. Auch die englischen Dandies bewunderte Delacroix, sein Modeideal wird so ausgesehen haben wie der Baron Schwiter, den er ganz in Schwarz malte.
Erstaunlicherweise hat Delacroix in diesem Blog noch keinen Post, aber er wird in vielen Posts erwähnt. Zum Beispiel in dem Post Richard Parkes Bonington, in dem Sie lesen können, dass er in England das Reiten erlernt hatte und von da an Pferde in seinen Gemälden eine Rolle spielen. Wie zum Beispiel das Pferd des König Rodrigo auf dem Cover des Katalogs der Bremer Kunsthalle. Die Ausstellung konnte man 1964 zu einem großen Teil aus eigenen Beständen gestalten, wer außer Paris konnte das schon? Es war aber außer den acht Gemälden, die die Kunsthalle besaß, nur sehr viel  Graphik zu sehen, La liberté guidant le peuple lieh Paris nicht aus. Mein bleibender Eindruck von der Ausstellungseröffnung war ein hanseatischer Gentleman, der zu seinem grauen Flanellanzug ein rot-weiß gestreiftes Hemd mit einem weißen Kragen trug. Das hätte dem Dandy Delacroix gefallen, der sich über das schlechte Schuhzeug von William Turner furchtbar aufregen konnte.

Das Bild, das Delacroix im Herbst 1830 malte, wurde im Mai 1831 im Palais du Luxembourg ausgestellt, tausende von Franzosen werden es sehen. Auch Heinrich Heine ist unter den Zuschauern, er wird über das Bild schreiben: Auf keinem von allen Gemälden des Salons ist so sehr die Farbe eingeschlagen, wie auf Delacroix' Julirevolution. Indessen, eben diese Abwesenheit von Firnis und Schimmer, dabei der Pulverdampf und Staub, der die Figuren wie graues Spinnweb bedeckt, das sonnengetrocknete Kolorit, das gleichsam nach einem Wassertropfen lechzt, alles dieses gibt dem Bilde eine Wahrheit, eine Wesenheit, eine Ursprünglichkeit, und man ahnt darin die wirkliche Physiognomie der Julitage.

Aber die barbusige →Freiheitsgöttin, die sich umwendet, damit wir ihr klassisches Profil sehen können, weckt bei ihm auch noch ganz andere Gedanken: Ich kann nicht umhin, zu gestehen, diese Figur erinnert mich an jene peripatetischen Philosophinnen, an jene Schnelläuferinnen der Liebe oder Schnelliebende, die des Abends auf den Boulevards umherschwärmen; ich gestehe, daß der kleine Schornsteincupido, der, mit einer Pistole in jeder Hand, neben dieser Gassenvenus steht, vielleicht nicht allein von Ruß beschmutzt ist. Die Marianne als Gassenvenus, damit sind wir bei den Frauen, die schon in den Posts les grandes horizontales und Demimonde vorkommen. Heine ist nicht der einzige, der ein wenig Schmutz in dem Bild sieht. Es finden sich auch französische Stimmen, die ähnliches sagen: Dieu qu'elle est sale!, Dévergondée, La plus ignoble courtisane des plus sales rues de Paris! oder Est-ce qu'il n'y avait que de la canaille à ces fameuses journées-là? 

Carola Dorner hat diese Gedanken unter der Überschrift Liberté: Göttin, Hure, Mädchen aus dem Volk aufgegriffen: Wer aber ist diese zentrale Figur, die dem Bild so viel Kraft und Bewegung gibt? In der Liberté, der Allegorie der Freiheit, verdichtet sich vieles, was für das ganze Bild gilt. Als Göttin der Freiheit müsste sie eigentlich ein Ideal sein. Doch schon Heinrich Heine, der das Gemälde auf dem Pariser Salon 1831 ausgestellt sah, brachte es auf den Punkt: Er sieht sie gleichermaßen als Freiheitsgöttin und Gassenvenus, sie ist die personifizierte 'wilde Volkskraft', das Mädchen aus dem Volk und die griechische Göttin. Ihr Profil gleicht dem auf einer antiken Münze, das Kleid ist verrutscht und lässt ihren Oberkörper frei, wir sehen die staubbedeckten Brüste und die behaarte Achselhöhle. Es war ein Skandal. Und ein Triumph. Diese Göttin der Freiheit war nicht abgehoben, sauber, marmorsteril, sondern kraftstrotzend, natürlich und entschlossen. Deshalb bietet sie so viele Identifikationsmöglichkeiten. Deshalb dient sie als Abziehbild der Freiheit. Weil ihr Profil an alte Münzen erinnert, wirkt es schlüssig, dass sie ab 1978 auf dem 100-Franc-Schein abgebildet war. Die Freiheit für den Geldbeutel, das Bild der halbnackten Heldin im ständigen Umlauf.

Auf dieser Ölskizze von Delacroix sieht das Ganze noch nicht so großartig aus. Die Skizze wurde 2017 bei Christie's zur Auktion angeboten, sie wurde auf einen Preis von 700.000 Pfund bis zu einer Million geschätzt. Der französische Staat kaufte sie für 3,1 Millionen englische Pfund. Delacroix hatte für sein Bild 1831 klägliche dreitausend Franc vom Innenminister bekommen. La liberté guidant le peuple wird nicht lange im  Palais du Luxembourg bleiben, auch dem Bürgerkönig, der durch die Les Trois Glorieuses an die Macht gekommen war, ist es zu politisch. Das Bild wird zwar manchmal wieder gezeigt, verschwindet aber immer wieder im Depot. Erst seit 1874 hat es seinen festen Platz im Louvre.

Die Marianne des Jahres 1968 ist nicht barbusig, sie schwenkt die Flagge Vietnams, nicht die Frankreichs. Und sie ist auch keine Französin, sie kommt aus der englischen High Society. Als ihr Großvater das Bild sieht, enterbt er sie. Sie verliert den Anspruch auf einige Millionen Pfund Sterling. Die Analogie des gestellten Photos zu Delacroix' Bild hat jeder gesehen, auch Caroline de Bendern, die über Mademoiselle Liberté gesagt hat: I should have bared my breast. She had such awesome breasts. Caroline (zu der ich hier einen interessanten Artikel habe) lebt heute in Frankreich.

Ein Jahr nach den Maiunruhen 1968 beschlossen Frankreichs Bürgermeister, dass die Symbolfigur das Gesicht einer real existierenden Französin bekommen sollte. Die erste Marianne wurde Brigitte Bardot,, die zweite Mireille Mathieu, hier können wir die beiden nebeneinander sehen. Catherine Deneuve war dann die nächste, dann kamen Laetitia Casta, das Mannequin Inès de la Fressange und Evelyne Thomas, und ich weiß nicht wer noch alles. Wenn Sie alle sehen wollen, dann klicken Sie diese Seite an.

Die Verkörperung der Freiheit ist heller geworden, man hat Ende 2023 das Bild aufwendig restauriert. Acht Schichten von Firnis und Restaurationen hat man abgetragen. Restaurer le patrimoine que nous conservons pour le transmettre au plus grand nombre est l’une de nos missions les plus fondamentales. Grâce au patient travail accompli par Bénédicte Trémolières et Laurence Mugniot, 'La Liberté guidant le peuple' a aujourd’hui retrouvé l’éclat, la fraîcheur et la merveilleuse harmonie de couleur si propre à Delacroix. Je me réjouis que nos visiteurs puissent découvrir ou redécouvrir cet immense chef-d’œuvre de la peinture du XIXe siècle, tout à la fois icône universelle, symbole de notre pays et ambassadrice de sa culture et de son histoire, hat Laurence des Cars, der Direktor des Louvre, im April 2024. gesagt. Wir wollen mal hoffen, dass das die nächsten zweihundert Jahre so bleibt.

Donnerstag, 24. Juli 2025

Sommerausstellung


Meine Sparkasse hieß früher einmal Kieler Spar- und Leihkasse, sie hat ihren Namen in Förde Sparkasse geändert. Sparkassen sind keine Banken, die nur auf Gewinnmaximierung aus sind, sie haben ein Gemeinnützigkeitsprinzip. Und sie haben meistens auch Stiftungen, die gemeinnützige Zwecke fördern sollen. Häufig hat das auch etwas mit Kultur zu tun. Beim Sparkassen- und Giroverband für Schleswig-Holstein ist dafür der promovierte Kunsthistoriker Bernd Brandes-Druba (hier links neben dem Plakat) zuständig. Und der hat mich gefragt, ob es in meinem Blog nicht einige Zeilen für eine neue Kunstausstellung geben könnte. Kann es, warum nicht, für Kultur ist in diesem Blog immer Platz. Ich habe auch schon Werbung für Ausstellungen gemacht, wie zum Beispiel für meinen ehemaligen Studenten Hansjörg Schneider. Ich liefere erst einmal die offizielle Presseerklärung; das Photo habe ich hinzugefügt, sonst wird das zu trocken:

Die Ausstellung Urban Rhythms and the City’s Pulse der Sparkassenstiftung Schleswig-Holstein ist vom 25. Juli 2025 bis zum 26. September 2025 in den Räumen des Sparkassen-und Giroverbandes für Schleswig-Holstein (SGVSH), Faluner Weg 6, 24109 Kiel (Mettenhof), zu besichtigen. Der Eintritt ist frei. Öffentliche Führung durch die Künstlerinnen: Dienstag, 09. September 2025, 17.00 Uhr, Treffpunkt im Foyer SGVSH (Faluner Weg 6). Der Eintritt hierzu ist frei. Um Anmeldung wird gebeten. Öffnungszeiten:Mo.-Do. 9.00-16.00 Uhr, Fr. 9.00-14.00 Uhr Informationen unter: www.sparkassenstiftung-sh.de. Zur Ausstellung erscheint ab dem 24. Juli unter dem Titel Urban Rhythms and the City’s Pulse in der Katalogreihe ars borealis der Sparkassenstiftung Schleswig-Holstein das aktuelle Kunstheft als Band 52. Es ist in der Ausstellung und auf Anfrage kostenfrei –soweit vorrätig - erhältlich.

Der Katalog von Urban Rhythms and the City’s Pulse aus der Reihe ars borealis ist wirklich schön, schon der allein lohnt den Besuch der Ausstellung. Die Namen der Künstlerinnen Katja Flieger und Katharina Duwe waren bei dem spröden Pressetext nicht dabei. Das Photo der Künstlerinnen (links Katja Flieger, rechts Katharina Duwe) auch nicht. Es zeigt die beiden im letzten Jahr bei ihrer Ausstellung →Lebensräume in Eckernförde. Dr Brandes-Druba hat mir versichert, dass dies jetzt eine ganz andere Ausstellung mit ganz anderen Werken ist. Vor einem Jahr hieß es zu der Ausstellung: Die Künstlerinnen Katharina Duwe und Katja Flieger beschäftigen sich in ihrem Werk mit unseren zumeist architektonisch geprägten dynamischen Lebensräumen. Die Hamburger Künstlerin Katharina Duwe baut in ihren oft großformatigen farbintensiven Gemälden großstädtische Architektur, Verkehrsflüsse, nächtliche Lichterwelten, Bebauung und Natur neu zusammen. Die Kielerin Katja Flieger seziert Stadtpläne, erfindet Autobahnkreuze und nutzt schematische Darstellungen von Körperkreisläufen, baut filigrane Objekte, setzt sie mit digitalen Mitteln in einen ornamentalen Rapport und verwandelt Verkehrszeichen zu keramischen Andenkenobjekten. Aus der Gegenüberstellung der Werke ergeben sich feine inhaltliche und ästhetische Korrespondenzen. 

In diesem Text steht schon etwas mehr drin als in der Urban Rhythms and the City’s Pulse Ankündigung. Der gläserne Schaukasten zeigt Keramiken von Katja Flieger. Das muss ich mal meinem Freund Uwe erzählen, der Bremer Kunstprofessor war mal der deutsche Guru zum Thema Keramik. Sein Buch Keramik: Kultur- und Technikgeschichte eines gebrannten Werkstoffs ist im Deutschen Porzellanmuseum immer noch ein Standardwerk. Katja Flieger macht auch andere Sachen als Keramik, zum Beispiel dieses hier.

Während Katja Flieger es eher mit den kleinen Teilen hat, hat es Katharina Duwe mit dem Großstädten, das kann man an dem Bild sehen, vor dem sie steht. Die Stadtlandschaften sind seit einiger Zeit das Thema der Malerin. Katharina Duwe ist die Tochter des Malers Harald Duwe, der mit Horst JanssenVicco von Bülow und Paul Wunderlich in Hamburg Kunst studiert hatte. Er wird in diesem Blog schon in dem Post Hannelies Taschau erwähnt. Ein Schüler von ihm kommt in den Posts Erbsensuppe und Gerrit Bekker ✝ vor.

Alle Kinder von Harald Duwe und seiner Ehefrau, der Malerin Heilwig Duwe-Ploog, sind Maler geworden. Und wie ihr Vater und ihre Mutter auch ziemlich berühmt, Katharina Duwe erhielt 1986 den gerade gestifteten Élysée Preis. Fünf Maler in einer Familie sind selten, bei den Beecheys gab es das im 18. Jahrhundert schon mal. Es wäre jetzt schön, wenn es den Film Familientreffen: Die Duwes - eine Künstlerfamilie von Karl Siebig bei YouTube geben würde, dann wüssten Sie mehr über die Familie. Vielleicht kann Dr Brandes-Druba das ja mal erreichen, dass man diesen Film im Netz sehen kann. Im Netz gibt es nur Siebigs Film über Kieler Straßengangs (ein Film mit Kultstatus), da könnte ein bisschen Kultur gut dazukommen. Einen Filmschnipsel über die Malerfamilie Duwe habe ich hier aber doch.

Katharina Duwe malt Stadtlandschaften, der Wikipedia Artikel gibt zu diesem Thema überhaupt nichts her. Aber in dem englischen Artikel  Cityscape erfährt man schon etwas mehr. Die →Stadtmalerei hat sich seit den Tagen, da Vermeer Delft malte, etwas weiterentwickelt. Es sind Stadtlandschaften, und sie entwickeln sofort einen Sog. Fast automatisch taucht man ein, wird Teil der Szenerie, wird einer von jenen, die dort in der nächtlichen Großstadt herumstehen, kommen oder gehen. Und man fühlt sich irgendwie wohl dabei. So beginnt der schöneArtikel von Dr Karen Michels über die Stadtlandschaften von Katharina Duwe. Wenn Sie den lesen, wissen Sie alles zu dem Thema. Oder auf jeden Fall ganz viel. Ist auch bebildert. 

Da ich gerade Werbung für Ausstellungen mache, will ich die Sommerausstellung Kunst des Nordens: 1850 -1950 der Galerie Rieck nicht vergessen. Die Galerie Rieck wird schon in dem Post Dänische Kunst erwähnt, einem Post, der schon beinahe zehntausend Leser hat. Dieser schöne Dünenkamm in Skagen von Aage Bernhard-Frederiksen aus dem Jahre 1934 ist vielleicht gar nicht so teuer. So etwas mag ich im Wohnzimmer lieber als eine Stadtlandschaft, die habe ich, wenn ich aus dem Fenster schaue.

Dienstag, 22. Juli 2025

der 22. Juli


Wenn man am 19. Juli bei Google 22. Juli eingibt, liefert einem die Künstliche Intelligenz die Sätze: Der 22. Juli ist heute, am Samstag, den 19. Juli 2025. Es ist kein besonderer Tag im Kalender, weder ein Feiertag noch ein historisches Datum. Man muss sich so etwas langsam auf der Zunge zergehen lassen, es ist unglaublich, mit welchem Schwachsinn Google das Internet vollmüllt. Wenn der Tag auch kein historisches Datum ist, habe ich doch etwas, worüber ich schreiben kann, nämlich den Schriftsteller Wolf von Niebelschütz, der heute vor fünfundsechzig Jahren starb. Ich mag diesen Autor sehr. Er war schon mehrfach in diesem Blog, zum Beispiel in den Posts Wolf von NiebelschützBlankvers, style mixed und Eleonore von Aquitanien.

Der sprach- und seitengewaltige Roman Die Kinder der Finsternis war das letzte Werk, das zu den Lebzeiten des Schriftstellers erschien. Der Roman erzielte eine Vielzahl von Neuauflagen und wurde unter dem Titel The Badger of Ghissi ins Englische übersetzt. Nach dem Tod von Niebelschütz erschien noch eine Vielzahl von Büchern, da seine Witwe Ilse von Niebelschütz unermüdlich dabei war, den Ruhm ihres Ehemanns zu mehren. So erschienen Freies Spiel des Geistes (1961), Gedichte und Dramen (1962), Die schönen Bücher (1970), Über Dichtung (1979), Über Barock und Rokoko (1981), Barbadoro (1982) und Auch ich in Arkadien (1987). Und als letztes kam 2024 der Band Ein Geisterfrühstück: Impressionen & Divertimenti heraus. Ich habe hier ein ausführliches →Verzeichnis aller Schriften. Der Germanist Detlef Haberland hat 1990 in der Zeitschrift Philobiblon eine Bibliographie der Schriften von Niebelschütz veröffentlicht.

Und da heute der 22. Juli ist, der ja ein Samstag, der 19. Juli 2025 ist, habe ich von Niebelschütz noch ein Gedicht. Er hat viele Gedichte geschrieben, aber ich habe mit denen meine Schwierigkeiten. Nicht mit Auch ich in Arkadien, mit den anderen Gedichten. Mein Exemplar von Sternen-Musik: Gedichte 1942 - 1951 hat eine beigelegte Mitteilung der Bibliophilen Gesellschaft in Köln, in der der Leser erfährt, dass Ilse von Niebelschütz die ganze Restauflage des Suhrkamp Verlags aufgekauft und verschenkt hat. Viele Werke von Niebelschütz sind als Privatdruck oder in kleinen Auflagen erschienen. Mein Exemplar von Die schönen Bücher war 1970 eine Jahresgabe der Buchhandlung Walter G. Mühlau. Irgendwo in dem Buch, das ich im Augenblick nicht finden kann, findet sich der Satz Dichten heißt schön lügen, den habe ich mir gemerkt. Ich weiß jetzt nicht, wieviel Lüge in dem Gedicht Vergangene Liebe ist:

Vormals, eh ich noch liebte, sah ich dich wahrer,
Später machte dein Duft mich blind –
Da er mir wehte, um wieviel glaubt ich ihn klarer,
Reiner als Nacht, als Schnee und Wind.

Aber vorzeiten – da sah ich uns schon zusammen,
So wie wir heut beieinander gehn:
So auf der Asche von ganz erloschenen Flammen,
Einsam entfremdet und ohne Verstehn.

Seh ich ins Auge dir, seh ich in deinen Grund,
Keine Flammen glühten dort je für mich,
Ach, und die meinen vergehn, die dir nichts galten.

Aber so rein und stille verzehrten sie sich
Daß ich dich nie in Armen gehalten,
Nie deinen Atem gespürt, deinen Mund.

Das Gedicht stammt aus dem Band Die Musik macht Gott allein, der 1942 bei Suhrkamp erschien. Damals saß der Feldwebel Niebelschütz in der Schreibstube in Paris und schreibt an seinem Barockroman Der blaue Kammerherr. Eine Flucht aus dem Krieg in eine ganz andere Zeit. Eine Flucht aus der Behördensprache in eine ganz andere Sprache. Dank einer Sehbehinderung ist er vom Frontdienst befreit, er hat einen schönen Krieg, er kann als Flaneur durch Paris wandern, das können wir in Ein Geisterfrühstück lesen. Das wieder zuerst so ein Privatdruck bei der Bear Press in einer Auflage von 150 Exemplaren erscheint, von denen zwölf Luxusausgaben sind.

Heute sehen Liebesgedichte anders aus als das Vormals, eh ich noch liebte, sah ich dich wahrer, ich habe da noch etwas Schrilles bei Alban Nicolai Herbst gefunden. Der ist in meinem Blog schon in dem Post der blaue Koffer erwähnt worden. Er hat einen bewundernswerten Blog, in dem er auch über Niebelschütz schreibt. Bisweilen lese ich gern in Wolf v. Niebelschützens als feudalistisch verpönten Schriften, – mit den gemischten Gefühlen, selbstverständlich, eines durch die Demokratie Geprägten, beginnt er 1992 seinen Essay über Niebelschütz.  Über den er auch das Hörstück Der Blauen Blume lieblichster Spott geschrieben hat. Ich las mich in seinem Blog fest und fand Teile des Gedichtbandes Die Brüste der Béart. Davon muss ich unbedingt etwas zitieren. Und Emmanuelle Béart (hier mit Photos aus La Belle noiseuse) gibt es auch noch dazu: 

Oh Verführung ohne Berührung, bis wir berühren, 
bis wir es packen
Oh Berührung ohne Fleisch, Inkarnation ist das Fleisch:
Rück-Auferstehung in Schlamm, daß wir drin wühlen –
Tausende macht sie begehren, immer dieselbe, die sein kann, 
weil sie nie ist:
Ich sah sie bei Penny,

Marlboro Light
Coca Cola
Tampons,

sie schritt, beschaute die Regale,
eine griechische Göttin, allein der Kinderwagen störte, durch 
mein Gesicht.

Ich sah sie in der Bar, sie strahlte vor Dummheit und 
Kauflust.
Ich sah sie hinterm Schalter der Bank, besonnt von der 
Nacht.
Ich sah sie am Pariser Platz Baustellen fotografieren;

topless lag sie am Ufer der Spree, die wie sie ganz Idee war
(Ich rede, ein für alle Male, nicht von der Liebe.
Ich rede von Orpheus, Béart):

der Fluß wie die Regnitz, Nil in der Donau von Linz,
das Krokodil und der Tiger; wir hinter Gittern,
durch die uns Helena ansieht: annunziata,

wir und die Stäbe zwischen dem Engel und ihr –
Ich sah sie Ticketts kontrollieren, sah im Konzert ihren Körper,
die Augen geschlossen, lauschen; auf ihrem Kleid lag die Hand;

auf der Hand eine andere, männliche, Venen wie Vipern,
wenn sie sich lieben, in Knäueln, die beißen;
– sah sie sich bücken, als ihrer Ferse das Nylon riß;

momentlang, als sie sich bückte, der Schimmer von Fleisch
zwischen Gummi und String, ihr Finger strich an der Masche;
sah sie zu Hunderten, Eine, in jeder Haut und Ethnie,

sah dich in alleden meinen, Béart, mir verlorenen Frauen,
die dich verloren, denn hundertköpfig has your house
many mansions, die du hingehst, uns vorzubereiten.

Über den Duft deines Nackens schreitet uns die Zeit ab
unter dem Landvermesser, der mit dem Zirkel einsticht;
die Mannvermesserin probte das Gen wie den Wein,

den sie in der rasant ausgeworfenen Netzhaut kaute:
das war bei Hertie; testosteronale Lage und Traube;
zog schon das Netz wieder ein, legte die Beute aufs Band

und bezahlte Marlboro Light, Coca Cola, die Tampons –

Zwei deutsche Dichter durch ein halbes Jahrhundert getrennt, beide aus deutschem Adel, zwei Liebesgedichte, die kaum lyrische Gemeinsamkeiten haben. Niebelschütz schreibt ein wenig wie Hugo von Hofmannsthal; ein Autor, den er mag, das kann man dem Vortrag entnehmen, der in Freies Spiel des Geistes abgedruckt ist. Und Alban Nikolai Herbst (der bürgerlich Alexander Michael von Ribbentrop ist) schreibt so, wie er schreibt: unnachahmlich.

Noch mehr Emmanuelle Béart in den Posts: Une fillette d’un blond rouxMichel PiccoliMarcel Proust

Freitag, 18. Juli 2025

Relinquunt Omnia Servare Rem Publicam

Am 18. Juli 1863 greifen die Truppen der Nordstaaten das Fort Wagner an, das ist die zweite Schlacht um das Fort im Hafen von Charleston. Sie wird bis zum 7. September dauern, da hatte die Armee der Südstaaten das Fort geräumt. Bei dem ersten Angriff am Abend des 18. Juli stirbt der Colonel Robert Gould Shaw, der das 54th Massachusetts Infantry Regiment kommandiert. Es sterben im amerikanischen Bürgerkrieg eine Vielzahl von Colonels, aber der Tod von Shaw hat eine besondere Bedeutung. Denn sein Regiment ist eins der ersten im Bürgerkrieg, das nur aus schwarzen Soldaten besteht. 

Es stirbt an diesem Tag nicht nur der Colonel Shaw, es sterben auch viele seiner Soldaten: Two months after marching through Boston, half the regiment was dead, heißt es in Robert Lowells Gedicht For the Union Dead. War es Heldentum? Oder schlichte Unvernunft, ein Regiment von völlig unerfahrenen Soldaten, die kaum eine militärische Grundausbildung erfahren hatten, in diesen Angriff zu führen? War dies ein Vabanquespiel? Die Hoffnung, der Angriff könne gelingen und das Regiment könne berühmt werden? Dies Photo zeigt den Sergeanten William H Carney, der schwer verwundet die Regimentsfahne nach dem Angriff rettet, The old flag never touched the ground, boys. Er wird als einer der ersten farbigen Soldaten die Medal of Honor bekommen.

Robert Gould Shaw kam aus einer sehr reichen Bostoner Familie, die sich für die Abschaffung der Sklaverei engagierte. Seine Familie war mit Harriet Beecher Stowe befreundet, und der junge Robert Gould Shaw hatte Uncle Tom's Cabin mit Begeisterung gelesen. Seine Eltern hatten ihn auf teure Privatschulen in Amerika, der Schweiz und Deutschland geschickt, er war nirgendwo glücklich. Er bestand die Aufnahmeprüfung von Harvard, aber er verließ die Universität ohne Examen. Er geht im April 1861 zur Armee und wird im Mai zum Leutnant befördert. In den nächsten anderthalb Jahren wird er mit seinem Regiment, der 2nd Massachusetts Infantry, in den Schlachten von Winchester, Cedar Mountain und Antietam sein. Er wird zweimal verwundet und wird am Ende des Jahre 1862 zum Captain befördert. 

Der Gouverneur von Massachusetts John Albion Andrew war seit der Emancipation Proclamation dafür eingetreten, dass schwarze Regimenter (mit weißen Offizieren) aufgestellt werden sollten. Und er bot dem Sohn von Francis George Shaw die Stelle als Colonel des 54th Massachusetts Infantry Regiment an. Der fünfundzwanzigjährige Captain zögerte, er glaubte nicht, dass das neue Regiment an der Front eingesetzt würde. Er hatte keine Lust zum Etappendienst. Aber dann nahm er doch an, wurde zuerst zum Major befördert und erhielt dann den Rang eines Colonel, als er das neue Regiment übernahm. Wenn er am 18. Juli 1863 stirbt, wird er in einem Massengrab landen. Shaw’s father wanted no monument / except the ditch, / where his son’s body was thrown / and lost with his 'niggers', heißt es in Lowells Gedicht.

Aber er wird ein Monument erhalten. 1897 hat er in Boston ein Denkmal bekommen, gestaltet von dem Bildhauer Augustus Saint-Gaudens. Es ist eins der ganz wenigen Denkmäler des Bürgerkriegs, auf dem afroamerikanische Soldaten zu sehen sind. Der Spruch auf dem Denkmal Relinquunt Omnia Servare Rem Publicam (der auch der Untertitel von Lowells Gedicht ist) gilt ebenso für sie. Auch wenn sie nie den versprochenen Sold der weißen Soldaten bekommen haben. Auf der Rückseite des Denkmals kann man lesen: The White Officers taking life and honor in their hands cast in their lot with men of a despised race unproven in war and risked death as inciters of servile insurrection if taken prisoners besides encountering all the common perils of camp march and battle. The Black rank and file volunteered when disaster clouded the Union Cause. Served without pay for eighteen months till given that of white troops. Faced threatened enslavement if captured. Were brave in action. Patient under heavy and dangerous labors. And cheerful amid hardships and privations. Together they gave to the Nation and the World undying proof that Americans of African descent possess the pride, courage and devotion of the patriot soldier. One hundred and eighty thousand such Americans enlisted under the Union Flag in MDCCCLXIII-MDCCCLXV.

Booker T. Washington sagte 1897 in seiner Eröffnungsrede: If through me, a humble representative, nearly 10,000,000 of my people might be permitted to send a message to Massachusetts, to the survivors of the Fifty-fourth Regiment, to the committee whose untiring energy has made this memorial possible, to the family who gave their only boy that we might have life more abundantly, that message would be, tell them that the sacrifice was not in vain. Ein anderer Festredner am 31. Mai 1897 war der Philosoph William James (der Bruder von Henry James), der hier seinen einzigen öffentlichen Auftritt hatte. Er war gekommen, weil sein Bruder Garth Wilkinson (Wilkie) James einer der Offiziere des Regiments gewesen war. Der Captain James war bei dem Angriff auf Fort Wagner schwer verletzt worden und war 1883 im Alter von achtunddreißig Jahren gestorben. 

William James sagte in seiner Rede: How soon, indeed, are human things forgotten! As we meet here this morning, the Southern sun is shining on their place of burial, and the waves sparkling and the sea-gulls circling around Fort Wagner’s ancient site. But the great earthworks and their thundering cannon, the commanders and their followers, the wild assault and repulse that for a brief space made night hideous on that far-off evening, have all sunk into the blue gulf of the past, and for the majority of this generation are hardly more than an abstract name, a picture, a tale that is told. Only when some yellow-bleached photograph of a soldier of the ‘sixties comes into our hands…do we realize the concreteness of that by-gone history ... The photographs themselves erelong will fade utterly, and books of history and monuments like this alone will tell the tale.

Das Denkmal ist in das Gedicht For the Union Dead von Robert Lowell gewandert, zu dem ich in dem Post Denkmäler eine deutsche Übersetzung habe. 1980 hat man dem Denkmal auch die Namen der toten Soldaten des 54th Massachusetts Infantry Regiment hinzugefügt. Auf den Gedanken war man 1897 nicht gekommen, obgleich man die Namen kannte und sogar Photographien der Soldaten hatte. Die hätte Augustus Saint-Gaudens benutzen können, aber er tat es nicht. 1989 kam der Film Glory in die Kinos, das Drehbuch stammte von einem Mann, der vorher das Drehbuch von Rambo geschrieben hat. Es ist kein guter Film, es wäre mir lieber, man würde den jungen Colonel mit dem Denkmal von Saint-Gaudens und dem Gedicht von Lowell verbinden und nicht mit diesem Machwerk.

Vor wenigen Jahren ist das Denkmal aufwendig restauriert und in einer National Rededication Ceremony am 1. Juni 2022 neu eingeweiht worden. Der Yale Professor David W. Blight sagte damals: We have a republic today in trouble. We have a democracy in great peril. What are we giving up for the republic? We’ve all lived through recent years and the removal of a number of Confederate monuments. This monument has always been here, for 125 years, saying ‘The Confederacy did not win this war.’ Walk up here. Stand near it. Get inside these faces that Saint-Gaudens captured … Go stand right up there with them. And then back away a little bit and feel the movement of this monument. Feel the movement of the men’s legs. Hear their feet in the pavement as they march. Hear the clanging of some of those rifles behind them as they move forward, forward toward their deaths. This monument tells a story like no other monument about that war. It says African Americans had to die to be counted as people and from that, maybe, just maybe the American Republic could be reinvented, reimagined, and maybe still preserved.

Vielleicht soll man den letzten Satz fett setzen und mit einem Ausrufezeichen versehen. Wenn man bei Google 54th Massachusetts Infantry Regiment und Donald Trump eingibt, kann man kaum auf Ergebnisse hoffen. Der Präsident Trump, der nach eigener Aussage bedeutender als Abraham Lincoln ist, wird nicht wissen, wer der Colonel Robert Gould Shaw war. Ein Ergebnis fand ich allerdings doch. Und das waren Sätze aus der Rede von William James vom 31. Mai 1897: The deadliest enemies of nations are not their foreign foes, they always dwell within their borders. And from these internal enemies civilization is always in need of being saved. The nation blest above all nations is she in whom the civic genius of the people does the saving day by day, by acts without external picturesqueness; by speaking, writing, voting reasonably; by smiting corruption swiftly; by good temper between parties; by the people knowing true men when they see them, and preferring them as leaders to rabid partisans or empty quacks. Derjenige, der das ins Netz gestellt hatte, bezog diese Sätze auf Donald Trump. Das passt schon.

Montag, 14. Juli 2025

Bastille Day

Heute ist der französische →Nationalfeiertag, da wird wieder überall Allons enfants de la Patrie, le jour de gloire est arrivé! gesungen. Und es gibt eine Militärparade auf den Champs-Élysées, so etwas können die Franzosen gut. Donald Trump war am 14. Juli 2017 von der ✺Parade begeistert: It was two hours on the button, and it was military might. We're going to have to try to top it. Das hat er in diesem Jahr an seinem Geburtstag versucht, das Ergebnis war etwas kläglich. Nicht zu vergleichen mit dem, was die Franzosen auf den Champs-Élysées und am Himmel von Paris hinkriegen.

Wir sprechen vom 14. Juli, wenn wir den französischen Nationalfeiertag meinen. Donald Trump und die englischsprachige Welt redet vom Bastille Day. Es gab auch mal einen Film, der Bastille Day hieß. An diesen Action Thriller erinnere ich mich nur, weil da am Anfang die schnuckelige Stéphane Caillard nackt durch Paris läuft. 

Ich war mit sechzehn zum ersten Mal in Frankreich, eine Woche Paris war in dem Abenteuer drin. Ich konnte kaum Französisch, weil ich in der Lateinklasse war. Als mir meine Freundin Renate schrieb Je t'aime beaucoup, musste ich mich erkundigen, was beaucoup heißt. In den 1950er Jahren hatte die Hansestadt Bremen mit der sogenannten Typisierung beschlossen, dass die Bremer Gymnasien als zweite Fremdsprache entweder Latein oder Französisch anboten, nicht beide Fächer. Das hatte etwas mit dem Lehrermangel nach dem Krieg zu tun. Die einzige Ausnahme war mein Gymnasium in Vegesack, das beide Fächer anbot, weil wir soweit weg von Bremen waren. 

Ich hatte Latein genommen, meine Eltern hatten mir die Wahl überlassen. Meine Mutter, die gut Französisch sprach, sagte mir: Nimm Latein, dann fällt Dir Französisch später leicht. Ich glaube immer noch, dass da etwas dran ist. Ich profitierte dann von einer Oberstufenreform, die eine Vorstufe der Saarbrücker Rahmenvereinbarung war. Ich konnte zwischen Französisch, Spanisch oder Russisch wählen. Ich nahm Französisch. Das bedeutete drei Jahre Französisch in einer ganz kleinen Gruppe bei dem Studienrat Bruno Ewald. Als ich 1964 wieder in Frankreich war, diesmal als Soldat, konnte ich mich schon gut mit der französischen Bevölkerung verständigen. Was auch daran lag, dass ich mittlerweile ein Exi geworden war, Camus und Sartre las und alle Chansons kannte, die Juliette Gréco sang.

Der französische Nationalfeiertag und die Marseillaise sind in diesem Blog immer wieder erwähnt worden. Die Marseillaise, die seit 1879 offiziell die französische Nationalhymne ist, erklingt nicht nur am 14. Juli, sie wird auch immer gespielt, wenn der französische Präsident einen Staatsbesuch macht. Bei uns in Deutschland dirigiert jetzt Lisa-Marie Holzschuh das Stabsmusikkorps, das ist eine charmante Neuerung. Ich stelle heute noch einmal etwas ein, das ich vor Jahren mit Liebe geschrieben habe, das aber leider nicht so viele Leser fand:

Dass ich schon einmal an einem 14. Juli in Paris gewesen bin, habe ich vor Jahren in dem Post Straßenphotographie erwähnt. Der französische Nationalfeiertag ist schon häufig in meinem Blog erwähnt worden. Alles andere Französische auch, der Post Abendlied war lange ein Bestseller; und auch der Post über den französischen Existentialismus (von dem es auch eine englische Version gibt) schlug sich zahlenmäßig nicht schlecht. Der Post über Alain Robbe-Grillet ist vor Jahren auf eine französische Kulturseite gewandert. Der Post Fremdenlegion wurde auf einer Seite der Legionäre zur Lektüre empfohlen, was auch viele Leser brachte. Ich habe sowieso sehr viele Leser in Frankreich, in der Leserstatistik der letzten zehn Jahre sind die Franzosen nach Deutschland und den USA auf Platz drei. Es gibt ja auch viel von la douce France in diesem Blog, nicht nur die vielen Posts über französische Filme.

La douce France ist der Titel eines Chansons von ✺Charles Trenet (den kennen Sie schon aus dem Post Que reste-t-il de nos amours) aus dem Jahre 1941, in dem der Sänger den Franzosen etwas wiedergibt, was sie unter der deutschen Besatzung zu verlieren glaubten: ihre nationale Identität. Die Identität eines ländlichen Frankreichs der Vergangenheit (cher pays de mon enfance), wo das Leben noch schön ist:

Douce France
Cher pays de mon enfance
Bercée de tendre insouciance
Je t'ai gardée dans mon cœur
Oui je t'aime
Et je te donne ce poème
Oui je t'aime
Dans la joie ou la douleur


Aber dieses la douce France ist älter, viel älter. Es taucht zuerst im Jahre 1080 im Chanson de Roland, dem Rolandslied auf. Wenn Roland im Sterben liegt, blickt er auf Spanien und auf seine Eroberungen zurück:

Le comte Roland s'étendit dessous un pin.
Vers l'Espagne, il a tourné son visage.
Bien des choses lui reviennent en mémoire,
Tant de terres que le baron conquit,
La douce France, les hommes de son lignage,
Charlemagne, son seigneur qui l'éleva.
Il ne peut s'empêcher de pleurer et de soupirer
.

Charles Trenet nimmt dieses Erinnern (Bien des choses lui reviennent en mémoire) beinahe wörtlich wieder auf, wenn er singt Il revient à ma mémoire des souvenirs familiers. Erinnerung an la douce France bei Roland, dem Paladin von Karl dem Großen, Erinnerung an ein douce France vor der deutschen Besatzung bei Charles Trenet. Das mit dem douce France im Rolandslied weiß ich schon lange, nicht weil ich aus Bremen komme und die Stadt einen Roland hat. Sondern weil ich mich einmal zusammen mit meinem Freund Peter in den Semesterferien durch das altfranzösische Rolandslied gequält habe. Das habe ich schon in dem Post Charlemagne gesagt. Wenn Sie beinahe alles über Roland und Karl den Großen wissen wollen, dann lesen Sie diesen Post.

Die Marseillaise, die am heutigen Tag überall in Frankreich gesungen wird, hat nichts von dem la douce France. Es ist ein Kriegslied, dem Claude Joseph Rouget de Lisle den Titel Chant de guerre pour l’armée du Rhin gegeben hatte. Es war dem Marschall Nikolaus von Luckner gewidmet, dem Oberbefehlshaber der Rheinarmee (unser Seeteufel Graf Luckner, der Telephonbücher zerreißen konnte, ist sein Urenkel gewesen). Es ist ein blutrünstiger Text, der eigentlich nicht mehr in unsere Zeit passt.

Als Nicolas Sarkozy (dessen Frau Carla Bruni Trenets ✺La douce France auf italienisch gesungen hat) im Jahre 2005 anordnen wollte, dass jedes Schulkind in Frankreich die Nationalhymne auswendig lernen sollte, fragte sich der Sänger Graeme Allwright, ob kleine Kinder in der Schule wirklich diesen Text lernen sollten: Je me suis toujours demandé comment les Français peuvent continuer à chanter, comme chant national, un chant de guerre avec des paroles belliqueuses, sanguinaires et racistes. Und er fügte hinzu: Le jour où les politiques décideront de changer les paroles de La Marseillaise, ce sera un grand jour pour la France. Aber dieser jour de gloire ist nicht gekommen, Sarkozy interessierte das alles nicht. Und so schrieb Allwright eine neue, pazifistische ✺Marseillaise:

Pour tous les enfants de la terre
Chantons amour et liberté.
Contre toutes les haines et les guerres
L’étendard d’espoir est levé
L’étendard de justice et de paix.
Rassemblons nos forces, notre courage
Pour vaincre la misère et la peur
Que règnent au fond de nos cœurs
L’amitié la joie et le partage.
La flamme qui nous éclaire,
Traverse les frontières
Partons, partons, amis, solidaires
Marchons vers la lumière.


Es wäre schön, wenn sich dieser Text einmal durchsetzen würde. Eine alternative Marseillaise hat sich ein französischer Präsident allerdings schon einmal anhören müssen. Nicht am 14. Juli, sondern am 10. Mai 2019 im Jardin du Luxembourg bei einer Feierstunde zur Abschaffung der Sklaverei in Frankreich. Da sang die in Nigeria geborene ✺Omo Bello die 1867 von Camille Naudin in New Orleans geschriebene Marseillaise Noire vor Präsident Macron.

Bei YouTube finden sich hunderte von Aufnahmen der Nationalhymne. ✺Mireille Mathieu ist dabei (aber ✺Edith Piaf ist viel besser); und auch ✺Charles De Gaulle, der die Hymne 1945 bei seiner Heimkehr nach Frankreich eigentlich sehr gut singt. Wir haben Aufnahmen von Opernsängern, ✺Kindern, Militärkapellen (auch dem ✺Chor der Roten Armee) und Nationalmannschaften. Die Beatles tauchen mit ✺All you need is love auch manchmal auf. Und immer wieder dazwischen der Filmausschnitt aus ✺Casablanca. Ich habe mich durch ein halbes Hundert von Aufnahmen durchgearbeitet (und dabei meinen neuen kleinen Bluetooth Lautsprecher gestestet), auf der Suche nach der Antwort auf die Frage: Wie soll die Marseillaise gesungen werden? Opernsänger und ✺Opernsängerinnen fallen aus, zuviel Theatralik, zuviel Pathos. Obgleich man ✺Fjodor Schaljapin, der lange in Frankreich lebte, immer anhören kann. ✺Marthe Chenals erstaunliche Aufnahme aus dem Jahre 1915 auch. Serge Gainsbourg mit seiner als skandalös empfundenen ✺Reggae Version und sein Auftritt in ✺Straßbourg sollten auch erwähnt werden.

Ich habe nach langem Suchen eine Version gefunden, die ich sehr schön finde. Ich weiß nicht, wer da die Hymne singt, aber so sollte das Lied gesungen werden, einfach und schlicht und ohne Pathos. Diese Nationalhymne findet sich bei YouTube in einem kleinen, sehr ironischen Video, das ✺Le jour de gloire est arrivé! heißt und seit 2012 im Netz ist. Wir sehen Szenen aus einem alten Spielfilm, wo eine vornehme Dame mit einer Louis Vuitton Tasche mit unsicherem Schritt ein schlossartiges Haus verlässt. Sie beachtet die im Hof liegenden Toten nicht; als sie in der Einfahrt des Hofes stehenbleibt, ihren Mantel lüftet und zu einer Art Striptease ansetzt, erklingt die Nationalhymne. A cappella, nicht strahlend von einem Heldentenor gesungen, sondern eher von einem Chansonnier mit Trauer in der Stimme. Und dazwischen immer wieder Szenen von émeutes und Polizeigewalt, die uns beweisen, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist. Und dass offenbar manche das aux armes, citoyens falsch verstanden haben. Diese Szenen sind zeitlos, Straßenschlachten und Polizeigewalt gibt es in Frankreich immer wieder. Das hört nie auf. Außer bei Corona, da war Ruhe.


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Sonntag, 13. Juli 2025

La nuit avant le jour


Die neue Pariser Opéra Bastille wurde am 13. Juli 1989 als Auftakt der Feierlichkeiten zum zweihundertsten Jahrestag des Sturms auf die Bastille eröffnet. Es gab nur eine Vorstellung, nur für diese eine Nacht, wirklich eröffnet wird die Oper erst im März 1990. Zu sehen war 1989 eine von Robert Wilson inszenierte zweistündige Operngala mit dem Titel La nuit avant le jour (Die Nacht vor dem Tag) mit Starbesetzung. Teresa Berganza, Barbara Hendricks, Shirley Verrett, Placido Domingo, Alfredo Kraus und viele andere waren in der Nacht vor dem 14. Juli zu hören. Und am Schluss sangen alle die französische Nationalhymne. Ich habe La nuit avant le jour hier für Sie. Und morgen gibt es hier mehr zum 14. Juli.

Freitag, 11. Juli 2025

der Mann in der Bildecke


Da reitet der englische König William auf einem weißen Pferd in der Battle of the Boyne dem Sieg über die katholischen Iren entgegen, die zu dem ehemaligen König James II halten. Rechts unten in der Bildecke stirbt gerade sein Marschall Frederick Duke of Schomberg, General of all His Majesty’s forces. Das war heute vor 335 Jahren. Nach der Schlacht sitzt Wilhelm von Oranien sicher auf dem englischen Thron. Der Sohn von Charles II, der in der Glorious Revolution seinen Thron verloren hatte, flieht nach Frankreich. Das Bild hat der amerikanische Quäker Benjamin West 1778 gemalt, der der Hofmaler von George III war. Das Bild erhebt wahrscheinlich keinen Anspruch auf historische Wirklichkeit.

Bleiben wir einen Augenblick bei dem sterbenden General in der rechten Bildecke. William III, der ihn zum Duke of Schomberg ernannt hatte, war der dritte Monarch, dem er diente. Geboren wurde er als Graf Friedrich von Schönberg 1615 in Heidelberg. Seine Eltern waren früh gestorben, seine englische Großmutter nimmt sich seiner an. Als calvinistischer Adliger studierte er an der Akademie Sedan und der Universität Leiden, sein Großvater Lord Dudley hatte ihm das ermöglicht. Mit achtzehn Jahren trat der junge Graf in das Heer des Prinzen Friedrich Heinrich von Oranien ein. Dann geht er im Dreißigjährigen Krieg zu den Schweden und dient unter Josias Rantzau. 1635 geht er als Comte de Schomberg nach Frankreich. Der Name Schomberg bedeutet in Frankreich etwas, denn zwei aus der Familie, Henri de Schomberg und Charles de Schomberg, waren da Marschälle von Frankreich. Den Titel eines Marschalls wird Friedrich 1675 von Louis XIV auch bekommen. Aber zehn Jahre später hebt Louis das Edikt von Nantes auf, die Hugenotten müssen das Land verlassen. Dank des Edikts von Potsdam gehen viele nach Brandenburg, der Marschall von Frankreich wie auch die Vorfahren von Theodor Fontane.

Der brandenburgische Kurfürst übertrug dem Comte de Schomberg sofort das Generalat über alle Unsere armée und trouppen in allen Unseren Ländern und Provincien, da diente er wieder einem anderen Herrscher. Er kaufte sich in Berlin ein Palais, das schnell zum Zufluchtsort der emigrierten Hugenotten wurde. Aber als seine Frau starb, hielt ihn nichts mehr in Berlin, er trat wieder in die Dienste des Hauses Oranien. Und folgt Wilhelm nach England. Und folgt dann dem neuen König nach Irland. Für das irische Abenteuer hatte er William die 100.000 Pfund geliehen, die er vom Parlament erhalten hatte. Zu vier Prozent Zinsen. Er wird das Geld nicht wiedersehen. Seinem Sohn wird man aber die Zinsen noch auszahlen.

Die Schlacht am Boyne River hat er nicht gewollt, es sei der falsche Ort und der falsche Zeitpunkt, sagt er dem König. Doch der hört nicht auf den 75-jährigen General, der mehr Ahnung vom Krieg hat als er. Wenn Schomberg den Befehl zum Angriff bekommt, sagt er etwas gehässig, er sei es gewohnt zu befehlen und sei nicht gewohnt, Befehle entgegenzunehmen. Aber er reitet durch den Fluss, begleitet von drei Regimentern, die ihre Gewehre über dem Kopf halten müssen. Der Boyne River ist kein flacher Bach. Allons, messieurs, voila vos persecuteurs, ruft er seinen Truppen zu, dann ist er tot. Auf der Vergrößerung der rechten Bildecke des Gemäldes von Benjamin West können wir sehen, wie er aus dem Fluss gehoben wird. Benjamin West hat ihm einen großen Hosenbandorden auf den Mantel gemalt. Ob er den wirklich getragen hat, weiß ich nicht. Der Maler Gilbert Stuart hat behauptet, dass er für Benjamin West bei dem Bild Modell gesessen habe, sowohl für Schomberg als auch für William. Das kann durchaus sein, denn damals war er noch nicht berühmt, er noch Schüler von West.

Schomberg war kein Glücksritter, kein condottiere des 17. Jahrhunderts, er kämpfte für seinen Glauben, darin war er unbeirrt. So berühmt der Feldherr gewesen war, so schnell wurde er vergessen. Er ist in der Saint Patrick's Kathedrale in Dublin begraben, aber es hat bis zum Jahre 1731 gedauert, bis diese Marmorplatte an ihn erinnerte. Jonathan Swift hatte viele Jahre versucht, Schombergs Enkelin, die Countess of Holderness, dazu zu bewegen, Geld für ein repräsentatives Grab zu spenden. Sie beantwortete die Briefe nicht. Und deshalb steht jetzt auf der Grabplatte: Hic infra situm est corpus Frederici Ducis de Schonberg, ad Bubindam occisi, A.D. 1690. Decanus et Capitulum maximopere etiam atque etiam petierunt, ut haeredes Ducis monumentum in memoriam parentis erigendum curarent. Sed postquam per epistolas, per amicos, diu ac saepe orando nil profecere; hunc demum lapidem statuerunt; saltem ut scias, hospes, ubinam terrarum SCHONBERGENSIS cineres delitescunt. Plus potuit fama virtutis apud alienos quam sanguinis proximitas apud suos. A.D. 1731.

Was auf deutsch heißt: Hier unten liegt der Leichnam von Frederick, Herzog von Schomberg. Er starb 1690 in Budin. Der Dekan und das Domkapitel baten die Erben des Herzogs inständig, ein Denkmal zum Gedenken an ihren Vater zu errichten. Doch nachdem weder Briefe noch Freunde noch lange und häufige Gebete etwas bewirkt hatten, errichteten sie schließlich selbst diesen Stein, damit Sie, lieber Gast, wissen, wo auf der Welt die Asche von Schomberg begraben ist. 'Der Ruf der Tugend unter Fremden könnte mächtiger sein als die Nähe des Blutes unter den eigenen.' 1731 n. Chr.

Sic transit gloria mundi.