Mittwoch, 30. März 2016

Smit


„Smit Spiced 1666“ ist eine Spirituose auf Rumbasis mit einem Alkoholgehalt von 35%vol. Kennzeichnend ist sein weiches Rumaroma, umspielt mit Karamel- und Vanillenoten. „Smit Spiced 1666“ trinkt man am besten mit Cola. Ein Teil „Smit Spiced 1666“ mit 3-4 Teilen Cola mixen und eiskalt servieren, kann man im Internet lesen. Das ist nun ein Getränk, das man unbedingt brauchte. Auf der Seite des Herstellers kann man auch noch lesen: Besonderes Merkmal von „Smit Spiced 1666“ ist die hochwertige Ausstattung des Produktes. Ein aufwändig geprägtes Goldetikett auf metallischem Untergrund setzt neue Maßstäbe in der Ausstattung von Spirituosen. Um dem aktuellen Social-Media-Trend entgegen zu kommen, sind auf den Rückenetiketten QR-Codes angebracht, die über ein Smartphone auf die eigene Facebook-Kampagne verweisen.

Was hätte Erik Niels Smit zu diesem Unsinn gesagt? Denn den Namensgeber hat es wirklich gegeben, er hat heute vor 350 Jahren den Dannebrog auf der Karibikinsel St Thomas gehisst. Ein halbes Jahr später war der erste dänische Gouverneur von St Thomas tot. Auf der Insel ist nicht viel los, die Schiffsladung mit Tabak, Rohrzucker, Kakao, und einigen Schildkröten, die Smit Anfang des Jahres 1666 nach Kopenhagen geschickt hatte, hatte er wohl auf anderen Inseln gekauft. Die neun Engländer und drei Holländer, die auf St Thomas leben, hatten nichts dagegen, dänische Untertanen zu werden. Sie bekommen im Gegenzug Religionsfreiheit zugesichert.

Es sind kleine Anfänge, bis aus den Inseln Saint Thomas, Saint John und Saint Croix dieses Dänisch-Westindien geworden ist. In den 1670er Jahren kommen die ersten Sklaven. Zuerst etwas mehr als eine Handvoll, 1830 sind es 26.000. Der atlantische Dreieckshandel, der Flensburg zur Stadt des Rums und den Grafen Schimmelmann zum Millionär macht, rechnet sich schon. Der atlantische Dreieckshandel ist in diesem Blog schon mehrfach erwähnt worden, was ich dem Kieler Professor Christian Degn verdanke.

Der hatte in langjähriger Forschungsarbeit (mit Studienreisen in die Karibik) 1974 sein Hauptwerk Die Schimmelmanns im atlantischen Dreieckshandel: Gewinn und Gewissen veröffentlicht. In dem wir alles über zwei Generationen Schimmelmann lesen können, die zu Dänemarks größten Sklavenhändlern im 18. Jahrhunderts zählten. Zwanzig Jahre nach der Veröffentlichung dieses Buches hat Dieter Lohmeier, der Leiter der Schleswig Holsteinischen Landesbibliothek, daraus eine große Ausstellung im Kieler Schloss gemacht: Sklaven-Zucker-Rum. Dänemark und Schleswig-Holstein im Atlantischen Dreieckshandel.

Ich glaube nicht, dass dieses Gesöff Smit Spiced 1666 eine große Zukunft hat, ob da nun auf den Rückenetiketten QR-Codes angebracht sind oder nicht. Denn der einzig wahre Rum aus der Karibik sieht so aus, nicht anders. Da sind dann auch keine QR Codes drauf. Da kann man sich in Flensburg bemühen, wie man will, das kriegen sie nicht hin. Mein Freund Volker hat mir vor Jahren diese Flasche JM Rhum von einem Segeltörn in der Karibik mitgebracht, es ist immer noch etwas drin. Das wird nur zu besonderen Gelegenheiten getrunken. Heute Abend zum Beispiel.

Dienstag, 29. März 2016

Liebesbriefe


Ich schaute auf das Tagesblatt bei Wikipedia. Ich hätte über ➱Denton Welch oder ➱Johann Heinrich Voß schreiben können, aber die beiden haben hier schon einen Post. Da entdeckte ich den Namen Johann Moritz Rugendas, den Mann über den der Argentinier César Aira diesen schönen kleinen Roman Humboldts Schatten geschrieben hat (hier eine ➱Leseprobe). Rugendas' Leben hat Ähnlichkeiten mit dem Leben des Malers ➱Wilhelm Heine, aber es gibt in seinem Leben noch eine kleine amouröse Geschichte, die wir bei Heine (oder bei Rugendas' Freund Robert Krause) vergeblich suchen werden. Damit meine ich nicht dieses Bild von Rugendas, auf dem die Damen der feinen Gesellschaft am Strand von Chorillos bei Miraflores (Lima) beim Baden abgebildet (1844 badet man so, auch in ➱Helgoland). Als er es malt, ist er schon zehn Jahre in Chile.

So sieht es bei dem Coronel Eduardo Gutike Mundt zu Hause aus. Der Kavallerieoffizier fläzt sich mit seinen eleganten weißen Hosen auf der Chaiselongue. Links neben ihm ist seine Gattin, rechts ein guter Freund des Hauses. Wollen wir mal eben eine schöne Dreicksgeschichte erfinden? Wir brauchen Sie nicht zu erfinden, es hat sie gegeben. Die Dame links neben unserem Oberst ist seine Gattin, der Herr rechts ist - nun, nennen wir ihn einen Hausfreund.

Er heißt Johann Moritz Rugendas und wurde am 29. März 1802 geboren. Er ist Maler. Mit neunzehn Jahren begleitete er den Baron Georg Heinrich von Langsdorff als Zeichner nach Brasilien. Mit Langsdorff (der die Krusensternsche Expedition mitgemacht hatte) verstand sich Rugendas überhaupt nicht. Aber dann lernt er in Paris Alexander von Humboldt kennen, der von den Bildern von Rugendas begeistert war. Er unterstützt ihn auch bei der Drucklegung des Buches Voyage pittoresque dans le Brésil, das hundert Lithographien enthält. Das ➱Buch wird ihn berühmt machen. Rugendas lernt in Paris auch Delacroix kennen, dessen Malstil ihn beeinflussen wird. Wir können das in dem Bild von den Badenden am Strand von Miraflores sehen.

Humboldt hatte ihn gewarnt: Hüten Sie sich vor den gemäßigten Zonen, vor Buenos Aires und Chili und vor schnee- und vulcanlosen Wäldern, vor Orinoco und Amazonenstrom oder gar vor den kleinen Inseln. Ein großer Künstler wie Sie muß das Große suchen. Rugendas wird sich nicht vor Chile hüten. Acht Jahre seines Lebens wird er dort bleiben, und das hat seinen Grund. Bevor er nach Chile geht, ist er einige Zeit in Mexiko. Wird in eine ➱Verschwörung gegen General Santa Anna (das ist der mit dem ➱Alamo) hineingezogen und muss das Land verlassen. Nicht, ohne zuvor dem General seine Hazienda zu malen (Bild).

Lassen Sie mich jetzt zu dem Bild im zweiten Absatz kommen. Wir sind in Chile, in Talca. Der Deutsche, der in der chilenischen Armee untergekommen ist, hatte 1825 die junge Carmen Arriagada García geheiratet. Ihrem Vater Pedro Ramón Arriagada gefiel der Preuße, der jetzt in der chilenischen Armee dient, nicht so sehr. Aber was will er gegen seine willensstarke Tochter unternehmen? Carmen gefällt der Oberstleutnant, der 1830 aus politischen Gründen seinen Abschied nehmen muss, nach einigen Jahren nicht mehr. Sie langweilt sich, verfällt in Depressionen. Und da kommt Johann Moritz Rugendas (der diese drei Bilder von ihr malt). Warum ist noch kein Regisseur darauf gekommen, diese Geschichte zu verfilmen?

Dies ist das schönste Bild, das Rugendas von seiner Geliebten gemalt hat. Es zeigt uns eine junge Frau der feinen Gesellschaft, der man eine eigene Meinung und ein eigenes Leben zutraut: Heute war ich voller Wonne aufgewacht, mit dem wohltuenden Gedanken, dass ich einen zärtlichen Brief von Dir bekommen würde, mein Freund, doch ich sah den Tag verstreichen, und die Post ist noch nicht gekommen, ich werde eine Nacht in Sehnsucht und Unruhe verbringen, weil ich jetzt die gleichen Ängste habe wie bei der letzten Post; vielleicht ist es sein letzter Brief, ist es sein Abschied, schreibt sie 1837. Es ist kein Abschied, die Sache mit den Briefen an den Mi bien querido, mi dulce amigo geht noch lange weiter. Eine mujer apasionada hat sie ➱Oscar Pinochet de la Barra genannt, der 1989 die Briefe von Carmen Arriagada García an den deutschen Maler herausgegeben hat. Über zweihundert Briefe in sechzehn Jahren, eine Liebe per Post.

Er wird jung (und arm) sterben, sie wird sehr lange leben. Das Ganze ist eine Geschichte, die noch mehrerer Romane und Filme bedarf. Solche Geschichten sind nie zu Ende.

Sonntag, 27. März 2016

Nikolaikirche


Eigentliche sollte Gottfried Semper die Kirche bauen. Der Architekt, den wir immer mit Dresden und der ➱Semperoper assoziieren, kommt schließlich aus Hamburg. Ist in Altona getauft worden, das war damals noch dänisch. Semper will eine romanische Kirche bauen, und jetzt ist Gotik angesagt. Neugotik, um genau zu sein. Man ist dabei, den Kölner Dom zu vollenden. Das wird Folgen haben, auch Hamburg baut gotisch. Der Architekt, der auf dem dritten Platz der Ausschreibung steht, ist ein Engländer, ➱George Gilbert Scott. Engländer mögen die Hamburger ja grundsätzlich, es mag bei der Auftragsvergabe eine Rolle gespielt haben, dass Scott aus London kommt. Allerdings auch, dass er als einziger einen Plan für eine neugotische Kirche eingereicht hatte.

Er ist noch nicht so berühmt, wie er es als einer der Hauptvertreter des ➱Gothic Revival werden wird. Bisher hat er nur Armenhäuser, Gefängnisse und Irrenanstalten gebaut. So etwas braucht man im viktorianischen England, es gibt nicht nur das England der Welt- und Industriemacht, England hat auch eine sehr dunkle Seite. Für die die Armenhäuser, Gefängnisse und Irrenanstalten das beste Symbol sind. Auch diese Bauten kann man im gotischen Stil bauen. Sagt Scott. Wenn man nur dieses Hindernis überwindet, diese absurd supposition that Gothic architecture is exclusively and intrinsically ecclesiastical.

Vielleicht wäre Scott (der am 27. März 1878 starb) kein Vertreter des ➱Gothic Revival geworden, wenn er nicht in den 1830er Jahren Augustus Pugins Buch Contrasts gelesen hätte. Pugin ist ein Fanatiker, er verlässt die Church of England und wird katholisch, schreibt auch theologische Traktate. I feel perfectly convinced the Roman Catholic Religion is the only one in which the grand and sublime style of church architecture can ever be restored, wird er sagen. Der Architekt müsse ein glaubender Christ sein, weil die Handwerker, die die gotischen Kathedralen einst bauten, auch alle gläubige Christen waren. Pugin glaubte allen Ernstes daran, die Verbindung zwischen der gotischen Architektur, der katholischen Kirche und dem Mittelalter sei so groß, dass the revival of the one would automatically lead to the revival of the other.

Pugin baut und baut, zeichnet und zeichnet. Er macht alles selbst, er will keinen Assistenten. Er kann auch mit niemandem zusammenarbeiten, er neigt zu cholerischen Wutanfällen. Er ruiniert seine Gesundheit, er wird nur vierzig Jahre alt. Am Ende seines Lebens verfällt er dem Wahnsinn: My mind has been deranged through over exertion. The medical men said I had worked one hundred years in forty. I have not time to say: more I am ordered to Italy as soon as possible. Sie können die Geschichte seines Lebens, aufgezeichnet von seinem Sohn, ➱hier im Volltext lesen. Was ihn allerdings viel mehr interessiert als seine neugotischen Bauten, ist die Innenausstattung der Bauwerke. 

Er hätte Innenarchitekt werden sollen, er entwirft Kerzenständer und Türgriffe. Und die Tapeten. Oben einer seiner Entwürfe für das Londoner Parlament. Geben Sie doch einmal bei Google Bilder Augustus Pugin wallpaper ein, Sie werden überrascht seinDer Architekt James Fergusson wird 1891 in seinem Buch History of the Modern Styles of Architecture sagen: The true bent of Pugin's mind was l with all the correctness and splendour towards the theatre, and his earliest successes achieved in reforming the scenery and of coratious of the stage; and, throughout life, the theatrical was the one and the only branch of his art which he perfectly understood. 

Das ist nun tödlich, hier wird Pugins fanatischer Katholizismus auf das Showbusiness reduziert. Dies ist das Schlafzimmer von Pugin, zu dem Kamin mit Jesus sagen wir jetzt lieber nichts.

Obgleich er schon todkrank ist, gibt Pugin zwei Bauprojekte nicht auf: das eine ist Alton Castle von Lord Shrewsbury, das andere ist ein Bauwerk, das jeder London Tourist kennen wird. Man weiß bis heute nicht so ganz genau, welche Teile des Palace of Parliament von Barry und welche von Pugin stammen. Wahrscheinlich ist der Turm von ihm, den jedermann Big Ben nennt. Was natürlich falsch ist, Big Ben ist nur die Glocke. Wir merken uns das mal mit dieser wunderbaren Geschichte, die sich in Tom Stoppards Theaterstück Dirty Linen & New-found-land findet (und ich merke gerade, dass in diesem Blog viel zu wenig Stoppard ist (aber in ➱Landschaftsgärten und ➱Christine Keeler kommt er schon vor). Die Geschichte aus dem Stück möchte ich doch mal eben zitieren. Es redet ein gewisser Bernard, ein Beamter des Home Office im Rentenalter:

Lloyd George once asked me whether it was possible to see Big Ben from the upstairs window. I said that it was not. `Surely you are wrong,’ he said, ‘are you absolutely certain?’ ‘Absolutely certain, Prime Minister.’ He replied that he found it difficult to believe and would like to see for himself. I assured him that there was no need. The fact was, my mother was upstairs in bed making out her dinner table: she had the understandable, though to me unwelcome, desire to show me off during my leave. Lloyd George pressed the point, and finally said, ‘I will bet you £5 that I can see Big Ben from Marjorie’s window.’ ‘Very well,’ I said, and we went upstairs. I explained to my mother that the Prime Minister and I had a bet on. She received us gaily, just as though she were in her drawing room, Lloyd George went to the window and pointed. ‘Bernard,’ he said, ‘I see from Big Ben that it is four minutes past the hour. The £5 which you have lost,’ he continued, ‘I will spend on vast quantities of flowers for your mother by way of excusing this intrusion. It is a small price to pay,’ he said, ‘for the lesson that you must never pit any of the five Anglo-Saxon senses against the Celtic sixth sense.’ ‘Prime Minister,’ I said, ‘I’m afraid Welsh intuition is no match for English cunning. Big Ben is the name of the bell, not the clock.’ He paid up at once. . . and that was a fiver which I can tell you I have never spent. Der gute Bernard hat sich sein Leben lang nicht gefragt, wieso der Premierminister das Schlafzimmer seiner Mutter kannte.

Gilbert Scotts Vater ist Geistlicher der Church of England, aber Scott wird nicht daran denken, zum Katholizismus überzutreten. Das fanatische Religiöse von Pugin fehlt ihm, dennoch wird er eine Art Jünger von Pugin. Und er ist auch jederzeit bereit, Atheisten den Weg zum Christentum zu zeigen. Wie diesem deutschen Philosophen, den er in Frankfurt trifft: At Frankfort we were greatly interested by the conversation of Dr. Schopenhauer, an old German philosopher, who usually took his meals at the hotel at which we stayed. I think I never met a man with such grand powers of conversation ; but, alas, he was a determined infidel. I have since met him twice at the same hotel : the last time was as late as 1860, when I with some difficulty drew him out into conversation, which deafness rendered less easy than formerly, and I was quite astonished at his brilliancy, and, but for his infidelity, at the noble philosophical tone of his thoughts and conversation. I meant to have sent him some books on the evidences, &c., of Christianity, but I forgot it ; and when I went to Frankfort last year, and looked out for him, I found his portrait hanging over where he used to sit, betokening that he had departed. May it be that his philosophy had previously become christianized.

Scott glaubt zuerst fälschlicherweise daran, dass die Wiege der Gotik in Deutschland gelegen hätte (I was not then aware of the French origin of the latter style...). Wir wissen das heute besser, die Gotik ist aus Frankreich zu uns geschwappt. Gilbert Scott baut den lutheranischen Hamburgern ihre Nikolaikirche im gotischen Stil des 14. Jahrhunderts. Kostet dreimal so viel wie der Entwurf von Semper, es war schon immer etwas teurer, Dinge aus England zu beziehen. Scott wird sich auch beim Bau des Neuen Rathauses bewerben, aber da ziehen die Hamburger doch lieber eine Gruppe von Hamburger Baumeistern vor. Ist preiswerter.

So sieht die Nicolaikirche heute aus. Die englischen Bomberpiloten haben den Turm stehen lassen, er diente ihnen als höchstes Bauwerk (bis 1877 war die Nicolaikirche das höchste Bauwerk der Welt gewesen) bei der Bombardierung Hamburgs als Orientierung. Dass nun Sanct Nicolaus in lichter Pracht Verherrlicht wieder unsers Hamburgs Mauern, Dann wird der spat'ste Enkel nimmer trauern So lang der Thurm die Vaterstadt bewacht, das sind Zeilen eines Gedichts, das man 1845 mit eingemauert hat. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts macht diese Zeilen zur traurigen Ironie.

Schon Scotts Vater Thomas war an Architektur interessiert gwesen, deshalb hatte er nichts dagegen, dass der junge Scott die Familientradition (Scotts Großvater war ein berühmter Theologe) aufgab und Architektur studierte. Auch Sir Gilbert Scotts Sohn wird Architekt werden. Sein Enkel Sir Giles Gilbert Scott auch. Der baut zwar modern, schmuggelt aber häufig noch ein klein wenig Gotik an seine Bauten. Glücklicherweise nicht bei diesem Bauwerk, das wahrscheinlich sein berühmtester architektonischer Entwurf ist. 


Sir Gilbert Scotts Lebenserinnerungen finden sich ➱hier im Volltext. Das beste Buch zum Gothic Revival bleibt nach über achtzig Jahren immer noch Kenneth Clarks The Gothic Revival: An Essay in the History of Taste. Clark hat das Buch nach dem Krieg noch einmal überarbeitet, die letzte Auflage ist wohl die von 1995. Sie könnten auch noch die Posts Sakralbauten, Kirchen, Gothick und 18th century: Architecture lesen. Und Sommerzeit - es ist mal wieder so weit. Und ich wünsche allen Lesern ein frohes Osterfest.

Donnerstag, 24. März 2016

Klavierkonzert No 24


In seinem Gedicht Minority Report schreibt John Updike:

My beloved land
here I sit in London,
overlooking Regent's Park       
                                                          ⎬  both green
overlooking my new Citroen
exiled by success of sorts.
I listen to Mozart
in my English suit and weep.
remembering a Swedish film.


Der Film, der ➱Updike 1969 zum Weinen bringt, ist Elvira Madigandas Klavierkonzert ist Mozarts Nummer 21, das auch den Soundtrack zu dem Film lieferte. Hieß daraufhin in Amerika nur noch das Elvira Madigan Konzert, als hätte Mozart das für die dänische Seiltänzerin geschrieben (die mit ➱Elvira Madigan und ➱Liebestod hier schon zwei Posts hat). Die Deutsche Grammophon brauchte damals nur eine neue Plattenhülle. Pia Degermark und der Zusatz Elvira Madigan reichten aus, um die gute alte Aufnahme mit Géza Anda zu einem Bestseller zu machen.

Ich mag die Filme von Bo Widerberg, das habe ich schon in dem Post ➱Elvira Madigan gesagt. Er kann wunderbare Liebesfilme drehen, Filme in denen die Liebe die Alltagsrealität verzaubert. Wie in Elvira Madigan oder in Lust och fägring stor. Und natürlich gibt es bei ihm schöne Frauen wie Pia Degermark oder Marika Lagercrantz (Bild). Und natürlich die Musik. Das beherrscht Widerberg wie kein zweiter, einen Film mit Musik zu instrumentieren. Schauen Sie sich doch einmal diese Szene aus dem bittersüßen Film ➱Lust och fägring stor (1995) an. Händels Lascia ch'io pianga aus der Oper Rinaldo verzaubert jede Filmszene. Wird natürlich heute zu oft verwendet, aber hier gehört es hin. Ob Mozarts ➱Klarinettenkonzert in den Film Out of Africa gehört, ist eine andere Frage, es rettet auf jeden Fall den Film.

Heute vor 230 Jahren hat Wolfgang Amadeus Mozart sein 24. Klavierkonzert vollendet. Es ist in c-Moll geschrieben, das ist ungewöhnlich, nur zwei der 27 Klavierkonzerte haben eine Molltonart. Das zweite ist das Klavierkonzert Nummer 20. Das kennen wir alle, weil es diese unheimlich singbare Melodie hat, die zu Recht in den Noten mit Romance betitelt ist. Auf Platz 1 der YouTube Ergebnisse, finden wir diese ➱Aufnahme hier, optisch wegen der Pianistin im grünen Kleid ein Genuss. Wonderful, dressed only in her nighty! war einer der Kommentare zu einem ihrer Videos. Einen Namen hat die Frau hier nicht.

Braucht sie auch nicht, weil sie ein YouTube Star ist und durch YouTube berühmt geworden ist (ihr größter Erfolg ist Beethovens ➱Mondscheinsonate, sieben Millionen mal angeklickt). Die Pianistin heißt übrigens Valentina Lisitsa und kommt aus der Ukraine (lesen Sie ➱hier in der Zeit alles über sie). Ist aber pro-russsisch, das Symphonie Orchester von Toronto hat deshalb im letzten Jahr eine Tour mit ihr abgesagt (in den Fliegern von KLM und Lufthansa ist sie auch nicht mehr zu sehen). Wenn Sie die Frau aus der Ukraine näher kennenlernen wollen, dann habe ich hier ein ➱Video für Sie, das allerdings einige Stunden lang ist. Falls Sie auch ein YouTube Star werden wollen, auf dieser ➱Seite gibt Valentina Lisitsa zehn gute Ratschläge zu diesem Thema. Eine wirklich großartige Pianistin ist Valentina Lisitsa vielleicht nicht, aber sie präsentiert sich so, wie man sich heute wohl präsentieren muss.

Neuerdings gerieren sich ja viele Musikerinnen als Sexsymbole. Wenn sie dann noch so gut Klavier spielen können wie ➱Klára Würtz, dann nehmen wir das hin. Interessant sind die Kommentare zu ihren Musikvideos, die zum Teil auf sehr niedrigem Niveau sind. Manchmal aber auch treffend: Wie Sie spielt zwar gut aber ich kann dieses affektierte Gehampel nicht ab, hat Mozart nicht verdient! Glenn Gould hat beim Spielen auch seltsame Bewegungen gemacht, aber Valentina Lisitsa übertrifft alles. Kommt schon an Lang Lang heran.

Valentina Lisitsa nennt als eins ihrer Vorbilder den deutschen Pianisten Wilhelm Backhaus, aber das kann nicht sein. Der zappelte nicht mit den Armen, der spielte die schwierigsten Passagen knochentrocken aus dem Handgelenk. Man ertappt sich bei diesen YouTube Videos (wie zum Beispiel dieser Bach ➱Partita), dass man nur noch auf ihre Bewegungen achtet und nicht mehr auf die Musik hört, man hat beinahe das Gefühl (und die Kameras inszenieren das auch so), dass dies eine Art Sexualakt mit dem Piano sei.

Das 24. Klavierkonzert von Mozart ist eins der Konzerte, die man als sinfonische Konzerte Mozarts bezeichnet. Eins der wenigen Konzerte, in denen Klarinetten vorgeschrieben sind, eine Art Symphonie mit Klavier. Die ersten drei Minuten kann sich der Pianist langweilen. Viele Interpreten haben es gespielt, Glenn Gould auch. Ich weiß nicht, welche Aufnahme man empfehlen soll. Wenn es um die Gesamteinspielung der Klavierkonzerte geht, dann habe ich zwei Favoriten: Annerose Schmidt und Murray Perahia. Das habe ich schon in dem Post ➱CD Player (und vielleicht auch in ➱Mozarts Klaviersonaten) gesagt, aber ich wiederhole es gerne.

Mozart schreibt in dem Jahr 1786 noch viel, viel mehr, fünf Wochen nach Vollendung des Klavierkonzerts No 24 wird die Oper Le nozze di Figaro aufgeführt. Eine Oper, die hier immer wieder besprochen wird. Wie in den Posts ➱Hochzeitsvorbereitungen, ➱Opernhaus Hannover, ➱Flimm ist schlimm und ➱The marriage of Figaro. Die englische Aufführung, die man in ➱The marriage of Figaro anklicken kann, kann ich besonders empfehlen.

Eine Aufnahme des 24. Klavierkonzerts soll es heute hier auch geben, ich nehme dazu einmal Michail Pletnjow. Bitte nehmen Sie sich eine halbe Stunde Zeit und klicken Sie ➱hier. Dass ich Pletnjow gewählt habe, hat einen Grund. Und damit komme ich mal eben zu Mozarts Klaviersonate 17, einer Sonate, über die Alfred Einstein sagte: eins der seligsten Werke Mozarts, die 'Kleine Sonate' in B-dur K. Nr. 570 vom Februar 1789, vielleicht der ausgeglichenste Typus, das Ideal seiner Klaviersonate. Es ist eine Sonate, die ein wenig mit dem 24. Klavierkonzert zu tun hat. Denn Fachleute versichern uns: Die c-Moll-Episode dieses Satzes, der in Rondoform (oder fünfteiliger Liedform) gebaut ist, ist eng mit der c-Moll-Stelle des Mittelsatzes aus dem Klavierkonzert KV 491 verwandt; Takt 14 ist ein fast wörtliches Zitat daraus. Wir hören uns das Adagio mal eben ➱hier an. Niemand spielt das so wunderbar wie Pletnjow. Ich glaube, Sie werden sich ein Lesezeichen machen.

Und da ich das Thema Filmmusik angesprochen habe, habe ich hier noch eine kleine Liste von Posts, in denen Filmmusik vorkommt: Nero singt, The Go-Between, Elvira Madigan, Liebestod, Jugendkultur, Aimez-vous Brahms?, Ma Nuit Chez Maud, Sempé, Bertrand Tavernier, Alain Resnais, Dexter Gordon, Dokumentarfilm, I hear America Singing, Glenn Gould, Alan Parker, Uschi Glas. Michel Legrand, Mundharmonika, Hanns Eisler

Mittwoch, 23. März 2016

Liaisons dangereuses


Am 23. März des Jahres 1782 erschien der Roman Les Liaisons dangereuses. Ein Skandalerfolg. Der Briefroman von Choderlos de Laclos gilt heute als ein Hauptwerk der französischen Literatur des 18. Jahrhunderts und zählt zur Weltliteratur. Das war mir nicht so klar, als ich den Roman las, über den Hermann Hesse sagte: Unter den erotischen und gesellschaftskritischen Romanen des französischen 18. Jahrhunderts vielleicht der klügste, kühlste, unsentimentalste. Literarisch und psychologisch glänzend. Ich glaube, ich habe den Roman damals gelesen, weil mir jemand erzählt hatte, dass da Sex drin vorkäme. Das ist für Jugendliche natürlich ein Grund, um Romane zu lesen. Vor allem die, die in dem Schrank mit den abgeschlossenen Glastüren sind.

Dieses sex sells war offensichtlich im 18. Jahrhundert die große Entdeckung, mir fallen ohne langes Nachdenken neben den Liaisons dangereuses noch Klassiker der schlüpfrigen Literatur wie Fanny Hill und de Sades Justine ein. Und dann kommen diese Unmengen von Gothic Novels, in denen halbbekleidete junge Damen (meistens adlig) von Bösewichten (immer adlig, niemals englisch) durch die dunklen Verliese des Schlosses gejagt werden. Ich lasse das jetzt einmal weg, Sie können alles dazu in dem Post lesen, der ↝Gothick heißt.

Als ich in dem Tageskalender von Wikipedia für den 23. März las, dass an diesem Tag der Roman von Choderlos de Laclos veröffentlicht worden ist, hatte ich eine Assoziationskette, die Berlin - Regenmantel - Ingrid hieß. Geht nicht anders. Berlin deshalb, weil ich den Film Gefährliche Liebschaften von Roger Vadim (die erste von vielen Verfilmungen) damals kurz nach seiner Erstaufführung dort gesehen habe. Regenmantel: weil ich einen ganz tollen ↝Trenchcoat hatte, gegen den dieser hier von Jean-Louis Trintignant mickrig aussah. Und Ingrid: das war diese Frau, die immer wieder durch mein Leben irrlichterte. Und in diesem Blog auch immer wieder auftaucht, sodass manche Leser sie schon für ein literarisches Phantasieprodukt halten. Aber das ist sie nicht, es gibt heute sogar mal ein Photo von ihr.

Was ich damals nicht wusste, war die Tatsache, dass man das französische ↝Original beschnitten und umgeschnitten hatte, bis man das Prädikat Nicht freigegeben unter 18 Jahren und für stille Feiertage von der Freiwilligen Selbstkontrolle bekam. Es wird in dieser Zeit um jeden Quadratzentimeter nackter Haut gekämpft, ob es da um ↝Ulla Jacobsson in Sie tanzte nur einen Sommer geht oder um ↝Ingmar Bergmans Das Schweigen. Was die Freiwillige Selbstkontrolle nicht unter der Kontrolle hatte, waren die Nacktbadestrände von Sylt, wo man auch schöne Frauen sehen konnte. Ohne Kinokarte. Manche von denen (in Begleitung fetter Sugardaddys mit Goldkettchen) träumten wohl auch davon, einmal auf die Leinwand zu kommen.

Dies ist ein Nostalgie Blog, das wissen Sie schon. Ich nehme Sie mal eben mit zurück in die Vergangenheit. Nicht in das Frankreich des Jahres 1782, nein, in das Berlin des Jahres 1961. Die Filme sind noch schwarz-weiß. Ich auch. Unter meinem italienischen Trenchcoat trage ich einen dunkelgrauen Anzug aus einem ↝Tonic Stoff; ich trage ein weißes Hemd mit einem schmalen Schlips und habe schwarze ↝Apollo Schuhe an meinen Füßen. Ich sehe mindestens so gut aus wie ↝Jean-Louis Trintignant oder ↝Gérard Philipe. Das bildet man sich ein, wenn man achtzehn ist.

It was about eleven o'clock in the morning, mid October, with the sun not shining and a look of hard wet rain in the clearness of the foothills. I was wearing my powder-blue suit, with dark blue shirt, tie and display handkerchief, black brogues, black wool socks with dark blue clocks on them. I was neat, clean, shaved and sober, and I didn’t care who knew it. I was everything the well-dressed private detective ought to be. I was calling on four million dollars. So beginnt ↝Raymond Chandler seinen Roman The Big Sleep. In meiner Geschichte ist es auch Oktober, ich bin auch well-dressed, aber ich mache keinen Besuch bei einem Millionär. Es ist kurz vor acht, und ich warte vor dem  Kino auf Ingrid. Ich ahne schon, dass sie nicht kommt.

Sie besitzen und Sie verlieren, das heißt, einen Augenblick Glück mit einer Ewigkeit Sehnsucht erkaufen. Schreibt der Vicomte von Valmont an die Marquise von Merteuil. Ich weiß nicht mehr, wer wer ist, in dem Liebesgewirr und den Intrigen von Les Liaisons dangereuses. Ich könnte jetzt noch So gibt es denn überhaupt keine Frau, die nicht die Herrschaft mißbraucht, deren sie sich zu bemächtigen wußte! zitieren. Der Roman von de Laclos ist voll von Sentenzen, Aphorismen und Platitüden. Ich lasse des jetzt beiseite, ich habe angefangen, eine Geschichte zu erzählen. Und ↝Geschichten wollen zu Ende erzählt werden:

Neben den Museen ist das Schönste, was mir Berlin zu bieten hat, die Welt der Filmpaläste (und natürlich 1962 ↝Juliette Gréco). Hier werden schon Filme gezeigt, die sich erst viel später in die Bremer Kinos verirren. Die Kinos heißen noch nicht Cinemaxx oder Astor Film Lounge, der Zoo Palast heißt aber schon damals Zoo Palast. Da kann man noch nach dem Kino bei Aschinger am Zoo ein Würstchen im Stehen essen. Und so viel Brötchen, wie man will. Die heißen hier Schrippen und sind ziemlich klein, stehen aber seit 1900 immer auf den runden Stehtischen. Seit den siebziger Jahren nicht mehr, es gibt kein Aschinger mehr. In diesem Herbst sind wir in einer Jugendherberge in Zehlendorf untergebracht, das ist der Berlinaufenthalt, bei dem ich auf die ↝S-Bahn verzichte. Ich nehme nachts nach Kino oder Oper diese tollen Doppeldeckerbusse, die nachts die Clayallee herunter rauschen. Die passen in meine Inszenierung vom einsamen Stadtwolf, nachts in meinen Trenchcoat gehüllt, oben in den leeren Bussen auf der Clayallee, beschlagene Scheiben, vorbeihuschende Neonleuchten, die nächtliche Lyrik der Großstadt.

Ich hatte Ingrid eingeladen, mit mir Gefährliche Liebschaften im Kino zu sehen, Ku’damm, Erstaufführungstheater, wie das damals so schön heißt. Wer nicht kommt, ist Ingrid. Ich habe für meinen italienischen Trenchcoat den teuersten Garderobenplatz von ganz Berlin neben mir. Passt zum Trenchcoat. War von Hans Kalich in Bremen, schweineteuer, wie alles bei Kalich. Mammi musste erst zuhause Vaddi anrufen, um zu fragen, ob sie ihn mir kaufen dürfe. Vaddi hat natürlich Ja gesagt. Ich hätte im Kino lieber diese schöne Frau mit den Sommersprossen neben der Nase neben mir gehabt statt des Trenchcoats, aber sie zickt immer rum. Das haben Frauen in den fünfziger Jahren schon gelernt, die Unnahbare zu spielen.

Aber hinter der scheinbaren Überlegenheit ist auch viel Unsicherheit, das Rouge auf ihrer Unterlippe bröckelt ab, weil sie immer mit den Zähnen darauf knabbert, wenn sie nervös ist. Fang mich auf, sagt sie in den Dünen von ↝Langeoog, dann ist sie wieder ganz anders. Wenn irgendetwas eine amour fou ist, dann ist es meine Beziehung zu Ingrid. L’amour est un oiseau rebelle, schreibt sie mir wenig später aus Frankreich. Und l’amour est simple, il est ou il n’est pas... Aber jetzt hasse ich sie erstmal. Nachts auf dem Flur der Jugendherberge sehe ich sie im Licht der Notbeleuchtung, ich drücke ihr die zweite Karte in die Hand und sage Hier hast Du Deine Karte, es waren die besten Plätze. Aber ich kann ihr nicht böse sein, vor allem nicht, wenn sie mir am nächsten Morgen das Butterbrot schmiert. Les Liaisons dangereuses war schon der richtige Filmtitel für uns.

Jahrzehnte später werde ich ↝Jimmy plötzlich zwingen, auf die Bremse von seinem Alfa Romeo zu treten, mitten auf dem Teltower Damm. Warte auf mich, sage ich ihm. Ich habe im Vorbeifahren diesen kleinen Park gesehen. Mit dieser Telephonzelle an der Ecke. Hier war ich mal mit ihr verabredet, sie ist natürlich nicht gekommen. Der kleine Park hat sich in einem Vierteljahrhundert nicht verändert, hier ist die Zeit stehen geblieben. Es ist Oktober wie damals, die roten und gelben Blätter auf dem Boden sehen aus, als lägen sie seit 1961 hier, ↝Les feuilles mortes. Der Geruch von der Brauerei reicht noch immer bis hier. Ich drehe mich abrupt um. Fahr los, sage ich zu Jimmy. Manchmal kann man es nicht ertragen, vom Zauber eines Ortes wieder gefangen zu werden. Ich könnte Jimmy jetzt in ein philosophisches Gespräch über Kierkegaards Die Wiederholung verwickeln. Der kleine, jetzt piekende Muskel, den wir Herz nennen, würde lieber Jay Gatsbys Satz Can’t repeat the past? Of course, you can hören.

Dienstag, 22. März 2016

Die Welt in bunten Bildern


I have always been a reader; I have read at every stage of my life, and there has never been a time when reading was not my greatest joy. And yet I cannot pretend that the reading I have done in my adult years matches in its impact on my soul the reading I did as a child. I still believe in stories. I still forget myself when I am in the middle of a good book. Yet it is not the same. Books are, for me, it must be said, the most important thing; what I cannot forget is that there was a time when they were at once more banal and more essential than that. When I was a child, books were everything. And so there is in me, always, a nostalgic yearning for the lost pleasure of books. It is not a yearning that one ever expects to be fulfilled. 

Ein Plädoyer für das Lesen in der Jugend. Und für das Lesen, das einen wieder in diese Zeit zurückbringt. Allerdings redet hier kein Schriftsteller, hier redet eine Romanfigur, die Erzählerin einer ➱Gothic Novel namens The Thirteenth Tale. Ein Roman, der ein Riesenerfolg war. Ist auch schon  ➱verfilmt. Wahrscheinlich nicht wegen dieses schönen Zitats da oben. Mein Lieblingsbuch über das Lesen ist Daniel Pennacs Comme un Roman (gibt es natürlich auch auf deutsch), ein Buch, das ich immer wieder empfehlen kann. Ich habe das schon in ➱silvae: Wälder: Lesen und ➱Krieg und Frieden getan. Pennac gesteht dem Leser auch eine Anzahl von Rechten zu (wie das Recht, ein Buch nicht zu lesen), die Rechte sind hier aufgelistet. Ein Bild sagt mehr als tausend Worte.

So etwas Ähnliches sagt auch der englische Schriftsteller G. K. Chesterton, der in ein Buch von Randolph Caldecott, das er einem Kind schenkte, hinein schreibt:

This is the sort of book we like
  (For you and I are very small),
With pictures stuck in anyhow,
  And hardly any words at all.
. . .
You will not understand a word
  Of all the words, including mine;
Never you trouble; you can see,
  And all directness is divine—
Stand up and keep your childishness:
  Read all the pedants’ screeds and strictures;
But don’t believe in anything
That can’t be told in coloured pictures.

Der Maler und Illustrator Randolph Caldecott ist nicht alt geworden. Nach seinem Tod im Jahre 1886 sagte Sir ➱Frederick Leighton in der Royal Academy: Such, I think, was an artist whose name I am compelled to pronounce tonight ... withal an artist whose works are in every English hand, and are cherished in every English home; whose sweet and dainty grace has not been in its kind surpassed; whose humour was as quaint as it was inexhaustible, and his mirth bubbling and contagious; a pure and wholesome artist in whom each of us has lost a friend; for who amongst us gentlemen is not in some degree poorer by the death of Randolph Caldecott?

Die Engländer haben seit dem 18. Jahrhundert ein schier unerschöpfliches Reservoir von Künstlern, die Bücher illustrieren. Die Engländer haben den Roman erfunden, und Romane wollten im 18. Jahrhundert illustriert sein. Im 19. Jahrhundert, als die Romane immer dicker wurden, erst recht. Und dann kamen die ➱Kinderbücher und die Nonsense Verse, die schrien geradezu nach Illustrationen. Dies hier ist der Einband von Victorian Publishers Book-Bindings in Paper, gezeichnet von John Lawrence, dem bedeutendsten Illustrator, den England zur Zeit hat. Ich mag das Buch sehr, zumal es mich nur einen Euro gekostet hat. Es ist antiquarisch sonst sehr viel teurer. Randolph Caldecott kommt in dem Buch natürlich auch vor.

In Deutschland kennt man ➱Randolph Caldecott, der heute vor 170 Jahren geboren wurde, kaum (obgleich man The House that Jack Built auch auf deutsch kaufen kann). In England dagegen ist sein Name noch immer ein household word. Und erstaunlicherweise liebte ihn ein Maler wie Vincent van Gogh. Die von Caldecott illustrierten Kinderbücher kann man in England immer noch kaufen. Diese Illustration findet sich in A Frog he would a woo-ing go, einem Buch, das man ➱hier im Project Gutenberg im Volltext lesen kann. The House that Jack Built an dieser ➱Stelle auch. Ich glaube, das reicht erst einmal für den heutigen Tag. Und wir merken uns mal den Satz: But don’t believe in anything That can’t be told in coloured pictures.










Dieses Aquarell der Brighton Ladies aus dem Jahre 1878 ist hier, um zu zeigen, dass Caldecott auch etwas ganz anderes gekonnt hätte, als Frösche, Mäuse und Fuchsjagden zu zeichnen.

Lesen Sie auch: Go, ask Alice, Winnie-the-Pooh, Walter CraneAugust Kopisch, John Peel, Wilhelm Busch

Samstag, 19. März 2016

Die Frau ohne Gesicht


Ich habe kein Mobiltelephon, ein Smartphone schon gar nicht. Hätte ich so etwas, dann hätte ich das Bild photographiert, um das es heute gehen soll. So bleibt das heute eine Bildbeschreibung ohne Bild. Wenn bei mir mal jemand vorbeikommt, der ein Smartphone hat, werde ich ihn zwingen, das Bild zu photographieren und es in meinen Computer zu zaubern. So lange müssen Sie warten. Aber ich stelle hier schon mal ein schönes Bild von der schwedischen Malerin Fanny Brate aus dem Jahre 1902 hin, ich brauche diese skandinavische Atmosphäre.

Und das Sofa im Hintergrund. Hier ist ein ähnliches Sofa, diese schwedischen Sofas werden gleich noch eine Rolle spielen. Fanny Brate ist als Malerin unterschätzt, ich glaube, ich schreibe demnächst einmal über sie. Wir können an diesen Bildern natürlich auch sehen, woher Carl Larsson (der hier einen Post hat) seine Ideen von der Innenausstattung schwedischer Wohnzimmer hat. Aber zurück zu meinem Bild.

Es war Liebe auf den ersten Blick. Was kostet die Frau ohne Gesicht? rief ich dem Händler nach, der gerade den Raum verlassen wollte. Fünfzig, war die knappe Antwort. Ich hatte mit einem höheren Preis gerechnet, hätte vielleicht auch einen höheren Preis bezahlt. Das Bild war einfach gut. Ich drängelte mich durch die Kunden, die über Perückenmoden diskutierten. Mittwochs ist es immer voll im Laden, weil das der erste Tag der Woche ist, an dem ➱Stöbern & Wohnen offen ist.

Ich musste jetzt erst einmal hinter den Ladentisch kommen, ich wollte dieses Bild mit der Frau ohne Gesicht in der Hand halten, das da auf dem Boden stand. Zwanziger Jahre, sagte mir eine Frau im Vorbeigehen. Sie ist Kunsthistorikerin und eigentlich ganz nett, aber sie redet mir zu viel. Das kommt wahrscheinlich daher, dass sie Führungen macht, da muss man viel reden. Das kann man nicht abstellen. Ich kenne das, es ist ein Grundproblem der chattering classes. Aber in diesem Augenblick ersparte ich mir einen Vortrag darüber, woran ich sehen könnte, dass dies ein Bild aus den zwanziger Jahren sei, indem ich Interessant sagte. Interessant ist in solchen Situationen immer gut.

Ich hätte diesen Post gerne la belle inconnue genannt, aber das geht nicht, diese Bezeichnung habe ich schon in den Posts ➱la belle inconnue (in dem sich dieses Bild von Iwan Kramskoj findet), ➱Tolstoi, ➱Breakfast at Tiffany's und ➱Vergil gebraucht. Also nehme ich als Titel Die Frau ohne Gesicht.

Obgleich es ein Gesicht von ihr gibt, aber nicht auf diesem Bild (inzwischen ist das erste Photo gemacht worden, was Schärfe und Ausschnitt betrifft, ist das noch verbesserungsfähig). das nur eine Skizze ist. Steht auch so in schwedischer Sprache (skiss) auf dem Keilrahmen. Es steht sehr viel auf dem Keilrahmen, das machte die Identifizierung von Maler und Modell möglich. Wenn man die schwedischen Kritzeleien richtig deuten kann. Früher hätte ich für die Identifizierung Wochen, wenn nicht Monate, gebraucht. Jetzt hilft einem das Internet. Wenn man das richtig zu bedienen weiß.

Die uns bisher noch unbekannte rothaarige Dame sitzt auf einem Sofa, das man in Schweden wohl als gustavianisch bezeichnet. Also ungefähr ein solches Modell, Vorläufer des coolen skandinavischen Möbelstils. Sie trägt ein schwarzes Kleid (oder Kostüm), unter dem sie eine Bluse in beige-bronzegold trägt. Es sind viele Abstufungen von beige, weiß und grau in diesem Bild, aber das Bild ist nicht so trist wie das von ➱Whistlers Mutter. Obgleich die Wand hinter dem Sofa ein schönes Whistlergrau hat.

Das Ölgemälde hat vielleicht auch einen touch von ➱Hammershøi und ➱Hopper, hat aber nicht diese Tristesse der Einsamkeit. Und so viele Gelbtöne, wie sie der Bezug des Sofas hat, würde Vilhelm Hammershøi nicht auf seine Palette packen. Es ist nicht nur ein Sofa auf dem Bild, es gibt rechts auch noch einen weißen Tisch. Von dem man nur ein schön geformtes Bein und eine Tischkante sehen kann. Es gibt keine Tischdecke, nichts steht auf dem Tisch. Es hängen auch keine Bilder an der Wand.

Die elegante Dame auf dem Sofa, der eine Locke des roten Haars ins nicht ausgeführte Gesicht fällt, ruht in sich. Die Hände sind im Schoß gefaltet, die Füße mit den Schuhen zierlich nebeneinander gesetzt. Die Königin von England könnte nicht eleganter dasitzen. Die Pumps an ihren Füßen könnten von ➱Henri Hellstern sein. Die Dame wartet darauf, dass das Bild fertig wird. Es ist nicht fertig geworden, ich weiß nicht warum. Vielleicht war dies die Skizze zu einem größeren Bild, das irgendwo in Schweden hängt. Oder der Maler konnte keine Gesichter malen, weil er auf Pferde spezialisiert war. Dabei hatte die junge Dame (sie ist einunddreißig, als das Bild entsteht) ein schönes Gesicht, ich habe hier eine Photographie von ihr. Sie ist übrigens Russin, genau wie Iwan Kramskojs la belle inconnue.

Ich habe auch einen Namen zu der Frau, die auf dem Portrait kein Gesicht hat: sie heißt Nina Borovko-Langlet. Die russische Musikpädagogin war die Tochter von Nikolai Afrikanovich Borovko. Den kannte der schwedische Journalist und Schriftsteller Valdemar Langlet, weil sich Borovko wie er für die Universalsprache Esperanto einsetzte. Da liegt es nahe, dass er 1925 die Tochter von Borovko heiratet, die sein Bruder, der Maler Ivar Alexander (Alex) Langlet dann im Jahre 1927 gemalt hat.

Wahrscheinlich ist das Bild von seiner Schwägerin künstlerisch gesehen das beste Bild, das er gemalt hat (dies Bild von seiner Kollegin Anna Ödman zeigt Alexander Langlet in den zwanziger Jahren). Seine Pferde finde ich furchtbar, George Stubbs konnte das besser. Geben Sie einmal bei Google Bilder Alex oder Alexander Langlet ein und Sie wissen, was ich meine. Dann könnten Sie zum Vergleich einmal die Posts ➱George Stubbs oder ➱Franz Krüger anklicken, dann brauche ich zu dem Thema Alexander Langlet und Pferde nichts mehr zu sagen.

Nicht nur von Nina Langlet, auch von Valdemar Langlet habe ich hier ein Photo, er ist ein berühmter Mann gewesen. Nicht, weil er der Vorsitzende der Schwedischen Esperanto Gesellschaft war. Nicht, weil er wie sein Bruder (der Pferdemaler) ein großer Reiter war - er ist einmal mit dem Pferd durch Ungarn geritten (sein Buch On Horseback Through Hungary war ein großer Erfolg). Nein, Valdemar Langlet sollte mit seiner Frau Nina für etwas anders berühmt werden. Sein Name steht in Budapest auf einer Plakette, und er und seine Gattin finden sich in der Liste der Gerechten unter den Völkern. Uns allen fällt der Schwede Raoul Wallenberg ein, wenn es um die Rettung ungarischer Juden geht, aber niemand denkt an Valdemar Langlet.

Er und Nina Langlet sind heute leider so gut wie vergessen. Dabei haben die beiden das Prinzip erfunden, durch das Wallenberg berühmt wurde: schwedische Papiere für ungarische Juden. Langlet ist Dozent für Schwedisch an der Universität von Budapest, aber er arbeitet auch an der Schwedischen Botschaft. Er kann sehr gut Deutsch, er hat in Heidelberg studiert. Das hilft im Umgang mit den deutschen Machthabern.

Langlet arbeitet nicht nur für die Botschaft, er ist auch ein Funktionär des schwedischen Roten Kreuzes. Er mietet im Namen des Roten Kreuzes Gebäude an, die Namen bekommen wie Schwedische Bibliothek und Schwedisches Forschungsinstitut. Häuser, die Zufluchtsstätten für Juden wurden und wo Menschen lebensrettende Schutzbriefe des Roten Kreuzes bekamen. Ich habe einen davon im Internet gefunden, man kann die Unterschrift Valdemar Langlets unten rechts ganz klar lesen. Diese Unterschrift wird tausende von Juden retten. Valdemar Langlet ist nicht von der schwedischen Regierung autorisiert, diese ➱Schutzbriefe auszustellen. Er tut es trotzdem.

Das hier ist Spetebyhall in Schweden, gebaut von dem Architekten Emil Viktor Langlet im französischen Renaissancestil. Emil Viktor Langlet ist der Vater von Alexander und Valdemar Langlet, die Langlets sind im 17. Jahrhundert aus Frankreich nach Schweden gekommen. Der Architekt war mit der Schriftstellerin Mathilda Langlet verheiratet, die neben Kinderbüchern und Romanen auch Husmodern i staden och på landet schrieb, ein Buch für die schwedische Hausfrau.

In Spetebyhall wurde Valdemar Langlet geboren, hier ist er aufwachsen. Hier ist das Bild von Nina von seinem Bruder gemalt worden. Und hierher ist er 1945 schwerkrank zurückgekehrt. Die Arbeit in Budapest, über die er später das Buch Verk och dagar i Budapest schreiben wird, hat seine Gesundheit angefressen. Und das Vermögen aufgefressen. Diese Tafel am Sacré Coeur Kloster von Budapest erinnert an Langlet, in Ungarn scheint man ihn mehr zu lieben als in Schweden. Zwei Gedenktafeln, eine Straße und eine Schule erinnern hier an ihn (in Schweden immerhin in Uppsala ein kleiner Park). Das schwedische Parlament wird lange brauchen, bis man ihm eine Rente von tausend Kronen gewährt. Die nach seinem Tod aber sofort wegfällt, man stellt Nina Langlet aber eine Witwenrente in Aussicht.

Langlets Buch über die Tage in Budapest ist im letzten Jahr unter dem Titel Reign of Terror: The Budapest Memoirs of Valdemar Langlet 1944-1945 neu aufgelegt worden, das kleine Buch seiner Frau A svéd mentőakció aus dem Jahre 1944 leider nicht (1982 macht sie noch einmal mit dem Buch Kaos i Budapest auf sich aufmerksam). Valdemar Langlet hält sich nach 1945 mit journalistischen Arbeiten über Wasser, seine Frau Nina gibt Klavierstunden. Er übersetzt auch einiges (unter anderem Immanuel Kant), der Esperantist spricht viele Sprachen. Das Sprachtalent scheint in der Familie zu liegen, schon seine Mutter hatte viel übersetzt, Harriet Beecher Stowe und Louisa May Alcott unter anderem. Bis 1955 können die Langlets Spetebyhall halten, dann ziehen sie nach Stockholm.

Es hat Ehrungen gegeben, kurz nach dem Krieg: die Silbermedaille des Schwedischen Roten Kreuzes, den schwedischen Nordstjärneorden, einen Orden aus Finnland und den Verdienstorden der Republik Ungarn. Nina Langlet, die zweiundneunzig Jahre alt wird, wird es noch erleben, dass ihr Name in der Liste der Gerechten unter den Völkern steht. Aber mehr als die Orden und Auszeichnungen bedeuten die Briefe, die das Ehepaar erreichen: Blessed is the Swedish people to be rewarded with having persons like the Langlet family counted among its citizens, schreibt Francois Pollak 1946 und bedankt sich bei Langlet, weil der seine Schwester  Edita Loewensteioiva und ihre Kinder vor der Deportation geretttet hat.

Da sieht man in einem Laden, der Stöbern & Wohnen heißt, ein Bild, das man unbedingt haben muss. Man kauft es. Ohne zu zögern. Weil dieses Bild etwas an sich hat. Auch wenn die Frau auf dem Bild kein Gesicht hat. Wollen Sie es über Ihrem Bett aufhängen? fragte die Kunsthistorikerin. Ich hätte sagen sollen, dass da schon Brigitte Bardot hängt, aber so etwas fällt einem in dem Augenblick nicht ein. Das Bild hängt jetzt erst einmal im Wohnzimmer. Eine Woche lang. Und dann bringe ich es zu ➱Anja Petrich, die mir einen zierlichen weißen Rahmen um das Porträt machen wird. So zierlich, wie das gustavianische Sofa. Und dann bleibt sie hier im Wohnzimmer, die Frau ohne Gesicht, über die ich jetzt so viel weiß. Mit der jetzt ein wenig Weltgeschichte in mein Wohnzimmer gekommen ist.

Als ich meinem Händler Tage später von meinen Bemühungen berichtete, sagte er mir, dass er das Bild aus einer Haushaltsauflösung in Kiel hätte. Man hätte ihm gesagt, dass es aus dem Budapester Haushalt eines schwedischen Diplomaten komme, der viele Juden gerettet habe. Den Namen Valdemar Langlet hatte sich Herr von Massow auch notiert. Himmel, das hätte mir Arbeit erspart, wenn ich das schon vorher gewusst hätte.

Aber dann servierte er mir noch eine kleine Sensation. Ich habe da noch ein Bild von ihm, sagte er und wies auf die gegenüberliegende Wand. Und da hing tatsächlich ein Portrait von Valdemar Langlet. Das sehr gut gemalte Bild aus den dreißiger oder vierziger Jahren (da war er jünger als auf diesem Photo) ist bestimmt nicht von seinem Bruder, dem Pferdemaler. So etwas hätte der nicht gekonnt.


Die beste kurze Würdigung von Nina und Valdemar Langlet findet sich ➱hier. Diese ➱Wikiwand Seite ist auch sehr informativ. Langlets Buch On Horseback Through Hungary kann man ➱hier im Volltext lesen. Alles über Spetebyhall aus der Sicht der Konservatoren finden Sie auf dieser informativen ➱Seite.

Noch mehr jüdische Schicksale im Zweiten Weltkrieg finden sich in den Posts: Wilfrid Israel, Peter C.W. Gutkind, Arnold Duckwitz, 9. November