Samstag, 28. Juli 2018

gesudelt, nicht gemalt


Joseph Anton Koch hatte gestern seinen  250. Geburtstag, bekam hier allerdings keine Erwähnung, da die Mondfinsternis den Vorrang hatte. Ich konnte ihn guten Gewissens auslassen, da es es am 27..Juli 2016 schon einen Post zu ihm gab. In dem allerdings eines nicht erwähnt wird: Kochs Haß auf William Turner. Der ist ja damals noch nicht so bekannt wie heute, so kann zum Beispiel Theodor Fontane Jahre nach Turners Tod schreiben: Turner ist auf dem Continente außer bei den Kunstverwandten kaum dem Namen nach gekannt, und seine Bilder kennen nur jene wenigen, die zu ihren Künstlerfahrten nach Rom und Paris einen flüchtigen Besuch an der Themse gestellt haben. Turner hat nur localen Ruhm, aber an Ort und Stelle ist es ein ganz unbestrittner Ruhm.

Den ihm Joseph Anton Koch streitig macht, gesudelt, nicht gemalt (oder noch grober: cacatum non est pictum) seien Turners Bilder, verkündet Koch. Man wisse gar nicht, wie herum man sie aufhängen soll. Und über die Ausstellung von Turners Bildern bei seinem Romaufenthalt 1828 schreibt Koch: So großer und grob gesinnter Pöbel sich auch einfand, die Ausstellung dieses weltberühmten Engländers, namens Turner, in Augenschein zu nehmen, so war die Ware doch zu sehr unter aller Kritik und unter der von der modernen Welt bewunderten Mittelmäßigkeit. Das Bild des Montblanc oben hat Turner mit 28 Jahren gemalt, da gab es die meisten Alpenbilder von Koch noch gar nicht. Wir wüssten, wie wir es aufzuhängen hätten, und wir würden nicht von gesudelt reden. Vielleicht lesen wir mit dieser Einführung den Post aus dem Jahre 2016 mit anderen Augen:

Schreibe ich über Joseph Anton Koch oder lasse ich es? Die Frage stellte sich mir, als ich auf das Kalenderblatt vom 27. Juli bei Wikipedia schaute. Der Maler wurde am 27. Juli 1768 geboren, in seiner Jugend hatte er noch Ziegen gehütet. Durch die Empfehlungen eines Bischofs war er zur Karlsschule nach Stuttgart gekommen, einer Militärakademie, die einige Berühmtheit hatte, weil Friedrich Schiller da auch gewesen war. Der war noch mit fünfzehn Bettnässer, was die Biographen auf den harten militärischen Drill schieben. Joseph Anton Koch hat die Militärakademie nach sechs Jahren verlassen, der mit der französischen Revolution sympathisierende Eleve kam damit einem Rausschmiss zuvor. Malte aber mal eben diese schöne Karikatur auf die Kunstpraxis an der Hohen Karlsschule.

Und floh erst einmal in die Schweiz, danach ging er nach Italien, wo er bis zu seinem Tode blieb. Die Alpen vergaß er nie, er malte viele Bilder, die man als heroische Landschaft bezeichnet. So etwas ist in der Geschichte der Malerei nicht ganz neu, schon ➱Nicolas Poussin hatte solche Bilder gemalt. Aber die Romantik wird das Thema neu entdecken, sogar der Schriftsteller Gottfried Keller wird eine solche heroische Landschaft malen.

Auf diesem Bild von Blunck, das den Bildhauer Bertel Thorvaldsen (ganz rechts am Tisch) und seine Freunde in einer römischen Trattoria zeigt, ist Joseph Anton Koch leider nicht mit drauf. Hätte er aber sein können, denn er war mit ihm befreundet, und der Katalog Künstlerleben in Rom. Bertel Thorvaldsen (1770-1844): Der dänische Bildhauer und seine Freunde hat eine Vielzahl von Einträgen für seinen Namen. Die Ateliers von Thorvaldsen und Koch werden für Jahrzehnte die Anlaufstationen für alle durchreisenden Künstler sein (auch ➱Blechen wird bei Koch wohnen). Das Bild von Detlev Blunck war übrigens schon in dem Post ➱Bertel Thorvaldsen zu sehen.

Die Landschaft mit dem Regenbogen hat Koch 1805 gemalt, es ist das Jahr, in dem er mit dem ➱Schmadribachfall beginnt. Den lässt er aber erst einmal auf der Staffelei (oder in einer Ecke des Studios) stehen, erst 1811 wird er ihn vollenden. Das Bild ist heute in Leipzig, die Neue Pinakothek München hat eine spätere Fassung. Die früheste Fassung des Bildes ist dieses Aquarell von 1794, das das Kunstmuseum Basel besitzt. Es ist in seinem Detailreichtum und der Luftigkeit der Farben vielleicht schöner als die anderen Bilder.

Koch hat sein Bild in einem Brief an seinen Freund Robert von Langer selbst beschrieben als: Eine sozusagen prachtvolle Wildnis mit Gletscherkaskaden, Wolken, welche zum Teil die Gebirge umschleiern, machen den Hintergrund aus; In der Mitte befindet sich ein undurchdringlicher Wald von Tannen und anderem wilden Gewächs und Felstrümmern und stürzenden Wassern vermischt. Der Vordergrund ist die Tiefe des Tales, von frischem Grün erfreut, mit dem brausenden Strom der Steinberg Lütschüne, in welch sich oben gedachte Wasser stürzen. Der ich aus einem solchen Bergland geboren bin und mich selbst als Kind solcher majestätischer Natur schon immer freute und deren Erinnerung mir noch jetzt tief eingeprägt ist. Auch besitze ich sehr fleißige Zeichnungen nach der Natur hiervon.

Der Maler Joseph Anton Koch wäre mir eigentlich schnurzpiepeegal. Wenn da nicht diese Reproduktion des Schmadribachfalls wäre, die ich jahrelang an die Wände verschiedener Studentenbuden gepappt hatte. Ich weiß nicht weshalb. Aber ich kenne natürlich jeden Quadratzentimeter des Bildes. Die Reproduktion ist heute nicht mehr an der Wand, die ruht in einer großen Mappe im Keller. Wenn Sie mehr über Kochs Gemälde wissen wollen, dann kann ich Hilmar Franks kleines Buch in der hervorragenden Reihe Kunststück des Fischer Verlags empfehlen. Und diese ➱Seite auf der ein Kunstpädagoge didaktisch das Bild analysiert, besser kann man es nicht machen.

Die kleine Winzerstadt Olevano hatte Joseph Anton Koch um 1803 entdeckt. Er entdeckte da nicht nur die Schönheit dieser Landschaft, er entdeckte auch eine schöne Italienerin namens Cassandra Ranaldi, die er drei Jahre später heiratete. Besonders angetan hat es Koch ein Eichenwäldchen oberhalb von Olevano, das Serpentara (Schlangenwäldchen) heißt. Das wird dann für den Rest des Jahrhunderts für alle deutschen ➱Maler, die Rom besuchen (sogar für den Deutschamerikaner ➱Albert Bierstadt), die Vorlage für das Zeichnen von Eichen sein.

Als der Maler Edmund Kanoldt (diese Zeichnung des Serpentara Wäldchens ist von ihm) 1873 erfährt, dass man den Wald abholzen und zu Eisenbahnschwellen verarbeiten will, alarmiert er den deutschen Botschafter in Rom. Und dann gibt es eine beispiellose Aktion, Künstler sammeln und spenden (der Maler Carl Schuch übernimmt ein Viertel der Kosten), um das Wäldchen zu kaufen. Und da Deutsche immer übertreiben müssen, ist das Schlangenwäldchen inzwischen zu einem heiligen Eichenhain geworden.

Was wären wir Deutschen ohne Wald? Ohne das Lindenblatt, das auf Siegfried fällt, ohne Hermann den Cherusker, ohne ➱Wolfsschlucht, ohne Eichendorffs Wälder und die Märchen der Brüder Grimm? Könnte ich jetzt stundenlang drüber schreiben. Habe ich auch schon getan, ich liste unten einmal einige Posts zum Thema Wald auf. Und ich muss natürlich das Buch von Simon Schama Landscape and Memory (Der Traum von der Wildnis) erwähnen, das ein schönes Kapitel über den deutschen Wald hat.

Die Gegend von Olevano war nicht mehr unbedingt idyllisch, jetzt im Risorgimento häufen sich in der ruhigen Gegend die Überfälle durch banditti. Die kommen normalerweise auf den Bildern von ➱Salvator Rosa vor (dies ist eins seiner Bilder), aber es scheint sie auch in der Wirklichkeit zu geben. Die Malerin Louise Seidler (die Sie schon aus dem Post ➱Georg Friedrich Kersting kennen) hat in ihren Lebenserinnerungen davon berichtet, wie Briganten den Baron von Rumohr überfallen wollten und den Maler Friedrich Salathè entführten. Die Geschichte geht aber gut aus.

Wenn Deutsche sich etwas vornehmen, dann führen sie das auch zu Ende (vom Flughafen Berlin-Brandenburg einmal abgesehen), das Serpentara Wäldchen (hier ein Bild von August Lucas) wird nicht abgeholzt, es bleibt in deutscher Künstlerhand. Bis heute. Denn da gibt es die Villa Serpentara, die so etwas Ähnliches wie die Villa Massimo ist.

Obgleich ich die Alpen nicht unbedingt mag, schreibe ich doch häufig über sie. Wenn Sie den Post ➱Tanzseuche anklicken, finden Sie Links zu all den Alpen Posts. Ich war noch keinen Monat im Netz, da musste ich schon über die Alpen schreiben und in dem Post ➱Ästhetik diese kleine Geschichte erzählen: Aus der Zeit von Sir Arthur Conan Doyle (dem seine Schneider besonders dicke Tweedhosen gemacht hatten, damit er die verschneiten Hänge herunter rutschen konnte) datiert auch eine kleine Geschichte, die man sich in Bremen erzählt. Wo man sich ja englischer als die ➱Engländer gibt. Das tun die Hamburger ja auch, aber die sind für die Bremer ja nicht wirklich zurückhaltend englisch, eher schon neapolitanisch leichtlebig. Also, eine Bremer Senatorenfamilie fährt mit der Eisenbahn in die Alpen. Und angesichts des Panoramas der schneebedeckten Berge und des ewigen Eises springt der Sohn auf und ruft: Guck mal, Vadder. Was scheun. Die Alpens. Und der Vater sagt: Junge, exaltier Dir nicht so. Worauf die Mutter, das Verhalten des Juniors erklärend, einwirft: Das musst Du verstehen, er studiert ja nun schon ein Semester in Hamburg.

Es wird nicht verwundern, dass es in einem Blog namens SILVAE manchmal um Wälder geht. Lesen Sie auch: silvae: Wälder: Lesen, Eisenhammer, Deutsche Romantik, Wolfsschlucht, Lützow, Moritz von Schwind, Vollmond, Caspar David Friedrich, Adalbert Stifter, Zweite Heimat, Carl Blechen

Freitag, 27. Juli 2018

Die Mondfinsterniß


        Die Mondfinsterniß 
        (Am 26, December 1833)

Da ist der Erdenschatten! -
Seht ihr, am Mondesrand
Erscheint er wie ein Streifen 
Von grauem Atlasband.

Und breit und immer breiter 
Umflort er. schon. das Bild 
Des heiligen Planeten, 
Jetzt steht es ganz verhüllt –

Und doch durchblickt den Schleier
Der Mann im Mond so klar –
Wie ahnt's der Dichterseele
So groß und wunderbar! –

Schwimmt nicht in diesem Schatten
Zugleich der Schattenfall
Der tausend Berg und Wälder
Auf unserm Erdenball,

Der tausend Creaturen
Und Wesen ohne Zahl? –
Doch wer durchblickt die Schatten
Mit ew'gem Augenstrahl? –

Das thust du, Herr des Lebens;
Wie tief du auch verhüllt,
Durchschaust du doch die Schatten
wie's dunkle Mondesbild!

Und nicht allein die Schatten,
Das Wesen auch; den Kern
Des Erdballs wie des Menschen
Durchschaust du, Aug' des Herrn!

Mittwoch, 25. Juli 2018

Tristan Akkord


In der ersten Folge der Serie um Chief Inspector Morse (The Dead of Jericho) spielt Morse den Tristan Akkord auf dem Klavier der toten Klavierlehrerin, er liebt nun einmal Wagner. Er ist nicht der erste musikalische Detektiv in der Geschichte der Krimiliteratur. Sherlock Holmes spielte Geige, Lord Peter Wimsey Klavier. Holmes besaß sogar eine Stradivari. Das erzählt uns auf jeden Fall Dr Watson: We had a pleasant little meal together, during which Holmes would talk about nothing but violins, narrating with great exultation how he had purchased his own Stradivarius, which was worth at least five hundred guineas, at a Jew broker’s in Tottenham Court Road for fifty-five shillings.

Am 25 Juli 1886 hatte Wagners Tristan und Isolde bei den Bayreuther Festspielen Premiere. Wenn Sie die Posts Richard Wagner, bêtes noires und Bayreuth gelesen haben, dann wissen Sie, dass dieser Blogger kein Wagner Fan ist. Aber ein klein wenig Wagner darf es heute schon sein. Die praktische Kurzfassung für Leser, die Wagner nicht mögen und niemals nach Bayreuth fahren würden. Wir fangen einmal mit dem Text an. Und da lesen wir natürlich nicht Wagners Libretto, sondern Tristan und Isolde des Gottfried von Straßburg von Dieter Kühn. Nichts anderes.

Und wenn Sie alles über den sogenannten Tristan Akkord wissen wollen, dann hören Sie Antonio Pappano oder Asher Fish zu. Das Highlight der Oper ist natürlich Isoldes Liebestod, dafür lassen wir heute Hildegard Behrens singen. Schöner geht es nicht.

Dienstag, 24. Juli 2018

Mit siebzehn


Ich habe in einem Bericht über die Jugendarbeit der Vegesacker Gemeinde von dem inzwischen auch schon pensionierten Pastor Ingbert Lindemann das Bild eines unbekannten Photographen (das könnte unser Diakon Klaus Nebelung gewesen sein) gefunden. Da sind wir, an einem schönen Sommertag, vor dem gerade renovierten Gemeindehaus, Kirchheide Nummer 18. Elf junge Frauen, drei junge Männer, Teile der sogenannten Jungen Gemeinde, die sich durch das Alter vierzehn bis siebzehn definiert. Viele auf diesem Bild sind schon in diesem Blog erwähnt worden, sie wissen es bloß nicht. Ich bin auch auf dem Bild, ganz oben in der Tür, der einzige, der einen Schlips trägt. Das haben Sie sich natürlich auch so gedacht, dass Jay einen Schlips trägt. Mit siebzehn. Ich trage auch einen hellgrauen Pullunder. War damals Mode, auf jeden Fall in französischen Filmen. Der Konny neben mir trägt keinen Schlips, der muss zur Strafe den Rest seines Lebens dunkle Anzüge und Schlipse tragen, weil er Staatssekretär sein wird und höchste Richterämter innehaben wird. Werner hat wenigstens ein Jackett an, er darf den Schlips weglassen, weil er der beste Fußballer von uns Straßenfußballern auf dem Sedanplatz war.

Mit siebzehn hat man noch Träume, sang Peggy March 1965. Hier auf diesem Photo sind wir alle siebzehn, aber Peggy March singt noch nicht. Ist auch noch keine siebzehn.  Haben wir wirklich Träume? Der Zweite Weltkrieg liegt fünfzehn Jahre zurück. Viele Väter sind gefallen oder sind Kriegsversehrte wie mein Vater. Viele Häuser sind zerstört. Wir sind irgendwie durch die Nachkriegszeit gekommen. Leicht unterernährt (zu Hause gibt es diesen scheußlichen Lebertran, auf den die Eltern schwören), mit immer kratzigen Wollsocken und immer kratzigen Pullovern. Aber es gab Schulspeisung, dafür hatten die Amerikaner gesorgt. Ich nahm immer Kakao.

Und man musste alle Monate zur Reihenuntersuchung oder Impfung zum Gesundheitsamt. Wegen der gefürchteten Tbc oder anderer Krankheiten, die etwas mit dem Mangel zu tun hatten. Stundenlang in Unterwäsche oder Turnzeug barfuß auf den kalten Gängen stehen. Ich kannte das Wort entwürdigend damals noch nicht, aber das war es: entwürdigend. Die meisten Ärzte des Ortes wohnten in unserer Straße, sie hatten schon schnell nach dem Krieg ein Auto. Die meisten hatten einen schwarzen Mercedes, der Röntgenologe besaß sogar ein Mercedes Coupé. Die Ärzte im Gesundheitsamt hatten keine Autos, bestenfalls einen Volkswagen. Wahrscheinlich hassten sie deshalb die Kinder. In manchen Träumen stehe ich noch immer auf kalten Fluren und warte darauf, dass ich an die Reihe komme. Das klingt ein wenig kafkaesk, aber es ist so.

Wir hatten Glück auf der Volksschule, wir hatten gute Lehrer. Es hätte anders kommen können. Ich will nicht wieder den schönen Satz zitieren, dass auch schlechte Lehrer eine gute Schule sind. Die Ute, die unten links sitzt, mochte Frau Alexandru besonders, weil die eine Heimatvertriebene wie sie war. Ich habe das lange nicht begriffen, wie entwurzelt die Flüchtlinge waren. Schwarze Löcher in der Seele. Ich mochte meinen Klassenlehrer Herrn Blume und meine blonde Englischlehrerin aus St. Magnus. Den Musiklehrer Herrn Muschalek (auch ein Heimatvertriebener) hasste ich. Wir Jungens hatten immer Angst, dass wir nach vorne kommen müssten und vorsingen müssten. Da waren wir dankbar, dass die blonde Annegret mit glockenklarer Stimme in jeder Stunde einmal You are my sunshine singt. Ich konnte Noten lesen, weil mein Opa mir Klavierunterricht gab, und ich habe ein sehr gutes Gehör. Aber ich konnte nicht singen. Die Ingrid, die oben in der Mitte mir nahe steht, konnte schön singen. Ich habe das schon in dem Post Mein Dänemark geschrieben:

Wir sind jetzt achtzehn, und das hier um uns herum ist die ideale Landschaft für einen Sommerflirt, aus dem mehr werden könnte. Und auch Begegnungen in Kirchen haben jetzt ihren Reiz. Ingrid singt mir in einer verlassenen Kirche, in die schon Gras und Unkraut hineinwachsen, Summertime vor. Nur für mich. Um die Akustik der kleinen Kirche zu testen. Sie kann wunderschön singen. Aber ihr Summertime klingt anders als das, das Ute damals in der Nacht in der Strandlust gesungen hat. Hier im von huschenden Sonnenfetzen beleuchteten weißgekalkten Raum hat die Melodie eher die Qualität von sakraler Musik. Summertime, and the living is easy. Getrennt von der Welt da draußen, die heute kein wirklicher Sommertag ist. Aber ich weiß schon, dass dies ein kleines Geschenk an mich ist. Dass sie jetzt nur für mich singt, in dieser kleinen Kirche, die sich auf der Düne festkrallt wie das Gras und die verhungerten Kiefern. Auf der Nordwestseite liegen die Butzenscheiben schon unter einer Sandschicht.

Wenn dies ein Wunschkonzert wäre, würde ich mir jetzt von ihr I skovens dybe stille ro wünschen, das man uns im Gemeindehaus von Nyköbing beizubringen versuchte. Aber man kann nicht alles haben. Die Augenblicke von großer Nähe und Vertrautheit, an denen ich ihr morgens das Butterbrot schmiere, wechseln ab mit Tagen von großer Fremdheit, there ain’t no cure for the summertime blues. Sie weiß auch nicht so recht, was sie will. Sie hat jetzt, wie beinahe alle Achtzehnjährigen, Ärger zu Hause mit ihren Eltern, Taschengeldkürzungen, Ausgehverbot, es ist ein Wunder, dass sie überhaupt mitfahren durfte. Wir werden diesen Sommer nebeneinander hergleiten, uns suchen und nicht suchen. Sie weiß nicht, dass ich Gedichte über sie schreibe. In der Ersatzwelt, die uns heute das Internet bietet, kann ich bei YouTube jeden Tag I skovens dybe stille ro hören. Ergreifend gesungen von einer Dänin namens Anette Kruse in ihrer Küche. Ein kleines Stück von der Jugend kommt immer wieder zurück. Wenn auch in ganz anderer Form.

Der Post Mein Dänemark hatte gewisse literarische Ambitionen, ich weiß nie, in welchem Stil ich schreiben sollte. Als in der Schule Besinnungsaufsätze gefordert wurden, schrieb ich Essays. Mein Deutschlehrer hasste mich dafür. Als ich Wissenschaftler war, schrieb ich wissenschaftlich, aber meistens doch nicht. Der geforderte wissenschaftliche Stil ist etwas für nerds, das wollte ich nicht sein. Doch alle Redaktionen von wissenschaftlichen Zeitschriften und alle Verlage nahmen das, was ich schrieb. Jay schreibt immer gut, hat ein Herausgeber einer Zeitschrift gesagt. Ich habe gefragt, ob ich das schriftlich bekommen könnte. Kriegte ich, von vier Herausgebern unterschrieben. Ich habe kurz überlegt, ob ich es an meine Bürotür kleben sollte, habe es aber gelassen. Da klebte schon Montaignes Satz Que sais je?

Das ist das Schöne an einem Blog, ich kann schreiben, was und wie ich will. Niemand von uns auf dem Photo oben ist Schriftsteller geworden. Ich habe zwar damals angefangen, Romane zu schreiben, die aber alle spätestens nach zehn Seiten in einem Mäppchen verschwanden. Zu romantisch, zu larmoyant. Als ich viele Jahre später Uwe Johnsons Roman Ingrid Babendererde las, wußte ich, dass das der Roman war, den ich hätte schreiben wollen. Nicht nur, weil die Heldin Ingrid hieß. Vielleicht sollte ich sprachlich mutiger sein. Sollte etwas wagen. Auch sprachlich. Ich erkenne gute Literatur, wenn ich sie sehe. Also Sätze wie: Gott gibt mir nicht den Himmel wieder. Er gibt uns keine Kneipe. Er bestraft nicht die Sünder, füttert nicht Schokolade noch Kuchen. Liest nicht vor. Er läßt das Bett kalt.

Wir werden jetzt langsam erwachsen. Zur Konfirmation hatten wir schon richtige Anzüge an. Und jetzt lernen wir tanzen. Bei Theodor Fontane sagt der Chinese: aber wir lassen es andere machen. Wir tanzen selbst und erlernen alle sogenanten Gesellschaftstänze, die man angeblich kennen muss: Walzer, Foxtrott, Polka, Rumba, Samba, Tango, Cha-Cha-Cha und Boogie Woogie. In der Tanzschule Nico Arff lernt man aber alles, damit man für den Abtanzball und das Leben gerüstet ist. Man lernt auch gute Manieren, wenn man das zuhause bisher nicht gelernt hat.

Gute Manieren sind jetzt wichtig in den Adenauerjahren, die deutsche Gesellschaft scheint davon besessen zu sein. Man will jetzt nicht noch einmal alles falsch machen. Die Manieren der bürgerlichen Mittelklasse werden nun zum Maßstab für das Leben. Das Buch von Adenauers Protokollchefin Erica Pappritz über den guten Ton ist jetzt ein Bestseller. Löst den guten alten Knigge ab. Dabei war der ja eigentlich Philosoph und kein Schreiber von Benimmbüchern. Man diskutiert überall über das Regelwerk von Frau Pappritz, in dem auch steht, wie häufig man die Klospülung betätigen darf. Die Deutschen haben ja immer noch diesen Hang, alles ordentlich zu reglementieren. Auf solchen Unsinn wäre der gute Freiherr nicht gekommen.

Die vom Krieg traumatisierte Generation nimmt das Buch offensichtlich dankbar hin. Ein halbes Jahrhundert später ist das schon anders, da wird gutes Benehmen in Bremen als Unterrichtsfach in der Schule angeboten. Das brauchen wir damals nicht, wir werden permanent erzogen, Großmütter haben ihre eigenen Benimmregeln, die sie uns beibringen. Mein Opa sowieso. Und das wird auch strikt durchgesetzt und eingehalten. Ich halte mich noch heute daran. Ich werde in meinem Leben eine Vielzahl von Büchern lesen, die das bürgerliche Leben beschreiben, und in vielen erkenne ich meine eigene Jugend wieder. Denn bis auf die ganzen Errungenschaften der Technik, die der Hausfrau das Leben einfacher machen, sind die fünfziger Jahre eigentlich die dreißiger Jahre. Da stehen geblieben, wo Hitler die Zeit angehalten hat.

Der Tanzlehrer Niko Arff hat ein Holzbein, aber er bewegt sich auf dem Parkett seiner Tanzschule sehr graziös. Beim Ausfallschritt des Tangos kann er das Bein hörbar schleifen lassen. Wir kennen uns in der Tanzstunde beinahe alle. Manche aus unserem Jahrgang sind nicht bei Niko Arff, weil ihre Eltern der Meinung sind, dass die noch zur Zeit des Kaisers gegründete Tanzschule Schipfer-Hausa in Bremen viel vornehmer ist als Niko Arff in Vegesack. Die so Ausgestoßenen gucken dann manchmal heimlich in der Dunkelheit von der Stadtgartenseite in den hellerleuchteten Saal von Niko hinein. Wie die kleine Meerjungfrau, um ein Gemeinschaftserlebnis betrogen.

Meine Mutter war vor dem Krieg auch bei Schipfer-Hausa. Vielleicht gab es da Niko Arff noch nicht, aber für mich war das keine Alternative. Ich gehe natürlich zu Niko, erstens ist es nur fünfzig Meter weit, und zweitens kann ich dann mit Ingrid tanzen, die auch in dem Kurs ist. Zum Abtanzball in der Strandlust kriege ich sie leider nicht zugelost, sondern eine Blondine aus ihrer Klasse, die aus Schönebeck kommt und furchtbar viel quasselt. Da muss man vorher noch einen Besuch bei den Eltern machen, mit Anzug, weißem Hemd, Schlips und Blumen. Obgleich ich sonst in meinem Leben keine Frauen vergessen kann, von ihr weiß ich nicht mehr, wie sie heißt. Ich weiß nur noch, dass sie in Schönebeck in der Wilden Rodung in der Nachbarschaft von Edu Schäfer wohnte.

Eigentlich sind wir ein schönes Paar gewesen, wenn ich das einzige Photo betrachte, das ich von diesem Abend kenne. Aber ich kann mich trotz des Photos nicht an ihren Namen erinnern. Wer immer gesagt hat, dass die Vergangenheit nur das photographische Negativ sei, das in der Gegenwart entwickelt wird, hier muß er sich getäuscht haben. Die jungen Frauen in ihren Abendkleidern und Cocktailkleidern (vorwiegend in hellen Farben, manche mit Blumenmustern) sehen sehr elegant aus. Alle kleine Ruth Leuweriks. Wir tragen dunkle Anzüge und weiße Hemden, Peter, Eberhard Petzold und Pussie Wawer auch eine silberne Schleife. Burchi Krusewitz und Eberhard haben haben in der Tanzstunde nicht aufgepasst und tragen Ringelsöckchen, die man eigentlich nicht auf einem Photo sehen will.

Von nun an wird getanzt, Abtanzbälle (man kennt immer eine junge Frau, die Abtanzball hat), Oberstufenbälle (auch die von anderen Bremer Schulen), Rudervereinsbälle. Später Bataillonsbälle (sehr förmlich), Theaterbälle (furchtbar vornehm und langweilig). Manchmal auch im Sommer auf dem Land, wenn in Ausflugslokalen die Musik aufspielt. In der Meierei im Bürgerpark, dem Gasthaus am Emmasee und Bruns Garten in Leuchtenburg gibt es das in den fünfziger Jahren noch. Das finde ich am Schönsten, doch es ist ein Vergnügen, das vom Aussterben bedroht ist.

Ich tanze gerne, ich kann mich auch gut bewegen und trete meiner Partnerin auch nicht auf die Füße. Mit Traute werde ich viel tanzen, auf ihrem Abtanzball (Schipfer-Hausa), ihrem Oberstufenball (Gymnasium an der Kleinen Helle, da kennt mich niemand). Einmal auch zu einem Ball in einer Tanzschule neben dem Theater am Goetheplatz. Da wird sie von einem Typ zum Tanzen aufgefordert, was mich furchtbar eifersüchtig macht. Eigentlich ärgere ich mich auch nur, weil der so einen eleganten dunkelbraunen Tonic Anzug trägt. Wo kriegt man so was her? Ich bin auch mit Traute bei vielen Parties, wir haben sonst nichts. Sie darf keinen jungen Mann nach Hause mitbringen, ihr Vater ist stockkonservativ. Wir knutschen draußen auf dem dunklen Friedhof.

Manchmal sitzen wir Abende lang in einer stilvollen Bar in der Bahnhofstraße zwei Häuser neben Schaper-Siedenburgs Hotel und gucken uns in die Augen. Die Bar hat sie ausgesucht, ich hätte nicht mal gewusst, dass es die da gibt. Wenn man aus Vegesack kommt, kennt man sich in der Welt der damals angesagten Gaststätten in Bremen-Stadt natürlich nicht aus. Na ja, von der Lila Eule hat man selbst in Vegesack schon gehört. Aber ohne Gudrun wäre ich nie im Kleinen Olymp oder im Kaiser Friedrich gelandet, denn wenn man mit den Eltern ausgeht, dann gibt es in Bremen nur drei Namen: die Bude von Keuneke an der Liebfrauenkirche für die schnelle Bratwurst, Hillmann oder Stecker fürs Kaffeetrinken. Oder das Essighaus, wenn man richtig essen will. Den Ratskeller, den ein Freund letztens als Frittenbude im Tiefparterre bezeichnete, überlassen die Bremer sowieso den Touristen.

In der Disco wird man eines Tages die Standardtänze nicht mehr brauchen (Boogie-Woogie ausgenommen). Dann bleibt einem nur noch ein Tanzverein, aber das ist mir irgendwie zu blöd, wegen des Tanzens in einen Verein zu gehen. In den frühen sechziger Jahren gibt es noch Festlichkeiten zuhause. Dafür werden bei uns in den Wohnzimmern die Möbel beiseite gerückt, Vatis Wartezimmer wird ganz leer geräumt, so wird das halbe Haus zur Tanzfläche. Die jungen Frauen tragen Cocktailkleider oder Twinsets mit Perlenkettchen, wir Anzüge und schmale Schlipse. Niemand trägt Jeans. Es geht alles sehr gesittet zu. Vor allem bei Gert von Arnim, wo der Vater nach dem Tod von Gerts Mutter eine adlige Hausdame eingestellt hat, die dafür sorgt, dass Anstand und Sitte nicht verletzt werden. In Adelskreisen weiß man noch, was sich gehört. Gerts Vater fährt einen schwarzen VW Käfer, das ist der Höhepunkt an Bremer Understatement. Dagegen ist der schwarze Bentley von Biggis Opa schon wieder prollig.

Aber neben dieser Form der Abendgesellschaft setzen sich jetzt Parties durch, etwas ganz Neues. Da braucht man keine große Tanzfläche mehr, weil da nur der ganz eng geklammerte Schmuseblues getanzt wird. Jeder bringt kleine Plastikalben mit Schallplatten und eine Flasche Rotwein mit. Man muss nur aufpassen, dass niemand die Platten auf dem Heizkörper ablegt, die Dellen kriegt man aus seinen Lieblingsplatten nie wieder raus. Meine kleine Sammlung habe ich immer noch, manche haben Rotweinflecken. Blueberry Hill ist dabei, Monty Sunshine, der Sidney Bechets Petite Fleur spielt, und alles was wir damals in abgedunkelten Räumen bei Kerzenlicht gehört haben. Wir haben jetzt einen Partykeller mit einer kleinen Bar, da wo nach dem Krieg unser Schwein und danach der Kohlenkeller war. Willy Mrowetz hat ihn mit weinglasschwingenden Mönchen und Bremer Motiven ausgemalt. Bei diesen Parties, die es jetzt überall geben wird, halten sich die Eltern mit ihrer Anwesenheit zurück, oder sie räumen diskret das ganze Haus. Wir sitzen auch nicht mehr auf Sesseln und Sofas, sondern liegen auf dem Boden und knutschen. Auf diesen Parties braucht man jetzt keine Standardtänze mehr.

Natürlich kann man die später noch brauchen, auf Hochzeiten, wenn die ersten von uns heiraten. Bei der von Volker und Chris bin ich mit Gudrun, die ein aufregendes Kleid trägt. Ich habe meinen scharfen italienischen Smoking an, bei dem der Schalkragen nur eine schmale Seidenkante hat. Der begleitet mich durch die sechziger Jahre, bis ich aus ihm herauswachse. Oder es keine Gelegenheiten mehr gibt, ihn zu tragen. Die Sixties achten ja nicht so sehr auf bürgerliche Förmlichkeiten. Aber ich trauere dem immer noch nach, dem Smoking der italienischen Firma Sidi und den Förmlichkeiten. Die Firma Sidi gibt es auch nicht mehr. Von Zeit zu Zeit tauchen bei Ebay noch scharfe Sidi Anzüge unter der Kategorie Retro auf. Wenn man lange genug wartet, wird alles Retro.

Sonntag, 22. Juli 2018

schönes Huhn


Edward Hopper hat heute Geburtstag. Der amerikanische Maler war allerdings schon so häufig in diesem Blog, dass wir es uns heute ersparen können, über ihn zu schreiben. Diesen kleinen Cartoon möchte ich Ihnen allerdings nicht vorenthalten. Wenn Ihnen nach mehr vom Meister der amerikanischen Einsamkeit zu Mute ist, dann lesen Sie die Posts: Edward Hopper, Einsamkeit, ythlaf, Jo Hopper (und Eddie). Oder geben Sie Hoppers Namen in das Suchfeld ein, dann gibt es noch viel mehr.

Wir springen einmal nach Frankreich, zu einem anderen Geburtstagskind, von dem ich Ihnen ein erstaunliches Bild zeigen möchte. Das hier ist es noch nicht, das ist der Maler Jean-Baptiste Isabey. Er war ein Schüler von Jacques Louis David und war der Hofmaler von Napoleon. Nach Napoleons Sturz gelang es ihm geradezu übergangslos, für die Bourbonen zu arbeiten, da ist er ebenso flexibel wie Goya. Isabey wird beinahe alle gekrönten Häupter Europas malen. Hier haben wir ihn mit seiner kleinen Tochter, gemalt von François-Pascal Simon, den man auch Baron Gérard nennt. Der malt sich ebenso wie Isabey durch Europas haute volée, Madame Récamier hat er auch gemalt.

Isabeys Sohn Louis Gabriel Eugène, der am 22. Juli 1803 in Paris geboren wird, ist auch Maler geworden. Das mit dem Geburtsort Paris ist etwas ungenau: er wird im Louvre geboren. Da wohnt die Familie Isabey mittlerweile. Eugène wird Frankreichs bedeutendster Marinemaler des 19. Jahrhunderts werden. Wenn dieses Bild ein klein wenig nach John Constable aussieht, dann ist das kein Zufall. 1824 finden sich Isabeys Werke ebenso wie die von Constable und seinem Freund Bonington im Pariser Salon wieder.

Isabey malt sich durch Nordfrankreich (hier Le Tréport, das schon einen Post hat), ein früher Vertreter der Freiluftmalerei. Er wird berühmte Schüler haben, zu denen Boudin und Jongkind gehören, den deutschen Maler Eduard Hildebrandt nicht zu vegessen. Das alles lassen wir mal beiseite, weil ich Ihnen ja ein erstaunliches Bild zeigen möchte.

Nacht, dunke Nacht, ein schwarzes Schiff, in das etwas geladen wird - wir wissen nicht was es ist. Wenn wir erfahren, dass hier die Überführung der Asche Napoleons an Bord der Fregatte Belle Poule am 15. Oktober 1840 dargestellt ist, wird uns vieles klarer. Wikipedia hat zu diesem Thema einen exzellenten Artikel, leider nur in Französisch. Man holt Napoleon heim von St Helena. Die Fregatte, die seine sterblichen Überreste befördert, wird vom Sohn des Königs kommandiert. Man hat das Schiff für diese Reise schwarz gestrichen und eine chapelle ardente eingebaut. Die Franzosen sind groß in Zeremonien.

Einen kleinen Schönheitsfehler hat das Ganze allerdings, und das ist der Name des Schiffes. La belle Poule heißt das schöne Huhn. Einst wurde Napoleons Adler durch Europa getragen, jetzt sind wir bei Hühnern angekommen. Du sublime au ridicule il n’y a qu’un pas, soll Napoleon gesagt haben.

Freitag, 20. Juli 2018

20. Juli



Wir gedenken in Deutschland an diesem Tag des Widerstandes gegen Adolf Hitler. Und es gibt jedes Jahr einen Staatsakt in Berlin und eine Kranzniederlegung im Bendlerblock. Und jedes Jahr wird der Oberst Graf von Stauffenberg gefeiert, den ja jetzt jeder kennt, weil er von Tom Cruise gespielt wurde. Um den stillen James Graf von Moltke, dessen Patenkind mein Freund Jimmy war, wird nicht ein solcher Rummel gemacht. Aber das Wissen um die Vergangenheit geht von Jahr zu Jahr verloren, und eines Tages werden nachfolgende Generationen die deutsche Geschichte nur noch in der Version von Tom Cruise oder Guido Knopp kennen. Ich bin jedes Jahr an diesem Tag ein wenig unglücklich, mir gefallen die Feiern nicht, die häufig nur verlogene Schauspiele mit schlechten Laiendarstellern sind. Und ich frage mich, wie viele Schüler jemals in Plötzensee gewesen sind? Oder wie viele den Namen Georg Elser kennen? Denn der ist irgendwie eher mein Held als Stauffenberg mit dem ganzen Gewese des George Kreises und dem heiligen Deutschland. Vielleicht war auch das geheime Deutschland gemeint, über das Stauffenbergs Mentor Stefan George gedichtet hatte:

Wer denn o wer von euch brüdern
Zweifelt o schrickt nicht beim mahnwort
Dass was meist ihr emporhebt
Dass was meist heut euch wert dünkt
Faules laub ist im herbstwind
Endes- und todesbereich:
Nur was im schützenden schlaf
Wo noch kein taster es spürt
Lang in tiefinnerstem schacht
Weihlicher Erde noch ruht -
Wunder undeutbar für heut
Geschick wird des kommenden tages.

Niemand redet über all die kleinen Leute, die auf ihre Art und Weise Widerstand geleistet haben, und die Opfer des Terrors geworden sind. Mir ist Stauffenberg als Held ein wenig unheimlich. Das, was ich von meiner Mutter (die ihn gekannt hatte) über ihn erfahren habe, hat nicht gerade dazu beigetragen, dass ich ihn mag. In der TAZ vom 17.2. 2009 hat Michael Wildt geschrieben:

Aber warum Stauffenberg und nicht Elser? Auf die Kritik des britischen Historikers Richard Evans, dass sich Stauffenberg mit seiner elitär-reaktionären Weltanschauung wohl nicht zum Helden eigne, antwortete Karl Heinz Bohrer heftig, dass es darauf gar nicht ankomme, sondern Stauffenberg und seine Mitverschwörer "eine Höhe des sittlichen, charakterlichen und kulturellen Formats" repräsentierten, von dem Mitglieder der heutigen Elite nur träumen könnten.

Darum also geht es! Im gegenwärtigen Diskurs um Eliten und ihre Ethik eignet sich der gebildete Generalstabsoffizier Stauffenberg, der zunächst den Verheißungen des Regimes vertraut, engagiert mitgemacht hat und erst spät umgekehrt ist, dann aber desto entschiedener zur Tat schritt, offenbar weit besser zum öffentlichen Helden als der spröde, eigensinnige Elser, der unter Beweis stellt, dass man auch in Zeiten, in denen die Stauffenbergs wie Millionen andere Deutsche noch den "Führer" unterstützten, als Tischler mit Volksschulabschluss den destruktiven Charakter des NS-Regimes erkennen und den Entschluss zum Widerstand fassen konnte. "Unglücklich das Land, das Helden nötig hat" (Bertolt Brecht).

Wir können das in Deutschland offensichtlich nicht, dass wir einen größeren Zusammenhang des Widerstandes herstellen. Wir brauchen die aristokratischen Offiziere des Generalstabs auf der einen Seite (die wir dann auch feiern) und die sozialistischen oder kommunistischen Arbeiter auf der anderen Seite (die wir lieber nicht erwähnen). Vielleicht noch ein wenig Bekennende Kirche in der Mitte. Das Bürgerlied von 1848 mit den Zeilen ob wir just Collegia lesen oder aber binden Besen, das tut, das tut nichts dazu. Drum ihr Menschen, drum ihr Brüder, alle eines Bundes Glieder, was auch jeder von euch tu, das ist immer noch nicht bei uns angekommen.

Wenn Churchill 1946 gesagt hat: In Deutschland lebte eine Opposition, die zum Edelsten und Größten gehört, was in der politischen Geschichte aller Völker hervorgebracht wurde. Diese Menschen kämpften ohne Hilfe von innen und außen, einzig getrieben von der Unruhe des Gewissens. Solange sie lebten, waren sie für uns unsichtbar, weil sie sich tarnen mussten. Aber an den Toten ist der Widerstand sichtbar geworden. Diese Toten vermögen nicht alles zu rechtfertigen, was in Deutschland geschah. Aber ihre Taten und Opfer sind das unzerstörbare Fundament eines neuen Aufbaus, dann ist er in seiner Bewertung der Meinung der jungen Bundesrepublik weit voraus. Denn in den fünfziger Jahren war das Bild der Widerständler in der Bevölkerung nicht unbedingt positiv. Die Nazipropaganda von einem Verrat und einer zweiten Dolchstoßlegende wirkte noch nach. Über die Bewertung des Attentats aus der Sicht der DDR wollen wir lieber den Mantel des Schweigens decken. Aber auch bei uns hat es bis 1963 gedauert, dass die öffentlichen Gebäude beflaggt wurden.

Wir haben nach dem Krieg auch unsere juristischen Schwierigkeiten mit den Opfern. Die Mutter der jungen Widerstandskämpferin Cato Bontjes van Beek aus Fischerhude (mit der Helmut Schmidt einmal befreundet war), die in Plötzensee hingerichtet wurde, hat zwölf Jahre gegen das Land Niedersachsen prozessieren müssen, damit ihre Tochter juristisch rehabilitiert wurde. Erst 1999 (56 Jahre nach ihrem Tod) wurde das Todesurteil juristisch aufgehoben. Da hatte es die Witwe des berüchtigten Präsidenten des Volksgerichtshofes Roland Freisler einfacher. Sie bezog eine Kriegsopferrente und ab 1974 bis zu ihrem Tode 1997 noch einmal zusätzlich monatlich 400 Mark Schadensausgleich mit der Begründung, dass wenn ihr Mann überlebt hätte, er höherer Beamter oder gutverdienender Rechtsanwalt geworden wäre. Was kann man gegen eine solche Logik sagen?

Die antike Philosophie hat das Problem des Tyrannenmords diskutiert, und seit dem 17. Jahrhundert findet sich dieser Gedanke auch bei den Staatsrechtsphilosophen. Schon Thomas Hobbes räumt dem Volk ein gewisses Widerstandsrecht ein, wenn der Souverän sein Volk nicht mehr ausreichend schützt. Samuel Pufendorf empfiehlt dagegen in De iure naturae et gentium, auf den Tyrannenmord zu verzichten und stattdessen zu fliehen oder auszuwandern. Unser deutscher Denker mit dem kategorischen Imperativ hat das Widerstandsrecht dann im 18. Jahrhundert allerdings kategorisch abgelehnt. Aber seit dem Jahre 1968 steht es im Artikel 20 Absatz 4 in unserem Grundgesetz: Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist. Möge es nie dazu kommen.

Meine Heimatstadt Bremen, die gerne den Eindruck erweckt, dass man ja so hanseatisch gewesen sei und mit den Nazis nichts am Hut hatte, hat in den zwölf Jahren des Tausendjährigen Reiches Nazis und Kriegsverbrecher in ihren Reihen gehabt, aber auch gute und mutige Menschen und Widerständler aus allen politischen Gruppierungen. Aber die einen wie die anderen waren niemals in der Zeit nach dem Krieg Thema des Unterrichts an meiner Schule (an der Hermann Böse Schule vielleicht, da musste man ja zumindest wissen, weshalb die Schule so hieß). Dass wir in unserem Ort einen Kriegsverbrecher wie Walter Többens hatten, hat erst Jahrzehnte nach dem Krieg der Journalist Günther Schwarberg öffentlich gemacht (Schwarberg ist auch der Mann, der das Buch über den SS Arzt und die Kinder vom Bullenhuser Damm geschrieben hat).

Und die Bremer Geschichtsschreibung hat auch lange gebraucht, um sich zu äußern. Erst im Jahre 1980 hatte die Kultusministerkonferenz empfohlen, den Widerstand auch in seinen alltäglichen Formen der Verweigerung und Nichtanpassung zu erforschen und in den Unterricht einzubringen. Dem hat sich der Bremer Senat 1981 angeschlossen und ein Projekt Widerstand und Verfolgung unter dem Nationalsozialismus in Bremen 1933-1945 finanziell gefördert. Daraus ist ein bemerkenswertes Buch entstanden: Inge Marßolek und René Ott Bremen im Dritten Reich: Anpassung - Widerstand - Verfolgung (Schünemann 1986). Das Buch steht im völligen Gegensatz zu dem vierten Band der Geschichte der Freien Hansestadt Bremen des selbsternannten Bremer Historikerpapstes Herbert Schwarzwälder, der letztlich nur eine Geschichte der Gauleiter schreibt. Marßolek und Ott schreiben eine Geschichte von unten, in der Tradition der französischen Historikerschule von Lucien Febvre und der Annales.

Und sie tun das mit erstaunlichen Ergebnissen, weil sie sich weniger für die Gauleiter als für die kleinen Leute interessieren. Wenn die russischen Fremdarbeiterinnen bei Borgward am Internationalen Frauentag 1944 mit rotgefärbten Kopftüchern zur Arbeit kommen, dann ist das auch ein Zeichen des Widerstandes. Und wenn der Chef der AG Weser Franz Stapelfeldt (des Teufels Generaldirektor) auf der einen Seite mit den Nazis paktiert, weil das der Werft Aufträge bringt, und auf der anderen Seite kommunistische Werksangehörige persönlich aus dem KZ freikauft, dann ist das eine andere Form des Widerstands. Ich wünschte mir, dass bei Schünemann in Bremen jemand auf die Idee käme, das vergriffene Buch wieder auf den Markt zu bringen. Und es wäre als Pflichtlektüre für Geschichtslehrer vielleicht auch nicht schlecht. Nicht nur in Bremen.

Martin Walser hat in seiner Dankesrede bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1998 gesagt: Wenn mir aber jeden Tag in den Medien diese Vergangenheit vorgehalten wird, merke ich, daß sich in mir etwas gegen diese Dauerpräsentation unserer Schande wehrt. Anstatt dankbar zu sein für die unaufhörliche Präsentation unserer Schande, fange ich an wegzuschauen. Ja und nein, ich kann ihn in gewisser Weise verstehen, ich habe damals die ganze Rede gehört. Ich finde, angesichts dessen, was man mit den Mitteln des Fernsehens aufklärerisch machen könnte, das, was Guido Knopp macht, nur widerlich. Aber wir können nicht wegschauen, das tun schon genug andere.

Tho' much is taken, much abides; and tho'
We are not now that strength which in old days
Moved earth and heaven, that which we are, we are;
One equal temper of heroic hearts,
Made weak by time and fate, but strong in will
To strive, to seek, to find, and not to yield.

Das stand hier am 20. Juli 2010, ich war ein halbes Jahr lang Blogger. Google hatte gerade angefangen, mich zu zählen. Ich dachte, ich müsste das schreiben. Vor fünf Jahren erinnerte der Post Moabiter Sonette an den 20. Juli. Derjenige aus meiner Familie, der bei den Verschwörern des Kreisauer Kreises war, ist ungeschoren davongekommen. Er war damals nur ein kleiner Oberleutnant. Er hat nie über das geredet, was er getan hatte, was er erreichen wollte. Als ich achtzehn wurde, bekam ich von ihm einen Bananenkarton voller Bücher. Alles, was der deutsche Buchmarkt zum Thema Widerstand damals hergab. Die Titel der Bücher sind inzwischen zahlreicher geworden. Und das Vergessen größer.

Donnerstag, 19. Juli 2018

1819


Gottfried Keller hat heute Geburtstag, er wird in diesem Blog immer wieder erwähnt. Ich bin aber noch nicht dazu gekommen, über Der grüne Heinrich zu schreiben, vielleicht kommt das ja nochmal. Wichtiger scheint es mir, einmal das Interesse auf das Jahr 1819 zu lenken, das Geburtsjahr von Königin Victoria und einer Vielzahl von Autoren, die die wichtigsten Werke des Jahrhunderts schreiben werden: Gottfried Keller, Klaus Groth und Theodor Fontane; Arthur Hugh Clough, John Ruskin und George Eliot. Und Herman Melville und Walt Whitman. Ob man daraus eine Theorie machen kann?

Mittwoch, 18. Juli 2018

Emanuel Gottlieb Leutze


Mein Weg führt mich in diesem Winter nach Amerika zurück. In Deutschland blühen meine Rosen doch mal nicht, schreibt Emanuel Leutze in einem Brief an seinen Freund, den Kommerzienrat Julius Erhard. In seinem Geburtsort Schwäbisch-Gmünd wird man 2016 zu Leutzes zweihundertstem Geburtstag eine kleine Leutze Ausstellung veranstalten. Das One-Hit-Wonder in der Malerei hat die FAZ ihren Bericht über die Ausstellung betitelt. Der eine Hit des Malers, der heute vor 150 Jahren starb, ist natürlich das Bild Washington Crossing the Delaware. Das hier schon mit Trenton, Weihnachten 1777 und Washington crossing the Delaware zwei Posts hat. Leutze hatte vor fünf Jahren auch schon einen, den stelle ich heute hier noch einmal hin.

Leutzes Bilder sind weniger für ihre künstlerische Qualität als für ihr patriotisches Pathos bekannt. Die beiden genannten Werke zählen fest zur nationalen Ikonographie der USA und wurden entsprechend oft karikiert. So steht es im Wikipedia Artikel für Emanuel Leutze. Es gibt bessere Maler in Deutschland und in Amerika in dieser Zeit. Aber wie viele Maler haben Bilder gemalt, an die sich eine ganze Nation noch ein Jahrhundert später erinnert? Dies Bild hier ist nicht ganz fertig geworden, Washington scheint hier in einer Eiswüste zu stehen. Aber wir erkennen trotz des unvollendeten Zustands, dass das Bild (heute im Privatbesitz) einmal eine Kopie von Washington Crossing the Delaware werden sollte.

Das Bild Washington Crossing the Delaware hat natürlich längst einen Wikipedia Artikel. Leider enthält der englische Wikipedia Artikel inzwischen auch diese zwei komischen Geschichten, die mir immer in den Sinn kommen, wenn ich das Bild sehe. Deshalb sind sie leider nicht mehr neu, aber ich bringe sie trotzdem noch einmal. Fangen wir mit Washingtons Taschenuhr an (hier gibt es mehr zu Uhren in Amerika). Damals trugen die Herren ihre Taschenuhren noch nicht versteckt in der Westentasche, sondern ließen sie an einem gewirkten Band oder einer chatelaine an der Hose baumeln. So ähnlich trugen Verbindungsstudenten später ihren Bierzipfel. Leutze hat Washingtons Taschenuhr völlig historisch korrekt auf den pantalons plaziert. Hat auch hunderte von Jahren niemanden gekümmert.

Bis eines Tages, und da zitiere ich mal die Wikipedia zur Beantwortung der Frage How daft can you get?: as recently as 2002, American grade school administrators stepped in to alter textbook reproductions of the painting because Washington's watch fob was painted too close to his crotch for their comfort, possibly resembling male genitalia. Ja, wenn amerikanische Eltern und Schulbehörden empört sind, das ist immer schön. Man dachte, die Blamage der geistigen Hinterwäldler hätte mit dem Affenprozess aufgehört, aber man lernt nie aus.

Die zweite Geschichte, an die ich immer denken muss, hat etwas mit dem etwas makabren Witz zu tun, dass nachdem das Bild von Leutze in der Kunsthalle in Bremen verbrannte (hier ein Schwarzweißphoto der Originalversion), jemand das Bonmot aufbrachte, dass dies die Rache der Engländer für die amerikanische Revolution sei. Dazu zitiere ich einmal David Hackett FischerJust after it was completed, a fire broke out in the artist’s studio, and the canvas was damaged in a curious way. The effect of smoke and flame was to mask the central figures of Washington and Monroe in a white haze, while the other men in the boat remained sharp and clear. The ruined painting became the property of an insurance company, which put it on public display. Even in its damaged state it won a gold medal in Berlin and was much celebrated in Europe. It became part of the permanent collection of the Bremen Art Museum. There it stayed until September 5, 1942, when it was destroyed in a bombing raid by the British Royal Air Force, in what some have seen as a final act of retribution for the American Revolution

Leutze hat sein patriotisches Bild, das wohl als Kommentar auf die deutsche 1848er Revolution gelesen werden kann, in Deutschland gemalt. Viele tausende von deutschen Betrachtern haben die Botschaft des Bildes, dass man auch in verzweifelter Lage einen Sieg erringen kann, wenige Jahre nach 1848 durchaus verstanden. Dass man bei Leutze in seinen Bildern immer wieder Symbole der Freiheit findet, hat Barbara Groseclose (die 1973 eine Dissertation über Leutze schrieb und 1975 die erste große Leutze Ausstellung organisierte) herausgestellt.

Es ist sicher kein Zufall, dass die amerikanische Flagge (die natürlich damals ganz anders aussah als Leutzes Flagge) im Bildmittelpunkt ist, auf vielen patriotischen Bildern der 1848er Revolution ist sie als einigendes Element auch im Zentrum des Bildes. Im Revolutionsjahr 1848, als Leutze zum Vorsitzenden der Düsseldorfer Malervereinigung Malkasten gewählt wurde, sagte er: Ganz Deutschland ist vereinigt und frei... wir möchten alle zusammengehören und auf die Fahne von Mutter Deutschland schwören. Wenn auch die Flagge Washingtons nicht so ganz stimmt, manches ist korrekt an diesem Bild. Leutzes Freund Worthington Whittredge steht ihm in einer Kopie von George Washingtons Uniform Modell. Und alle auf dem Bild Dargestellten sind übrigens Amerikaner gewesen, die Leutze in Düsseldorf Modell saßen.

Der Sohn eines nach Amerika emigrierten politisch Verfolgten war aus Philadelphia nach Deutschland zurück gekommen, um an der berühmten Düsseldorfer Akademie zu studieren, wo er sich 1841 als Historienmaler einschrieb. Nicht als Student. Er hat schon erste Erfolge in Amerika gehabt, er will nicht als Anfänger behandelt werden. Offiziell studiert er zwar bei Carl Friedrich Lessing, aber das Leben an der Akademie gefällt ihm ganz und gar nicht, und so findet sich 1841 unter seinem Namen folgender Eintrag in der Schülerliste: Quartal 1841, 26 Jahre, Historienmaler, Anlage: sehr gut, Fleiß: kommt sehr unregelmäßig, Betragen: sehr gut. Hat den Columbus, gefangen nach Spanien zurückkehrend gemalt. Ist abgegangen. München und Italien waren verlockender. Hier tritt Columbus gerade vor die Königin, die Ketten hat man ihm abgenommen, sie liegen vor ihm auf dem Boden. Historienbilder sind wie riesige Puzzles, man kann stundenlang in ihnen Neues entdecken.

Er wird noch mehrere Bilder mit dem italienischen Entdecker der neuen Welt malen. Aber auch ein Bild mit anderen Entdeckern: hier landen gerade die Wikinger in Amerika. Das Bild hat er 1845 gemalt, da ist er wieder in Düsseldorf. Wenn ihm die Akademie auch nicht zusagt, das Künstlerleben gefällt ihm da sehr gut. Er hat hier auch 1845 geheiratet. Und hier wird er für die nächsten vierzehn Jahre bleiben.

Ich weiß nicht, wie es in der Wirklichkeit um seine nautischen Kenntnisse bestellt ist, aber er hat so eine unheilvolle Tendenz (schon bei dem Washington Bild), möglichst viele Personen in einem Boot unterzubringen. Bei diesem Bild des Neusser Männergesangvereins macht man sich (wie bei dem Bild von Tizian auf der Lagune) schon Sorgen, dass irgendwann einer der fröhlich Feiernden in den Rhein fällt. Und wie die bacchantischen Wikinger da oben mit einer Nussschale von Boot über den Atlantik gekommen sein wollen, das weiß niemand. Eine der Maximen von Leutzes Historienbildern (wahrscheinlich der Historienmalerei überhaupt) scheint diese willing suspension of disbelief zu sein, von der Coleridge gesprochen hat.

Es ist jetzt die Zeit der überfüllten Boote in der Malerei, ob das Delacroix' Dante Barke, Gericaults Floß der Medusa oder Richters Überfahrt am Schreckenstein sind. Und man muss natürlich sagen, dass Leutze keinesfalls der erste ist, der das Ereignis der Überquerung des Delaware im Bild festhält. Ich finde das Bild von Edward Hicks (das ja nichts als eine Kopie von Thomas Sully ist) in seiner Schlichtheit rührend.

So sensationell der Erfolg des Bildes Washington Crossing the Delaware war, soll das nicht darüber hinwegtäuschen, dass es Leutze als Historienmaler schwer hat. Anschlussaufträge, auf die er hofft, trudeln nicht ein. Zwar beauftragt ihn der amerikanische Bankier und Sammler David Leavitt 1853 mit dem Bild Washington Rallying the Troops at Monmouth (7,30m x 4,60m groß), aber Leutze hatte sich mehr vom amerikanischen Markt versprochen. Der Regierungsauftrag für Westward the course of empire takes its way kommt erst viel später.

Auch dieses Bild war weit davon entfernt, eine große Öffentlichkeit zu erreichen, erst 1993 hat es die Doe Library in Berkeley wieder aufgehängt. Den größten Teil des Jahrhunderts davor hatte es im Keller verbracht, man hatte an der Universität von Berkeley völlig vergessen, dass man das Bild, das eine Art Komplementärbild zu Washington Crossing the Delaware sein sollte, überhaupt besaß. Man hielt die verkleinerte Kopie in Monmouth, die Leutze 1857 gemalt hatte, für das Original.

So ganz glücklich scheint man da heute immer noch nicht über das Bild zu sein. So heißt es auf einer offiziellen Universitätsseite über das Bild. The history that was lived around the East Reading Room highlights what Leutze’s 'Washington Rallying the Troops at Monmouth' left out of the real history of the Revolution. A century and a half ago, the painter was obsessed with control and command: General Washington taking over from an incompetent General Lee and keeping his men in the fight. Then, and now, this is not a tale of the Revolution that Americans grow up with. What we do know about the Battle of Monmouth is that Molly Pitcher took charge of a cannon and brought water to the soldiers. Leutze left her out in his sweep of the battlefield; the Library forces call her to mind.  Nun ist die Molly Pitcher Geschichte eine Sache, die sicherlich randständig ist (und deren Wahrheitsgehalt von Historikern bezweifelt wird), aber wenn das in Berkeley für die wahre Geschichte der Schlacht von Monmouth genommen wird, was soll man dazu sagen?

So bekannt Leutzes Historienbilder geworden sind: wir müssen wohl Abschied von der landläufigen Vorstellung nehmen, dass der Mann, der sich 1841 in Düsseldorf als Historienmaler einschrieb, nur Historienbilder gemalt hat. Denn von den sechsundvierzig Bildern, die er zwischen 1848 und 1863 in Düsseldorf und in Amerika malte, sind die meisten Bilder Portraits. Das ist nun ein ganz anderer Leutze, den wir hier auf dem Bild einer Dame mit zwei Söhnen (1844) sehen. Nicht groß und spektakulär, keine nationalen Emotionen heraufbeschwörend, sondern eher brave deutsche biedermeierliche Bürgerlichkeit. Aber diese Bilder Leutzes sind weniger bekannt, weil sie meistens in Privatsammlungen verblieben sind und im Inventar der Bilder im Internet nicht auftauchen.

Dies ist der amerikanische Dichter Nathaniel Hawthorne, der sich 1862 in Washington von Leutze hatte malen lassen, als der gerade damit beschäftigt war, im Capitol das große (6.1 m × 9.1 m) Westward the Course of Empire Takes Its Way zu malen. Hawthorne hat das Wandgemälde als emphatically original and American beschrieben. Mit seinem Portrait war er durchaus zufrieden. Er schrieb seinem Verleger aus Washington I stay here only while Leutze finishes a portrait which I think will be the best ever painted of the same unworthy subject. Und in einem Brief an seine Frau Sophia schreibt er selbstironisch: the world is not likely to suffer for lack of my likeness.

Viele Bilder Leutzes beruhen eher auf einer Anekdote als auf der historischen Realität. Mrs Schuyler, die ihren Weizen verbrennt, wäre solch ein Fall. John Milton, der dem Diktator Cromwell auf der Orgel vorspielt, ein anderer. Zwar hat Milton (der Sohn eines berühmten Amateurmusikers) Orgel gespielt, aber dass er sie für Cromwell gespielt hat, ist nur ein Märchen. Auf dem Bild Evening Party at Milton's (das durch den Kupferstich von Fritz Dinger in Deutschland eine große Verbreitung erhielt) sitzen Oliver Cromwell und Familie mit der Crème de la Crème seiner Militärdiktatur - Algernon SydneyJohn Thurloe (dem Chef des Geheimdienstes) und dem General Henry Ireton - friedlich im Wohnzimmer von John Milton. Cromwell stocksteif und ungerührt (obwohl er angeblich die Musik liebte). Das Bild entbehrt nicht einer gewissen Pikanterie, Cromwell hatte längst die Orgeln in den Kirchen verboten, für die Hausmusik scheinen sie erlaubt zu sein. Der Dichter Milton bleibt auf seinem kleinen Schemel (der ein wenig an Glenn Goulds Klavierstuhl erinnert) im Dunkel. Wie die Kunst in der Zeit der Militärherrschaft.

Emanuel Leutze, Deutsch-Amerikaner, ist heute vor 150 Jahren gestorben. Er war ein Wanderer zwischen beiden Welten. In Düsseldorf, wo er Washington Crossing the Delaware und Washington Rallying the Troops at Monmouth malt, hofft er auf die amerikanischen Kunden. Wenn er wieder in Amerika ist, träumt er davon, dass die Düsseldorfer Akademie ihn als Professor berufen würde. Ebenso dunkel wie John Milton bleibt Leutzes Freund Worthington Whittredge auf diesem Bild. Eigentlich ein schönes Bild, wenn es nicht in diese braune Soße des 19. Jahrhunderts getaucht wäre. So frei wie Frank Duveneck eine Generation später wagt Leutze noch nicht, mit der Farbe umzugehen. Ich mag Leutze nicht besonders, aber ich habe ja schon mehrfach gestanden, dass ich mit dem ganzen Kitsch der Historienbilder aufgewachsen bin. Ich konnte kaum lesen, aber die Bilder mit den vielen heroischen Menschen, die wie eingefrorene tableaux vivants darstanden, haben mich immer fasziniert.