Freitag, 30. August 2024

Die Prinzessin von Sansibar

Heute vor hundertachtzig Jahren wurde Salama bint Said, die man auch Sayyida Salme nannte, geboren. Sie war eine Prinzessin von Oman und Sansibar. Sie war schon 2010 in diesem Blog, aber weil Sie mich damals vielleicht noch nicht kannten, stelle ich den Post an ihrem Geburtstag heute noch einmal ein. Mit vielen Veränderungen, denn ich habe jetzt auch einen einstündigen Dokumentarfilm mit dem Titel Die Prinzessin von Sansibar für Sie. Ich kenne die Geschichte der Prinzessin schon lange, weil sie im Leben von Gerhard Rohlfs, dem Namensgeber meines Gymnasiums, eine Rolle spielte. Es war eine Erzählung, die man nicht vergisst, die Geschichte von der schönen Prinzessin aus Sansibar, die den Hamburger Kaufmann Johann Heinrich Ruete liebt und mit ihm nach Deutschland flieht. Weil sie von einem Christen schwanger ist, dafür wird man in ihrer Welt noch gesteinigt. Könnte in dieser Welt heute wieder geschehen. M.M. Kaye, die mit The Far Pavillions (Palast der Winde) berühmt wurde, hatte die Geschichte der Sultanstochter schon in den Roman Trade Wind (Insel im Sturm) eingearbeitet, sie schreit ja auch geradezu danach, als Kitschroman recycelt zu werden.

Sayyida Salme war dieTochter des Sultans von Oman und Sansibar. Sie ist einem Sultanspalast aufgewachsen und hatte eine unbeschwerte Kindheit. Wie immer Sultanspaläste damals aussehen. Als ihr Vater stirbt, erbt sie viel; unter anderem einige Gewürznelkenplantagen, damit macht man auf Sansibar damals viel Geld. Zu ihrem Halbbruder, dem neuen Sultan, hat sie ein sehr gutes Verhältnis. Über die kleine Palastrevolution, in die sie verstrickt ist, wollen wir jetzt mal nicht reden. Der Hamburger Kaufmann Rudolph Heinrich Ruete vertritt (bevor er sich mit Ruete & Co. selbständig macht) die Firma Hansing & Co.. Die sind neben der Firma O'Swald die einzigen Deutschen auf Sansibar. Sie haben eine Faktorei, sind Reeder und betreiben Bankgeschäfte. Die O'Swalds hießen ursprünglich Oswalds, aber das ist dem Begründer der Dynastie nicht englisch genug, er nennt sich statt Wilhelm Oswald William O'Swald. Ich habe einmal vor Jahrzehnten in einem Hamburger Antiquariat ein Buch mit der Signatur eines O'Swald gekauft, weil mir diese Hamburgische Anglomanie so wunderbar bescheuert vorkam. Ein Nachfolger von Ruete im Dienst von Hansing & Co namens Justus Strandes wird zu den Gründern von Deutsch-Ostafrika gehören.

Als Salme 1866 mit Heinrich Ruete flieht, ist Europa vom Orient begeistert. Ein Orientalismus, spätestens seit Napoleons Ägypten Abenteuer und den Bildern von Delacroix und Horace Vernet, macht sich überall breit. Verdi schreibt seine Aida, Flaubert Salambo (ein Lokal auf St. Pauli hieß später auch so). Ingres malt Harems und selbst in Deutschland gibt es Orientmaler wie Gustav Bauernfeind, von Malern wie Makart ganz zu schweigen. Das wäre jetzt die richtige schwül schwülstige Atmosphäre für die geflohene Prinzessin, so einen richtig schönen Kitschroman aus tausendundeiner Nacht zu schreiben. So irgendwas in der Art von Der Tiger von Eschnapur. Der Bestsellerstatus wäre vorprogrammiert. Emily Ruete wird später noch schreiben, aber →Die Memoiren einer arabischen Prinzessin sind nicht das, was man erwarten könnte.

Die eigenwillige Sultanstochter (auf allen Photos eine schöne und elegante Frau), die aus Liebe zu dem jungen Hamburger Kaufmann zum Christentum übertritt, wird sie glücklich werden in dem kalten Hamburg? Es wäre schön, wenn es so wäre. Aber es kommt alles anders. Zuerst überlebt ihr erstes Kind die strapaziöse Reise nicht. Und dann stirbt ihr Mann, dem sie drei Kinder geboren hatte, im Jahre 1870. Er war von einer Pferdebahn in Uhlenhorst abgesprungen, gestolpert und unter die Bahn geraten. Starb eine Woche später, eins der ersten Opfer des öffentlichen Personennahverkehrs in Hamburg. 

Die Ruetes wohnten damals in Uhlenhorst (Schöne Aussicht 29), das ist immer noch eine feine Adresse in Hamburg. Den Emily Ruete Platz in Uhlenhorst hat man inzwischen wieder umbenannt, da die Prinzessin, deren Mutter Jilfidan eine tscherkessische Sklavin war, angeblich für Sklaverei und Prügelstrafe gestanden habe. Wir sind heute ja so moralisch mit dieser political correctness. Kurz nach ihrem Mann stirbt auch ihr Bruder, zu dem sie trotz der Flucht noch die besten Beziehungen hatte. Und da sitzt nun unsere arabische Prinzessin mit drei kleinen Kindern in Hamburg. In dieser Gesellschaft von bornierten Pfeffersäcken, die sie nicht akzeptiert. Vor allem nicht, wenn sie beginnt, geborene Prinzessin von Sansibar und Oman hinter ihren Namen zu setzen. Das mögen die stieseligen Hamburger ja gar nicht. Wenn man die Jugenderinnerungen von Ascan Klée Gobert (der Vater des Schauspielers Boy Gobert) liest, kann man einen schönen Eindruck von dieser Gesellschaft bekommen. Emily hat auch Verständigungsschwierigkeiten, das Hamburgische Missingsch versteht sie nicht, mit ihrem Mann konnte sie sich auf Kisuaheli unterhalten. Sie wird aber die deutsche Sprache eines Tages noch perfekt beherrschen.

Eigentlich möchte sie zurück nach Sansibar. Sie schreibt Briefe über Briefe (die eines Tages als Briefe nach der Heimat erscheinen werden) an die Verwandten, legt auch Photos der Kinder bei. Sie möchte auch an ihr Erbe kommen, das sie nach islamischem Recht eigentlich mit dem Übertritt zum Christentum verloren hat. Aber aus Verpflichtung zu ihrem Mann möchte sie auch, dass ihre Kinder eine gute deutsche Erziehung bekommen. Sie wird Hamburg 1872 verlassen, nach Dresden gehen. Dann nach Rudolstadt, Berlin, Köln und wieder Berlin. Der deutsche Adel füttert die arabische Prinzessin durch. 1875 beginnt sie zu schreiben, 1886 erscheinen Die Memoiren einer arabischen Prinzessin, die ein beachtlicher Publikumserfolg werden. Vier Auflagen in selben Jahr. Da erfahren ihre Kinder auch zum ersten Mal, dass ihre Mutter eine Prinzessin ist.

Zu dem Zeitpunkt ist sie schon eine Schachfigur in Bismarcks Afrikapolitik geworden. Als Bismarck den Afrikaforscher Gerhard Rohlfs (Bild) zum Generalkonsul von Sansibar ernennt (nachdem er zuvor mit ihm in Friedrichsruh Heringshäppchen gegessen hat), schlägt er ihm vor, dass er Frau Ruete auf einem deutschen Kriegsschiff nach Sansibar mitnimmt. Damit sie ihre Ansprüche in Sansibar geltend macht. Doch so wenig Fertigkeiten Rohlfs in der Kunst der Diplomatie hat, das scheint ihm doch ein wenig zuviel des Guten. Er wird Frau Ruete nicht auf dem Kriegsschiff mitnehmen und wird selbst einen großen Teil der Reise auf einem englischen Postdampfer machen (auf Madeira hatte er den deutschen Kreuzer verlassen).

Dadurch brüskiert er natürlich Berlin und die kaiserliche Marine. Er nimmt sich der Sache von Emily Ruete an, tritt dabei aber in alle Fettnäpfchen, die so herumstehen. Den deutschen Kreuzer Gneisenau vor der Küste Sansibars Artillerieübungen veranstalten zu lassen, ist vielleicht nicht der richtige Weg für diplomatische Verhandlungen. Obgleich das eigentlich im Sinne Bismarcks sein müsste, der in einer Notiz geschrieben hatte: Frau Ruete ist für uns lediglich ein Anlaß zu Forderungen dem Sultan gegenüber. Für ihr Schicksal und ihre beaux yeux können wir die Reichsinteressen nicht einsetzen. Nötigt uns der Sultan durch sein sonstiges Verhalten zu militärischer Gewalt, so ist die deutsche Bürgerin Ruete mit ihren Rechten ein nützliches Argument, um Gewalt zu rechtfertigen. In Berlin bereitet man schon eine militärische Invasion Sansibars vor und schickt den Admiral von Knorr mit Kriegsschiffen vorbei. Als die deutsche Bürgerin Ruete mit einem Lloyd Dampfer in Sansibar ankommt, liegen da schon Ihrer Majestät Schiffe Stosch (Bild), Gneisenau, Elisabeth und Prinz Adalbert im Hafen.

Ich lasse jetzt mal alle diplomatischen Winkelzüge beiseite, letztlich wird aus dem Sansibarabenteuer nichts. Bismarck kneift vor den Engländern. Emily Ruetes Sansibarbesuch verläuft ergebnislos, ihr Bruder weigert sich, sie zu empfangen. Und Gerhard Rohlfs ist schon nach einem halben Jahr abberufen worden, da ist er ganz froh drüber, das ist nicht seine Welt. Die deutschen Faktoreien wie Hansing hatten sich beklagt, dass er ihre kolonialistischen Interessen nicht genügend vertrat. Stattdessen wollte der Idealist Rohlfs dem Sultan den Sklavenhandel verbieten. Da wird er sofort von Bismarck abgewatscht, Philantropismus liege außerhalb Ihrer Aufgaben und desgleichen die Beteiligung an der Anti-Sklaverei Politik der Engländer. Gerhard Rohlfs geht auch nicht auf die nötige feindliche Distanz zu dem englischen Generalkonsul, da er Sir John Kirk (der einst Livingstone begleitet hatte) von früher kennt und als Forscherkollegen schätzt. Überall auf der Welt stehen sich Deutsche und Engländer feindlich gegenüber, hier in Sansibar dinieren der deutsche und englische Generalkonsul wie Freunde miteinander.

Genau wie Kirk (hier im Bild) steht Rohlfs den Plänen von Dr Carl Peters (der den Beinamen Hänge-Peters bekommen wird) in Ostafrika negativ entgegen. Und ist auch naiv genug, das nach Berlin zu schreiben. So kann er sich nicht wundern, wenn er von seinen Berliner Feinden im schönsten Amtsdeutsch beschrieben wird als: Nicht von Haus aus Beamter und von daher mit jenem allen amtlichen Organisationsstrukturen gemäßen Schematismus nicht vertraut, der auch seiner Aufgabe zugrunde lag, nicht dazu zu bewegen, sich den Gepflogenheiten seines Amtes - und ebenso des Auswärtigen-Amtes - anzupassen, etwa die regelmäßige Berichterstattung strikt einzuhalten, kein geschulter Diplomat und damit innerhalb des exklusiven Diplomatischen Dienstes ein Fremdkörper. Klingt irgendwie sehr deutsch, dieses Todesurteil für idealistische Quereinsteiger, den Text könnte man bestimmt heute noch verwenden. Auch den Mediziner und weltberühmten Botaniker Sir John Kirk werden die Engländer im gleichen Jahr abberufen. Die Berliner Kongokonferenz hatte den Wettlauf um Afrika nur beschleunigt, jetzt werden in der Politik andere  Menschen als Botaniker oder Afrikaforscher gesucht. Zwar steht das Verbot des Sklavenhandels in dem schönen Papier, auf das man sich einigt, aber niemand wird sich dafür interessieren, was König Leopold im Kongo macht. Außer Mark Twain, der King Leopold's Soliloquy: A Defense of His Congo Rule schreibt.

Und obgleich sich Frau Ruete auch über ihn beklagt hat (sie beherrscht für die Durchsetzung ihrer Interessen ja alle Formen der Intrige, die Rohlfs fremd sind), wird Gerhard Rohlfs sich weiter für die Familie Ruete einsetzen. Besonders für ihren Sohn Rudolph (der noch ein deutscher Diplomat in Beirut wird), der für ihn eine Art Ersatzsohn ist. Er wird 1890, als Caprivis Sansibar Vertrag zwischen England und Deutschland perfekt ist, in der Kölnischen Zeitung einen langen Artikel schreiben, in dem er für ihre Ansprüche wirbt. Man sollte es kaum für möglich halten, daß einer deutschen Frau ein solches Unrecht geschehen konnte, schreibt er.

Und endet seinen Artikel mit den Worten: Aber noch ist es nicht zu spät, Deutschland hat die Verpflichtung, bei der Regelung der sansibarischen Geschäfte für die deutsche Frau Ruete einzutreten. Aus der Liebesgeschichte zweier junger Leute (Salme war zweiundzwanzig, Johann Heinrich Ruete siebenundzwanzig Jahre alt, als sie sich treffen) ist Weltpolitik geworden. Oh, East is East, and West is West, and never the twain shall meet, Till Earth and Sky stand presently at God's great Judgment Seat, hatte Kipling gedichtet. Emily Ruete, die 1924 in Jena starb, liegt heute neben ihrem Mann auf dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg begraben.

Emily Ruetes Autobiographie ist vor Jahren von der deutschen Ethnologieprofessorin Annegret Nippa unter dem Titel Leben im Sultanspalast: Emily Ruete geb. Prinzesssin Salme von Oman und Sansibar: Memoiren aus dem 19. Jahrhundert herausgegeben worden, sie war vom Markt verschwunden, ist aber wieder erhältlich. Die englische Ausgabe Memoirs of an Arabian Princess from Zanzibar ist dagegen leicht erhältlich (eine Ausgabe von 1907 kann man hier lesen). Die ultimative, kommentierte Ausgabe ihrer Schriften (in englischer Sprache) ist An Arabian Princess Between Two Worlds: Memoirs, Letters Home, Sequels to the Memoirs, Syrian Customs and Usages  herausgegeben von dem holländischen Orientalisten Emeri Johannes van Donzel. Ist allerdings mit 390 € etwas teuer. Man kann jedoch den größten Teil der hervorragenden Einleitung (die auch die beste Skizze ihres Lebens enthält) bei Google Books lesen.

Die Briefe von Gerhard Rohlfs an die Familie Ruete liegen im Gerhard Rohlfs Archiv des Vegesacker Heimatmuseums im Schönebecker Schloss. Allerdings hat sich da seit den Tagen, da der Studienrat Dr Alwin Belger in den 1930er Jahren begonnen hatte, den gesamten Rohlfs Nachlass zu katalogisieren, editionsmäßig nicht so viel getan. Alwin Belger war der Lieblingslehrer meiner Mutter am Lyceum gewesen. Er hatte im Ersten Weltkrieg als Kriegsfreiwilliger ein Bein verloren, und er ist in den letzten Kriegstagen 1945 zufällig durch eine englische Granate neben dem Hotel Bellevue getötet worden. Nur wenige Meter entfernt von unserem Heimatmuseum in der Weserstraße, in dem er die letzten Jahrzehnte mit der Aufarbeitung des Gerhard Rohlfs Nachlasses verbracht hatte. Da hat Dr Belger gearbeitet, pflegte mein Opa zu sagen, wenn wir sonntags das Heimatmuseum betraten. Und dieser kleine Raum, vollgestopft mit all den Gerhard Rohlfs Reliquien, ist in meiner Erinnerung immer mit Dr Belger verbunden gewesen, dessen Arbeiten über den berühmten Sohn unserer Stadt nie zu einem Abschluss gekommen sind. Ich finde es schön, dass die Erinnerung an Emily Ruete durch einen Gelehrten wie Emeri Johannes van Donzel wachgehalten wird. Warum schreibt nicht endlich einmal jemand ein wirklich gutes Buch über Gerhard Rohlfs? Seit ich an einer Schule, die seinen Namen trägt (und die Wikipädie mich unter bekannte Schüler dieser Lehranstalt auflistet), Abitur gemacht habe, verfolgt mich der Mann. Ich habe alles gelesen, was über ihn erschienen ist, aber bis auf einen schmalen, sehr guten Band eines DDR Autors namens Wolfgang Genschorek aus dem Jahre 1982 kann man das alles vergessen.

Donnerstag, 29. August 2024

Weltzeituhren


Das Teil steht jetzt bei mir auf der Kommode. Der Barnie schleppte es letztens an, aber ich weiß noch nicht, ob ich die Uhr behalte. Es ist eine Kienzle Weltzeituhr, die die Firma von 1956 bis zu ihrer Pleite im Jahre 1996, als sie nach China wanderte, im Programm hatte. Das Modell in dieser Abbildung hatte noch ein mechanisches Uhrwerk; die jetzt bei mir steht, hat ein Quarzwerk der Firma Kienzle. Man kennt den Designer der Uhr, es ist Heinrich Johannes Möller, der von 1932 bis 1970 der Chefdesigner von Kienzle war. Was er an Großuhren entwarf, prägte von den dreißiger bis zu den fünfziger Jahren die deutschen Wohnzimmer. Aber mit dieser Uhr wird es ein klein bisschen peinlich. Denn die erste dieser Weltzeituhren, sozusagen die Ur-Uhr, war 1939 ein Einzelstück, das offizielle Staatsgeschenk von Württemberg-Hohenzollern für Adolf Hitler zu seinem fünfzigsten Geburtstag. In dem Jahr beschäftigte Kienzle über 3.500 Mitarbeiter und produzierte fünf Millionen Uhren im Jahr. Der Konkurrent von Kienzle im Billiguhrenbereich, die Gebrüder Thiel in Ruhla, produzierten damals zwei Millionen Uhren im Jahr. Junghans, die immer eine höhere Qualität hatten, hatte schon 1903 mit dreitausend Beschäftigten drei Millionen Uhren produziert. Ihre ersten Armbanduhrwerke hatten sie sich in den zwanziger Jahren allerdings von Thiel zukaufen müssen. Als sie dann selbst eigene Werke herstellten, waren sie meilenweit von den Billigheimern Thiel und Kienzle entfernt.

Die Uhr für Adolf Hitler war natürlich aus Gold und hatte kleine Hakenkreuze an der Schmalseite eingraviert. In der Zeitschrift Innendekoration: mein Heim, mein Stolz: die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort wurde die Uhr beschrieben als: Das Gebilde wird als Ganzes zu einem Symbol desjenigen Geistes, der durch diesen Mann im deutschen Leben herrschend geworden ist: eines Geistes der klardurchdachten, straff rationalen Ordnung und zugleich des praktischen, tathaften Wollens. Schöner kann man es nicht sagen, es ist aber völliger Quatsch. 

Hitler hatte schon fünf Jahre zuvor eine Weltzeituhr geschenkt bekommen, die kam von den Uhrmacherlehrlingen der Stadt Köln und ihrem Lehrer  Otto Müller. Es war ein kleiner Art Déco Silberklotz mit fünf Zeitzonen, auf den die obige Lobhudelei kaum zutraf. Allerdings muss man anmerken, dass Professor Karl Berthold, der Schöpfer dieses silbernen Unikats, ein hundertprozentiger Nazi war. Im Jahr zuvor hatte er als kommissarischer Direktor der Städelschule undeutsche und entartete Professoren wie Willi Baumeister und Max Beckmann entlassen. In Limburg gab es 2017 eine Ausstellung für Berthold, die den Namen Karl Borromäus Berthold: Goldschmied für Gott – und den Teufel hatte. Als der Uhrmacher Otto Müller mit seinen Lehrlingen Hitler diese silberne Uhr überreichte, hatte Kienzle gerade die Wanduhr aus dem Programm genommen, die zu jeder halben Stunde den Anfang des Horst Wessel Liedes spielte. So etwas mochten die neuen Herren Deutschlands dann doch nicht hören, dafür hatten sie schon ein Gesetz zum Schutz der nationalen Symbole

Die Kienzle Uhr befindet sich heute im Deutschen Uhrenmuseum, man hatte sie auf einer Auktion ersteigert. Man ist sich aber nicht sicher, ob diese Uhr wirklich das Geschenk von Württemberg-Hohenzollern gewesen ist, offenbar hat es mehrere Exemplare der Uhr gegeben. Das Deutsche Uhrenmuseum widmet der Uhr in seinemBlog eine ganze Seite, in dem das Design der Uhr mit dem Kunstwollen der Nazis in Verbindung gebracht wird. Das ist kunsthistorisch leider ein wenig schwammig. So, wie die Uhr gerade steht, ist in Berlin gerade Mitternacht. War das beim Aufstellen der Uhr symbolisch so gewollt? 1956 dachte sich die Firmenleitung von Kienzle, dass man jetzt die Sache mit dem Hitler Uhr vergessen hätte und brachte die Uhr kaum verändert wieder auf den Markt. Ohne Gold und ohne Hakenkreuze. Es gab von der Uhr eine Vielzahl von Modellen. Sie können alles (aber wirklich alles) dazu auf dieser schönen Seite lesen. 

Seit den 1930er Jahren hat es auch schon Armbanduhren gegeben, auf denen man die Uhrzeit in einem anderen Land ablesen konnte, und die gibt es natürlich heute immer noch. Es gibt Weltzeituhren auch in ganz groß. In Berlin wurde 1969 eine Weltzeituhr namens Urania am Alexanderplatz aufgestellt. Sie wurde ein beliebter ostberliner Treffpunkt, man traf sich eben unter der Weltzeituhr am Alex. So wie man sich in Hannover unterm Schwanz des Pferdes von Ernst August trifft. 

Im letzten Jahr wurde die Weltzeituhr von sogenannten →Klimaaktivisten mit roter Farbe besprüht. Erich John, der Designer der Urania Weltzeituhr sagte: Das tut der Kultur weh. Es trägt auf keinen Fall zur Beförderung des Umweltgedankens bei. Es wirkt entgegengesetzt! Denn genau diese Schmierereien haben wir ja in der ganzen Stadt. Und das ist ja schon schlimm genug. Wollten die Aktivisten die Zeit zerstören? Das hatte schon der besoffene Lord Rochester mit seinen Kumpanen versucht, als er 1675 die Sonnenuhr von Charles II zerschlug: My Lord Rochester in a frolick after a rant did yesterday beat doune the dyill which stood in the midle of the Privie Garding, which was esteemed the rarest in Europe. I doe not know if it is by the fall beet in peeces. Das war damals die teuerste Sonnenuhr Europas gewesen. Die genaue Zeit zu haben, war früher eine Sache der Könige und Fürsten gewesen. Karl V träumte davon, dass ihm sein Uhrmacher Giovanni Juanelo Turriano zwei Uhren baute, die synchron gingen. Friedrich III von Schleswig-Holstein beschäftigte den berühmten Nikolaus Radeloff, und George III wird seine Uhrmacher sehr gut bezahlen. 

Die Weltkarte der Kienzle Weltzeituhr ist durchzogen von vertikalen Linien, die unten auf der zweifarbigen Zeitscheibe enden. Weiß steht für den Tag, schwarz für die Nacht. Man sucht sich einen Ort der Welt auf der Landkarte, von dem man wissen will, wie spät es da ist, geht auf der vertikalen Linie nach unten und hat die Uhrzeit. Vorausgesetzt, man hat zuvor die Zeitscheibe erst einmal richtig eingestellt. Was mir mithilfe der Bedienungsanleitung nach etlichen Minuten gelungen ist. Jetzt weiß ich immer, wie spät es bei dem Yogi in den USA ist. Mein Computer würde mir das allerdings auch sagen.

Die Weltzeituhr bei mir auf der Kommode wird von einem Quarzwerk angetrieben. Ich wusste nicht, dass Kienzle selbst Quarzwerke hergestellt hat. Ich dachte, die kämen von Seiko. Die haben ja schließlich das Quarzwerk für Armbanduhren erfunden. Und sie hatten ja auch mal eine Kooperation mit Kienzle vereinbart. Weil sie auf den deutschen Markt kommen wollten. Das hat nicht lange gehalten, aber es hat einmal Kienzle Uhren mit diesem Seiko Werk (Kaliber 6220) gegeben. Das ist das beste Werk, das jemals in einer Kienzle war. Es ist in einer noch besseren Qualität in meiner Seiko Skyliner drin. Über die Kienzle Armbanduhrwerke, meistens Stiftankerwerke, häufig ohne Steine, wollen wir lieber nicht reden. Google beantwortet im Internet die selbst gestellte Frage Ist Kienzle eine gute Marke? mit dem Satz: Ausgesprochene Qualität, beste Materialwahl und eine überzeugende Zuverlässigkeit lassen die Uhrenmodelle von Kienzle für ewig leben. Davon ist allerdings kein Wort wahr.

Es stellt sich auch die Frage, wem die Firma Kienzle überhaupt gehört. Am Anfang, als sich Jakob Kienzle hier mit seiner Familie präsentierte, war das alles klar, aber seit den 1960er Jahren war Kienzle kein Familienunternehmen mehr. Großaktionäre wie Oerlikon-Bührle und Alfred Kreidler hatten sich eingekauft. Der Name Kreidler sagt mir etwas, weil ich mal eine Woche lang ein Kreidler Florett besaß. 1966 war die Firma Kienzle ganz im Besitz von Alfred Kreidler, der alle Anteile von Oerlikon-Bührle übernommen hatte. Es folgen schwierige Zeiten für die Firma, die sich seit 1963 ihre Werke für Armbanduhren in Japan und der Schweiz kaufte. Was besser für die Uhren war, denn Stiftankerwerke ohne Steine konnte man 1963 schlecht verkaufen.

Man kann die Stationen des Niedergangs der Firma auf dieser hervorragenden Seite nachlesen. 1975 verkaufte die Firma Kienzle das Hellmut Kienzle Uhrenmuseum für acht Millionen Mark an das Land Baden-Württemberg. Leider hört die Geschichte des Niedergangs der Firma auf der Seite der Sozialgeschichte der Uhrenindustrie in den 1980er Jahren auf. Vom Verkauf an die Chinesen, der Rückkehr nach Hamburg, den zahlreichen Insolvenzen steht da leider nichts. Auf der Seite von Kienzle 1822 ist von einer neuen Eigentümerfamilie die Rede, es wird aber nicht gesagt, ob der Schweizer Thomas Morf das ist. Auch nicht, wo die Kienzle Uhren, die jetzt auf dem Markt sind, überhaupt herkommen.

Kienzle hatte 1973 mit der Serienproduktion eines Quarz Großuhrwerkes (Kaliber 713) begonnen, das Werk war für Tisch- und Küchenuhren konzipiert, Und auch für die Weltzeituhr, Kienzle Quartz Germany steht hinten drauf. Laut der Firmenseite setze sich Kienzle damit technologisch an die Spitze der 'Quarz-Großuhrenwerke-Hersteller'. Aber da bin ich nicht so sicher, ob das stimmt. Der technologische Fortschritt kommt nicht aus Schwenningen, sondern aus Japan. Wo Seiko in den siebziger Jahren (gleichzeitig mit Kienzles ersten Quarzwerken für Armbanduhren) neue High-Tech Quarzuhren auf den Markt bringt, die Type II heißen. Das war der Nachfolger der ersten QT, QR und QZ Werke. Die Typ II Uhren waren teurer als die meisten Seiko Automatikuhren, aber sie sind auch genauer. Die Abweichung von der genauen Zeit beträgt fünfzehn Sekunden im Monat. 

Diese Abweichung wird mit den nachfolgenden Twin Quartz Modellen (Bild) noch viel kleiner, sie liegt dann nach Seiko Angaben bei 5 bis 15 Sekunden im Jahr. Man muss allerdings bedenken, dass eine Seiko Superior damals soviel kostete wie ein japanischer Mittelklassewagen. Das elegante Teil im oberen Absatz, das das aufwendige Zifferblatt einer Superior hat, ist meine Seiko Quarzuhr vom Typ II (Kaliber 0903-8110 mit 5 jewels). Ein JDM Modell (Japanese Domestic Market) von der Suwa Seikosha aus dem Jahre 1976. Mit dieser Uhr ist bei mir für Quarzuhren erst einmal Schluss. Da, wo Seiko Ende der siebziger Jahre war, sind heute viele. Einszweidrei, im Sauseschritt läuft die Zeit, wir laufen mit. Das ETA Precidrive in meiner Certina DS Action Diver geht angeblich nur zehn Sekunden im Jahr falsch, die Citizen CTQ57-0953 Chronomaster soll bei einer Abweichung ±5 Sekunden liegen. Das schafft das Kaliber 9F der Grand Seiko wahrscheinlich auch.

Ich glaube, ich werde dem Barnie die Weltzeituhr, die bei jetzt erstmal nur Gast ist, doch abkaufen. Es ist ein kurioses Stück deutscher Uhrengeschichte. Der Barnie wird mir nicht so viel dafür abnehmen. Obgleich Sammler für die erste Generation der Uhren, die noch ein mechanisches Werk haben, erstaunliche Preise bezahlen. Das kann schon mal vierstellig sein, es kommt natürlich auch auf den Zustand der Uhr und des Werkes an. So teuer wie diese Uhr hier wird meine erste und einzige Kienzle nicht werden. Dies ist das Modell Universalzeit von Moritz Grossmann, es kostet 50.000 Euro. Dafür kriegt man auch schon ein Round the World Ticket.
 
Bei der Hitler Uhr aus dem Jahre 1939, die das deutsche Uhrenmuseum bei Etsy ersteigert hatte, ist leider das Werk kaputt. Hat auch keine tausend Jahre gehalten. Die trösten sich jetzt damit, dass die Uhr immerhin zweimal am Tag die richtige Zeit anzeigt. Allerdings nicht zweimal die richtige Weltzeit, weil sich die Zeitscheibe ja nicht dreht. Ich würde gerne wissen, was sie für die Uhr bezahlt haben. Wenn man eine Weltzeituhr am Arm tragen will, dann bietet sich neben der etwas bizarren Moritz Grossmann diese völlig unübersichtliche Patek Philippe doch geradezu an. Kostet allerdings schon beinahe sechsstellig. Die Meister Anker Solar Funk Weltzeit Armbanduhr kostet bei ebay nur dreißig Euro. Aber braucht man so etwas wirklich?


Montag, 26. August 2024

Menschenrechte


Heute vor 235 Jahren verabschiedete die französische Nationalversammlung die Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen. Wenige Monate zuvor hatte der Marquis de Lafayette, der Held des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs, in der Nationalversammlung schon den Entwurf einer Erklärung der Menschenrechte eingebracht. Bei der Formulierung hatte ihm Thomas Jefferson geholfen, der damals Amerikas Botschafter in Paris war. Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte wurde im Jahr 2003 zum Weltdokumentenerbe erklärt. 

Das alles wäre ein Grund zum Feiern, wenn man sich nicht fragen müsste, wo in der Welt heute diese Menschenrechte überhaupt gelten. Im Land des lupenreinen Demokraten bestimmt nicht. Da, wo es auf dieser Karte grün ist, da gelten sie schon. Aber das ist nicht einmal die Hälfte der Welt. Und auch in vielen Ländern, die hier grün sind, wird an den Rechten geknabbert. Die Menschenrechte sind für viele nur ein schöner Traum. Der Satz von Rousseau, Der Mensch ist frei geboren und überall liegt er in Ketten, gilt noch für einen großen Teil der Welt.

Die schönen Deklarationen der Freiheit des Menschen haben häufig elementare Mängel. Die amerikanische Declaration of Independence mit ihrem all men are created equal, die Jefferson auf der Basis der Gedanken von John Locke schrieb, galt offenbar nicht für Farbige. Die französische Déclaration vom 26. August 1789 galt nicht für Frauen. Zwei Jahre später wird →Olympe de Gouges eine Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin vorlegen. Sie hat auch, neben vielen anderen Publikationen, den Briefroman Denkschrift der Mme de Valmont geschrieben, den es jetzt in einer zweisprachigen Ausgabe gibt. Die Herausgeberin Gisela Thiele-Knobloch, eine Professorin für Romanistik, hat dazu gesagt: Historiker interessieren sich offenbar auch heute noch mehr für Anzahl und Eigenschaften der Liebhaber von de Gouges als für ihr umfangreiches Werk und ihre politische Leistung. Immer noch möchte man Olympe de Gouges in den althergebrachten Klischees lieber als 'Courtisane' und/oder als 'Militante' sehen, als sich ernsthaft mit ihren Schriften zu befassen. 

Man hatte Olympe de Gouge vergessen, aber in den letzten vierzig Jahren hat man das wiedergutgemacht, ihre →Schriften sind wieder aufgelegt worden, und es ist viel über sie geschrieben worden. La Femme a le droit de monter sur l’échafaud ; elle doit avoir également celui de monter à la Tribune, hatte sie in ihrer Déclaration geschrieben. Die Schreckensherrschaft wird dafür sorgen, dass dieser Satz wahr wird. Sie wird am 3. November 1793 auf der Place de la Concorde durch die Guillotine hingerichtet. So könnte es gewesen sein, aber das Bild ist nicht echt. Es ist eine Photomontage der Künstlerin →Holly Marie Armishaw.

Der Marquis de Lafayette, der die Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen eingebracht hatte, schwört auf diesem Bild bei der Fête de la Fédération am 14. Juli 1790 seinen Eid auf das neue Frankreich. Aber den Eid wird er brechen, die Flucht ist ihm lieber als die Guillotine. Hier in Schleswig-Holstein ist er mit seinem Sohn George Washington (das ist der Junge mit der blauen Jacke auf dem Bild) auch einmal gewesen. Da hatte er mit dem Geld des Hamburger Kaufmanns John Parish das Gut Lehmkuhlen gemietet. Damals war auch der spätere Bürgerkönig Louis Philippe hier. Lebte unter dem Namen Ludwig Philippe de Vries in Friedrichstadt und verdiente sich seinen Lebensunterhalt als Tanzlehrer. 1790 war er ein begeisterter Anhänger der Revolution und Mitglied des Jakobinerklubs gewesen, jetzt ist er Tanzlehrer. Der General Charles-François Dumouriez, den er gut kannte, ist auch in Schleswig-Holstein. Der vermochte dem Exil etwas Positives abzugewinnen:

Das Exil hat, wie alle anderen Positionen im menschlichen Leben, seine Vorteile: Es präsentiert uns Vergleichsobjekte, von denen wir nie eine Ahnung hatten; er gibt uns Lichter; es entwickelt unsere Energie durch Entbehrung; es macht uns nachsichtig und gesellig; es schafft zwischen uns und unseren Gästen eine Erweiterung der Sensibilität und Wohltätigkeit. Der aufrichtige, weise und nachdenkliche Mann bringt von dieser erzwungenen Pilgerfahrt eine Reihe männlicher und sanfter Tugenden mit, die ihn tauglicher machen, seinem Heimatland zu dienen, und ihn zu einer universellen Philanthropie führen, die die schrecklichen Auswirkungen des nationalen Egoismus mildert.

Samstag, 24. August 2024

Autogeschichten

In dem Post völlig vergessen habe ich darüber geschrieben, dass ich meinen vor Jahren begonnenen Blog über Autos, den man unter automobilia findet, völlig vergessen hatte. Ich bin inzwischen beinahe damit fertig, alle verlorengegangenen Bilder und Links zu restaurieren. Als ich den viel gelesenen Post Françoise Hardy und die Autos geschrieben hatte, wo Françoise so elegant aus einem Lancia stieg, bekam ich Post von Wolfgang Butt, der auch einen Lancia besitzt. Den ehemaligen Skandinavistik Professor, der die halbe schwedische Literatur übersetzt hat, habe ich schon mehrfach erwähnt, zuletzt wohl in dem Post Nordic Noir. Er schickt mir manches vorbei, was er geschrieben hat. Das kleine Stück Literatur mit dem Titel Last Exit, das er mir letztens schickte, hat mich umgehauen. Ich schreibe viel, aber was er schreibt, ist richtige Literatur. Wie dies schöne Gedicht, in dem sein Lancia vorkommt. Es heißt kurzer halt am straßenrand:

psst behalt’s für dich wenn
dir die tränen kommen auf der
gewundenen straße zwischen
sonnenblumenfeldern bei
flirrender hitze und chris reas
still holding on weil du mal wieder
nicht weißt wohin mit dir
sentimentaler esel halt an heul dich aus
auch heute wird deine richtungslose
dankbarkeit keinen abnehmer finden
lass die luft aus deinem blauen ballon
hast du nicht schon im ersten jahr englisch gelernt
you can‘t have the cake and eat it
und du kennst das prozedere
der spielverderber vom dienst wird
sich pflichtgemäß melden mit seiner
miesmacherei die alles durchdringt
dem faktencheck der vor nichts haltmacht
selbst deine hehren momente hinterfragt
dass dich die scham befällt mensch zu sein
und diesen ort nicht so zu hinterlassen
wie du ihn vorfandst bei deinem auftritt
zu neandertalers zeiten trauerst
um die bäume blumen gräser die du
zertrittst im besten einvernehmen mit dir
selbst die schmetterlinge hummeln die
an deiner windschutzscheibe jäh
ihr leben geben für dein weiterkommen
oder bemitleidest du dich selbst weil du
nicht weißt wohin mit deinen füßen unfähig
engelgleich zu schweben aber das wusstest du doch
weichei du dass wo gehobelt wird da lass dich
ruhig nieder denn was nicht passt wird
passend gemacht und niemand
hält die späne die da fallen unendlich
sanft in seinen händen aber haben wir
nicht laubbläser im angebot buschfräsen
chemikalien die unsere erträge steigern
nicht zu vergessen die rücknahmegarantie
von altgeräten zur fachgerechten entsorgung
abseits der kreuzfahrerrouten oder dieser
landstraße wenig befahren geheimtipp
zwischen weinbergen sonnenblumenfeldern
und während du noch am straßenrand stehst
dir die augen reibst tief durchatmest
bevor du weiterfährst in deinem geliebten
vierzig jahre zurückgebliebenen lancia hpe
hat chris rea den ton gewechselt singt
jetzt sein paradestück the road to hell

Das Gedicht ist in poesie.xyz, einem Magazin für Gedicht & Kommentar, erschienen. Wolfgang Butt hat vor zehn Jahren auch ein ganzes Buch über Autos geschrieben, das Ruhender Verkehr: Von Autos und Menschen heißt. Ich drucke hier mal eben den Klappentext ab: Wenn Wolfgang Butt nicht gerade Krimis von Henning Mankell oder Arne Dahl, einen Liebesroman von Per Olov Enquist oder die Stimme des Fußballstars Zlatan Ibrahimović aus dem Schwedischen ins Deutsche übersetzt, streift er durch die Steineichenwälder des Quercy, seiner Wahlheimat im Südwesten Frankreichs. Dabei ist der bekennende Autonarr auf überraschende Funde gestoßen: Während in den dichter besiedelten Regionen Europas die Beisetzung von Automobilen in Massengräbern auf Autofriedhöfen die Regel ist, hat sich in den ländlichen Regionen Südwestfrankreichs die Sitte der Einzelbestattung von Autos bis in die jüngste Vergangenheit erhalten. Wolfgang Butt hat diese Funde fotografisch dokumentiert. Statt jedem Auto einen eigenen Nachruf zu widmen, hat er sie mit Geschichten umgeben, die dem techniklastigen Bild der Beziehung von Auto und Mensch eine emotionale Komponente hinzufügenBorgward kommt auch drin vor, weil Wolfgang Butt mal in Bremen gewohnt hat. Eine kleine Lancia Geschichte steht auch drin. Es ist ein wirklich schönes Buch, das ich unbedingt empfehlen kann. 107 Seiten Text und wunderbare Photos. Mein alter weißer Peugeot steht offenbar auch in Frankreich irgendwo im Gebüsch. Es gibt am Ende eine Gebrauchanleitung für das Buch: Eine Rezeptur für das Mischungsverhältnis gibt es nicht. Der Leser darf in den Texten frei schalten und walten. Wer sich in sie hineinbegibt, kommt darin vor, doch nicht notwendigerweise zu Schaden. Jeder darf sich angesprochen fühlen, keiner ist gemeint.

Die Technik der Autos ist das eine, die Ästhetik das andere. Aber es ist diese emotionale Komponente, weshalb wir uns an die Autos erinnern. Man träumt ja immer von Autos, die man nie bekommt. Wie dem weißen Facel Vega, der auf dem Osterdeich stand, wenn ich zum Weserstadion marschierte, um die grün-weißen Helden meiner Jugend zu sehen. Wenn der da stand, gewann Werder immer. Oder dieser riesige Rolls Royce mit dem Pariser Nummernschild, der plötzlich in der Nacht um drei auf dem Forstweg an mir vorbeiglitt, als ich von Ako Amadis Abschiedsparty nach Hause marschierte. Er war so leise, dass man verstand, weshalb die Firma einmal Modelle auf die Namen Ghost oder Phantom taufte. Einen Rolls Royce gab es in den fünfziger Jahren in Bremen nicht. Nur der Werftbesitzer Ernst Burmester, der mit der Ashanti VI die größte deutsche Hochseeyacht besaß, hatte einen dunklen Bentley. Ein Rolls wäre ihm zu prollig gewesen. So etwas kann man in Hamburg fahren, hat er gesagt, in Bremen nicht. Wahrscheinlich hat mein Freund Ron deshalb auch seinen Rolls (British Racing Green) in einen Bentley umbauen lassen. Nicht nur den Kühler ausgewechselt, nein, bis in die kleinsten Einzelteile.

Mein Blog ist voll von kleinen Autogeschichten, von denen manche, wie Des Königs Jaguar und Cutty Sark, große Leserzahlen erreichten. In meiner bis heute nicht zuende geschriebenen Autobiographie Bremensien, von der viele kleine Teile in diesen Blog gewandert sind, gab es natürlich auch ein Kapitel über Autos. Ich stelle heute einmal den Schluss dieses Kapitels hier ein. Alles an der Geschichte ist wahr, nur die Namen sind ein wenig verändert:

.... Nach Jahrzehnten mit verschiedenen Golfs kaufte ich mir das neueste Golf Modell, dem ich den Namen Moonlightblue gab, weil die Farbe des Autos so hieß. Schön, elegant, praktisch. Das beste war die blaue Instrumentenbeleuchtung in der Nacht. Die passte zu dem VW Video, in dem Nick Drake Pink Moon singt. Aber sonst war der Wagen langweilig. Die Romantik des Autofahrens, zu der auch der Reifenwechsel im strömenden Regen an der B 404 gehörte und dass einem der halbe Wagen von den sächsischen Grenztruppen bei der Einfahrt in die DDR zerlegt wurde, nachdem sie Gänsefleisch mal den Kofferraum aufmachen gesagt hatten, ist irgendwie dahin. Ist nix mehr mit Vorglühen und Zwischengas. In einer öden Gegend auf den ADAC warten. Ich kann nicht mehr hinten im R4 von Götz die Autobahn von Dänemark bis Kiel durch den verrosteten Boden sehen. Nicht mehr der Ingrid mal eben für fünfhundert Mark einen roten R4 kaufen, weil ihr alter grüner ständig liegen blieb. Warum sie mein Geschenk Paula genannt hat und nicht Jay, das weiß ich nicht. Die witzigen billigen Autos wie die R4s und Döschewos gibt es nicht mehr, aber es gibt an ihrer Stelle auch keine vernünftigen kleinen Autos. Der Höhepunkt der automobilen Verblödung sind Dienstwagen für Politiker und diese SUVs, die der Engländer Chelsea tractors nennt. Das hat alles keinen Stil. Dann doch lieber der alte Opel Kapitän, den Ron sich nach langem Suchen gekauft hat. Weil sein Vater 1959 das Modell gefahren hatte. Mit Weißwandreifen.

Wir hatten uns einige Zeit nicht gesehen. Ron war wohl mit dem Aufbau seiner Firma beschäftigt gewesen und war viel unterwegs. Aber an diesem schönen Sommertag saßen wir draußen vor dem Lüneburg in der Mitte der Dänischen Strasse. Ich sagte ihm, dass das eine schöne alte Bubble Back Rolex sei, die er da am Arm hätte. Er sagte mir, dass meine IWC auch toll sei. Neben ihm stand seine Neuerwerbung, ein silbergrauer Jaguar E Type. Wenn er die Hand ausstreckte, hätte er ihn streicheln können, so wie ein Italiener einer Frau auf der Straße den Po streichelt. Man darf überhaupt nicht mit einem Auto in die Dänische Straße fahren, weil das eine Fußgängerzone ist. Und man darf auch nicht in der Mitte der Straße ein Auto abstellen, damit man es von einem Stuhl des Lokals Lüneburg aus streicheln kann. Aber um solche Dinge kümmert sich Ron nicht. Wir redeten über alte Zeiten, schliesslich hatte Ron ja auch mal Englisch studiert und war mal Lehrbeauftragter gewesen. Dann wurden wir von einer eleganten Dame in Sommerkleidung angesprochen, die zuvor am Nachbartisch gesessen hatte. Sie sagte, sie hätte nicht umhin können, unserer Unterhaltung zuzuhören. Und ob das Englische Seminar, von dem wir geredet hätten, das Englische Seminar der Universität hier im Ort sei? Und ob es da einen Professor namens X gäbe? Nachdem ich das bejaht hatte und gleichzeitig rekapitulierte, ob ich in der letzten halben Stunde irgendwelche abfälligen Bemerkungen über den doofen X gemacht hatte, hörte ich von ihr Erstaunliches. Sie hatte bei X studiert (bevor er hierher kam), er hatte ihr angeboten, bei ihm Assistentin zu werden. Aber sie hatte das abgelehnt, weil sie ihn für den langweiligsten und dümmsten Menschen unter allen ihr bekannten Anglistikprofessoren hielt (das waren ihre Worte). Und sie hätte das nie bereut. Und dann sagte sie zu Ron Schönes Auto und zu mir Das ist wirklich eine tolle IWC, die Sie am Arm haben. Setzte ihren Sommerhut auf und entschwebte mit ihrem Rollkoffer zum Oslokai um die Ecke, um die Fähre nach Norwegen zu erreichen. Stilvoller Abgang. 

Ich fahre kein Auto mehr, man kann ohne Auto leben. Moonlightblue habe ich vor Jahren einer Freundin geschenkt.

Dienstag, 20. August 2024

Alain Delon ✝


Zum ersten Mal habe ich ihn im Herbst 1960 gesehen. Ein Freund hatte mir gesagt, ich müsse unbedingt den Film ✺Nur die Sonne war Zeuge sehen. Das Beste daran sei der Schluss. Der Schluss war das Beste. Den Hauptdarsteller Alain Delon kannte ich nicht, aber er sah gut aus. Hier ist er 1957 zum ersten Mal in Cannes, er hatte seine Freundin, die Schauspielerin Brigitte Auber, zu den Filmfestspielen begleitet. Das sei ein Initiationserlebnis gewesen, hat er später gesagt. Als ich Delon im Kino später wiedersah, war er schon berühmt. Mit Nur die Sonne war Zeuge war er zum Star geworden. Eigentlich hatte Maurice Ronet, der ein viel besserer Schauspieler als Delon war, die Rolle des Tom Ripley bekommen sollen, doch dann kriegte Delon sie. Nicht wegen der Schauspielkunst, sondern wegen seiner jugendlichen Schönheit. Sein Gesicht wird fortan sein Kapital sein.

1970 spielte er in Vier im roten Kreis (✺Le cercle rouge) einen Gangster. Den Film habe ich damals zweimal im Kino gesehen. Weil mich die Szene in der Nacht am Place Vendôme (wo Yves Montand mit einem Schuss das Türschloss eines Juweliers durchschießt) an meine Nacht in Paris auf dem Place Vendôme im Sommer 1959 erinnerte. Mit dem Sommersternhimmel über dem großen leeren Platz. Und gegenüber die Leuchtreklame mit den Namen der Juweliere: Boucheron, Cartier, Van Cleef & Arpels, Chaumet. Einen Gangster hatte Delon auch in seinem ersten Film Die Killer lassen bitten (Quand la femme s’en mêle) gespielt, auf diese Rollen war er von nun an abonniert. Aber da war er ein kleiner Nebendarsteller gewesen, bei Jean-Pierre Melville (der hier einen langen Post hat) hatte er als eiskalter Engel mit dem Borsalino eine Hauptrolle. Melville wird Robert Warshows einflussreichen Essay The gangster as tragic hero gelesen haben, denn seine ersten Filme Bob le flambeur (1955) und Le doulos (1961) waren eine Hommage an den amerikanischen Gangsterfilm, über den Warshow geschrieben hatte.

Bei Melville hatte Delon gute Rollen, er hätte nicht anfangen sollen, selbst Regie führen zu wollen. Sein Debütfilm Rette deine Haut, Killer (Pour la peau d'un flic) ist ein Kriminalfilm, eine →Gattung, die das französische Kino nach den amerikanischen Filmen der zwanziger und dreißiger Jahren perfektioniert hat. Eine Gattung, die Delon inzwischen kannte, er hatte in genügend Filmen dieser Sorte mitgespielt. Wie in den Filmen von Jean-Pierre Melville. Diese Filme (Der eiskalte Engel (Le Samourai), Vier im roten Kreis (Le cercle rouge) und Der Chef (✺Un Flic), die ich alle hier zum Anklicken bereit habe, gehören auch zu den besten Filmen Delons. Beinahe jeder Nachruf auf Delon in den letzten Tagen zitiert diese Filme.

Er hätte von Melville etwas lernen können, aber er hatte nichts gelernt. Gar nichts. Delon spielt bei seinem Regiedebüt einen Privatdetektiv, der früher einmal bei der Polizei war. Das Motiv ist alt, schon als Raymond Chandler es in The Big Sleep verwandte (ja, Philip Marlowe war einmal im Staatsdienst), war es nicht mehr neu. Privatdetektive brauchen eine Sekretärin, das ist eine Gattungskonvention. 

Wir erinnern uns gerne an Effie Perrine, die die Sekretärin bei Hammetts Detektiv Sam Spade ist. Oder an Hélène Chatelain, die die Sekretärin von ✺Nestor Burma in den wunderbaren kleinen Filmen ist. Léo Malet hat zugegeben, dass er in Bezug auf Detektiv und Sekretärin seine Kollegen Chandler und Hammett ganz schön beklaut habe. Der Privatdetektiv Alain Delon hat eine Sekretärin namens Charlotte, die von Anne Parillaud gespielt wird. Sie war damals einundzwanzig und hatte gleich mit Delon eine Affaire. Das sind die Dinge, die die gute alte Besetzungscouch so mit sich bringt.

Das bleibt bei Delon nicht aus, er hatte Affairen mit vielen Frauen, sein Leben lang: Den Frauen verdanke ich, daß ich überhaupt Schauspieler wurde. All diesen Frauen, die mich wollen, die mich machen, die mir alles geben, die sich unsterblich in mich verlieben. Gewöhnlich sind sie mindestens sechs oder sieben Jahre älter als ich. In ihren Augen möchte ich der Schönste, der Größte, der Stärkste sein – deswegen wurde ich ein Filmstar. Er hatte beinahe fünfzehn Jahre lang eine Beziehung mit Mireille Darc, die hier schon einen Post hat und auch in dem Post Le grand blond zu sehen ist. Das werden Sie anklicken, weil Sie das Kleid von Mireille noch einmal sehen wollen. Elle était la femme de ma vie. Nous avons été si heureux ensemble, et heureux de tout. Aujourd’hui, je préfère avoir l’âge que j’ai plutôt que 40 ans. Je n’aurai pas beaucoup d’années à vivre sans elle, pas trop d’années à souffrir, sagte er Paris Match 2017 nach dem Tod von Mireille. Dass das alles stimmt, können wir hier auf einem kleinen ✺Video aus dem Jahre 2010 sehen. Mireille hat in Rette deine Haut, Killer einen klitzekleinen Cameo Auftritt. Kürzer als die Sache mit Mireille Darc war Delons Beziehung mit Romy Schneider, die er auch mal die Liebe seines Lebens genannt hat. 

Und dann ist da noch die Beziehung zu Nico, die einen Sohn von ihm hatte. Sie werden diese Christa Päffgen, die sich Nico nannte, vielleicht nicht mehr kennen. Sie war einmal wirklich berühmt, hat hier mit Nico auch einen riesigen Post. Und war letztens in dem Post Anouk Aimée wiederzusehen. Delon hat den Sohn nie anerkannt, obgleich der genau so aussah wie er. Diese beiden jungen Menschen auf dem Photo hatten wohl nie etwas miteinander, aber im Alter sind sie sich näher gekommen: Delon schwärmt wie Brigitte Bardot für die Front National.

Anne Parillaud zeigt viel nackte Haut in Rette deine Haut, Killer. In dieser Szene sagt sie mit dem nettesten Lächeln ihren beiden Rettern gerade, dass das Sexuelle schon stattgefunden hat. Ach, ist das cool. Und lustig. Dies ist ein Film voller Humor. Alain Delons Humor. Ist wahrscheinlich so ähnlich wie Til Schweigers Humor.

Der größte Erfolg von Anne Parillaud war Luc Bessons Actionfilm Nikita, in dem sie eine Killerin spielt. Da brauchte sie auch nicht so viel anzuziehen. Alain Delon hat der Film wahrscheinlich gefallen, mit Rollen als Killer ist er berühmt geworden. Wenn Anne Parillaud als staatliche Auftragsmörderin ein Erfolg war, als Vampir war sie das nicht. Obgleich sie ein Vampir zum Anbeissen war. Ich habe den Film von John Landis ✺Bloody Marie: Eine Frau mit Biß schon in dem Post Fantasy erwähnt. Falls Sie den Post noch nicht gelesen haben, sollten Sie das tun. Der ultimative Artikel zu Vampiren, Zombies, Zeitreisen, Rittern und diesem ganzen Quatsch.

Eine verworrene Handlung, viel Gewalt und Brutalität, Bösewichte aus der Retorte (auch noch ein klein wenig Gestapo Assoziationen), dumme Polizisten, verbrecherische Polizisten und eine Autojagd (die mit Steve McQueen in Bullitt ist besser) zeichnen den Film Rette deine Haut, Killer aus. Und der infantile Humor. Und schlechte, dröhnende Musik. Oscar Bentons ✺Bensonhurst Blues ist ja ganz nett, brauchte aber nicht so laut zu sein. Ich habe hier sechseinhalb Minuten von ✺Rette deine Haut, Killer, ist alles drin, mehr braucht man nicht. Der Film ist offensichtlich jahrelang in Deutschland in einer gekürzten Fassung gezeigt worden, aber das machte überhaupt nichts. Diesen Film kann man beliebig kürzen. Beliebig verlängern kann man dagegen die Aufzählung der erreurs dans le film auf der französischen Wikipedia Seite.

Wenn ich jetzt bösartig wäre, dann würde ich sagen, dass das Beste in dem Film der kurze Auftritt von Brigitte Lahaie ist, der Königin des französischen Pornofilms. Die Actrice war ja immer mal in Spielfilmen des mainstream Kinos zu sehen, wie in I as in Icarus oder mit einem klitzkleinen ✺Auftritt in dem Kultfilm Diva, zu dem es hier einen langen Post gibt. Oder sie verschönte Naziploitation Filme wie Bordel SS und Horrorfilme wie La Nuit des traquées (The Night of the Hunted).

Das ist ein Film, von dem ich sogar eine DVD besitze, lag im Grabbelkasten, hat mich zwei Mark gekostet. Ich war damals dabei, über die schlechtesten und komischsten Filme des Fantasy Genres zu schreiben. Also Filme wie ✺The Lair of the White Worm (hat hier schon einen Post) oder The Hunger mit Catherine Deneuve. Und ähnliche Filme. Man muss dabei aber ganz vorsichtig sein, ich glaube Jean Rollins La Nuit des traquées hat mittlerweile schon Kultstatus. Natürlich habei ich auch diesen Film hier für Sie. Filmisch gesehen ist er auf jeden Fall besser als Delons Rette deine Haut, Killer. Der kleine ✺Nestor Burma Film sowieso.

Arte hatte 2016 einen Delon Schwerpunkt, ich weiß nicht warum. Hätten sie ja im November 2015 machen können, als er achtzig wurde. Was dabei sehr gut und interessant war, war die Dokumentation Alain Delon, persönlich, die jetzt nach dem Tod von Alain Delon wieder in der Mediathek ist. Und die Arte gestern Nacht noch einmal sendete. Damals habe ich auch das Regiedebüt von Delon zum ersten Mal gesehen: arte zeigt den unnahbaren Einzelkämpfer mit stechend kühlem Blick in vier Spielfilmen: 'Monsieur Klein' von Joseph Losey, 'Rette deine Haut, Killer' - Delons Regie-Debüt, in dem er selbst die Hauptrolle spielt. Arte hatte in seinem Delon Schwerpunkt im Jahre 2016 auch gute Delon Filme gezeigt, die gibt es natürlich auch. Aber da hat Delon keine Regie geführt. Für Rette deine Haut, Killer gilt der schöne Satz: Ne sutor supra crepidam!, was auf Deutsch Schuster bleib bei deinen Leisten heißtUnd seien Sie unbesorgt, ich rede jetzt nicht wieder über Schuhe. Aber dass Delon Kunde bei Berluti war, dass darf man ja wohl erwähnen.

Regie zu führen ist eine Kunst, bei der man etwas von dem Handwerk verstehen muss. Davon versteht Delon überhaupt nichts, deshalb die continuity Fehler und die Löcher in der Handlung. Der Drehbuchautor heißt übrigens auch Alain Delon. Der Schriftsteller Christopher Frank hat ihm dabei geholfen. Der hatte zehn Jahre zuvor einen Roman geschrieben, der La Nuit américaine hieß. Ein Titel, den wir kennen, Truffaut hat einen Film mit der schönen Jacqueline Bisset daraus gemacht. Allerdings muss man sagen, dass die Dialoge von Christopher Frank in Rette deine Haut, Killer nicht auf dem Niveau von Truffaut sind. Der übrigens in seinen Filmen für Delon niemals eine Verwendung fand. Von den Vertretern der Nouvelle Vague drehte lediglich Godard 1990 einen Film mit Delon, der aber grottenolmschlechte Rezensionen brachte.

Als der Regisseur Delon den Film Rette deine Haut, Killer dreht, ist er sechsundvierzig Jahre alt. Da hatte er schon mit Joseph Loseys Monsieur Klein seinen letzten großen Film gedreht. Er möchte gerne jünger sein, er möchte auch gerne so tough sein wie sein Konkurrent Belmondo (zu dem es einen kleinen Witz im Film gibt). Ist er aber bei dem ganzen violence is fun Getue nicht. Wenn er einen karierten Anzug tragen würde, wäre dies die perfekte Nick Knatterton Verfilmung. Mit der Kunstform des französischen Kriminalfilms hat dies nichts zu tun.

Delons Filmdebüt erregte nicht das Aufsehen renommierter Kritiker. Zwar finden sich im Internet viele Lobhudeleien, aber die berühmten Cinéasten blieben stumm. Stumm blieb auch Hans Gerhold, ein Kenner des französischen Films. In seinem souveränen Überblick Kino der Blicke: Der französische Kriminalfilm sucht man den Titel Rette deine Haut, Killer vergebens. Bei den in Polar: Französischer Kriminalfilm aufgelisteten fünfzig wichtigen Kriminalfilmen ist er auch nicht dabei. Am besten hat mir aber gefallen, was Jean-Patrick Manchette, dessen Roman Que d'os Delon verfilmte, im Gespräch mit Martin Compart über Alain Delons Film gesagt hat: Egal was die Kritik sagt: Ich halte die Verfilmungen von Chabrol oder Bral nicht für besser als die durch Delon und Deray. Von mir wird man kein schlechtes Wort über Delon hören; er hat mir mein Appartement bezahlt. Und die Seite von Adieu, Monsieur Delon von Martin Compart sollten Sie jetzt unbedingt einmal anklicken.

Delon war ein wirklich großer Schauspieler, wenn er gute Regisseure wie Visconti (hier ist er in Il Gattopardo an der Seite von Claudia Cardinale zu sehen) und Jean-Pierre Melville hatte, dann passte er perfekt in die Rollen. In der Rolle des Baron de Charlus in Volker Schlöndorffs Verfilmung von Eine Liebe von Swann ist er zu outriert, aber gerade noch akzeptabel. Bei seinen achtzig Kinofilmen gibt es viele, viele Filme, die nicht erwähnenswert sind. In die Liga von Schauspielern wie Jean-Paul Belmondo, Yves Montand, Philippe Noiret, Jean-Louis Trintignant und Michel Piccoli gehört er nicht hinein. 

Das hat er auch gewusst. In einem Interview hat er gesagt: Meine Karriere hat nichts mit dem Metier eines Schauspielers zu tun. Man ist Schauspieler, weil man sich dazu berufen fühlt. Man möchte Schauspieler werden, wie man Taxifahrer oder Bäcker werden möchte. Man nimmt an Kursen teil, besucht Schulen, geht auf Konservatorien. Und genau das ist der Unterschied zwischen Belmondo und Delon – ich meine das keineswegs abwertend. Ich bin Akteur, Jean-Paul ist Schauspieler; ein Schauspieler spielt, er verbringt Jahre damit, sein Metier zu erlernen, während der Akteur sein Leben lebt. Ich habe immer meine Rollen gelebt. Und nie gespielt. Der Akteur ist ein Zufall. Ich bin ein Zufall. Mein Leben ist ein Zufall. Meine Karriere ist ein Zufall.

Zeitungen und das Internet sind jetzt voll von Nachrufen auf das monstre sacré des französischen Films. Den wohl besten Nachruf auf ein Leben voller Widersprüche schrieb Jürgen Kaube mit Ein Homme fatal in der Frankfurter Allgemeinen. Selten wird in den Nachrufen erwähnt, dass Delonauch einmal in einem wirklich guten Film zu sehen war, wo er keinen Gangster oder Polzisten spielte. Ich meine damit Antonionis Film ✺L’eclisse, der in Deutschland Liebe 1962 hieß. Da spielt er an der Seite der schönen Monica Vitti einen kleinen Börsenmakler, sehr zurückgenommen. Er hat noch keine Starallüren. Der Film war der Abschluss einer Trilogie, die mit L'Avventura und La Notte begonnen hatte. Habe ich damals alle in einem Bremer Filmkunsttheater gesehen. Delon machte auf mich keinen großen Eindruck, ich bewunderte nur seine Anzüge. Das steht schon in dem Post Brioni. Monica Vitti hat hier natürlich auch schon einen Post, und für Michelangelo Antonioni gibt es hier die Posts Antonioni und Steve Cochran.

Alain Delon ist im Alter von achtundachtzig Jahren gestorben. Ein Leben voller Widersprüche, voller Liebesaffären und Schlagzeilen. Der Leutnant Jean-Marie Le Pen, den er als Soldat im Indochinakrieg kennengelernt hatte, blieb für ihn immer ein Freund. Über seine Zeit in Indochina hat Delon gesagt: Das war die glücklichste Zeit meines Lebens. In einer einzigen Nacht habe ich dort die Gesetze des Dschungels und des Tötens gelernt und mich, mit der Waffe in der Hand, als richtiger Mann gefühlt. Sein Vorgesetzter Henri Guy de Vignac hat allerdings über ihn gesagt: Ein Sadist, ein Junge, der Spaß hatte am Töten, ein sexuell Abartiger. Vor wenigen Monaten hat die Staatsanwaltschaft bei dem Waffennarren Delon zweiundsiebzig Waffen und dreitausend Schuss Munition gefunden, so viel Munition hatten nicht mal die Anhänger von Prinz Reuß.

Delons letzte Freunde waren seine Schäferhunde. Neben den Gräbern der Hunde will er begraben werden, das hat er verfügt. Delon war 1991 Chevalier de la Légion d’honneur geworden, kurz vor seinem Tod hatte er noch den Verdienstorden der Ukraine erhalten. Stolz war er darauf, 1985 den César erhalten zu haben: Pour les acteurs, le César du meilleur acteur, c'est très très important parce que c'est vraiment l'expression les gens de la profession qui disent 'cette année, le meilleur acteur, c'est celui-là'. Den César hat er nicht nur einmal bekommen, er war auch einmal Julius Caesar, nämlich in einer Asterix Verfllmung. Das war einer seiner letzten Filme. Der Film erhielt beim Gérard du cinéma den ersten Preis als schlechtester Film des Jahres. Man muss wissen, wann man aufhören soll.

Jeder hat jetzt etwas über Alain Delon zu sagen, auch seine Kolleginnen Claudia Cardinale und Sophia Loren haben ihr Beileid bekundet. Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron hat getwittert: Monsieur Klein ou Rocco, le Guépard ou le Samouraï, Alain Delon a incarné des rôles légendaires, et fait rêver le monde. Prêtant son visage inoubliable pour bouleverser nos vies. Mélancolique, populaire, secret, il était plus qu’un star: un monument français. Das geht jetzt schnell mit den Wörtern wie légendaire und monument français. Wenn man sich Rette deine Haut, Killer und all die schlechten Delon Filme einmal anschaut und an die Waffen und die Marković Affäre denkt, ist das ein Gegengift zur Heroisierung.