Dienstag, 29. September 2015

Wirkungen


Vor einem Jahr fragte mich der Buchhändler ➱Harald Eschenburg, ob ich gerade etwas über einen bestimmten Schriftsteller geschrieben hatte. Er hätte in der letzten Woche nämlich alle Bücher des Autors verkauft. Da merkte ich, dass ich offensichtlich in Kiel auch Leser habe. Es ist ja eine schöne Sache, wenn ein Blog eine gewisse Wirkung zeigt. Nicht dass ich behaupten wolle, solche Wirkungen zu haben, wie die Blogger von netzpolitik.org. Aber doch ein klein wenig Wirkung. Als ich vor Jahren erwähnte, dass Heide Simonis als Studentin ➱Gedichte geschrieben hatte, waren die antiquarischen Exemplare bei Amazon Marketplace innerhalb weniger Tage weg. Ich hätte es natürlich gerne gehabt, wenn Klett Cotta ➱Sigrid Combüchens Roman Byron wieder aufgelegt hätte (oder meine etwas gehässigen Bemerkungen den Absatz der Bücher von ➱Brigitte Kronauer verkleinert hätten).

Leider gibt es bei kleinen Erfolgen auch viele Gegenbeispiele. Der nette Bruno Oetterli schrieb mir, dass mein Post ➱Michael Drayton in der ganzen Schweiz gelesen wurde (dafür hat er gesorgt), jedoch die Verkaufszahlen des schönen Drayton Buches von Günter Plessow leider nicht nach oben getrieben hatte. Ähnliches schrieb der Verleger, der die Gedichte von ➱Gerhard Neumann neu herausbrachte. Aber ich erhielt nach Jahren Post von der Familie Gerhard Neumanns, die sehr stolz darauf waren, ihren Verwandten im Internet zu finden. Und auch der lange verkannte Bremer Autor ➱Rudolf Lorenzen hat mir kurz vor seinem Tod geschrieben, dass ihm meine Würdigung seines Romans Alles andere als ein Held gefallen habe.

Bei manchen Dingen frage ich mich, ob ich daran schuld bin. Ich hatte gerade den Post ➱Englische Herrenschuhe (London) veröffentlicht, als bei ebay ein loafer von John Lobb auftauchte. Erstklassiger Zustand, Preis für den Sofortkauf: 150 Euro. Ein Schnäppchen. Man hätte angenommen, der wäre nach fünf Minuten verkauft gewesen. Nichts da, hat drei Tage gedauert. Ich nehme an, die Kaufinteressenten haben erst einmal den Post über Englische Herrenschuhe gelesen und sind dann ins Grübeln gekommen. Ich war da überhaupt nicht in Versuchung, obgleich es meine Größe war, weil ich mir im Schuhhaus namens ebay gerade ein Paar Haderer gekauft hatte. Sofortkauf 29 Euro. ➱Herbert Haderer in Salzburg hat nur an einem Tag in der Woche offen, er macht zweihundert Schuhe im Jahr. Das ist exklusiver als John Lobb. Mein Schuster, der mir eine dünne Gummisohle auf die Sohle machen sollte, kriegte ein Glitzern in die Augen, als er den Schuh sah. Schöner Schuh, sagte er und glitt mit dem Daumen am Leder entlang. Ich sagte ihm, dass Arnold Schwarzenegger seine Schuhe bei Herbert Haderer machen lässt. Der trägt aber 'ne Nummer größer als Sie, sagte der Schuster. Der ganze Laden lachte. Und dann wollten alle die Schuhe sehen.

Als ich hier zu schreiben anfing, machte ich mir keinerlei Gedanken über meine Wirkungen als ➱Blogger. Ich kam nicht auf die Idee, dass eines Tages viele Leser täglich meinen Blog lesen würden, so wie sie die Tageszeitung lesen. Inzwischen kann ich in meiner Statistik ablesen, was im Fernsehen gelaufen ist. Viele Leser schauen nach einem Film offensichtlich erst einmal in diesem Blog, ob da etwas zu Schauspielern und Regisseuren zu finden ist. Dass bei Arte eine Retrospektive von Edgar Reitz' Trilogie Heimat läuft, habe ich so aus der Statistikseite erfahren. Plötzlich hatten hunderte von Lesern den Post ➱Zweite Heimat angeklickt.

Dass der Film auch in dem Post ➱3. Oktober erwähnt wird, schien niemand bemerkt zu haben. In dem Post habe ich auch einen Link zu dem kurzen Video, wo Salome Kammer Schumanns Vertonung von ➱Eichendorffs Gedicht Aus der Heimat hinter den Blitzen rot: da kommen die Wolken her singt. Sehr intensiv. Und sehr schräg. Aber auch sehr rührend (klicken Sie ➱hier). Sie ist damals noch gar keine Sängerin gewesen, sie hatte Violoncello bei Maria Kliegel und János Starker studiert (die beide in dem Post ➱Bachs Cellosuiten erwähnt werden), die Gesangausbildung kam erst später. Wenn Sie hören wollen, wie Aus der Heimat hinter den Blitzen rot richtig und schön gesungen wird, dann klicken Sie einmal ➱Dietrich Fischer-Dieskau an.

Heimat ist immer etwas Retrospektives. Ein Gefühl des Verlusts, hat Edgar Reitz gesagt. Fühle ich mich deshalb von seinen Filmen so angezogen, weil ich ein Nostalgiker bin, der sich immer in die Vergangenheit zurückträumt? In meinen Träumen bin ich immer in einer Welt, die ein halbes Jahrhundert zurückliegt. Sollte mich das beunruhigen? Home is where one starts from. As we grow older
The world becomes stranger, the pattern more complicated Of dead and living, heißt es in T.S. Eliots East CokerYou can't go home again, sagt uns Thomas Wolfe. In meinen Träumen tue ich das immer, aber auch diese Traumwelt ist strange und more complicated geworden. In Edgar Reitz Filmen war ich immer zu Hause, ich weiß nicht weshalb. Ich habe die einzelnen Filme von Reitz' Opus über die Jahrzehnte auf verschiedenen Fernsehgeräten gesehen, die peu a peu ihren Geist aufgaben. Reichshöhenstraße (➱hier zu sehen) sah ziemlich grün aus, da wusste ich, dass der Fernseher hin war. Ich hatte damals ziemlich billige Geräte, ich legte auf das Fernsehen keinen so großen Wert. Heute habe ich einen großen Metz (ja, ich stehe noch zu deutscher Qualität) und kann mir alle Teile von Heimat jederzeit auf einer DVD anschauen.

Es sind diese magischen Momente, man sieht einen Film und ist plötzlich in diesem Film. Die Welt des Filmes ist die eigene Welt. Weil irgendetwas da ist, das einen in diese Welt zieht. Und da sind die Bedingungen, unter denen man ihn sieht, vollkommen egal. Ich habe A Tale of Two Cities mit ➱Dirk Bogarde auf einem transportablen Mini Fernseher auf Uwes Jollenkreuzer auf dem Weg zur Zuiderzee gesehen. Ich habe immer noch jedes Bild im Kopf. Als es Aleksei Germans Moy drug Ivan Lapshin (der ➱hier schon einen Post hat) im Fernsehen gab, habe ich mich bei einer Party völlig unhöflich mit einem kleinen Portable der Gastgeber in eine Art Butzekammer verzogen. Es war dunkel und kalt, aber das war bei diesem ➱Film auch passend.

Es hat mehr als zwei Jahrzehnte gedauert, bis Edgar Reitz magnum opus zu einem Abschluss kam. Jahrzehnte, in denen sich vieles änderte. Fernseher, Autos, Frauen. Aber die Anziehungskraft von Heimat blieb. Die deutsche Geschichte, die irgendwo auch die eigene Geschichte ist - von den dreißiger Jahren bis zur Wiedervereinigung. Wie ein großer ➱Familienroman. Obgleich ich weder das Schabbach der vierziger Jahre oder das Schwabing der sechziger Jahre kenne, kommt mir alles vertraut vor. Irgendwann schreibe ich mal darüber. Dies ist mal eben eine Schreibübung, ein amuse gueule.

Zum Schluss möchte ich doch noch gerne etwas bewirken, ich möchte ein wenig Werbung für einen neuen Blog machen. Ich habe in dem Post ➱THW beklagt, dass das geringe Niveau der Lokalzeitung Kieler Nachrichten noch kleiner geworden ist. Ich unterhielt mich die Tage mit einem Bekannten, der lange für die Zeitung gearbeitet hatte. Wenn ich sie nicht auf Lebenszeit umsonst ins Hause bekäme, ich würde sie abbestellen, sagte er. Beklagenswert ist der Schwund im Feuilleton, das sich früher noch auf einem akzeptablen, wenn nicht manchmal sogar gutem, Niveau hielt. Es war neben Hägar dem Schrecklichen das Beste von der Zeitung. Das Feuilleton heißt jetzt Kultur & Freizeit, da ist mehr von Freizeit als von Kultur die Rede. Ich hatte in dem Post THW auch erwähnt, dass die Zeitung Leuten wie Hannes Hansen und Christoph Munk bedeutet hat, dass man ihre Dienste nicht mehr unbedingt benötigte. Ich hatte Hannes - falls Sie den nicht kennen sollten, müssen Sie mal eben den Post ➱Schwarzenbek (mit Louis Armstrong und Bratkartoffeln) lesen - geraten, einen Blog aufzumachen. Und das hat er jetzt zusammen mit Christoph Munk gemacht. Klicken Sie doch ➱hier mal hinein. Ist besser als Kultur & Freizeit der Kieler Nachrichten.

Lesen Sie auch: ➱Anfänge, ➱Zweite Heimat

Freitag, 25. September 2015

Maj Sjöwall


Die Leiche wurde am 8. Juli kurz nach 15 Uhr geborgen. Sie war ziemlich intakt und konnte noch nicht allzulange im Wasser gelegen haben - ein günstiger Zufall, der eigentlich alle Ermittlungsarbeit der Polizei hätte fördern müssen. Im Grunde war es ein Zufall, daß man die Leiche überhaupt fand. Unten vor der Schleusentreppe in Borenshult ist eine Mole, die die Einfahrt gegen See bei östlichen Winden schützt. Als im Frühjahr der Verkehr auf dem Kanal aufgenommen wurde, zeigte es sich, daß die Zufahrt wieder einmal zu verschlicken begonnen hatte. Die Schiffe hatten Schwierigkeiten beim Manövrieren, und ihre Schrauben rissen gelbgraue Modderwolken aus dem Schlamm des Kanalbetts. Es mußte etwas geschehen. Die Autoren dieses Kriminalromans haben Zeit, viel Zeit. Sie beschreiben detailliert die bürokratischen Schwierigkeiten. Kanalgesellschaft, Wege- und Wasserbauamt, Seefahrtsamt - wer ist zuständig? In der Zeit, die da vergeht, hat der Hamburger Kommissar Nick Tschiller alias Til Schweiger schon ein halbes Dutzend Bösewichte erschossen. Aber dann nimmt die Handlung des Romans doch ein wenig Fahrt auf:

So war der Stand der Dinge: Das Wetter war milde und schön, mit leichtem warmen Wind und spielerisch dahintreibenden Sommerwolken am Himmel. Auf der Mole und der Kanalböschung waren ziemlich viele Leute. Die meisten sonnten sich, einige angelten und zwei oder drei beobachten den Greifbagger. Die Schaufel hatte gerade wieder ein Maul voll Schlamm aufgenommen und begann sich zu heben. In seiner Kabine vollführte der Baggermaschinist mechanisch die gewohnten Handgriffe, der Baggermeister trank in seiner Kajüte eine Tasse Kaffee, der Decksmann stützte die Ellbogen auf die verschmutzte Reling und spuckte ins Wasser. Die Baggerschaufel bewegte sich aufwärts.
     Als sie sich über die Wasseroberfläche hob, sprang ein Mann auf der Kaimauer auf und machte ein paar hastige Schritte auf das Schiff zu. Er ruderte mit den Armen und rief etwas. Der Decksmann, der kein Wort verstanden hatte, richtete sich auf. "Da ist einer in der Schaufel! Anhalten! Da ist einer in der Schaufel!"
     Der Decksmann blickte verwirrt zuerst auf den Mann und dann auf die Baggerschaufel, die langsam über den Laderaum einschwenkte, um ihren Inhalt auszuspucken. Schmutziggraues Wasser floß aus der Schaufel, als der Maschinist sie über dem Laderaum zum Halten brachte. Und da sah der Decksmann, was der Mann auf der Mole schon vor ihm gesehen hatte: Über den Rand der Schaufel ragte ein weißer, nackter Arm. Die nächsten zehn Minuten waren lang und hektisch. Anweisungen wurden herausgebrüllt. Auf der Kaimauer stand ein Mann, der fortwährend wiederholte: "Es darf nichts angerührt werden. Alles muß bleiben, wie es ist, bis die Polizei kommt..."


Die Polizei kommt. In Gestalt des Ersten Kriminalassistenten (wenig später wird er Kommissar sein) bei der Stadtpolizei Stockholm. Er heißt Martin Beck. Den kennt heute die ganze Welt, vor einem halben Jahrhundert, als mit Roseanna (Die Tote im Götakanal) der erste Krimi des Autorenpaares Sjöwall und Wahlöö erschien, war er noch ein Unbekannter. 

Die schwedische Schriftstellerin Maj Sjöwall wird heute achtzig. Sie ist nicht reich geworden mit den Romanen, die sie damals mit Per Wahlöö schrieb. Sie hat manchmal Schwierigkeiten, ihre Miete zu bezahlen. Ein Auto kann sie sich nicht leisten. Auf die Frage, ob es sie ärgere, dass sie heute von allen imitiert wird, hat sie geantwortet: Nein, es ärgert mich nicht, aber es ist schon ein bisschen bitter, dass sie heute so viel Geld mit den Krimis verdienen. Unsere Verträge waren damals überhaupt nicht gut. Wenn Per Wahlöö, mit dem sie seit 1963 zusammenlebte, und sie an all dem finanziell beteiligt gewesen wären, was man aus ihren Romanen gemacht hat, wäre sie heute eine Multimillionärin. Denn ohne Sjöwall und Wahlöö gäbe es keinen Schwedenkrimi, kein Nordic Noir.

Per Wahlöö ist jetzt schon vierzig Jahre tot, Polismördaren (Der Polizistenmörder) und Terroristerna (Die Terroristen) waren die beiden letzten Romane des Duos. Im Gegensatz zu Maj Sjöwall ist Henning Mankell reich geworden, sehr reich. Sie mag ihn nicht besonders, aber er schickt ihr immer seine Bücher. Und bedankt sich für die Inspiration. Er hat keinen Humor, sagt Maj Sjöwall. Humor hatten Sjöwall und Wahlöö reichlich, auch wenn der manchmal ein wenig schwarz war. Vielleicht ist es auch schwarzer Humor, dass Knopf Doubleday vor fünf Jahren den ersten Roman unter dem Titel Roseanna: A Martin Beck Police Mystery mit einem Vorwort von ausgerechnet Henning Mankell herausbrachte. Aus dem man dann noch einige Mankellsche Sprachhülsen wie A modern classic. . . . Lively, stylistically taut . . . Sjöwall and Wahlöö changed the genre pickte und sie auf dem Cover plazierte.

Nach ihrem zweiten Krimi war für die beiden klar, es sollten zehn Romane werden: Wir beschlossen, eine Serie von insgesamt zehn Büchern zu schreiben – und kein einziges mehr. Finito. Die zehn Romane, die sie in zehn Jahren schrieben, haben im Original einen Untertitel: roman om en forbrydelse. Dieser Untertitel, der zeigen sollte, das alle zehn Romane zu einem Gesamtwerk gehörten, wurde nie unter die deutschen Titel gedruckt. Per Wahlöö hat zwei Jahre nach dem ersten Roman laut und deutlich Stellung zu der Konzeption des Werkes bezogen: Seine Grundidee besteht darin, in einem langen Roman von ca. dreitausend Seiten, der in sehr freistehende Teile, oder wenn man will Kapitel, aufgeteilt ist, einen Längsschnitt durch eine Gesellschaft von einer bestimmten aktuellen Struktur zu legen, die Kriminalität als soziale Funktion zu analysieren und ihre Relation zu der genannten Gesellschaft als auch den moralischen Lebensformen verschiedener Art, die sie umgeben, offenzulegen. Émile Zola hätte wahrscheinlich etwas Ähnliches gesagt. In den ersten beiden Romanen hielten sich die Autoren mit der Gesellschaftskritik noch ein wenig zurück (diesen Aspekt betont auch Rudi Kost in Bi-ba Bullenpack: Sjöwall/Wahlöös chronique scandaleuse der Klassengesellschaft). Sie begannen mehr oder weniger konventionell in dem Subgenre der Kriminalromans, dem man die Namen police procedural, oder police crime drama gegeben hat. In dem Punkt sind sie Ed McBain nicht unähnlich.

Der Amerikaner Ed McBain, den sie ins Schwedische übersetzt hatten, war allerdings für sie kein wirkliches Vorbild. Der hatte seinen 25. Roman geschrieben (insgesamt sind es über fünfzig geworden), als sie ihn trafen: Der Mann war so müde, er war die Sache leid, sagt Maj Sjöwall. Aber sie verdanken ihm viel, sie haben sein 87. Polizeirevier von New York nach Stockholm versetzt. Natürlich mussten aus Steve Carella, Meyer Meyer (und wie sie alle heißen) erst einmal mit Martin Beck und Gunvald Larson richtige Schweden werden, die Multikulti Formel, die McBain für sein Polizeirevier hatte, funktionierte in Stockholm nicht: When I started writing, most of the police department in New York City, especially above the rank of detective, were Irish, Irish-American. I thought it would be more interesting ... to use the actual ethnic background in New York City at the time.

Ed McBain hat unter vielen Namen geschrieben, häufig als Evan Hunter (Arno Schmidt hat ihn sogar mal in den fünfziger Jahren übersetzt). Unter dem Namen schrieb er auch The Blackboard Jungle, aus dem ein erfolgreicher Film wurde (lesen Sie mehr in dem Post Jugendkultur). Ed McBain hat wie Henning Mankell viel Geld verdient, aber er hat Qualität geliefert. Dass Krimis, wenn sie das Genre schon nicht transzendieren und zu wirklicher Literatur werden, einen gewissen qualitativen Standard einhalten sollten, hat Maj Swöwall, die für mehrere Verlage als Lektorin und Übersetzerin arbeitete, immer wieder gefordert: Momentan besteht die Gefahr der Abnutzung, weil so viele dasselbe Muster benutzen. Was ich mich frage, ist, ob die Autoren Krimis ungefähr so schreiben, wie man einen Kuchen backt: Man nimmt so und so viel Zucker, so viele Eier... Ich finde aber, der Kriminalroman muss einen bestimmten qualitativen Standard einhalten. Der massenmediale Mensch muss endlich anfangen, sein Hirn für etwas anderes zu gebrauchen. Diesen Gegensatz zwischen der Literaturform, wie wir, mein Mann und ich, sie anwendeten und der Gegenwart ist eklatant. Wir wollten die Form nutzen, um eine Gesellschaft zu beleuchten. Heute werden Krimis wie am Fließband produziert. Das muss sich ändern.

Ihr deutscher Verlag hieß in den sechziger Jahren Rowohlt, und die Krimireihe von Rowohlt (Sie können hier sehen, was es in der Reihe alles gab) hatte damals dank Richard K. Flesch einen guten Ruf. Denn zuerst ging es dem Mann, der in der Branche Leichen-Flesch genannt wurde, um Qualität, nicht um Quantität. Allerdings, das muss man leider sagen, gab man für die Übersetzer nicht viel Geld aus. Vielleicht etwas mehr als der alte Goldmann, der wirklich knauserig war, seinen Übersetzern spendierte. Rowohlt hat 2008 die ganze Reihe in einer neuen Übersetzung herausgebracht, aber Presse und Fans waren nicht wirklich überzeugt. Die alten Übersetzungen von Eckehard Schultz waren gar nicht so schlecht. Schultz hat auch die Übersetzung von Johannes Carstensen von Die Tote im Götakanal überarbeitet und ergänzt.

Richard K. Flesch taten natürlich in den sechziger Jahren die niedrigen Verkaufszahlen mancher Autoren weh. Da war zum Beispiel Edgar Box (von dem damals noch niemand in Deutschland wusste, dass es Gore Vidal war), da war Nicholas Blake (der englische poet laureate Cecil Day-Lewis) oder Thomas Sterling mit dem wunderbaren Der Fuchs von Venedig (verfilmt mit Rex Harrison als The Honey Pot). Der Fuchs von Venedig war ein Roman, den Richard K. Flesch selbst übersetzt hatte. Bevor er Verlagsleiter der Rowohlt Krimireihe wurde, hatte er als Übersetzer gearbeitet und Hemingway und Faulkner übersetzt. Auch die Franzosen wie Boileau-Narcejac gingen anfangs noch nicht gut (wurden aber schnell Bestseller). Sébastien Japrisot, der Salingers Catcher in the Rye ins Französische übersetzt hatte, ging auch nicht. Aber Mord im Fahrpreis inbegriffen brauchte ich mir nicht zu kaufen, das hatte ich im Kino gesehen. Yves Montand und viele Stars. Und wirklich spannend. Das Kino war so gut wie leer. Man hatte in dem Vorort keinen Sinn für Qualität.

Das war auch das Problem von Flesch bei seinem ambitionierten Programm, er war froh, als Autoren wie Harry Kemelman, Chester Himes und Sjöwall/Wahlöö endlich Geld brachten. Das heißt, über die Startauflage von 20.000 Exemplaren hinauskamen. Erstaunlicherweise gelang das eines Tages auch deutschen Autoren wie Hansjörg Martin, Werremeier oder -ky. Beinahe all diese Krimis waren sozialkritisch, das war damals der Geist der Zeit, auch im Kriminalroman. Die Émile Zola Variante des Krimis war keine Erfindung von Sjöwall/Wahlöö, auch Nicolas Freeling (der eine Menge mit den Schweden gemein hat) beherrschte die schon. Flesch war als Herausgeber ein klein wenig schizophren. So gibt es die wunderbare Unterhaltung mit Michael Molsner über dessen Krimi Rote Messe: ›Ein Marxist als Sympathieträger, das werde ich nicht zulassen.‹ – ›Mei, Richard, ich bin Marxist und ich bin doch sympathisch.‹ – ›Du bist erstens kein Marxist, zweitens hast du keine Ahnung, wovon du redest. Marxisten sind Leute, die Autos anzünden.‹ – ›Ich bin Marxist, aber ich zünde keine Autos an.‹ ›Du erzählst Scheiße, du weißt nicht, was du sagst. Ich bin verantwortlich für diese Reihe, und in dieser Reihe taucht kein Marxist als Sympathieträger auf..Michael Molsner wechselte den Verlag. Ich überlege immer noch, ob irgendjemand dem Flesch mal erzählt hat, dass Maj Sjöwall Marxistin war? Links ist sie heute immer noch.

Meine erste mehr oder weniger wissenschaftliche Beschäftigung mit Sjöwall und Wahlöö liegt beinahe fünfzig Jahre zurück. Ich war wissenschaftliche Hilfskraft und Ghostwriter eines Professors, der einen Vortrag über Sjöwall/Wahlöö halten wollte. Er brauchte mich, weil er wusste, dass ich mehr von dem Thema verstand als er. Was ich ihm nie erzählt habe, war, dass ich Jan BrobergHarald Mogensen und Tage la Cour kannte, die mich damals mit allem Wichtigen aus Schweden und Dänemark versorgten. Mein Professor hatte immer wunderbare Ideen, solche Ideen, die der Engländer als high-faluting bezeichnen würde. Aus der tiefschürfenden Interpretation allein eines Romantitels konnte er einen halbstündigen Vortrag machen. Dem gegenüber stand meist eine völlige Unkenntnis des Romans. Aber das interessierte niemanden, von einem Professor erwartete man großartig klingende Interpretationen.

Wir waren also am Schreiben, das heißt, er warf seine Ideen in den Raum und ich schrieb. Lassen Sie uns den Originaltitel betrachten, Jay, sagte er. Und nahm den Rowohlt Band von Und die Großen lässt man laufen in die Hand. Hier, das ist doch großartig: Polis, polis, potatismos! Diese Symbolik! Polis ist die Stadt und potatimos hat mit dem Potentaten zu tun... An dieser Stelle war meine Langmut, die ich mir in Gesprächen mit ihm angewöhnt hatte, zu Ende. Ich sagte ihm, dass polis auf Schwedisch Polizei heißt. Und potatimos nichts anderes als Kartoffelmus. Der Satz kommt übrigens aus der Szene, wo ein Dreijähriger die Polizisten mit polis, polis, potatimos verspottet (die deutsche Übersetzung hat an dieser Stelle Bi-ba-Bullenpack). Was zur Folge hat, dass die etwas bescheuerten Streifenpolizisten Kristiansson und Kvant den Täter entkommen lassen, um das Kind und dessen Vater zu verwarnen. Wir haben an dem Tag nicht weitergearbeitet. Ich habe den Vortrag geschrieben, und er hat dann seine Stilsauce drüber gegossen. Die Zusammenarbeit zwischen Maj Sjöwall und Per Wahlöö hat etwas anders ausgesehen.

Und bevor ich es vergesse: Grattis på födelsedagen Maj Sjöwall.

Es gibt natürlich in diesem Blog schon einen Post zu ➱Sjöwall Wahlöö. Und sie werden immer wieder erwähnt. Wie in ➱Precision Class, ➱Tatort, ➱Nicolas Freeling, ➱Englische Krimiserien, ➱Margery Allingham, ➱Henning Mankell, ➱Désirée.

Donnerstag, 24. September 2015

Guinness


Bei aller Anglomanie: ich mag das Zeuch nicht. Aber wir müssen den Namen Guinness heute mal eben erwähnen, weil der Stammvater der Guinness Bierbrauer Dynastie heute vor 290 Jahren geboren wurde. Ich hatte mal einen Guinness Pullover, der war schwarz und vorne stand in goldenen Lettern Guinness drauf. Da jeder wusste, das ich kein Guinness trinke, fand ich das eigentlich witzig. Natürlich trinke ich Guinness, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Höflichkeitshalber. Wie damals, als ich den irischen Dichter Seamus Heaney traf. Ich habe die Geschichte in dem Post ➱Seamus Heaney schon einmal erzählt, aber für den Fall, dass Sie das verpasst haben, kopiere ich es gerne noch einmal hierher:

Ich habe einmal den irischen Dichter Seamus Heaney getroffen. Das war lange bevor er weltberühmt wurde und den Nobelpreis for works of lyrical beauty and ethical depth, which exalt everyday miracles and the living past erhielt. Für die Zeit nach der Dichterlesung hatte der Veranstalter damals stilecht dafür gesorgt, dass genügend Guinness vom Fass bereit stand. Auch an echte große Guinness Gläser war gedacht worden. Ich persönlich mag das Zeug ja nicht wirklich, aber Seamus Heaney sprach dem irischen Nationalgetränk gerne zu. Er wirkte wie ein verschmitzter großer Junge, mit seinen roten Hosenträgern über dem weißen Hemd. Ich brachte ihn zum Lachen, als ich ihn fragte, ob sein Dichterkollege Robert Lowell jetzt immer Freibier von Guinness bekäme, wo er gerade die Guinness Erbin Caroline Blackwood geheiratet hätte.

Ja, ➱Robert Lowell war einmal mit Lady Caroline Blackwood verheiratet. Seine Stieftochter Ivana Lowell (➱vielleicht die Tochter des Pianisten und Komponisten Israel Citkowitz), erinnert sich heute noch gerne an ihn. An ihre Mutter und den Rest ihres Lebens nicht so sehr. Ihre Mutter Caroline Blackwood war eine Tochter des vierten Marquess of Dufferin and Ava und der Guinness Erbin Maureen Guinness.

Die Tochter der Guinness Erbin sammelte Berühmtheiten, sie war mit dem Maler ➱Lucian Freud, dem Komponisten Israel Citkowitz und dem Dichter Robert Lowell verheiratet, die Vielzahl der Liebhaber zählen wir jetzt mal nicht mit. Lowell hat seine Gattin als a mermaid who dines upon the bones of her winded lovers beschrieben. Nett. Yet why not say what happened? hat Lowell in seinem ➱Gedicht Epilogue geschrieben. Seine Stieftochter Ivana, auf die er auch ein rührendes ➱Gedicht geschrieben hat, hat die Zeile als Titel ihrer Autobiographie genommen.

Caroline Blackwood (hier von Lucian Freud gemalt) hat Essays und Romane geschrieben, Lowell hat sie darin bestärkt. Kann man lesen, braucht man vielleicht nicht unbedingt. Aber was man unbedingt lesen sollte, ist ihr Buch The Last of the Duchess über Wallis Simpson und den Herzog von Windsor. Wunderbar bösartig, unbedingt eine Leseempfehlung. Ob die Biographie Dangerous Muse: The Life of Lady Caroline Blackwood, die Nancy Schoenberger über die Aristokratin der Bohème geschrieben hat, zu empfehlen ist, weiß ich nicht genau, da ich sie nicht gelesen habe. Mir reicht der Abschnitt von Blackwoods Leben mit Robert Lowell, und da bieten die Lowell Biographien von Ian Hamilton und Paul Mariani genug. Als Robert Lowell in einem Taxi in New York starb, hielt er das Bild von Lucian Freud in seinen Armen.

Lowell war aus dem Chaos seiner Ehe geflohen. Vielleicht sollte ich noch erwähnen, dass Lady Caroline Alkoholikerin war. Ich weiß aber nicht, ob sie Guinness getrunken hat. Denn das ist ja ein Getränk, das nur gut für den Menschen ist: Guinness is good for you. Bewahrt angeblich vor dem Herzinfarkt. Lowell hätte Guinness trinken sollen. Die neuerlich propagierte medizinische Wirkung kannte die Werbelyrikerin allerdings nicht, die vor neunzig Jahren die folgenden Verse schrieb: If he can say as you can Guinness is good for you How grand to be a Toucan Just think what Toucan do. Ihr Name war ➱Dorothy Sayers. Ich glaube, sie trank kein Guinness.

Mittwoch, 23. September 2015

Herbstgedicht


Jetzt ist es offiziell, der Herbst ist da. Heute. Gestern war noch Sommer, obgleich es wie Herbst aussah. Es wird Zeit, die Cordhosen aus dem Schrank zu holen und das festere Schuhwerk nach vorne zu stellen. Begrüßen wir die neue Jahreszeit doch eben mit einem Gedicht, das den Titel Der Herbst hat:

Das Glänzen der Natur ist höheres Erscheinen,
Wo sich der Tag mit vielen Freuden endet,
Es ist das Jahr, das sich mit Pracht vollendet,
Wo Früchte sich mit frohem Glanz vereinen.

Das Erdenrund ist so geschmückt, und selten lärmet
Der Schall durchs offne Feld, die Sonne wärmet
Den Tag des Herbstes mild, die Felder stehen
Als eine Aussicht weit, die Lüfte wehen

Die Zweig' und Äste durch mit frohem Rauschen
Wenn schon mit Leere sich die Felder dann vertauschen,
Der ganze Sinn des hellen Bildes lebt
Als wie ein Bild, das goldne Pracht umschwebet.

Unter dem Gedicht steht die handschriftliche Datierung d. 15ten Nov. 1759, doch das macht keinen Sinn, da ist der Autor noch gar nicht geboren. Der Herbst gehört nicht zu den großen Gedichten des Autors, wie zum Beispiel dieses:

Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.

Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.


Als Hölderlin 1837 sein Gedicht Herbst schreibt, ist er schon lange aus der Klinik als unheilbar entlassen. In der Gedichtsammlung von Christoph Theodor Schwab findet es sich in der Kategorie Gedichte aus der Zeit des Irrsinns. Man hat früher die Gedichte des Spätwerks, die häufig mit absurden Datierungen und dem Namen Scardanelli verziert sind, als sinnfrei oder sinnlos abgetan. Später haben sich viele berufen gefühlt, über Hölderlins Wahnsinn zu schreiben, von Norbert von Hellingrath bis Pierre Bertaux, der mit Hölderlin: Essai de biographie intérieure 1936 zum jüngsten docteur ès lettres in Frankreich promoviert wurde. Und der Jahrzehnte später die These vertrat, dass Hölderlin gar nicht wahnsinnig gewesen sei. Ich kann zu dem ganzen Thema zwei Dinge empfehlen. Zum einen den Aufsatz Die süße Ruhe im Wahnsinn: über ein spätes Gedicht von Friedrich Hölderlin von Hans Ulrich Gumbrecht und zum anderen das Kapitel Schönheit apocalyptica: Bemerkungen über Hölderlins späte Gedichte in Erwin Chargaffs Buch Zeugenschaft.

Hölderlin hielt es für angezeigt, d.h. für taktvoll im 40. Lebensjahr seinen gesunden Menschenverstand einzubüssen, wodurch er zahlreichen Menschen Anlass gab, ihn aufs Unterhaltendste, Angenehmste zu beklagen. Rührung ist ja etwas überaus Bekömmliches, mithin Willkommenes. Über einen grossen und zugleich unglücklichen Menschen weinen, wie schön ist das! Wieviel zarten Gesprächsstoff liefern solche unalltägliche Existenzen. Das schreibt ein Schriftsteller, der eines Tages auch Zuflucht vor der Welt in einer Heilanstalt suchen wird: Robert Walser. Der lebt dann nicht wie Hölderlin in einem Turm bei dem Tübinger Tischler Ernst Zimmer und seiner Frau Lotte, er faltet in der Heilanstalt Herisau Papiersäcke. Und in seinen freien Stunden beschreibt er unzählige Seiten mit ganz kleinen Buchstaben. Das Schreiben können sie nicht lassen, die aus der Welt in den Wahnsinn fliehen.

Montag, 21. September 2015

Vergil


Sie war jung und hübsch. Sie war keine Studentin, dafür war sie zu gut gekleidet. Wir trafen uns immer frühmorgens in dem kleinen Laden neben der Einfahrt zum Hof, wo man Milch und Brötchen kaufen konnte. Nach einer Woche lächelten wir uns zu und grüßten uns. Die Hofeinfahrt führte zu einem großen Hinterhof voller scheußlicher Mietskasernen der Gründerzeit, man konnte hier billig wohnen. Schön war es nicht, die gentrification dessen, das heute Karo Viertel heißt, hatte noch nicht stattgefunden. Umso dankbarer war ich für meinen morgendlichen Lichtblick beim Brötchenholen, ma belle inconnue.

Einmal entstieg sie einem Auto, das auf der Straße hielt, und ging stracks in den Laden. Es war ein großer Jaguar. Tage später war es ein anderes Auto. Ich dachte mir nichts dabei. Wir lächelten uns an. Irgendwann wurde es mir klar, was die Autos der Luxusklasse bedeuteten, ihre Freier luden sie vor dem Laden ab. Es änderte nichts in unserem schüchternen Verhältnis, aber ich begann, mir Geschichten mit der jungen hübschen Frau auszudenken. Es war der Sommer von Vergil.

Noch kehrt in mich der süße Frühling wieder,
Noch altert nicht mein kindischfröhlich Herz,
Noch rinnt vom Auge mir der Tau der Liebe nieder,
Noch lebt in mir der Hoffnung Lust und Schmerz.

Noch tröstet mich mit süßer Augenweide
Der blaue Himmel und die grüne Flur,
Mir reicht die Göttliche den Taumelkelch der Freude,
Die jugendliche freundliche Natur.

Getrost! es ist der Schmerzen wert, dies Leben,
So lang uns Armen Gottes Sonne scheint,
Und Bilder beßrer Zeit um unsre Seele schweben,
Und ach! mit uns ein freundlich Auge weint
.

Das schrieb Hölderlin im März 1794 an seinen Freund Christian Ludwig Neuffer, der dabei war, Vergils Aeneis im Versmaaß der Urschrift zu übersetzen. Dem hatte er gerade in einem Brief geschrieben: Daß du auch deinem Virgil so ganz treu bleibst, freut mich unaussprechlich. Der Geist des hohen Römers muß den deinen wunderbar stärken. Deine Sprache muß im Kampfe mit der seinigen immer mer an Gewantdheit und Stärke gewinnen. Der Dank für deinen Kampf wird freilich ein Dank deutscher Nation sein, indolenten Angedenkens! Aber Freunde erringst du dir gewis. Überdis scheinen mir unsere Leute in diesen lezten Jaren doch etwas mer an Teilnemung an Ideen, und Gegenständen, die außer dem Horizonte des Unmittelbarnüzlichen liegen, gewöhnt worden zu sein; man hat jezt doch mer Sinn für Schönes und Großes als je; laß das Kriegsgeschrei verhallen, und die Warheit und Kunst wird einen seltnen Wirkungskreis erleben.

Ich konnte der Welt des Hinterhofs in St Pauli jederzeit entkommen. Ich besaß eine Monatskarte der Bundesbahn für die Strecke Hamburg-Bremen. Erster Klasse, war damals spottbillig, den Tarif gab es nie wieder. Am Ende der Reise warteten hübsche Frauen auf mich, die nicht von Luxuskarossen zum Milchladen gebracht wurden. Wie die Frau, die mir Summertime in der Kirche in Dänemark vorgesungen hatte, oder die, die ich auf Langeoog kennengelernt hatte.

Man konnte im Zug gut lesen, besonders im leeren Erster Klasse Abteil. Der römische Dichter Publius Vergilius Maro ist am 21. September 19 v. Chr. gestorben, ich weiß alles über seinen Tod. Weil ich damals in diesem Sommer in der Bahn Hermann Brochs Roman Der Tod des Vergil las. Der stand auf der Leseliste von Professor Walter H. Sokel, der aus Amerika gekommen war, um im Audimax über Kafka, Musil und Broch zu lesen. Das war das große Ereignis in diesem Sommer in Hamburg, zusammen mit dreitausend anderen Studenten lauschte ich seinen Worten. Leider kamen Robert Musil, von dem ich schon Der Mann ohne Eigenschaften und den Törleß gelesen hatte, und Hermann Broch in der Vorlesung kaum vor. Sokel konzentrierte sich auf Kafka, für Kafka war er damals weltberühmt.

Als ich, um meine Mutter nicht zu enttäuschen, eine Dissertation schreiben sollte, blieb mir nichts anderes übrig, als über den Autor zu schreiben, der mich während meiner Studentenjahre gehindert hatte, andere Autoren wirklich zu lesen: Franz Kafka. Aber als ich über ihn schreiben wollte, stellte sich heraus, daß ich ihn nicht verstanden hatte. Was Martin Walser hier beschreibt, konnte mir nicht passieren. Ich hatte beinahe alles von Kafka gelesen, aber ich mochte ihn nicht. Broch war neu für mich, also las ich den Tod des Vergil. Alle 533 Seiten.

Es ist viel vom Tod die Rede in dem Roman. Und viel von der Liebe: Plotia preßte ihre Hände noch inniger in die seinen und führte sie zu ihren Brüsten, deren Spitzen unter der Berührung hart wurden. ... friedlich war die Nähe der fraulichen Nacktheit Plotias. Nichts Furchteinflößendes war erspähbar. Er hatte sich entschieden zur Liebe, und auch Plotia fragte: kehrst du ein zu mir, Geliebter, du sollst mich begehren... Schleiergleich aber rückte sie ein Stückchen von ihm ab, oder richtiger, wehte es sie von ihm ab: Dann schicke den Alexis fort. Den Alexis? wahrlich! mitten in der Landschaft, umtanzt von den gliedstarren Satyrn, stand der Alexis am Fenster, blondlockig, weißnackig, in kurzer Tunica stand er dort und träumte hinaus ins Verschwimmende, hinüber zu den fernen Bergen... Schicke ihn fort, bat Plotia, schaue nicht zu ihm hin; du hältst ihn mit deinen Augen. Und in nacktdurchsichtiger Unmittelbarkeit drängte Plotia: Sind dir meine Brüste nicht begehrenswerter als die Hinterbacken des Knaben dort ... und da verschwand die Jünglingsgestalt, ... und er - war niedergekniet ... und er küßte die Spitzen ihrer Brüste . . . leicht hingebettet auf dem Bette, und obwohl sie sich ihrer Kleider nicht entledigt hatten, lagen sie nackt Haut an Haut, lagen sie nackt Seele an Seele, lagen sie aneinandergleitend, dennoch regungslos vor Begehren...

Der Nordexpress aus Kopenhagen glitt durch die dunklen Harburger Berge, das lagen sie nackt Seele an Seele fand ich sehr schön. Ich überlegte mir, ob meine unbekannte Schönheit aus dem Milchladen jemals den Tod des Vergil lesen würde.

Ich las auf den Fahrten auch die Aeneis wieder, die der sterbende Vergil hatte vernichtet sehen wollen, weil sie unvollendet geblieben war. Ich las Vergil in einer zweisprachigen Ausgabe. Nicht mehr dieses Herumraten, was der lateinische Satz bedeuten könnte, wie damals bei Tammo Johannsen im Lateinunterricht. Obgleich ich den Anfang jederzeit schön in Hexametern aufsagen kann, damit kann man noch immer Leute beeindrucken. Heute habe ich die zweisprachige Ausgabe von Edith und Gerhard Binder, in der auch das Aeneidos Liber XIII enthalten ist, das Maffeo Vegio hinzugedichtet hat. Obgleich ich nach mehreren Umzügen manche Bücher nicht wiederfinde, mein Vergil ist immer griffbereit. Man kann darüber auch einschlafen. Auf jeden Fall hat Robert Lowell, der (wie Chief Inspector Morse) Klassische Philologie studiert hat, ein Gedicht geschrieben, das Falling Asleep over the Aeneid heißt. Das Ehepaar Binder bietet eine Prosaübersetzung, das ist zum Lesen sehr praktisch. Aber es fehlt die rollende Wucht der Hexameter:

Arma virumque cano, Troiae qui primus ab oris
Italiam fato profugus Laviniaque venit
litora, multum ille et terris iactatus et alto
vi superum, saevae memorem Iunonis ob iram,
multa quoque et bello passus, dum conderet urbem
inferretque deos Latio; genus unde Latinum
Albanique patres atque altae moenia Romae.


Irgendwie geht doch nichts über den guten alten Heinrich Voß, doch ich zitiere lieber einmal Hölderlins Freund Christian Ludwig Neuffer:

Waffen sind mein Gesang, und der Mann, der von Trojas Gefilden
Schicksalsflüchtig zuerst in Italia und an Lavinums Ufern erschien.
Viel jagte durch Länder ihn und Gewässer
Göttermacht denn Juno die schreckliche grollte gedenksam;
Viel auch erlitt er im Krieg, bis die Stadt er gegründet, und seine
Götter Latium gab. Von da der Latiner Verwandtschaft,
Und der Albanersenat, und die Mauern der mächtigen Roma.


Der Vergil Sommer in Hamburg. Ich denke immer noch an die Schöne aus dem Milchladen. Was wird aus ihr geworden sein? In einem meiner Traumspiele heiratet sie jemanden aus der Elbchaussee und lässt sich einmal in der Woche vom Chauffeur nach St Pauli zu dem Milchladen in der Karolinenstraße kutschieren.

Samstag, 19. September 2015

Übersetzer


Curt Meyer-Clason wurde heute vor 105 Jahren geboren, er war ein bedeutender Übersetzer, der vielen Lesern einen Zugang zur lateinamerikanischen Literatur ermöglichte. Er hat lange gelebt, länger als ein Jahrhundert, aber die Literatur war zuerst nicht sein Beruf. Sein Berufsleben fängt als Kaufmann in Bremen an, einer Stadt, die er immer gemocht hat. Doch lassen wir ihn selbst reden, das ist besser als der Wikipedia Artikel: Nach dem Besuch des Eberhard-Ludwig-Gymnasiums in Stuttgart bis zur Unterprima, hatte ich eine Banklehre gemacht, dann im Baumwollimport eine kaufmännische Ausbildung erhalten und als Baumwollklassierer und Korrespondent in Bremen und Le Havre gearbeitet. 

Für Edward T. Robertson & Son, Boston (Mass), USA, Cotton-Controller in Sao Paulo, von dort aus Brasiliens Häfen befahrend. In der argentinischen Provinz Santa Fe mit den Peones zum Märken der Jungstiere in die Pampa geritten; in Porto Alegre, Rio Grande do Sul, eine Möbelfirma verwaltet. In der Internierung [er war von 1942 bis 1944 als feindlicher Ausländer und angeblicher Spion der Nazis auf der Ilha Grande vor Rio de Janeiro (Bild) interniert] lesen gelernt: Rilke, Thomas Mann, Friedell, Montaigne, Pascal, Proust, Bernanos, Berdjiajew, Buber, die großen Russen. Anschließend im Lebensmittelhandel von Rio de Janeiro Kompensationsgeschäfte durchgeführt (brasilianisches Pinienholz gegen schottischen Whisky). 

Wenn er damals schon etwas übersetzte, dann war es aus dem ➱FranzösischenMerkwürdig, dass ich in all den Jahren nie etwas von brasilianischer Literatur gelesen hatte. Ich lernte das Portugiesische wie ein Papagei, wie ein Kind. Die Jahre auf der Ilha Grande waren für Meyer-Clason so etwas wie eine zweite Geburt. Auf diesem Photo ist Meyer-Clason der dritte von links. Rechts neben ihm steht João Guimarães Rosa, dessen ganzes Werk er übersetzt hat. In einem Brief von Rosa las er einmal: Und dann kam das wunderbare Wort, Meyer-Clason, traduzir e conviver, Übersetzen ist mitleben. Und da war natürlich mein innerster Kern angesprochen, mitleben mit der Lust am Erzählen.

Seit den fünfziger Jahren war er wieder in Deutschland, arbeitete als Verlagslektor und Übersetzer und wurde 1969 Leiter des Goethe Instituts in Lissabon (aus dieser Zeit stammen auch seine Portugiesischen Tagebücher): Unter Meyer-Clason wird das Deutsche Institut zu einem der geistigen Zentren des portugiesischen Widerstands gegen den Faschismus, schrieb Günter Wallraff in einem Artikel des Spiegel. 1969 war auch das Jahr, als ich seinen Namen zum ersten Mal las. Auf dem Cover des Suhrkamp Bandes von Robert Lowells Für die Toten der Union: Gedichte. Englisch und deutsch, Anmerkungen, eine Bio-Bibliographie und ein kluges Nachwort. Was kann man mehr verlangen?

Ich wusste damals nichts über ➱Curt Meyer-Clason, es gab noch keine Computer, mit denen man sich im Handumdrehen schlau machen konnte. Die südamerikanische Literatur ist nicht so sehr meine Sache, obgleich ich beinahe alles über ➱Guillermo Cabrera Infante weiß. Natürlich habe ich Hundert Jahre Einsamkeit gelesen, aber ich wusste nicht, dass Meyer-Clason das auch übersetzt hatte. Robert Lowells Gedichte waren nicht das einzige, das Meyer-Clason aus dem Englischen übersetzte. Er hat auch Brendan Behans Borstal Boy übertragen. Und, das ist sicher verdienstvoller, Isaiah Berlins Karl Marx. Das Buch wird ➱hier schon erwähnt. Isaiah Berlin taucht in diesem Blog immer wieder auf, wenn Sie einmal schmunzeln wollen, lesen Sie ➱White Christmas.

Der amerikanische Dichter Robert Lowell ist in Deutschland nie so recht bekannt geworden - und der Post ➱Robert Lowell ist leider auch kein Bestseller in meinem Blog. Dem Gedichtband von 1969 folgte bei Suhrkamp nichts nach. Erst 1976 gab es wieder einen deutschsprachigen Gedichtband von Lowell. Dessen Herausgeber im Nachwort schrieb: Es steht zu hoffen, daß die vorgelegten Proben auch für den Leser in der DDR zureichend belegen, daß Robert Lowell einer der beachtenswerten humanistischen Schriftsteller des zeitgenössischen Amerika ist, dessen Stimme es verdient, gehört zu werden, und dessen Poesie das Leben bereichert, weil sie dazu beiträgt, die Welt besser zu verstehen.

Die Übersetzungen der Gedichte stammten von Annemarie Bostroem, Karl Heinz Berger, Curt Meyer-Clason und Klaus-Dieter Sommer. Meyer-Clason war der einzige Übersetzer in Ein Fischnetz aus teerigem Garn zu knüpfen, der nicht aus der DDR kam, an ihm konnte der Herausgeber Joachim Krehayn wohl nicht vorbei. Die Zeitschrift für Anglistik und Amerikanistik schrieb 1980: Robert Lowell wurde dem großen Kreis der Lyrikfreunde in der DDR 1976 mit dem Band 'Ein Fischnetz aus teerigem Garn zu knüpfen' vorgestellt. Ich weiß nicht, ob der fünf (DDR-) Mark teure Band in der DDR ein Bestseller gewesen ist, aber ich habe auf jeden Fall ein Exemplar im Regal stehen.

Es hat bis 1982 gedauert, bis bei Klett/Cotta wieder ein Band zweisprachiger Gedichte von Lowell erschien, diesmal übersetzt von dem kreativen Anglisten Manfred Pfister. Der zusammen mit Jürgen Gutsch in der Edition Signathur das mehrbändige Werk Shakespeare's Sonnets Global herausgegeben hat, das die Rezeption und Übersetzung der Sonnets in 80 Sprachen und Kulturen dokumentiert. Die Edition Signathur wird in diesem Blog schon in dem Post ➱Michael Drayton vorgestellt, da geht es auch um Übersetzungen.

Die Farbe der Fremdheit in die eigene Sprachlandschaft herüberzuholen, war Curt Meyer-Clasons Ziel als Übersetzer: Mein Handwerk beginnt da, wo der echolose Raum des Hörsaales aufhört. Als Übersetzer versuche ich, ein Zwillingsbruder des Autors zu sein. Ich nehme mir immer vor, in seinem Namen und in seinem Geist, mit seiner Feder in meiner Sprache ein neues Buch zu schreiben. Den Text in eine neue Landschaft zu übersetzen, so wie man über einen Fluß setzt. Der Ton kommt mir vor dem gedruckten Wort: Schritt, Trab, Galopp oder Andante, Moderato, Scherzo, Adagio, Presto. Der Satz muß komponiert sein, hat er einmal über seine Tätigkeit gesagt. Der Zwillingsbruder des Autors hat ein gewaltiges Werk hinterlassen, das verdient unseren Respekt und unsere Hochachtung.

Das verdienen Übersetzer sowieso. Sie werden selten berühmt, werden auch selten gut bezahlt. ➱Harry Rowohlt, ➱Hans Wollschläger (der Joyces Ulysses übersetzte) oder ➱Wolfgang Butt (der Übersetzer von ➱Henning Mankell) sind da Ausnahmen. The art of translation is a subsidiary art and derivative. On this account it has never been granted the dignity of original work, and has suffered too much in the general judgement of letters. This natural underestimation of its value has had the bad practical effect of lowering the standard demanded, and in some periods has almost destroyed the art altogether. The corresponding misunderstanding of its character has added to its degradation: neither its importance nor its difficulty has been grasped. So beginnt Hilaire Belloc seinen ➱Essay On Translation im Jahre 1931, seine Sätze gelten vielleicht noch heute.

Es gibt eine Vielzahl von Theorien zur Übersetzung, aber die schlauen akademischen Bücher helfen in der Wirklichkeit nicht weiter. Interessanter (und für jeden Leser verständlich) ist da schon ➱Fritz Güttingers Buch Zielsprache. Der Schweizer Übersetzer und Essayist, mit dem ich eine lange Brieffreundschaft hatte, weiß, worüber er redet. Er hat ➱Melvilles Moby-Dick übersetzt, und viele andere Bücher mehr. Meine eigenen übersetzerischen Versuche liegen in einem Mäppchen, gut weggeschlossen. Das Abitur war noch nicht in Sicht, als ich dabei war, Walt Whitman, James Joyce (die Gedichte) und Ezra Pound zu übersetzen. Ich weiß, wie schwer das ist. Ich habe zehn Jahre lang den Übersetzungskurs Englisch-Deutsch an meiner Uni unterrichtet. Ich glaube immer noch, dass die Studentin, die den Filmtitel The Wild One mit Die wilde Eins übersetzte, mir eine Freude beim Korrigieren machen wollte.

Viele Übersetzer haben gesagt, es komme nicht so sehr darauf an, die fremde Sprache zu beherrschen, die eigene Sprache zu beherrschen, sei wichtiger. Ich bin eigentlich nach England gegangen, um deutsch schreiben zu lernen, hat Lichtenberg gesagt. Manchmal sind Schriftsteller gute Übersetzer. Nicht immer, Heinrich Bölls Übersetzung von ➱Salingers The Catcher in the Rye ist der Gegenbeweis. Und bei Arno Schmidt bin ich mir auch nicht so sicher, Peter Fleming und Wilkie Collins zu übersetzen, ist nicht gerade der Olymp der Literatur. Ich höre hier erst einmal mit der Kritik auf und zitiere Lessing: Gute Bücher verlangen gute Übersetzer, und diese sind unter uns seltener, als man denkt. Übersetzer und Übersetzungen sind in diesem Blog schon häufig thematisiert worden, ich liste das ganz unten einmal auf. Zum Schluss habe ich noch ein Gedicht, das Age de Carvalho zum neunzigsten Geburtstag von Curt Meyer-Clason geschrieben hat. Da können Sie schon mal ein bisschen übersetzen üben:

As árvores de Heine
a Curt Meyer-Clason, em seus 90 anos

Aqui te revejo, umpinheiro:
ein Fichtenbaum steht einsam
im Norden auf kahler Höh.
Teu manto deneve
se arrasta para o Sul,

er träumt von einer Palme,
sonha aquela,
aquela palmeira
palmeirinha, mata brasileira, da silva
 
die, fern im Morgenland 

que embaixo, do alto
desses anos,
te saúda
de pé
sobre o solo solitário onde,
lágrima alegre,
mana o milagre
de duas árvores-
irmãs.

Lesen Sie auch: Langenscheidt, Fritz Güttinger, The Seafarer, Heiligabend, Tagelied, Kreuzzug, Montaigne, Michael Drayton, William Shakespeare, Jacopo Sannazaro, Ludwig Tieck, Neujahr, Mai-Unruhen, Night Thoughts, Winter, Laurence Sterne, Tyger, Tyger, [ˈjoːhan ˈvɔlfɡaŋ fɔn ˈɡøːtə], Lord Byron, Sigrid Combüchen, Walt Whitman, Moby-Dick, Uwe Nettelbecks Melville, Krieg und Frieden, Maria Wolkonskaja Dracula, Wilkie Collins, Dante Gabriel Rossetti, Albatros, Berlin, Ehebruch, Flora Tristan, Ludwig Pfau, Marcel Proust, Temps retrouvé, Combray, Léo Malet, Bloomsday, Edith Södergran, Robert Lowell, Robert Graves, Familiengeschichte, Edgar Wallace, Eric Ambler, Ian Fleming, The Skin of Our Teeth, The Catcher in the Rye, Padgett Powell, Donder and Blitzen

Donnerstag, 17. September 2015

Schnelldampfer Bremen


Hier wird sie noch einmal schön angestrichen für die große Fahrt über den Atlantik. Die Bremer Speckflagge flattert stolz am Bug. Während der letzten Überfahrt der Bremen über den Atlantik hat der Kapitän Adolf Ahrens (der am 17. September 1879 in Geestemünde geboren wurde) das Schiff von Freiwilligen (das heißt: der gesamten Besatzung einschließlich der Musiker des Bordorchesters) grau streichen lassen. Während der Fahrt. Er wollte nicht, dass sein Schiff dem Engelsmann, wie er sich ausdrückte, in die Hände fällt.

Als er mit seiner Bremen den New Yorker Hafen verließ, hat er nicht die amerikanische ➱Nationalhymne The Star-Spangled Banner sondern das Horst Wessel Lied spielen lassen. Was ja eigentlich nichts anderes als das Lied vom Wildschütz Jennerwein ist (lesen Sie doch einmal den Post ➱The Happy Wanderer). Aber es ist natürlich ein schlimmes Lied, das der Bremer Kapitän da spielen lässt. Seine Schriften wie Die Siegesfahrt der Bremen oder Männer Schiffe Ozeane werden nach dem Krieg in der SBZ wegen ihres nationalsozialistischen Gedankenguts verboten werden.

Allerdings muss man bedenken, dass der größte Teil seiner Bücher von einem Ghostwriter namens Christian Hilker stammt, der aus Die Siegesfahrt der Bremen (man beachte allein den Titel) ein Propagandawerk gemacht hat. 1936 war Ahrens (als Nachfolger von Kommodore Leopold Ziegenbein) Kapitän der Bremen geworden, dem schnellsten und schönsten Schiff der Welt. Bei dem sogar der Schiffsname nachts beleuchtet war. Auf der Fahrt im September 1939 allerdings nicht mehr. Da ist alles dunkel. Es ist das Ende der deutschen Passagierschiffahrt.

Ich hoffe, dass es mir gelingt, euch gesund nach Hause zu bringen, hatte er der Besatzung am 30. August 1939 gesagt, als die Bremen ihre Heimfahrt antrat. Im letzten Krieg war er mit seinem Dampfer Derfflinger in Alexandria von den Engländern aufgebracht und fünf Jahre auf Malta interniert worden. Seit 1894 ist Ahrens auf See, da hat er als Schiffsjunge auf der Viermastbark Renée Rickmers angefangen. Den Bremerhavener Werftbesitzer Rickmer Clasen Rickmers kannte er, sein Vater war bei Rickmers der Gärtner. 1901 besteht der junge Ahrens sein Kapitänsexamen, danach ist er für den Norddeutschen Lloyd auf allen Weltmeeren. Meist in Ostasien. Nach dem Ersten Weltkrieg hatte Ahrens den elterlichen Gemüsehandel in Nordenham übernommen. Dass er kaufmännisch tätig war (wie es im Wikipedia Artikel steht) klingt natürlich besser, aber es war nun mal der Gemüsehandel.

Schon auf der Reise nach New York hatte er am 25. August 1939 südlich von Neufundland den Befehl empfangen, sofort nach Deutschland zurückzukehren und nur noch verschlüsselt zu funken. Der Kapitän Ahrens ist seit 1934 in der NSDAP, aber er gehorcht den Befehlen nicht. Er ist nicht ganz dumm. Er hat hohe amerikanische Diplomaten an Bord und der Sprit reicht nicht bis zurück nach Deutschland.

Doch als er in New York ist, tut er alles, um sofort wieder auszulaufen. Ohne Passagiere. So etwas wie die fünf Jahre Malta soll ihm nicht noch einmal passieren. Die Behörden machen ihm das Leben schwer. Ahrens ahnt, dass man ihn aufhalten will, um sein Schiff den Engländern zu übergeben. Aber als die Zollbeamten am Nachmittag des 30. Septembers das Schiff verlassen, legt Ahrens ab. Zuvor hatte man noch Strafantrag gegen einen desertierten Tellerwäscher gestellt, das ist deutsche Gründlichkeit. Da steht dann im Logbuch: Heute desertierte der Tellerwäscher R.M. geboren 30.8.1913, unter Mitnahme seiner Effekten, Strafantrag wird gestellt. Ich weiß nicht, ob dieser Tellerwäscher Millionär geworden ist, aber glücklicher als im Nazideutschland wird er in Amerika wohl geworden sein.

Dass er solche Photos von Passagieren an Bord der Bremen, die die Silhouette von New York betrachten, nicht mehr machen wird, das ist Hanns Tschira klar. Hanns Tschira arbeitet seit Ende der zwanziger Jahre als Photograph für den Norddeutschen Lloyd. Bei dieser Reise ist er auf der Bremen. Auf dem Leuchtband der Nachrichten am Times Building kann er Englands Erklärung lesen, bei einem deutschen Angriff auf Polen die Polen zu unterstützen. Mit einem Male ist mir die ganze Stadt verleidet. Daß unser Führer die polnischen Provokationen weiter hinnimmt, ist ausgeschlossen, das steht in dem Buch Die Bremen kehrt heim, das den Untertitel Deutscher Seemannsgeist und deutsche Kameradschaft retten ein Schiff hat. Herausgegeben in Kooperation mit der NS Gemeinschaft Kraft durch Freude. Die meisten Bilder in diesem Post stammen von Hanns Tschira, sie können auf dieser ➱Seite beinahe alles sehen, was er an Bord der Schiffe des Norddeutschen Lloyd photographiert hat.

Die Bremen (zweite von unten) wird eins der letzten deutschen Schiffe sein, das Amerika verlässt. Eigentlich wollte er lieber nach Kuba, aber die Telegramme aus Berlin sind jetzt eindeutig. Kuba ist nicht drin. Der Kapitän der französischen Normandie, die neben der Bremen liegt, lässt als Gruß einmal die Trikolore dippen. Sein Schiff wird den Rest des Krieges in New York bleiben. Ahrens schafft es, ohne dass ihn die Engländer aufhalten, über den Atlantik. Zwar nicht nach Bremerhaven, erst einmal in den noch neutralen Hafen Murmansk. Und von da aus im Dezember dann endlich doch nach Bremerhaven. 1940 verleiht ihm der Norddeutsche Lloyd den Titel eines Kommodore und der Bremer Senat die goldene Ehrenmedaille. Ein Jahr später wird er pensioniert.

Es ist viel Gewese um die Rückreise (die ja zu einer Siegesfahrt stilisiert wird) der Bremen gemacht worden. Niemand redet von dem Kommodore Friedrich Ferdinand Heinrich Kruse von der Hamburg Amerika Linie. Das Flaggschiff New York der Hapag ist auch Ende August vor New York. Es wird betankt und erreicht Murmansk zwei Tage nach der Bremen. Am 10. November 1939 ist die New York nach einer Schleichfahrt entlang der norwegischen Küste in Kiel-Holtenau. Aber da ist kein bekannter Photograph an Bord, der sofort ein Buch über die Fahrt schreibt wie Hanns Tschira. Und wahrscheinlich ist Kruse auch nicht in der Partei.

Hier, wo die Bremen von der Bremerhavener Kolumbuskaje ablegt, ist mein Opa mit Oma in den dreißiger Jahren bei einer der ersten Fahrten der Bremen an Bord gegangen. Einmal Bremerhaven nach Southampton, Touristenklasse. Zurück ging's mit Fähre und Bahn. Er hatte eine Speisekarte von dieser Reise aufbewahrt, die meine Mutter 1959 blöderweise der Reederei der neuen Bremen geschenkt hat. Sie kriegt einen Dankesbrief dafür und einen bunten Prospekt. Ich fand das völlig bescheuert von ihr, eine originale Speisekarte von einem Bremer Schiff wegzuschenken, das einmal das Blaue Band errungen hatte.

Am dritten September 1939, als die Bremen den sechzigsten Breitengrad erreicht, sagt Ahrens der Mannschaft, dass er niemals zulassen werden, dass sein Schiff der britischen Marine in die Hände fiele. Vorher werde es versenken. Und setzt hinzu: Obendrein zünde ich das Schiff noch an! Das Anzünden soll zwei Jahre später der siebzehnjährige Decksjunge Gustav Schmidt besorgt haben, der deshalb nach Marinerecht (die Bremen gehörte inzwischen der Kriegsmarine) zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Aber es gibt erhebliche Zweifel an dieser Darstellung.

Ahrens war die Verkörperung des befähigten Seemannes und Nautikers, der die angeborene Gabe besaß, mit bewunderswerter Sicherheit schwierige Situationen vorauszuahnen und unnachahmlich zu meistern, heißt es in der Bremischen Biographie über ihn. Dort wird auch sein Engagement für die Stiftung Haus Seefahrt in Grohn gelobt. Eine Leistung, die vielleicht größer ist, als die Bremen nach Hause zu bringen. Ahrens war als Schiffahrtsexperte von 1949–1953 als Mitglied der Deutschen Partei im Bundestag. Die konservative Partei, die nur in den norddeutschen Bundesländern antrat (und in Bremen die meisten Stimmen bekam) war damals sogar Regierungspartei.

War Ahrens ein Nazi? Das Kommando der Bremen hätte er wohl nicht bekommen, wäre er nicht in der Partei gewesen. Das war sein Vorgänger, der Kommodore ➱Leopold Ziegenbein, auf keinen Fall. Der war 1936 in Pension gegangen, offiziell aus Altersgründen (er war zweiundsechzig), in Wirklichkeit war es wohl eher eine Zwangspensionierung, an der er und die Reederei gleichermaßen interessiert waren. Er wäre nie auf die Idee gekommen, seine Briefe Mit deutschem Gruß und Heil Hitler zu unterzeichnen, wie Ahrens das tut. Er beendet offizielle Feiern der Mannschaft an Bord der Bremen mit einem dreifachen Hurra, nicht mit Sieg Heil. Dass 1934 das jüdische Bordpersonal entlassen wurde, hat er nicht verhindern können. Dass 1935 in New York die Hakenkreuzflagge vom Heck der Bremen gerissen wird, hat ihn nicht besonders berührt.

Er war ein Mann, der mit allen Situationen fertig wurde. Als er noch ein junger Seeoffizier auf der Prinz Ludwig war und sich eine Diplomatengattin kreischend über eine Ratte in ihrer Kabine beschwerte, wäre der gute Ruf der Schiffe des Norddeutschen Lloyds beschädigt gewesen. Wenn da nicht der Erste Offizier Leopold Ziegenbein gewesen wäre. Mit gewinnendem Lächeln dankte er der Dame für das Wiederauffinden des schon schmerzlich vermissten Maskottchens des Schiffes. Es braucht wohl nicht hinzugesetzt werden, dass die Ratte natürlich kein Maskottchen war.

Er war der berühmteste deutsche Kapitän seiner Zeit, die Stadt New York hatte ihn zum Ehrenbürger gemacht (oben ist er mit Graf Luckner zu sehen). Ziegenbein war ➱Freimaurer (und Rotarier), er verstand sich als nationaler Patriot und Weltbürger, der sich und seine Reederei immer als Botschafter seines Landes ansah. Albert Ballins Satz mein Feld ist die Welt könnte ihn charakterisieren. Aber das Deutschland der Nazis war nicht mehr das seine. Das waren sowieso freudlose Fahrten für den Mann, der die schönen Frauen liebte, geworden: der internationale Jet Set meidet deutsche Schiffe. Im Oktober 1936 teilt er dem Norddeutschen Lloyd seinen bevorstehenden Rücktritt aus gesundheitlichen Gründen mit.

Ziegenbein zog sich in sein Haus in Bremerhaven (wo es heute eine Kommodore Ziegenbein Promenade gibt) zurück und hisste die schwarz-weiß-rote Flagge, wenn die Bremen zurückkam. Niemals die mit dem Hakenkreuz. Es war für ihn der schmerzlichste Augenblick seines Lebens, die Bremen brennen zu sehen. Das war sein Schiff gewesen, er hatte schon die Bauaufsicht bei der AG Weser gehabt. Hatte der Mauretania das Blaue Band abgenommen und angeblich bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal ➱Cordon Bleu servieren lassen. Da hatte sogar ➱Willem aus seinem Exil in Doorn ein Glückwunschtelegramm gesandt. Als die Amerikaner Bremerhaven besetzen, verbannten sie Ziegenbein in seinem Haus unters Dach. Das hat der Ehrenbürger von New York ihnen übelgenommen. Die Bremische Biographie 1912-1962, die eine ganze Seite für Adolf Ahrens übrig hat, erwähnt Leopold Ziegenbein mit keinem Wort.

Ein Schiff, zwei Kapitäne. Und ein hingerichteter Schiffsjunge. Auf einer Sandbank bei Blexen kann man bei starker Ebbe noch die Reste des Schiffes sehen. 1959 gab es wieder eine Bremen, die kam aus Frankreich und hieß zuvor Pasteur. Ist bei uns in Vegesack umgebaut worden, ich konnte sie täglich sehen (sie kommt schon in den Posts ➱Monte Carlo or Bust! und ➱Fremdenlegion vor). Ihr erster Kapitän hieß Heinrich Lorenz. Seine Gattin Alice June Lofland (eine Cousine von Henry Cabot Lodge) war eine Amerikanerin, die im Krieg für die Amerikaner arbeitete. Sie wurde wegen Spionage verhaftet und mit ihrer Tochter Marita in ein Konzentrationslager gesperrt. Sie hat, wie ihre Tochter, ➱Bergen-Belsen überlebt. Und ➱Marita Lorenz hatte eines Tages eine Liebesaffäre mit Fidel Castro. Arbeitet dann nicht wie ihre Mutter für das NSC, sondern für die CIA und bekommt den Auftrag, Fidel Castro zu vergiften. Aber das ist eine andere Geschichte.

Adolf Ahrens' Buch Die Siegesfahrt der Bremen lag bei uns zu Hause herum, ich habe es gelesen, als ich noch klein war. Es war nicht so interessant wie die Erzählungen der Kapitäne, mit denen mein Vater befreundet war. Wenn Sie mehr zu der denkwürdigen Fahrt der Bremen lesen wollen, kann ich noch empfehlen: Klaus-Peter Kiedel, Die letzte Transatlantikreise des Schnelldampfers Bremen. In: Jahrbuch der Schiffbautechnischen Gesellschaft Vol. 98 (2004). Nils Aschenbeck, Schnelldampfer Bremen (1999). Peter A. Huchthausen, Shadow Voyage: The Extraordinary Wartime Escape Of The Legendary SS Bremen (2005) und Thomas Siemon, Ausbüxen, Vorwärtskommen, Pflicht erfüllen: Bremer Seeleute am Ende der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus 1930-1939 (2002).

Noch mehr Maritimes findet sich in den Posts: Theodor Heuss, Schnellboote, Minen, Segelboote, Havanna, Wetter, Untergang, Kapitänshunde, scrimshaw, Janice Meredith, A night to remember, Rum, Bounty, Larcum Kendalls K2, Admiral John Jervis, Invasion, Admiral John Byng, Eisbären, Horatio Nelson, Nelsons Orden, Darwin, Robert FitzRoy, Sklaverei, Amazing Grace, Sklavenschiff, Seeroman, Moby-DickJoseph Conrad, Gorch Fock, Bunga Bunga, Capri-FischerIsambard Kingdom Brunel, Cutty Sark, Segelschiffe, Adolph Bermpohl, Leuchttürme.