Mach da noch irgendwo Rot rein, Jay, sagt der Maler Heinz Recker,
Kokoschka hat das mit seiner roten O.K. Signatur auch gemacht. Ich habe meine blaue Periode, meine Bilder sind abgestufte Blauvarianten auf weißgrundierter Leinwand. Ich füge mich, das Bild vom Hamburger Rathaus und dem regennassen Rathausplatz bekommt ein freches rotes Jay Signet. Wahrscheinlich sitze ich als Strafe für diese Kokoschka Imitation ein Semester lang in Hamburg neben seiner Signatur auf dem riesigen
Bild, das in einem Hörsaal im Erdgeschoss des Philosophenturms hängt. Die blauen Türme der Kathedrale von
Amiens auf meinem Ölbild auch einen roten Fleck, da, wo die Glasrosette zwischen den Türmen ist.
Wir malen im Jugendheim Alt-Aumund, offiziell sind wir ein Volkshochschulkurs, aber der Heimleiter Hannes Meyer lässt uns viel Freiraum. Wir brauchen nicht jeden Bewerber für diesen Kurs aufzunehmen und dürfen auch noch malen, wenn er das Heim schon abgeschlossen hat. Die meisten von uns kommen vom Gerhard Rohlfs Gymnasium oder wie Renate vom Lyceum. Nur Traute kommt von der
Kleinen Helle in Bremen, Recker hat sie mitgebracht. Alle außer mir werden Kunst studieren und werden Kunsterzieher. Nur ich habe den Absprung in diese Welt nicht gewagt, immerhin werde ich
Kunstgeschichte studieren.
Und dabei hatte ich schon einen Fuß in der Tür, ich bin zusammen mit Uwe in
LiLaLerchenfeld gewesen, um mich nach den Aufnahmebedingungen zu erkundigen. Das erste, was ich sah, war jemand auf einer langen Leiter, der eine rote Linie an die Decke malte. Als ich ihn fragte, was er da mache, hat er mir gesagt, dass das Kunst sei. Es hieße
Endlose Linie. Ich denke mir, dass da kein Segen drauf liegt und lese auch wenig später in der Zeitung, dass es wegen der
Endlosen Linie in der Kunsthochschule Lerchenfeld in Hamburg einen Skandal gegeben habe. Der junge Linienmaler, dessen Name mir damals nichts sagt, ist von seiner Dozentur zurückgetreten. Es ist der Beginn der Karriere von Friedensreich Hundertwasser. Es tauchen jetzt ja viele neue Künstler auf, deren
'Kunst' nicht so ganz in einer Kunsthalle in einen Goldrahmen passt.
Uwe steht dem Ganzen aufgeschlossener gegenüber als ich, er schleppt mich auf eine
documenta nach Kassel mit (wo ich mir allerdings lieber die
Rembrandts angucke) und zu allen möglichen Happenings in Bremen.
Komm mit, wir müssen uns Otto Muehl angucken, sagt er. Ich weiß nicht, wer Otto Muehl ist, aber er soll heute in der PH ein Huhn über einer nackten Studentin schlachten und dann das Blut auf sie tropfen lassen. Das ist jetzt Kunst. Wir sehen aber an diesem Nachmittag keine toten Hühner und leider auch keine nackten Studentinnen. Die
Bremer Polizei hat den Ort des geplanten Happenings abgeriegelt. Otto Muehl wird Jahrzehnte später noch sieben Jahre in einem österreichischen Gefängnis sitzen, der Kunstvorbehalt gilt nun eben nicht für allen Quatsch. Wenn
Yves Klein mit gewisser Eleganz blau angemalte Frauen aufs Papier bringt, dann ist das vielleicht noch Kunst. Muehl ist nur ein schweinigelnder Prolli.
Heinz Recker ist ein sehr guter Kunstpädagoge, er fördert behutsam die Fähigkeiten der einzelnen. Er kann das besser als viele Kunsterzieher an der Schule. Er wird auch dafür sorgen, dass seine Malgruppe zu einer richtigen Ausstellung kommt. Die Kunsthalle hat in den Wallanlagen eine kleine
Ausstellungsfläche. Wenn man ehrlich ist, ist es eigentlich ein Bunkereingang zum Bunker unter dem Theaterberg gewesen, den man 1949 ohne Baugenehmigung zu einer
Kunst-Krypta umfunktionierte. Die hat man nun gerade geschlossen, aber die
Kunsthalle nutzt den Eingangsbereich (bis er 1968 eingeebnet wird) noch für kleinere Wechselausstellungen. Ich bin mit zwei Bildern dabei (Recker hat unsere Exponate ausgesucht), einem Portrait von Traute mit sehr blondem Blondschopf und einer Baggerseelandschaft in Eggestedt. Das Portrait von Traute schenke ich eines Tages dem Jugendheim, es wird da noch Jahre im Foyer hängen.
In der Volksschule habe ich immer eine Eins im Zeichenunterricht. Das Talent scheint in der Familie zu laufen.
Onkel Karl, der Bildhauer (hier seine Statue von Maxim Gorki), besitzt es natürlich. Meine Mutter hat auch etwas davon abbekommen. Und ein Rest scheint offensichtlich auch bei mir durch. Meine Mutter wollte an die Kunstschule, aber da gab es dieses
Nein des Vaters. Dafür wird sie ihn ewig hassen. Ich habe ihre Mappen aus ihrer Jugendzeit gesehen, jede Kunstschule hätte sie damit angenommen. Sie hatte Talent. Ich besitze eine Radierung von ihr aus den vierziger Jahren, wahrscheinlich ist es der Bullensee bei Rotenburg. Die würde da auch an der Wand hängen, wenn sie nicht von meiner Mutter wäre. Irgendwie kommt ihr dann auch der Krieg dazwischen. Man kann als Frau im Krieg schlecht an eine Kunstschule gehen, wenn man gerade zum Reichsarbeitsdienst muss.
Der Krieg, die Familie und das Zurechtwurschteln im Wirtschaftswunder haben die mögliche künstlerische Karriere meiner Mutter unterbrochen. Aber sie wird irgendwann wieder anfangen zu malen. Zuerst mit Kopien von Worpswedern. Da nimmt sie sich noch Zeit, und das Ergebnis ist auch gut. Erstaunlich, wie leicht doch
Worpsweder zu fälschen sind. Zwischen ihren
Overbecks und Modersohns und den Originalen ist kaum ein Unterschied zu erkennen. Es ist schade, dass sie sich nicht in dieser Phase an
Otto Ubbelohde versucht hat. Später wird das immer kitschiger. Ich versuche, sie dazu zu kriegen, dass sie langsamer malt, Schicht für Schicht. Malen ist wie Johann Sebastian Bach spielen, nicht ein Stück von Chopin auf dem Klavier hinzukitschen. Aber sie hört leider nicht auf mich.
In den ersten Jahren am Gymnasium habe ich Werner Schnieders als Kunstlehrer. Der ist wirklich gut, handwerklich und pädagogisch. Und er wohnt in einem stilvollen kleinen Haus, das
Ernst Becker-Sassenhof gebaut hat. Aber dann kommt für uns die Revolution. Sie hieß Waltraud Otto, trug einen schwarzen Pagenschnitt und war jünger als die anderen Lehrerinnen. Nicht wirklich, wie mir
Kunzes Kalender beweist, aber sie sah jünger aus. Und ihr scharfes Outfit (wer außer ihr trug schon Hosen?) hatte nichts mehr mit dem BDM-Look der anderen Lehrerinnen gemein. Es wurde gemunkelt, dass sie die Assistentin von Willy Fleckhaus bei der Zeitschrift
Twen gewesen sei.
Ich bin mal mit Uwe auf einer Tagung in Westerstede gewesen, Uwe wusste immer, wo Tagungen waren, bei denen man schulfrei bekommt. Da trat eine ältliche Kunstpädagogin mit Nickelbrille, Dutt und grauer Strickjacke auf, die ein Dutzend Exemplare dieser Zeitschrift als abschreckendes Beispiel für die Irrwege des Designs und die Gefahr der Verderbnis der Jugend herumreichte. Ich habe die dann alle mitgenommen. Das war eine pädagogische Maßnahme von mir, es sollte ja keiner in Gefahr geraten, solche Irrwege zu gehen. Unglücklicherweise stellte sich später heraus, dass die ältere Dame die Tante von Ute war. Damit bin ich bei Utes Familie endgültig unten durch, erst die Sache mit der
Harry Belafonte Platte und nun auch noch Kunstbanause.
Nein, Fräulein Otto war definitiv die neue Zeit. Bei ihr durften wir in der Kunst AG im Zeichensaal auch herumlaufen, gucken, was die anderen machten. Zuhören, was sie den anderen sagte. Ende des Frontalunterrichts. Leider nicht, sie wird uns verlassen und zum
Alten Gymnasium gehen. Die haben ja den Ruf in den schönen Künsten fortschrittlicher als wir zu sein. Und das ist auch wahr, seit der hervorragende Werner Schnieders pensioniert ist, sieht es bei uns in den Fächern Kunst und Werken kläglich aus. Das Gymnasium hat nur noch drei Kunstlehrer. Im letzten Jahr lande ich bei Frau Evers, die ich schon mal im Werkunterricht gehabt hatte (unser Werkunterricht in der Volksschule war besser).
Die ist ein echter Flop, ich mochte sie nicht, sie mochte mich nicht. Von Kunstgeschichte, was damals ja noch unterrichtet wurde, verstand ich mehr als sie, das wusste sie auch. Ich durfte nur nichts Böses sagen, weil meine damalige Freundin Renate für sie schwärmte. Aber da ist mir die Schule längst egal, da male ich bei Recker. Lehrer für Kunst an einem Gymnasium müssen Pädagogen sein, müssen handwerklich versiert in verschiedenen Techniken sein, sollten einen Überblick über die Geschichte der Kunst haben und sollten auch etwas von Kunst verstehen. Meistens mangelt es Kunstlehrern an der einen oder anderen Fähigkeit. Recker ist Maler, er ist kein beamteter Kunstlehrer und dennoch ein vorzüglicher Pädagoge. Und er versteht etwas davon, wovon er redet.
Aus der Gruppe unserer Secession vom gymnasialen Kunstunterricht, wird nur Uwe wirklich berühmt, er wird
Kunstprofessor werden. Allerdings gibt er das Malen schnell auf, widmet sich dann der Radierung (er besitzt sogar eine eigene Presse). Ich versuche ihn noch für ein Projekt zu gewinnen, bei dem seine Radierungen meine Gedichte illustrieren sollen, aber nach sechs Radierungen geht das Projekt den Bach runter (ich hatte wesentlich mehr Gedichte). Unsere Freundschaft wird daran nicht zerbrechen. Er wird Skulpturen entwerfen, die alle etwas mit der
Weser zu tun haben. Da kommen wir nun mal her. Eines Tages überrascht er mich damit, dass er sich voll auf Keramik konzentriert. Und wenn Uwe etwas macht, dann macht er das gründlich. Das rororo Sachbuch
Keramik in der Reihe
Deutsches Museum: Kulturgeschichte der Naturwissenschaften und der Technik im Jahre 1985 trägt seinen Namen. Es wurde in wesentlicher
Neubearbeitung 2003 vom Deutschen Porzellanmuseum wieder aufgelegt.
Ich wusste damals nicht, woran er schrieb (manchmal möchte man das ja auch niemandem sagen, man ist ja abergläubisch, solange es noch nicht fertig ist), er nervte mich mit Fragen nach einer guten englischen übergreifenden Technikgeschichte, als er beim Thema
Industrial Revolution angekommen war.
Entweder Du schreibst sie selbst oder Du nimmst J.D. Bernal, schreibe ich ihm. Wochen später kriege ich eine kryptische Karte, der ich entnehme, dass dieser geniale Kommunist mit seinem Buch
Science in History genau das Richtige war, was jemand, der wie Uwe das Establishment hasst, in dieser Situation brauchte. Wahrscheinlich steht deshalb in dem Rowohltband vorne drin:
Die Interpretation der Fakten gibt die Meinung des Autors, nicht die des Deutschen Museums wieder. Cool. Das Buch ist trotz dieser
reservatio zu einem Standardwerk geworden.
Traute und ich lernen uns in Reckers Kurs kennen, sie kennt Recker privat und kommt nur seinetwegen einmal in der Woche nach Nordbremen. Zwischen Vegesack und Bremen sind Welten, trotz der 23 Minuten, die der Zug braucht (mit dem
Trolleybus ist es länger). Außer Recker und der Malerei ist sie das Beste in diesem Kurs. Wir verknallen uns sofort ineinander. Sie sieht aus wie eine coole Blondine, aber sie ist kein bisschen cool und norddeutsch, eher leidenschaftlich. Wir sitzen in Bremer Bars, wir gehen zu Jazzkonzerten und gehen gemeinsam zu Partys und ihrem
Abtanzball bei der Tanzschule Schipfer-Hausa. Da hat meine Mutter auch tanzen gelernt.
In
Berlin, wohin wir mit unserer Malgruppe fahren (da wird gerade die
Mauer gebaut), werden wir in einem Schuppen sein, der das Heißeste der Hauptstadt sein soll. Dieses oberste Stockwerk eines Hochhauses am
Hohenzollerndamm, wo man nur mit einem Lastenaufzug hinkommt, ist schon etwas anderes als die
Lila Eule in Bremen. Heute heißt sowas Disco, anfang der sechziger Jahre war das neu. Wir sind damals in den Umkleidekabinen des Schwimmstadions des Olympiastadions untergebracht. Da muss man abends um zehn zurück sein, sonst ist das Tor zu. Traute ist die einzige Frau, die ich kenne, die mit einem engen Rock elegant mitternachts über das Tor des Olympiastadions klettert.
Traute und ich stellen uns an der Schlange vor der Kinokasse vom Atlantis Filmkunsttheater in der Böttcherstraße an, um Ingmar Bergmans
Das Schweigen zu sehen. Als wir an der Kasse sind, erfahren wir, dass der Film für die nächsten zwei Wochen ausverkauft ist. Na ja, eine filmische Unterweisung im Knutschen durch den schwedischen
Meisterregisseur hätten wir eh nicht gebraucht. Wir knutschen immer leidenschaftlich auf dem Grambker Friedhof, es ist da schön ruhig und das Haus ihrer Eltern liegt in der Straße dahinter. Irgendwann lernt sie beim Studium im Hamburg einen jungen Geschichtsstudenten kennen, der schon Hilfskraft bei einem berühmten Professor ist. Sie weiß nicht, wie sie sich entscheiden soll, er scheint ihr etwas Solideres zu sein als ich.
Zum Abschied werden wir im Nebel auf dem Deich von Lesumbrook entlanggehen, eine Inszenierung wie in Antonionis
Il Grido. Wir können nicht voneinander lassen. Wir werden uns auch immer mögen, wenn sie längst ihren Historiker geheiratet hat. Der weiß das auch, und seine Eifersucht wird nie wirklich aufhören. Sie wird früh sterben. Ein halbes Jahr vor ihrem Tod ruft sie mich an, ich sitze im Obstgarten meines Bruders an einem See in Schleswig-Holstein und habe da zum ersten Mal in meinem Leben ein mobiles Telephon in der Hand. So kann ich im Garten sitzen, während wir unser Leben und unsere Liebe Revue passieren lassen.
Ich bin mit ihm seit einem Vierteljahrhundert verheiratet, aber er ist immer noch eifersüchtig auf Dich, sagt sie. Sie weiß, dass sie in wenigen Monaten sterben wird, ihre Familie hat ihr zum Abschied noch einen Flug nach Hongkong geschenkt. Ich weiß nicht, was ich tun und sagen soll. Ich nehme mir nach dem Telephongespräch das neue Rennrad meines Bruders und knalle damit nach zwanzig Metern gegen das Hoftor. Niemand hat mir gesagt, dass dieses Rad keine Rücktrittsbremse hat. Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Ich hätte jetzt gerne das Portrait von ihr im Jugendheim Alt-Aumund wieder zurück, aber in Vegesack weiß keiner, wo es geblieben ist. So bleibt mir nur das Portrait, das mein Gedächtnis aufbewahrt. Ich wage es nicht, ihr Bild noch einmal zu malen.
Die Universität Kiel hat einen Zeichenlehrer, wie ich zu meinem Erstaunen bei der Immatrikulation feststelle. Diese Position gibt es schon seit dem 18. Jahrhundert, der Maler Theodor Rebenitz hat den Posten im 19. Jahrhundert einmal gehabt. Jetzt hat ihn H.H. Jessen. Der ist eigentlich an der Muthesius Kunsthochschule, aber er gibt diesen Kurs im Rahmen des kulturellen Angebots des Studentenwerks, wo man ja auch Theater spielen oder
Filmemacher werden kann. Jessen legt großen Wert darauf, dass er der Universitätszeichenlehrer ist, obgleich es diese Position eigentlich offiziell schon lange nicht mehr gibt. Bei ihm lernt man Zeichnen von der Pike auf. Im ersten Semester werden nur kleine Vierecke und Würfel gezeichnet, Perspektive geübt, Seiten zart schraffiert. Aktmodelle hätten jetzt natürlich mehr Pep, aber wir sind bei den kleinen Vierecken und Würfeln. Ich bin darüber eigentlich schon hinaus, aber meine Abstraktionen von Würfeln gefallen ihm ganz und gar nicht, also fange ich wieder ganz unten an. Zeichne blitzsaubere rechte Winkel, schraffiere parallel wie mit einem Lineal.
Detlev steigt an dieser Stelle aus dem Kurs aus, das hier ist unter seiner Würde. Detlev kann perfekt naturalistisch zeichnen. Sein Vater war Bauhausprofessor, er hat das Talent geerbt. Wir lernen alles über das Gewicht von Papierbögen, die Härte von Bleistiften, das ist schon substantiell. Allerdings wird es auch bei der langsamen Gründlichkeit Semester dauern, bis wir endlich draußen in der Natur sind. Dann ist unser Zeichensaal der alte Botanische Garten an der Kieler Förde. Inzwischen sind wir auch schon zu lavierten Federzeichnungen vorgedrungen. Ich sitze oben auf dem kleinen Pavillion und schaue über die Förde unter mir, warum das jetzt zeichnen? Mein Kopf speichert die Bilder sowieso.
Einmal wird Jesssen uns am Semesterende zu sich nach Hause einladen und wird am Ende des Abends Mappen voller Aquarelle hervorholen. Er ist im Krieg in einer Propagandakompanie gewesen und hat den ganzen Russlandfeldzug gezeichnet und mit farbiger Tusche laviert. Die Mappen sind chronologisch geordnet. Die ersten Bilder zeigen noch eine Sommerlandschaft mit
Birkenwäldern. Die, von denen Hermann Bollenhagen gesprochen hat. Dann wird die Landschaft karger, die Grüntöne sind nicht mehr in der Landschaft, nur noch in den Wehrmachtsuniformen. Dann wird alles grau und weiß, der russische Winter ist da. Die Wehrmacht hat nicht so viel von Napoleons Feldzug gelernt. Auch wenn das
Beresinalied der Schweizergarden damals noch in manchen Liederbüchern stand. Da, in der letzten Mappe, wo die Bilder immer weißer werden, wie das Ende von
Arthur Gordon Pym, hätte auch das Bild
Der Chasseur im Wald von
Caspar David Friedrich eingeklebt sein können.
Mein Vater hat nicht nur ein halbes Dutzend
Kapitäne zu Freunden, er kennt auch richtige Künstler. Willy Mrowetz geht bei uns ein und aus, bei seinem Bruder werde ich einmal Malunterricht haben, und beinahe immer wenn wir Oma in Blumenthal besuchen, fahren wir bei
Willi Vogel vorbei, von dem dieses hübsche Bild der Vegesacker Strandstraße stammt. Willy Mrowetz ist mein Lieblingskünstler, er könnte auf dem Jahrmarkt als Schnellzeichner auftreten, er kann Zauberkunststücke, einen Salto aus dem Stand rückwärts (auch noch im hohen Alter), und gibt man ihm eine Puppe in die Hand, wird er zum Bauchredner. Seine Frau Elfriede ist ein Gesamtkunstwerk, sie muß Stunden des Tages vor dem Spiegel verbringen, um in solch abgestuften Farbtönungen von den Schuhen bis zur Spitze der
beehive Frisur auftreten zu können. Und immer in anderen Farben. Ich bewundere das.
Willy kriegt im Alter noch eine Beamtenstelle beim Bremer Bauamt und überwacht die an den Häusern Bremens angebrachte Reklame. Ich bin froh für ihn, dass er diese Stelle mit einer Rentenberechtigung noch bekommen hat, er ist sonst als kommerzieller Künstler nicht so erfolgreich. Nur vom Design für Kneipenschilder wie dem Weißen Hirschen in Walle kann man auch nicht leben. In dem Lokal gucken wir häufig bei der Rückfahrt von Bremen vorbei, mein Vater kennt den Wirt Rohlwing genauso wie die beiden Brüder Mrowetz seit den dreißiger Jahren.
Die Zahnbehandlungen hat Willy bei meinem Vater immer umsonst. Dafür malt er auch den Partykeller mit weinflaschenschwingenden Mönchen aus und verziert das Wochenendhaus in Zwischenahn mit Darstellungen des Bremer Rolands, der
Stadtmusikanten und so weiter. Willy redet kein Wort mehr mit seinem Bruder Emil, es muss da irgendwann ein Zerwürfnis gegeben haben, an dem auch die Ehefrauen nicht unbeteiligt waren. Emil ist ein ernsthafter Künstler,
Manfred Hausmann wäre von ihm begeistert. Utes Tante auch. Er entwirft sakrale Skulpturen. Schon sein Vater war Bildhauer und Altarbaumeister. Er ist im gleichen Jahr geboren wie mein Vater, ist das neunzehnte von einundzwanzig Kindern. Wenn es nach mir ginge, dann hätte ich ja lieber Unterricht im Schnellzeichnen bei Willy gehabt, aber mein Vater schickt mich zu dem richtigen, großen Künstler.
Gut, ich meine das damals ironisch, wir werden auch nicht miteinander warm. Er ist nett, keine Frage, aber er ist eben nicht Willy. Bei ihm ist alles durchgeistigt, er sieht auch so aus, wie man sich in den fünfziger Jahren einen durchgeistigten Künstler vorstellt. Er sieht ein wenig aus wie
Arno Schmidt, aber vielleicht liegt das auch an der scheußlichen fünfziger Jahre Brille. Er ist auch kein Pädagoge, ich werde in seinem kalten Studio in der Neustadt nichts Substantielles lernen. Bei Recker lerne ich, wie man eine Leinwand grundiert, wie man Bleiweiß verwendet, wie man einzelne Schichten aufträgt, wie man den Spachtel einsetzt (mit dem Spachtel ist Recker gut). Das ist eigentlich das, was ich lernen will,
the tricks of the trade.
Emil Mrowetz' Bilder und Zeichnungen (von denen ich noch etliche besitze) sind wahrscheinlich auch nicht sein Hauptwerk, er wird für seine Reliefs und Skulpturen berühmter werden. Bis 1973 ist er Vorstandsmitglied des Bremer Künstlerbundes. Zu seinem 85. Geburtstag wird der Bremer Hauschild Verlag eine
Werkschau seines Schaffens herausgeben. Manches von dem, was da abgebildet ist, steht oder hängt in den Wohnzimmern unseres Hauses. Er wird irgendwann von Bremen nach Uchte, dem Heimatort seiner Frau, ziehen. Dort wird es 2002 eine
Emil Mrowetz Stiftung geben, die sein Hauptwerk ausstellt. Ich werde ihm und seiner Stiftung nach dem Tod meiner Eltern zahlreiche Werke schenken, was ihn sehr glücklich macht.
Ich hätte auch nicht gewusst, wo ich sie hätte hintun sollen. Ich bin gerade beim Umziehen und muß mich eh von vielem trennen.
Gabi schickt mir eine Karte, auf der Claude Chabrol abgebildet ist. Daneben steht der Satz
On ne peut pas tout avoir. Et puis d’abord où le mettrait-on? Mrowetz schenkt mir ein Aquarell aus den fünfziger Jahren im Gegenzug, wohin damit? Ich mag es nicht, aber den geschnitzten Frauenkopf von ihm aus den fünfziger Jahren habe ich immer behalten. Obgleich der als Kunstwerk nicht gegen die kleine Skulptur von Onkel Karl bestehen kann. Onkel Karl ist die internationale Moderne, der Frauenkopf von Mrowetz ist religiöses Kunstgewerbe.
Meine Karriere als Maler vertrocknet irgendwann wie die Ölfarbe. Ich verbringe mehr Zeit im
Photolabor, das ich im Keller des Hauses habe (dort entwickle ich auch die Röntgenfilme für meinen Vater) als vor der Leinwand. Ich hätte ein guter Gebrauchsgraphiker werden können. Vieles, was heute als Kunst verkauft wird, hätte ich auch hingekriegt. Ich bringe gute Fälschungen von Jasper Johns
American Flag zustande, die sich meine Freunde ins Wohnzimmer hängen. Meine blauen Meereslandschaften aus der Spraydose kommen auch gut an (sogar eine richtige dänische Malerin findet die gut). Ich zeichne für Heidi ein Kinderbuch
Aus dem Leben eines Maulwurfs, aber das ist es dann auch. Ich kann ja nach der Pensionierung wieder damit anfangen, sage ich mir. Wie Gerhart Hauptmanns Michael Kramer weiß ich, dass mir der ganz große Wurf nie gelingen wird. Wenn ich das technische Können von
Odd Nerdrum hätte, das wäre es gewesen. Nicht dass ich so gemalt hätte wie er, nur allein zu wissen, dass man so malen könnte. Wenn ich eines Tages mit dem Bloggen aufhöre und wieder einen Bleistift, eine Feder oder einen Pinsel in die Hand nehme, dann fälsche ich Aquarelle von
Thomas Girtin oder
John Sell Cotman, das habe ich mir schon fest vorgenommen.