Samstag, 30. Juli 2022

Made in Italy: Lorenzini


Im Jahre 1995 feierte der Bremer Herrenausstatter Stiesing das hundertjährige Bestehen mit einer Festschrift. Komm in die Stadt, und werde Kaufmann: 100 Jahre Stiesing in Bremen wurde von zwei in Bremen bekannten Journalisten, Hermann Gutmann, Hermann und Günther Obitz geschrieben. Beide hatten schon zahlreiche Bücher veröffentlicht, von Obitz stammt auch ein Nachruf auf den Bremer Unternehmer Wolfgang Ritter, der einst Kokoschka beauftragte, den Bremer Rathausmarkt zu malen.

Das 126-seitige Buch, das sich noch antiquarisch finden lässt, ist reichhaltig illustriert. Eine Häfte des Buches handelt von Stiesing und Bremen, der Rest ist Werbung. Man kann das Buch als ein Who is Who der internationalen Mode lesen, alle berühmten Firmen der Konfektion sind hier vertreten. Manche Firmen, die 1995 noch groß waren, gibt es heute nicht mehr. Toni Gard ist inzwischen Modegeschichte, von DAKS hört man auch nicht mehr viel, und von Baldessarini existiert nur noch der Name, nicht mehr die Qualität. Die 1921 gegründete italienische Hemdenfirma Lorenzini aus Merate ist auch in dem Band vertreten.

Und das mit zwei Seiten, eine ganzseitige Anzeige und eine Seite Text, der uns informiert: In Italien gibt es sie noch immer, die kleinen, feinen Manufakturen, die auf das Erzeugen hoher Qualität spezialisiert, unbeirrt der Tradition folgen. Die Namen dieser Garanten des Außergewöhnlichen raunen sich Connaisseurs zu. Erlesenes - das weiß man- muß nicht jedermann bekannt sein. Es genügt, unter Kennern berühmt zu sein. Lorenzini ist es. Wer hier raunt, ist nicht das Autorengespann Gutmann und Opitz. Das ist ein anderer, der seinen Text mit Claus A. Froh signiert hat. Der Stiesing Kunde, der wie ich, den Band damals geschenkt bekam, hat mit dem Namen wahrscheinlich nicht viel anfangen können. Aber unter Kennern ist dieser Claus A. Froh berühmt, er ist, seinem Vorbild David Ogilvy folgend, zu einem der berühmtesten Männer der Werbung geworden. Von 1977 bis 1997 war er für die Lorenzini Werbung verantwortlich, die er weltweit zu schalten verstand. Seine Anzeigen finden sich schon 1978 im Spiegel und noch 1996 im New Yorker. Der Text aus der Stiesing Festschrift stand übrigens schon 1992 wortwörtlich im Spiegel. Claus A. Froh hat Lorenzini (und Aida Barni) zur Weltgeltung verholfen.

Stiesings Festschrift kam in einem Schuber, der in dunkelgrünem Tartanmuster gehalten war. Diesen Tartan hatte sich Stiesing extra bei Harrisons in Edinburgh entwerfen lassen. Die Anglomanie der Hansestädter treibt ja manchmal seltsame Blüten. Im Text von Claus A. Froh wird den Stiesing Kunden versichtert, dass nur wenige Geschäfte auserwählt seien, sich Deposito Lorenzini zu nennen, Stiesing gehöre dazu. Dabei waren die Hemden aus Merate damals keine Seltenheit, es gab sie überall. Bei Braun in Hamburg zum Beispiel, die wie Stiesing Mitglied im Masculin Modekreis waren. Es gab sie auch in Kiel, weil mein Freund Kelly, der mir mein erstes Lorenzini Hemd verkaufte, von Anfang an auf Italiener setzte. Es gab bei ihm Lorenzini, Truzzi, Orian und Guy Rover. Manche Marken blieben nicht lange, bei den Italienern gehörten immer Lieferschwierigkeiten zum Alltag. 

Mit diesem Angebot an Italienern war Kelly nicht allein. Eine neue Generation von Herrenausstattern setzte jetzt auf Italien. Da waren Dietmar Kirsch und Thomas Friese (Thomas-I-Punkt) in Hamburg und Uli Knecht bundesweit. Vor allem ist aber Dolf Selbach mit seinen Luxusläden in Düsseldorf, Berlin und Hamburg zu nennen, dem viele italienische Firmen wie zum Beispiel Aida Barni verdankten, dass man sie wahrnahm. Der Kunstsammler, den Andy Warhol portraitierte, kaufte nicht nur, was die Firmen ihm anboten, er ließ auch in Italien nach eigenen Entwürfen Kleidung herstellen. Manchmal auch in Deutschland, nicht alles, was ein Etikett Spezialanfertigung für Selbach trug, war erstklassig. Lorenzini hatte Selbach von Anfang an im Angebot, und Claus A. Froh textete im SpiegelDolf Selbach hat in Deutschland als erster bewiesen, daß Eleganz bequem sein kann ... Mag sein, daß er deshalb die Herren Hemden von Lorenzini so schätzt, führt und - wie man sieht - selber trägt. 1999 verkaufte Selbach sein Unternehmen an die Eduard Dressler Firmengruppe, was den langsamen Untergang von Dressler bedeutete. Sie hatten sich finanziell übernommen. Selbachs Kunstsammlung wurde nach seinem Tod in Berlin versteigert.

Lorenzini hatte damals ja schöne Anzeigen. Aber die Zusammenarbeit mit Claus A. Froh hörte 1997 auf, und niemand weiß wirklich, was mit Lorenzini dann geschah. Im Jahre 2008 mussten sie ihre Hemdenfabrik in Nembro (Bergamo) schliessen. Wenn Sie sehen wollen, wie die verlassene Lorenzini Fabrik aussieht, dann klicken Sie hier. Die Fabrik in Merate wurde 2015 geschlossen, sie beherbergt heute die Firma Permedica, die künstliche Hüftgelenke herstellt. Auf einer Anzeige im Internet aus dem Jahre 2017 kann man lesen, dass Lorenzini ab Januar 2018 wieder in den Geschäften vorrätig sein wird. Solche Botschaften hörte man damals auch als Philippe Brenninkmeijer Regent übernommen hatte. Wir wissen, was dann kam. Angeblich gibt es einen e-commerce, aber würde da jemand bestellen?

In Nembro hatte Massimo Pomari, der vierzehn Jahre bei Lorenzini gearbeitet hatte, vierzehn der sechsundsechzig arbeitslos gewordenen Näherinnen aus der Camiceria Lorenzini in seine kleine Firma Filo di fate srl übernommen. Die nähen jetzt bei ihm Herren- und Damenhemden, Pyjamas und Morgenmäntel. Die Hemden tragen den Namen Filo di fate, sind Made in Italy und sollen die gleiche Qualität wie Lorenzini Hemden haben. Man rechnet mit einer Produktion von 20.000 Artikeln pro Jahr. Die Firma ist bei Facebook präsent, ob ihre Hemden jemals in deutsche Läden kommen, weiß ich nicht. Aber mit Sätzen wie Lorenzini shirts have a distinct timelessness, and are renowned for their subtle elegance, as well as their unique and sophisticated details ist es vorbei. 

Es gibt noch eine andere Firmengeschichte von Lorenzini, und das sind die Jahre ihrer Zusammenarbeit mit Ralph Lauren. Es ist nirgendwo nachzulesen, aber Fachleute gehen davon aus, dass Lorenzini für Lauren die Hemden Ralph Lauren Purple Label gefertigt hat. Die Hemden mit den violetten Etiketten wurden beworben mit dem Satz: Dedicated to the highest level of quality, Ralph Lauren Purple Label is the ultimate expression of luxury for today's modern gentleman. So etwas konnte der Ralph Lifshitz aus der Bronx, der mit sechzehn seinen Namen in Lauren geändert hatte, natürlich nicht in China oder Vietnam herstellen lassen, die mussten schon das Made in Italy Label tragen. Lauren konnte sich natürlich nicht die Hemden von Truzzi oder Finamore machen lassen, das wäre zu teuer gewesen. Er suchte eine angeschlagene Manufaktur, die dankbar für Aufträge war. Ralph Lauren ist ein kleiner Gernegroß, der ein Gentleman sein möchte. Der englische Kritiker Stephen Bayley hat in Taste: The Secret Meaning of Things bösartig über ihn gesagt: How does a working-class Jew from Mosholu Parkway dare pass off the tribal costumes of the Ivy League as if he owned them? 

Im Bereich der Herrenkonfektion hatten schon verschiedene italienische Firmen negative Erfahrungen mit Ralph Lauren gemacht. Zuerst ließ er Jacketts und Anzüge bei Nervesa herstellen, die gerade einer Pleite entgangen waren. Dann zog er weiter. Zur Sartoria Sant'Andrea, die auch als Saint Andrews fungiert, blieb da aber auch nicht lange, sondern wanderte zu Cantarelli. Von den Hemden von Laurens Luxuslinie habe ich fünf Stück, alle bei ebay oder dem Secondhand Laden Weltgewand gekauft. Das teuerste war 20,50 €, das preiswerteste kostete mich zehn Euro. Ob die Hemden wirklich die vier-, fünfhundert Euro wert sind, die Lauren dafür verlangt, das weiß ich nicht. Die Hemden sind von guter Qualität, sie haben gute Knopflöcher, aber keine handgenähten. Sie haben kleine Dreiecke (gussets) in der Seitennaht und das unterste Knopfloch ist quergestellt. Ist ein Qualitätszeichen, ahmt aber inzwischen jeder nach. Manche haben eine geteilte Schulterpasse (wie das Hemd im Absatz oben), andere nicht. Aber kein Hemd hat einen angepassten Musterverlauf, das wahre Qualitätszeichen von Luxushemden. Und man sollte vor einer Kaufentscheidung natürlich bedenken, dass man für den Ladenpreis eines Ralph Lauren Purple Label (the zenith in terms of artisanal quality) auch ein Hemd von Attolini, Finamore, Fray oder Lilian Fock bekommt.

Dienstag, 26. Juli 2022

skying

Keine Ahnung von Mythologie und klassischen Regeln, doch Wolken malen kann dieser Friedrich, sagt der Geheimrat Goethe über den Maler Caspar David Friedrich in Lea Singers Roman Anatomie der Wolken. Sie haben sich nicht nur im Roman, sondern auch in der Wirklichkeit einmal getroffen, Goethe hielt allerdings wenig von Friedrichs Kunst. Die Bilder von Maler Friedrich können ebensogut auf den Kopf gesehen werden, hat er gesagt. In Lea Singers Roman diskutieren die Herren über Wolken. Goethe, der selbst Wolkenstudien betreibt, hat Luke Howards On the Modification of Clouds gelesen und will das dem Maler näherbringen. Er scheitert damit, Caspar David Friedrich hält nichts von den neumodischen meteorologischen Erkenntnissen. Für Goethe, der sich in einem Gedicht als Schüler Howards bezeichnete, ist der Londoner Apotheker ein Genie, für ihn schreibt der Hobbymetereologe Goethe 1821 sogar ein Gedicht: Howards Ehrengedächtnis:

Er aber, Howard, gibt mit reinem Sinn 
Uns neuer Lehre herrlichsten Gewinn;
Was sich nicht halten, nicht erreichen läßt,
Er faßt es an, er hält zuerst es fest;
Bestimmt das Unbestimmte, schränkt es ein,
Benennt es treffend! - Sei die Ehre dein! 

In dem Jahr, in dem Goethe Howards Ehrengedächtnis schreibt, beginnt ein englischer Maler mit einer Tätigkeit, die er skying nennt, schnelle Skizzen vom Himmel und den Wolken anzufertigen. Die über einhundert cloud studies, die er 1821 und 1822 malt, wird er nicht verkaufen; sie finden sich nach seinem Tod beinahe vollständig in seinem Studio. Es ist ein zweckfreies Malen, Constable wird keine dieser Skizzen für seine Gemälde verwenden. Das Malen ist für ihn ein Ausdruck des Gefühls: painting is with me but another word for feeling, schreibt er seinem Freund John Fisher. So sehr wir heute diese cloud studies bewundern, muss man auch sagen, dass unser Maler mit diesen schnellen Bildern mit dünner Ölfarbe auf Papier nicht der erste ist, der so etwas macht. 

Denn da ist der Franzose Pierre-Henri de Valenciennes, den Simone Schultze in ihrer Doktorarbeit den wahren Entdecker des auf der Leinwand festgehaltenen unmittelbaren Eindrucks der Natur genannt hat. Valenciennes hatte schon um 1780 Wolkenstudien wie diese hier angefertigt. Flüchtige Skizzen, worin die Natur auf frischer That erhascht wird. Im Original heißt es in seinem Traktat über die Malerei saisir la Nature sur le fait, und das ist das ganze Geheimnis dieser Malerei. Werner Busch, einer der wenigen deutschen Kunsthistoriker, der sich immer wieder mit der englischen Malerei beschäftgt hat, schreibt dazu: Wenn Constable später sagen sollte, der Himmel sei die 'key note' des Landschaftsbildes und die 'source of light in nature - and governs everything' dann hat Valenciennes dies ähnlich schon zuvor festgestellt: 'Man muss sich recht innig überzeugen, dass von dem Tone der Luft [‘du tont du ciel'] das Ganze des Gemähldes abhängt...'. Und zum Schluss folgt die berühmte Passage, die selten vollständig zitiert wird, was hier nach der deutschen Ausgabe von 1803 durchaus der Fall sein soll: 'Es ist gut, wenn man dieselbe Aussicht zu verschiedenen Stunden des Tages mahlt, damit man die Ver­schiedenheit, welche durch das Licht an der Form der Dinge entsteht [‘que produit la lumiere sur les formes’], desto besser beobachten lerne. Die Veränderungen sind so auffallend und so erstaunlich, dass man kaum dieselben Gegenstände wieder erkennt'.

Was Busch hier zitiert ist Valenciennes Rathgeber für Zeichner und Mahler, besonders in dem Fache der Landschaftsmahlerei, der auch deutsche Maler wie zum Beispiel Carl Blechen beeinflusst haben kann. Vielleicht sogar Caspar David Friedrich: Nichtsdestotrotz hat Friedrich bereits in seinem Skizzenbuch von 1806-1808 ausführlich Wolkenstudien betrieben, allerdings nur mit dem Bleistift und nach den Empfehlungen von Pierre-Henri de Valenciennes, der bei der Flüchtigkeit der Wolken vorschlug, die Farbbenennungen einfach nur in Worten aufs Blatt zu schreiben, schreibt Busch in Das unklassische Bild: von Tizian bis Constable und Turner. Wenn Sie mehr zu Valenciennes, Constable und Friedrich lesen woillen, habe ich hier Buschs gewichtigen Aufsatz Alles Unvollständige ist der Zeitlichkeit unterworfen: Der Anteil des Betrachters an der 'Vervollständigung' der Kunst um 1800 für Sie.

Das hier ist nach zwei Bildern von Valenciennes mal wieder ein Constable. Was Constable über sein skying zu sagen hat, findet sich in dem vielzitierten Brief an seinen Freund John Fisher vom 23. Oktober 1821, in dem er auch auf die Kritik eingeht, dass seine Himmel zu viel Gewicht im Bild hätten: That landscape painter who does not make his skies a very material part of his composition neglects to avail himself of one of his greatest aids. Sir Joshua Reynolds, speaking of the landscapes of Titian, of Salvator, and of Claude, says : ' Even their skies seem to sympathise with their subjects.' I have often been advised to consider my sky as 'a white sheet thrown behind the objects.' Certainly, if the sky is obtrusive, as mine are, it is bad; but if it is evaded, as mine are not, it is worse; it must and always shall with me make an effectual part of the composition. It will be difficult to name a class of landscape in which the sky is not the keynote, the standard of scale, and the chief organ of sentiment. You may conceive, then, what a 'white sheet' would do for me, impressed as I am with these notions, and they cannot be erroneous. 

The sky is the source of light in nature, and governs everything; even our common observations on the weather of every day are altogether suggested by it. The difficulty of skies in painting is very great, both as to composition and execution; because, with all their brilliancy, they ought not to come forward, or, indeed, be hardly thought of any more than extreme distances are; but this does not apply to phenomena or accidental effects of sky, because they always attract particularly. I may say all this to you, though you do not want to be told that I know very well what I am about, and that my skies have not been neglected, though they have often failed in execution, no doubt, from an over-anxiety about them which will alone destroy that easy appearance which nature always has in all her movements. Constable hat seinen Freund und Gönner, der inzwischen Bischof von Salisbury geworden war, in sein vielleicht schönstes Bild, die Kathedrale von Salisbury, hineingemalt. Constable hat Valenciennes Buch nicht gekannt, wollte man Vorbilder für seine Himmel suchen, so wären wohl Alexander Cozens und Thomas Jones zu nennen.

Der erste Kunsthistoriker, der sich mit Constables Wolkenkunst beschäftigte, ist der in die Emigration vertriebene Deutsche Kurt Badt gewesen. Sein Buch Constable's Clouds erschien, übersetzt von Stanley Godman, 1950 bei Routledge & Kegan Paul und noch einmal 1971 als Reprint bei Albert Saifer in Philadelphia. Beide Ausgaben sind vergriffen. Vielleicht ist etwas von dem deutschsprachigen Manuskript, das nie veröffentlicht wurde, in Badts Buch Wolkenbilder und Wolkengedichte der Romantik gewandert. Ich wollte immer einmal etwas über Kurt Badt schreiben, vorerst muss das genügen, was in den Posts John Constables Wolken und limited but abstracted art über ihn steht.

In seinem schönen, essayistischen Buch Wolkendienst, das vor fünf Jahren auf der Shortlist der Leipziger Buchmesse stand, widmet Klaus Reichert John Constable ein Kapitel. In dem wir auch erfahren können, dass der Pianist Alfred Brendel in Hampstead in einem Haus wohnt, in dessen Nachbarschaft John Constable einst seine Werkstatt hatte. Von wo er hinausging auf die Heide von Hampstead, um seinem skying nachzugehen. Das Kapitel zeigt uns auch, dass Klaus Reichert alles gelesen hat, was Werner Busch über Constable geschrieben hat. Das Kapitel ist dem Dichter Jan Wagner zugeeignet, und auf den letzten Seiten des Essaybandes erfahren wir, dass Jan Wagner ein John Constable Gedicht geschrieben hat. Ich musste einige Zeit suchen, bis ich es in dem Band Die Live Butterfly Show fand:

constable: wolkenstudien

»I am the man of clouds.«
(John Constable)

für Klaus Reichert

kaum da, fast nichts – doch wie sie dieser landschaft 
gewicht verleihen, wenn sie ihren bogen 
beschreiben, alle himmel sich beziehen; 
alpen des augenblicks, als haufenwolken, 
in zirren, jagen schatten über feld 
und wiese, geben alldem einen rahmen.

die heide, hampstead, ihre panoramen,
und in der ferne london, die gesellschaft.
er steht auf seinem hügel wie en feld-
herr, fängt bei sonne, unterm regenbogen,
im hagelschauer ein, was mit den wolken
entsteht. schon morgens in der hand das ziehen

und kribbeln, dieser wunsch, hinauszuziehen
zu wandern, um mit farben, lappen, rahmen
die dinge ins verhältnis zu den wolken
zu setzen. wie er allem sinn verschafft,
den pinsel führt wie einen geigenbogen;
die hand, die glatt, nicht faltig ist, geriffelt.

als junge stundenlang in einem feld
zu liegen und die schemen vorzuziehen
den kinderspielen, trommel, pfeil und bogen,
weil sie nicht dauern, aber alle dramen
zu spiegeln wissen, ängste, leidenschaft:
wer wolken zusah, wurde selbst zu wolken,

reiste mit einer kühnen flotte wolken
nach süden richtung windsor oder felt-
ham teil der großen wolkenbruderschaft, 
wo streit nie bitter ist und schnell verziehen. 
in einem stall beginnt die milch zu rahmen. 
das eisen in der schmiede wird gebogen.

der himmel jetzt so rot wie mohn, wie bougain- 
villea, und die zukunft hinter wolken
versteckt – die ehrungen im edlen rahmen
des louvre, der academy, im vorfeld
marias schwindsucht, kinder großzuziehen –, 
und wieder greift er nach dem pinselschaft,

weil doch der nächste bogen weiß es schafft, 
all das zu rahmen, was schon jetzt zerfällt, 
indem die wolken stetig weiterziehen.



Samstag, 23. Juli 2022

Made in Italy

Ich habe über englische Oberhemden geschrieben und über Schweizer Hemden, und ich habe dabei angekündigt, dass ich irgendwann etwas über italienische Hemden schreiben werde. Wobei in dem Post Hemdenkauf bei ebay schon einiges über die italienische Firma Borrelli gesagt wurde. Und die Firma Guy Rover hat hier auch schon einen Post. Dass ich beim Tippen am Computer Sweatshirts und italienische Hemden trage, das habe ich schon häufiger erwähnt.

Italienische Hemden haben nicht nur Freunde, die Größen stimmen selten. Für viele sind sie zu klein, italienische Konfektionsgrößen haben wenig mit der europäischen Norm zu tun. Vor allem die schmalen Manschetten werden beklagt. Rolex Besitzer kriegen ihre Uhr nicht unter die Manschette. Deshalb hat der Fiat Boss Agnelli seine Uhren immer über der Manschette getragen. Was ihm viele Italiener nachgemacht haben. Für andere sind italienische Hemden die ultima ratio des Oberhemds, das klingt dann in der Werbung eines Händlers so: Beim Herrenausstatter Michael Jondral finden Sie nicht nur ein perfekt passendes Business Hemd von namhaften sartorialen Häusern wie Finamore oder Cesare Attolini. Sie tauchen vielmehr in die Welt von neapolitanischer Raffinesse ein. Es gibt nämlich Männer Hemden und dann gibt es wiederum Herren Hemden, falls Sie verstehen was wir meinen

Michael Jondral hat in Hannover Heinrich Zaple beerbt. Der kommt in diesem Blog schon in dem Post Opernhaus Hannover vor, wo ich schrieb: Modisch gesehen bot Hannover damals noch nicht viel, Heinrich's, H.B. Möller und Michael Jondral gab es noch nicht. Ich mochte Terner, wohin ich manchmal meine Mutter auf ihren modischen Beutezügen begleitete, die hatten früher immer gute Belvest und Isaia Jacketts. Heute haben sie nur noch Canali, alle anderen Marken scheinen in dem kleinen Klamottentempel von Jondral versammelt zu sein. Als ich an der Herresoffiziersschule Hannover war und diese Uniform trug, gab es noch keine italienischen Hemden auf dem Markt. Dass die Münchener Firma Konen eine Linie Atelier Torino hat und dass der Namensgeber für viele C&A Produkte mal ein berühmter italienischer Designer war, das lassen wir mal draußen vor.

Der erste Italiener bei uns im Ort hieß Chiamulera, aber der handelte nicht mit Hemden, der verkaufte Speiseeis. Ich habe erst viel später erfahren, dass die Chiamuleras nicht zu den Italienern gehörten, die in den fünfziger Jahren in die BRD kamen, die Familie war schon seit den Kaiserszeiten in Bremen. In den fünfziger Jahren kamen Hemden aus Bielefeld, immer weiß und von der Hausfrau liebevoll gestärkt. Und als Sahnehäubchen obendrauf gab es im Angebot van Laack und eine Firma, die Création Otto Hoffmann Paris hieß. Die kam allerdings nicht aus Paris, sondern aus Recklinghausen. Mein Otto Hoffmann Hemd, dass ich bei Carl Tiefenthal am Neuen Wall in Hamburg gekauft habe, habe ich schon in dem Post Hathaway erwähnt.

Für ihre Auswahl an Hemden waren die Bremer Herrenaustatter nicht berühmt, egal, ob sie Hespen, Stiesing oder Kalich hießen. Stiesing in der Sögestraße, 1895 gegründet, war das älteste Haus am Platze. Hespen am Wall gab es seit 1910. Hans Kalich in der Böttcherstraße, der auch eine Dependance auf Juist hatte, war das neueste Geschäft. Kalich war der erste, der im Gegensatz zu den an der englischen Mode orientierten Geschäften Stiesing und Hespen, konsequent auf Italiener setzte (Charlie Hespen hatte aber auch interessante Dänen im Angebot). Italienische Hemden fand man bei Kalich allerdings auch nicht. Aber die Zeit wird kommen.

Wenn man dem Einerlei der weißen Hemden entkommen wollte, dann gab es in Bremen eine Adresse. Das war Hugo Nolte in der Sögestraße 58, gegenüber von Stiesing. Das 1890 gegründete Geschäft bezog seine Hemden aus Bielefeld und von Daniel Schagen in Aachen, aber alle Hemden trugen nur das Etikett von Hugo Nolte mit den verschlungenen Buchstaben H und N und der Jahrezahl 1890. Das Schöne war, dass es nicht nur weiße Hemden gab. Es gab auch gestreifte Hemden, Hemden mit rundem Kragen und Tab- oder Piccadilly Kragen, das Angebot war unglaublich. Ein weißes Hemd mit dünnen blauen und schwarzen Streifen (und rundem Kragen) war jahrelang mein Lieblingshemd.

Sie fragen sich, wo die italienischen Hemden bleiben. Keine Sorge, die kommen noch. Doch viele italienische Firmen, die heute berühmt sind, gibt es 1960 noch nicht. Wenige sind so alt wie Truzzi (1890), Lorenzini (1920), Finamore (1925) oder Rubinacci (1932). Borrelli wurde 1957 gegründet, Poggianti 1958, Fray 1962. Etro tritt erst 1968 in Erscheinung, doch da hatten sie aber noch keine Hemden im Programm. Bagutta ist seit 1975 auf dem Markt, aber die Mutterfirma Confezioni Italiane Tessili (die auch erstklassige Hemden für andere Firmen herstellt) gibt es seit 1939. Wenn ich das Jahr 1960 nenne, dann hat das seinen Grund. In Christian Francks Die Bekleidungsindustrie in der EWG können wir lesen, dass die Hemdenproduktion Italiens von 1957 bis 1960 um 64 Prozent gestiegen ist (die der hergestellten Anzüge sogar um 300 Prozent). Jetzt kommen die Italiener wirklich.

Was erst einmal zu uns kam, waren Hemden mit diesem Kragen mit den tiefgezogenen langen Schenkeln. So etwas, was Marcello Mastroianni hier trägt. Die wurden als italienische Hemden verkauft, obgleich sie häufig gar nicht aus Italien kamen. Was man jetzt verkaufen kann, ist der italienische Stil, für den der gran bell'uomo Mastroianni ein Symbol ist. In den Sechzigern wurde 'Made in Italy' zum Gütesiegel in Mode und Design. Vespa, Cinquecento, Entwürfe von Pucci und Ferragamo - Marcello, der unfreiwillige Latin Lover, ist bis heute das Gesicht dazu, schrieb Anne Goebel 2018 in der Süddeutschen

Die italienischen Firmen brauchen keine Werbung zu machen, das machen andere für sie: die Filmindustrie. Der Begriff Hollywood on the Tiber ist in diesen Tagen gepägt worden. Hier sehen wir Marlon Brando mit Guglielmo Battistoni, der 1946 in Rom sein Geschäft für Oberhemden und Seidenpyjamas eröffnet hat. Bei Battistoni kaufen in jenen Tagen auch Vittorio de Sica, Marc Chagall, John Steinbeck, Cole Porter, Humphrey Bogart (der Lauren Bacall mitbrachte), Kirk Douglas und Gianni Agnelli. Das Geschäft ist nicht nur der Treffpunkt für den internationalen Jetset, es wird auch der Lieblingsladen des Herzogs von Windsor. Lesen Sie mehr zu diesem Kapitel der italienischen Modegeschichte in dem ausführlichen Post Cinecittà und die Mode. Die fünfziger Jahre sind die große Zeit der italienischen Mode, das wird nicht so bleiben. Dass aber, wie heute, die Chinesen die Konfektionsindustrie der Toskana beherrschen, auf die Idee wäre niemand gekommen. Da hat das Made in Italy eine völlig neue Bedeutung bekommen.

Ich muss noch einmal auf die Ikone des stile italiano Mastroianni zurückkommen. Der Herr links auf den Photo ist Bruno Piatelli, der Mastroiannis Anzüge für beinahe alle seine Filme gemacht hat. Den Neopren Anzug, den Mastroianni in La Dolce Vita unter seinem Anzug trägt, weil ihm das Wasser im Trevi Trunnen zu kalt ist, den hat Piatelli allerdings nicht gemacht. Anita Ekberg trägt in der Szene nur Anita Ekberg unter ihrem Kleid.

Dies ist der erste Post zu dem Thema italienische Hemden, es werden noch andere folgen. 1930 hatte Benito Mussolini erklärt, dass es einen italienischen Einrichtungs-, Dekorations- und Kleidungsstil noch nicht gebe, aber es könne ihn geben, also müsse er jetzt entstehen. Ich weiß nicht, wie er sich den stile italiano vorgestellt hat. Seine Uniformen und schlechtsitzenden Anzüge können es wohl nicht gewesen sein. Mussolini hat Ermenegildo Zegna zum Grafen gemacht, weil er ein vorbildlicher Unternehmer war, dem seine Arbeiter am Herzen lagen. Die Zegnas waren damals Weber, Herrenoberbekleidung stellten sie noch nicht her. Wenn sie 1968 diese Bühne betreten, nennt man sie Designer. Das bedeutet nicht, dass sie Hemden nähen können, die macht ein anderer für sie. Der Kunde glaubt, dass der Name des Designers für Qualität steht, aber das ist ein Irrglaube. Das kleine Etikett Made in Italy bedeutet nicht immer, dass das Produkt von hervorragender Qualität ist.

Dienstag, 19. Juli 2022

Gottfried Keller


Gottfried Keller hat heute Geburtstag, er wird in diesem Blog immer wieder erwähnt. Ich bin aber noch nicht dazu gekommen, über Der grüne Heinrich zu schreiben, vielleicht kommt das ja nochmal. Wichtiger scheint es mir, einmal das Interesse auf das Jahr 1819 zu lenken, das Geburtsjahr von Königin Victoria und einer Vielzahl von Autoren, die die wichtigsten Werke des Jahrhunderts schreiben werden: Gottfried Keller, Klaus Groth und Theodor Fontane, Arthur Hugh Clough, John Ruskin und George Eliot. Und Herman Melville und Walt Whitman. Ob man daraus eine Theorie machen kann?

Das habe ich vor vier Jahren in dem Post 1819 geschrieben. Gottfried Keller ist schon in den Posts Othmar SchoeckPfingsten und silvae: Wälder: Lesen erwähnt worden, aber über den Grünen Heinrich habe ich immer noch nicht geschrieben. Dabei habe ich den Roman gelesen, sogar beide Fassungen. Durch Zufall entdeckte ich vor Tagen bei einem ebay Händler (ich suchte eigentlich etwas ganz anderes) einen Roman von Keller, den ich nicht kannte. Er hieß Don Correa: Ein kleiner Abenteurer-Roman. 1923 erschienen als Band 16 der Schweizerischen Bibliothek mit den Illustrationen von Eduard Stiefel und einer Einleitung von Theodor Bohner, der auch eine vierbändige Keller Ausgabe herausgebracht hat. Der Rhein-Verlag zu Basel, bei dem das Buch erschien, wird wenig später Rhein-Verlag Zürich heißen, die deutsche Ausgabe von James Joyces Ulysses ist hier erschienen.

Es war mir schnell klar, dass Gottfried Keller keinen Abenteurerroman namens Don Correa geschrieben hat. Die abenteuerliche Geschichte des portugiesischen Admirals Don Correa und seiner beiden Ehefrauen ist eine Novelle, die sich in Kellers Werk Das Sinngedicht findet. Das könnten Sie heute hier lesen, vielleicht ist das für Sie ein Einstieg in Gottfried Kellers Welt. Und über den Grünen Heinrich schreibe ich ein anderes Mal. Man kann die Novellen des Sinngedichts ab zwei Euro antiquarisch bekommen, für zehn Euro kriegt man schon die historisch-kritische Ausgabe des Stroemfeld Verlags (mit CD ROM). Meine Ausgabe des Aufbau Verlags Berlin und Weimar hat mir Harald Eschenburg senior vor vielen Jahren für zwei Mark verkauft. Für zwei Euro kriegt man die heute auch noch.

Sonntag, 17. Juli 2022

Croix de Guerre


Das Croix de Guerre ist ein Orden, der im Ersten Weltkrieg durch den französischen Staatspräsidenten Raymond Poincaré gestiftet wurde. In diesem Blog sind schon zahlreiche Träger des Ordens erwähnt worden: Georges BraqueBlaise Cendrars und der Philosoph Gaston Bachelard. Und der ehemalige Stabsfeldwebel Charles Godefroy, der trug bei seinem Flug unter dem Arc de Triomphe hindurch seine Uniform mit dem Croix de Guerre (lesen Sie mehr dazu in dem Post Piloten). Im Zweiten Weltkrieg hat Jean Gabin den Orden bekommen, nicht für seine Erfolge als Schauspieler: er war der älteste Panzerkommandant der fusiliers marins. Hier ein Photo von Jean Gabin, wie man ihn nicht unbedingt kennt.

Ich komme auf das Croix de Guerre, weil ich mir gerade den siebten Band der Frankfurter Ausgabe von Marcel Prousts Recherche gekauft habe. Diese Ausgabe, die seit 2004 auch als Taschenbuch lieferbar ist, hat ja hervorragende Kritiken bekommen. Der Schweizer Romanist Luzius Keller hat mit Sibylla Laemmel und der Unterstützung eines Teams die Übersetzung von Eva Rechel-Mertens überarbeitet und in vielen Teilen neu übersetzt. Das Buch enthält einen mehr als hundert Seiten langen Anhang mit Anmerkungen, eine Resumee der Handlung und einem Bericht über die Editionsarbeit. Das ist sehr schön, besser geht es nicht. Das alles findet sich in der alten Suhrkamp Ausgabe von 1960 nicht. Aber man muss bedenken, das Eva Rechel-Mertens, nicht ein derart riesiges Team von Assistenten und Helfern zur Seite stand wie Luzius Keller.

In ihrer Dankesrede zur Verleihung des Johann Heinrich Voß Preises 1966 hat Eva Rechel-Mertens gesagt: Eines freilich glaube ich sagen zu können: wenn man die gesamte 'Recherche du Temps perdu' und den 'Jean Santeuil' übersetzt hat, darf man wohl für sich in Anspruch nehmen, gewissermaßen die Hohe Schule der Übersetzung durchlaufen zu haben. Mit welchem Prädikat? Sie hier, meine Herren, haben mir zu meiner großen Freude ein gutes zuerkannt. Aber das endgültige wird eine andere Instanz mir erteilen, und zwar ‒ ich schließe mit dem Wort, das Proust an das Ende seines großen Werkes gesetzt hat ‒ die ZEIT. Sie schreibt in ihrem Manuskript das Wort Zeit in Versalien, das hatte sie sie in Die wiedergefundene Zeit auch getan. Luzius Keller schreibt das letzte Wort des Romans klein. Warum? Schließlich hatte Proust das Wort in seinem Buch in den letzten Sätzen des Romans auch groß geschrieben. Die Zeit, die für ihn hier etwas ganz Besonderes ist, wird durch Kellers Kleinschreibung zu etwas ganz Gewöhnlichem. Bei genauerer Betrachtung von Luzius Kellers Text wird man viele Stellen finden, die einen daran zweifeln lassen, ob diese Version des Textes wirklich notwendig war.

Das Croix de Guerre taucht am Anfang von Prousts Die wiedergefundene Zeit auf. Der Berufsoffizier Robert de Saint-Loup (ein Verwandter von Baron de Charlus und den Guermantes), den Proust mit der Extravaganz seiner hohen Képis und seiner Hose aus einem zu feinen und zu rosaroten Tuch als eleganten Mann beschreibt, ist etwas derangiert. Er hat seinen Orden verloren. Im einem Bordell für Homosexuelle, of all places. Eva Rechel-Mertens hatte das Croix de Guerre mit Kriegskreuz eingedeutscht. Und was macht die Frankfurter Ausgabe? Auch da ist es das Kriegskreuz. Ich halte diese völlig unnötige Eindeutschung des Ordens für einen Fehler des Übersetzers. Erstaunlicherweise übersetzt Bernd-Jürgen Fischer, dessen bei Reclam erschienene Übersetzung von den Rezensenten als frischer und moderner als die Mertens/Keller/Laemmel Übersetzung gelobt wurde, das Croix de Guerre auch wieder mit Kriegskreuz

Dank Bernd-Jürgen Fischer ist Reclam zu einem Proust Verlag geworden, sie vermarkten seine Neuübersetzung im Internet ziemlich aggressiv. Erfreulicherweise haben sie gerade die durchgesehene Neuauflage von Fischers Handbuch zu Marcel Prousts 'Auf der Suche nach der verlorenen Zeit' als preisgünstiges Taschenbuch herausgebracht. Das passt zu der Neuauflage von Ulrike Sprengers Das Proust-ABC. Der normale Leser ist mit Fischers Handbuch sicherlich besser bedient, als wenn er ein Vermögen für Luzius Keller vergriffenes Proust Enzyklopädie ausgeben würde. Ich mag die Übersetzung Fischers nicht besonders, das habe ich schon in Eine Liebe von Swann gesagt.

Die Frage ist, wie vergleicht man Übersetzungen? Eine Möglichkeit ist der berühmte Seite 99 Test. Die Literaturkritikerin Sieglinde Geisel hat das in ihrem Magazin tell gemacht. Schauen Sie mal hinein. Und dann machen Sie bei allen Büchern, die Sie nicht zuende gelesen haben, den Seite 99 Test.

Mittwoch, 13. Juli 2022

Philip Mazzei


Dieses Schild hatte ich in dem Post die Berufsreise abgebildet, weil es auf das Haus hinweist, in dem General Riedesel mit seiner Familie einst wohnte. Das Haus, das hier um 1770 von den Arbeitern errichtet worden war, die eine Meile weiter Jeffersons palladianischen Landsitz Monticello bauten, ist um 1930 abgerissen worden. Leider hat man versäumt, vor dem Abriß Photographien von diesem historischen Bauwerk anzufertigen. Auf dem Schild steht: The house was built about 1770 by workmen engaged in building Monticello. Mazzei, an Italian, lived here for some years adapting grape culture to Virginia. Baron de Riedesel, captured at Saratoga in 1777, lived here with his family, 1779–1780. Scenes in Ford’s novel, Janice Meredith, are laid here. Dass die Riedesels hier waren, das wissen wir jetzt. Auf den ersten Besitzer Philip (oder Filippo) Mazzei kommte ich gleich noch. Aber den letzten Satz des Schildes Scenes in Ford’s novel, Janice Meredith, are laid here, den hatte ich nicht weiter kommentiert.

Was ich hätte tun können, weil ich über den Roman Janice Meredith von Paul Leicester Ford, von dem ich sogar eine signierte Erstausgabe besitze, schon einmal geschrieben habe. Das war ein Post, der Peter Nicolaisen damals sehr gefallen hat. Ich gebe mal eben eine kurze Probe aus dem Text des historischen Romans Janice Meredith: A sudden end came to these amusements by an untoward event. Janice and General de Riedesel had made the flower-garden at Colle their particular charge, working there, despite the heat, for hours each day, till early in August, when one day the baron was found lying in a pathway unconscious, his face blue, his hands white, and his eyes staring. He was hurriedly carried into the house, and when the army surgeon arrived, it was found to be a case of sunstroke. Though he was bled copiously, the sufferer improved but slowly, and before he was convalescent developed the ‘river’ or ‘breakbone fever.’ Finally he was ordered over the mountains to the Warm Springs, to see whether their waters might not benefit him. Die Geschichte hat der Autor des Romans nicht erfunden, General Riedesel hatte wirklich einen Hitzschlag: General von Riedesel hingegen war zum Farmer geworden bepflanzte einen großen Garten, hielt sich Tiere und wäre bei der Feldarbeit beinahe einem Hitzschlag erlegen ... Die Sonne, die gut ist für Mazzeis Weinreben, ist nicht gut für Generäle, die sich weigen, einen Hut aufzusetzen. Jefferson erlaubte Riedesl, Colle zu verlassen und sich in einen Kurort zu begeben. The heat was so great, even during the night, that we were obliged to sleep with open windows, schreibt Friedrike Riedesel. Ich nehme das einmal aus einer englischen Quelle, die Baronin kann kein Englisch und sie lernt es auch nicht, sie spricht deutsch und französisch.

In der Sprache wird sich auch Fords Romanheldin Janice Meredith (hier Marion Davies als Janice in dem Stummfilm The Beautiful Rebel 1924) mit Madame unterhalten, die Details in diesem historischen Roman stimmen alle. Was seinen Grund darin hat, dass Ford mehr als jeder andere in Amerika über Thomas Jefferson weiß. Er hat nämlich The Works of Thomas Jefferson in zwölf Bänden herausgegeben. Das ist für das nächste halbe Jahrhundert die Standardausgabe, bis der Professor Julian P. Boyd von der Princeton University die Papers of Thomas Jefferson herausgibt. Erstaunlicherweise wird das in dem deutschen Wikipedia Artikel zu Paul Leicester Ford überhaupt nicht erwähnt.

Bevor die Riedesels sich mit Hilfe von Jeffersons Handwerkern ein neues Haus errichten lassen, wohnen sie erst einmal im Haus von Philip Mazzei. Was Friedrike Riedesel nun gar nicht gefällt, sie mag diesen Italiener überhaupt nicht: Das Haus, in dem wir wohnten, und das ganze Gut gehörte einem Italiener, der, da er einige Zeit abwesend sein wollte, es uns überließ. Wir sahen seiner und seiner Frau und Tochter Abreise mit Verlangen entgegen, weil das Haus weil das Haus nur klein war und sie uns überdieß wegen der nur wenigen vorhandenen Lebensmittel beschwerlich fielen.

Friedrike hat nicht begriffen, dass der italienische Arzt, der inzwischen Amerikaner geworden ist, ein bedeutender Mann ist. Zu seinem 250. Geburtstag im Jahre 1980 wird die amerikanische Post eine Gedenkmarke mit der Aufschrift Patriot Remembered herausbringen, das hatte der Kongress so beschlossen. Die Familie Mazzei baut seit Jahrhunderten in der Toskana Wein an (und tut das heute immer noch); und Mazzei beginnt 1773 mit dem Weinbau in Virginia auf dem Grundstück, das im Jefferson überlassen hat. I thank you for your obliging acct of the culture of the Vine, and am happy to hear that your plantation of them is in so prosperous a way. I have long been of opinion from the spontaneous growth of the vine, that the climate and soil in many parts of Virginia were well fitted for Vineyards & that Wine, sooner or later would become a valuable article of produce—The relation of your experiments convince me I was right, schreibt ihm George Washington im Jahre 1779.

1779 ist auch das Jahr, in dem Mazzei sein Landgut, das er Il Colle genannt hat, verlässt. Zur großen Erleichterung von Madame Riedesel. Er reist in geheimen Auftrag nach Europa, er soll Geld und Waffen für die Revolution beschaffen. Allerdings kapern die Engländer sein Schiff und verschleppen ihn nach Irland. Die Papiere, die er von Jefferson und Patrick Henry bekam, hat er sicherheitshalber bei dem Angriff über Bord geworfen. Er wird den Engländern entkommen und in den nächsten Jahren als eine Art geheimer Diplomat für die amerikanischen Revolutionäre tätig sein. Das ist eine Geschichte, die eines Romans würdig ist. 

Wenn er nach Virginia zurückkommen, wird er sein Landgut nicht wiedererkennen. Von den Weinreben, auf die er so stolz war, ist nichts übrig geblieben. Darüber wird Jefferson später schreiben: In this state of the thing he was himself employed by the state of Virginia to go to Europe as their agent to do some particular business. He rented his place to General Riedesel, whose horses in one week destroyed the whole labour of three or four years, and thus ended an experiment, which, from every appearance, would in a year or two more have established the practicability of that branch of culture in America. This is the sum of the experiment as exactly as I am able to state it from memory, Jefferson wird das Land zurückkaufen, wenn Mazzei Amerika verlässt, heute heißt die Region Jefferson's Vineyards

Nicht nur, weil er als agent to do some particular business für Virginia unterwegs ist (wofür ihn der Staat Virginia später finanziell entschädigen und beloben wird), hat der Weltbürger aus Florenz den Ruf eines amerikanischen Patrioten verdient. Da ist noch etwas anderes, nämlich zwei Sätze aus einer politischen Schrift Mazzeis, die 1773 in John Pinkneys Virginia Gazette erschien. John F. Kennedy hat in A Nation of Immigrants geschrieben: The great doctrine 'All men are created equal' and incorporated into the Declaration of Independence by Thomas Jefferson, was paraphrased from the writing of Philip Mazzei, an Italian-born patriot and pamphleteer, who was a close friend of Jefferson. A few alleged scholars try to discredit Mazzei as the creator of this statement and idea, saying that 'there is no mention of it anywhere until after the Declaration was published'. This phrase appears in Italian in Mazzei's own hand, written in Italian, several years prior to the writing of the Declaration of Independence. Mazzei and Jefferson often exchanged ideas about true liberty and freedom. No one man can take complete credit for the ideals of American democracy. 

Diese zwei Sätze, dass alle Menschen von Natur aus gleich sind und frei. Diese Gleichheit ist die Grundlage für die Erschaffung einer liberalen Regierungsform, werden zur Grundlage der Declaration of Independence, deren Anfang Jefferson offenbar bei seinem Freund Mazzei entlehnt hat. Die Sache hat allerdings einen kleinen Schönheitsfehler, kein Exemplar der Virginia Gazette mit Mazzeis Artikel ist je gefunden worden. Mazzei hat von seinem handschriftlichen Manuskript den Text in seine Autobiographie eingefügt, wo der Text posthum publiziert wurde. Und ja, da steht es: Tutti gli uomini sono per natura egualmente liberi e indipendenti. Wir lassen das mal so stehen. Oder sie lesen mehr dazu bei Professor Giovanni Ermenegildo Schiavo.

In einem Brief an den Juristen Giovanni Carmignani, der Jefferson nach dem Tod Mazzeis dessen Testment geschickt hatte, schreibt Jefferson: I learn this event with great affliction, altho' his advanced age had given reason to apprehend it. an intimacy of 40. years had proved to me his great worth; and a friendship, which had begun in personal acquaintance, was maintained after separation, without abatement, by a constant interchange of letters. his esteem too in this country was very general; his early & zealous cooperation in the establishment of our independance having acquired for him here a great degree of favor. 

Man hat Philip Mazzei nicht vergessen, das zeigen die 40 cent Airmail Briefmarke, das Zitat von Kennedy oder die Rede von Barack Obama. Man kann auch immer noch lesen, was er geschrieben hat. Das Buch Philip Mazzei, Virginia's Agent in Europe: The Story of His Mission as Related in His Own Dispatches and Other Documents ist als Paperback erhältlich (oder hier anklickbar), und seine dreibändige Autobiographie Memoirs of the Life and peregrinations of the n Philip Mazzei 1730-1816, 1942 bei der Columbia University Press in der Übersetzung von Howard R. Marraro aufgelegt, ist antiquarisch noch zu finden. Die 40 cent Briefmarke aus dem Jahre 1980 kostet bei ebay einen Euro. Und für die Flasche Mazzei Castello Fonterutoli, auf deren Etikett sein leicht verfremdetes Portrait ist, müssen Sie ungefähr dreißig Euro auf den Tisch legen. 

Montag, 11. Juli 2022

die Berufsreise


Als Peter Nicolaisen sein Buch über Thomas Jefferson schrieb, sagte er mir, ich müsste unbedingt mal die Lebenserinnerungen der Baronin Riedesel lesen. Ich hatte noch nie von der Baronin Riedesel gehört, ich ging in die Universitätsbibliothek und wühlte mich durch die Karteikarten des Katalogs. Es gab da seit dem 16. Jahrhundert viel über die Familie Riedesel. Aber ich fand das Buch, das ich suchte: Die Berufsreise nach America: Briefe 1776-1783. Erschienen bei Haude & Spener in Berlin 1965. Es war ein Nachdruck der zweiten Auflage von 1801, die damals auch bei Haude & Spener, dem ältesten Berliner Verlag, erschienen war. Es ist die Geschichte der Ehefrau des Generals Friedrich Adolf Riedesel, der von seinem Landesherrn, dem Herzog Ferdinand von Braunschweig-Wolfenbüttel, an die Engländer ausgeliehen worden war und in den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg ziehen musste. Der gute Herzog Ferdinand, wie Wilhelm Raabe ihn nennt, war hier schon in den Posts Münchhausen und Minden. Ich hatte das Buch gelesen, bevor Peter Nicolaisen sein Buch vollendet hatte. Er fragte mich, ob ich das Korrekturlesen übernehmen würde, bevor er es an Rowohlt schickte, was für mich eine Selbstverständlichkeit war.

Friederike Riedesel, von ihrer Familie manchmal auch Fritze genannt, folgt ihrem Mann nach Kanada und begleitet ihn dann auf dem unglücksseligen Feldzug des Generals Burgoyne, der in der Schlacht von Saratoga mit dem Verlust der ganzen englischen Armee endet. Sie geht mit ihm in die Gefangenschaft und wird da die Nachbarin von Thomas Jefferson, der ihnen sogar beim Hausbau hilft. Zuerst lebten sie in dem Haus von Jeffersons Nachbarn Filippo Mazzei, der in Virginia Wein anbaute: The house where we lived and the whole property belonged to an Italian, who let us live there during his absence, since he intended to be absent for a while. We looked forward longingly to his and his wife’s and daughter’s departure because the house was small, and, moreover, the scarcity of provisions annoyed them. Jefferson kümmert sich wie ein Gentleman um die Gefangenen, die in seine Obhut gestellt sind und jetzt eine Meile entfernt wohnen. Und er verkauft General Riedesel auch noch sein Klavier: Sold my pianoforte to Gen. Riedesel. He is to give me £ 100. Wenn die Familie Riedesel wieder frei ist, bedankt sich der General bei Jefferson: I should conceive it an instance of ingratitude, to leave Virginia without repeating to you my heartiest thanks for every mark of Friendship which you have so kindly testified to me from the first moments of our acquaintance ... I beg you will be assured that I shall ever retain a grateful rememberance [sic] of your assistance and hospitality and deem myself singularly happy, after this unnatural war has ended, to render you any Service in my power as a token of my personal regard for you and your Family. Und er fügt dem Brief hinzu: Madame de Riedesel, who never can forget the esteem and friendship she has so justly consecrated to Mrs. Jefferson, desires me to insert her sincerest compliments both to her and your Excellency. Permit me to add my respects, and to assure you, sir, of the most perfect personal esteem with which I have the honor to be, Sir, Your Excellency’s most obedient and Humble Servant, Riedesel.

Die Berufsreise ist für Riedesel und seine Frau, die ihm in Amerika mehrere Kinder geschenkt hat, mit der Freilassung (und dem Austausch gegen den amerikanischen General William Thompson) noch nicht zu Ende. Sie bleiben noch für zwei Jahre bei den englischen Truppen in Kanada, wo sie angeblich zum ersten Mal in Kanada einen Tannenbaum zu Weihnachten aufgestellt haben. Aber 1783 sind sie wieder in Braunschweig zurück: Die Freude der Wiederfindenden und Wiedergefundenen, und das Trauern derjenigen, die die Jhrigen verlohren hatten und vermißten; alles dieses läßt sich nicht beschreiben, sondern nur fühlen. Den folgenden Tag gingen wir beide nach Braunschweig. Es war an einem Sonntag, wie ich mich noch erinnere, im Herbst des Jahres 1783, als wir dort ankamen; wir speisten bei Hofe, und den Abend sahe ich auf der Cour die meisten meiner dortigen Freunde nach dieser langen Trennung wieder, welches eine große Freude, aber zugleich eine Gemüthsbewegung in mir erregte, die mich bis ins Jnnerste erschütterte.

Es ist ein erstaunliches Leben, über das Friederike Riedesel (die am 11. Juli 1746 geboren wurde) schreibt. Wenn Sie ihre Briefe lesen wollen, brauchen sie nicht in die Universitätsbliothek zu gehen, Sie können sie hier lesen. Den Aufenthalt in Virginia und die Bekanntschaft mit Jefferson erwähnt sie mit keinem Wort, ich weiß nicht so recht weshalb. Die amerikanische Historikerin Friedrike Baer vermutet: Interestingly, Madame never mentioned the Jeffersons in her memoirs, possibly because in 1779 Thomas Jefferson was not as prominent as he would become later. Das kann durchaus so sein. Wäre Jefferson ein General, würde sich die Riedesel anders verhalten. Aber er ist nur Oberst der Miliz, und Gouverneur von Virginia ist er auch noch nicht. Unsere Freifrau aus Wolfenbüttel ist da ein klein wenig borniert gegenüber den Engländern, die jetzt Amerikaner sein wollen. Und nach ihrer Ansicht hat Gentleman Johnny Burgoyne seine Armee auch nur verloren, weil er nicht auf ihren Mann gehört hat: Wenn also General Bourgoyne den Rath des General Riedesel befolgt hätte, so wäre diese Armee für England gerettet worden, die anderswo hatte gebraucht werden können, und wäre derselben viel nachher erlittenes Ungemach dadurch erspart worden.

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