Seltsam, ich dachte immer, dass diese eindrucksvollen Kreidefelsen (die das Pendant von Dover auf der anderen Seite des Ärmelkanals sind) auch noch zu Le Tréport gehörten, aber das stimmt nicht, das ist Mers-les-Bains. Wenn man über die Hafenbrücke geht (die auf dem Photo hochgezogen ist) dann ist man in Le Tréport. Und in der Normandie, drüben, jenseits von Hafen und Fluss ist die Picardie. Ich war da im Sommer 1959 (in dem Sommer, in dem ich auch zum ersten Mal in ➱Paris war) und habe den ganzen Tag lang photographiert. Natürlich schwarz-weiß, das machte man so in den fünfziger Jahren.
Mein bestes Photo war das von einem alten Maler mit einer weißen Leinenjacke und weißem Hut, der am Strand von Mers-les-Bains saß und den Strand und das Meer malte. Er sah ein wenig aus wie der alte ➱Winston Churchill, der ja auch malte. Aber der war es natürlich nicht. Der Maler dachte beim Malen nicht in den Kategorien von schwarz und weiß, so dachte nur der jugendliche Photograph. Der aber ein ➱Gelbfilter vor das Objektiv geschraubt hatte, damit die Wolken schön betont wurden.
Und Wolken bringen mich zu dem Maler, der heute vor 190 Jahren geboren wurde: Eugène Boudin. Corot hat ihn le roi des ciels, den König der Himmel genannt. Charles Baudelaire war von der Genauigkeit der Naturbeobachtung hingerissen: Ces études si rapidement et si fidèlement croquées d’après ce qu’il y a de plus inconstant, de plus insaisissable dans sa forme et dans sa couleur, d’après des vagues et des nuages, portent toujours écrits en marge, la date, l’heure et le vent ; ainsi, par exemple : 8 octobre, midi, vent du nord-ouest.
Ich habe das Zitat von Baudelaire schon einmal verwendet, weil ich schon einmal einen Post über ➱Boudin geschrieben habe. Wo auch dies Bild abgebildet ist, von dem ich eine Kunstpostkarte habe. Die im Wohnzimmer, gerahmt und mit Passepartout versehen, immer in meinem Blickfeld steht. Sie steht da seit 1979, weil in dem Jahr eine Boudin Ausstellung in der Bremer Kunsthalle war (die Bremer Kunsthalle hat ➱hier übrigens einen langen Post). Ich glaube, dass das die erste größere Ausstellung des Malers in Deutschland war. ➱Gottfried Sello war damals in der Zeit begeistert. Ich auch.
Die Bremer Kunsthalle hat passend zur Ausstellung von dem Mäzen Walther J. Jacobs einen kleinen Boudin (Honfleur bei Ebbe, 1856, die Nummer 3 des Bremer Katalogs) geschenkt bekommen. Das ist der Jacobs von Jacobs Kaffee, der normalerweise Rennpferde und keine kleinen Boudins kauft. Walther J. Jacobs kommt schon einmal in diesem Blog vor, in einem wunderbaren Kuddelmuddel Post namens ➱Derby, der von Rennpferden und Borgward Rennwagen, dem Kultroman Neue Vahr Süd und Loriot handelt. Und Bremer trinken wahrscheinlich heute noch immer Jacobs Kaffee und haben alle das Buch von Louise Jacobs Café Heimat: die Geschichte meiner Familie gelesen.Die Bremer Ausstellung kam aus keinem französischen Museum, sie kam von einem privaten Kunsthändler. Der Galerist ➱Robert Schmit, der das Geschäft seines Vaters 1944 übernommen hatte, hatte sich seit 1950 auf Boudin spezialisiert und hatte 1965 die erste Boudin Ausstellung in seiner Galerie in der Rue Saint-Honoré veranstaltet. Im Vorwort des Bremer Katalogs schreibt er: Boudin scheint indessen in Deutschland außer bei einigen Kunstliebhabers am Beginn des Jahrhunderts, bisher nur wenig Zuspruch gefunden zu haben und das ist der Grund, warum wir ihn hier besser bekanntmachen möchten. Wir zweifeln nicht daran, daß er damit in Deutschland endlich die Wertschätzung finden wird, die ihm gebührt. Man hätte damals Bilder kaufen können, aber die Preise waren sechsstellig. Da musste man schon Walther J. Jacobs heißen, um ein Bild kaufen zu können.
Da ich nun schon einen Post über den, wie es früher hieß, kleinen Provinzmaler aus Honfleur geschrieben hatte, dachte ich mir, es sollte mir etwas Neues einfallen. Was ist mit ➱Proust? Der hatte doch schon alle fashionablen Orte der französischen Küste auf die Landkarte der Literatur geschrieben. War ihm Eugène Boudin entgangen? Vielleicht, aber natürlich war ihm Monet nicht entgangen, der es nie geleugnet hatte, was er Boudin verdankte. Ich fand im Internet einen schönen Aufsatz Claude Monet, Marcel Proust, die normannische Küste und der Wegfall der Grenzlinie von ➱Michael Magner. Damit fand dieser Gedanke erst einmal ein Ende. Obgleich man jetzt alle Passagen aus Prousts Werk über die Orte an der Küste heraussuchen und dazu passende Bilder von Boudin finden könnte. Aber im Text des Romans wird Boudin nicht erwähnt, das wäre Eric Karpeles in seinem wunderbaren ➱Buch Paintings in Proust nicht entgangen. Da habe ich natürlich als erstes nachgeschaut.
Le Tréport ist nicht so berühmt geworden wie zum Beispiel Deauville. Allerdings war William Turner 1845 einmal hier und hat den Hafen und die Kreidefelsen gemalt (zu Kreidefelsen gibt es ➱hier noch einen schönen Post) - vielleicht erinnerten ihn die an die white cliffs of Dover. ➱Flaubert hat hier einmal mit seiner Familie Urlaub gemacht, aber da war er die ganze Zeit krank. Was ihn davon abhielt, bis nach oben auf die Steilküste zu klettern und die Aussicht zu geniessen. Ist toll, wenn kein Nebel ist. Der junge Proust ist mit seinen Eltern auch hier gewesen. Die französische Bourgeoisie entdeckt die die Kanalküste in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die Engländer haben sie schon im 18. Jahrhundert entdeckt.
Damals konnte ➱Lichtenberg schon schreiben: Denn wo gibt es in Deutschland ein Seebad? Hier und da vielleicht eine kleine Gelegenheit sich an einem einsamen Ort, ohne Gefahr und mit Bequemlichkeit in der See zu baden, die sich allenfalls jeder, ohne jemanden zu fragen, selbst verschaffen kann, mag wohl alles sein. Allein wo sind die Orte, die, wie etwa Brighthelmstone, Margate und andere in England, in den Sommermonaten an Frequenz selbst unsere berühmtesten einländischen Bäder und Brunnenplätze übertreffen? Ich weiß von keinem. Ist dieses nicht sonderbar?
Fast in jedem Dezennium entsteht ein neuer Bad- und Brunnenort, und hebt sich, wenigstens eine Zeit lang. Neue Bäder heilen gut. Warum findet sich bei dieser Bereitwilligkeit unsrer Landsleute, sich nicht bloß neue Bäder empfehlen, sondern sich auch wirklich dadurch heilen zu lassen, kein spekulierender Kopf, der auf die Einrichtung eines Seebades denkt? Brighthelmstone ist heute besser als Brighton bekannt, als Ort für ein deutsches ➱Seebad schwebte Lichtenberg Ritzenbüttel oder Cuxhaven vor. Das Bild vom Strand in Brighton oben ist nicht von Boudin oder Turner, das ist von ➱John Constable, der auch schöne Strandbilder gemalt hat. Dieses Bild vom Strandleben von 1882 in Le Tréport stammt von dem belgischen Maler So Évariste Carpentier, der dem belgischen Luminismus zugerechnet wird. Es gibt aber auch einen Luminismus in Amerika, der viel interessanter ist (und ➱hier einen Post hat).
Der Franzose William Sheller hat 1975 ein Chanson mit dem Titel Photos-souvenirs geschrieben, neuerdings wird das von ➱Christine and The Queens gesungen. Es ist ein Chanson von der Suche nach einer Frau, wovon ja alle französischen Chansons handeln. Und bei diesem de te chercher partout de te retrouver werden ganz viele Ortsnamen aufgezählt, Le Tréport ist auch dabei. Mein photo-souvenir ist (neben vielen anderen) das Photo von dem Maler mit seiner weißen Jacke. Er hat seine Malutensilien auf der Ufer vor dem steinigen Strand ausgebreitet, lässt sich von den Touristen, die ihm über die Schulter gucken, nicht irritieren. Vor ihm liegt der Strand und das Meer. Sein Bild ist bisher nur eine Skizze. Aber so wie dieses Bild, das Eugène Boudin in Le Tréport gemalt hat, wird es bestimmt nicht ausgesehen haben.
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