Samstag, 28. Mai 2022

Sibirien


Diesen Herrn werden Sie wahrscheinlich nicht kennen, aber dafür haben Sie ja mich. Er heißt Nikolai Alexandrowitsch Bestuschew, er ist ein Korvettenkapitän der russischen kaiserlichen Flotte. Ich bin auf ihn durch ein Weihnachtsgeschenk von Friedhard gekommen, das Sibiriens vergessene Klaviere heißt, geschrieben von der Engländerin Sophy Roberts. Es liest sich wahrscheinlich im englischen Original besser als in der Übersetzung. Ich wünschte mir, dass jemand wie Adam Gopnik das Buch geschrieben hätte, auf diesem Niveau ist Roberts trotz mehrerer Hochschulabschlüsse nicht, sie geht auch etwas flusig mit den Fakten um. In einer Rezension las ich, das Buch sei in einer erfrischenden Sprache geschrieben, so etwas ist immer verdächtig. Nikolai Bestuschew kommt in dem Buch vor, obgleich alles über ihn etwas genauer und vollständiger sein könnte. Sie fragen sich jetzt natürlich, was hat ein russischer Korvettenkapitän mit Klavieren in Sibirien zu tun?

Als er noch die schöne Marineuniform trug und der Direktor des Marinemusums war, hatte der Adlige nichts mit Klavieren zu tun, aber Jahre später wird er aus Freundschaft zur Prinzessin Maria Wolkonskaja ihr Klavier in Sibirien
reparieren. Maria Wolkonskaja kennen Sie schon, weil Sie hier schon einen Post hat (sie kommt auch in dem Post der heilige Doktor vor). Als Bestuschew das Klavier repariert, ist er als einer der Dekabristen degradiert und nach Sibirien verbannt. Er kann das Klavier nur reparieren, weil er so etwas Ähnliches wie ein Universalgenie ist. In der Verbannung wird er Uhren bauen, einen Chronometer entwerfen, ein Gerät zur Registrierung von Erdbeben erfinden, ein Rettungsboot namens Bestuzhevka konzipieren und das Zielfernrohr verbessern. Diese Erfindung wird im Krimkrieg zum Einsatz kommen. Nebenbei schreibt er auch noch Erzählungen. Und malt alle Dekabristen, die crème de la crème des russischen Adels, die der Zar Nikolaus nach Sibirien geschickt hat. 

Das hier ist Bestuschews Vater Alexander, ein gebildeter Gentleman. Artillerieoffizier unter Katharina der Großen, jetzt retitiert, Schriftsteller und Zentrum eines liberalen intellektuellen Zirkels. Er wird es nicht mehr erleben, dass seine Söhne als Dekabristen verurteilt werden. Die Prinzessin Maria Wolkonskaja ist nicht als Verurteilte in Sibirien, die Freundin Puschkins ist ihrem Gatten in die Verbannung gefolgt, ihre Schwester hatte ihr aus Moskau ein Klavier geschickt. Nach siebentauend Kilometern mit Kutsche und Schlitten klang das Klavier nicht mehr so gut. 

Wir wissen, dasss Nikolai Bestuschew Englisch konnte, das können wir in den Memoiren des ehemaligen Rittmeisters Iwan Dmitrijewitsch Jakuschkin (Bild) lesen: Wir hatten sehr wenige Bücher. Murawiew hatte eine französische Bibel und Sallust in französischer Übersetzung mitgenommen; ich hatte nur Montaigne mitnehmen können, aber zum Glück hatte Bestushew zwei Bände alter englischer Journale, einen Band von Rambler und einen Band von Gärtner. Mit Hilfe Bestushews lernten Murawiew und ich Englisch. Die Bibliothek unseres Offiziers bestand nur aus zwei Büchern, die er uns beide zu lesen gab; aber er konnte sich nicht entschließen, uns Bücher aus Rotschensalm zu verschaffen; statt dessen erhielten wir, völlig unerwartet, ein Heft, in das mit lateinischer Schrift der letzte Teil von 'Childe Harold' eingetragen war. Zwei in Rotschensalm lebende Damen, Frau Tschebischewa und ihre Schwester hatten das Heft gebracht. Wir waren sehr gerührt durch diese Freundlichkeit und schätzten die Gabe hoch. Nur Frauen - von wahrem Gefühl beseelte Frauen - konnten sich so in unsere Lage hineinversetzen und ihre Teilnahme auf eine so zarte Weise äußern. Bestuschew hatte nicht nur das Journal Rambler von Samuel Johnson bei sich, er übersetzte auch Teile von Lord Byron, Sir Walter Scott und Thomas Moore ins Russische. Einen Teil von Jakuschins Memoiren kann man hier in Aus der Dekabristen-Zeit: Erinnerungen hoher russ. Offiziere (Jakuschkin, Obolenski, Wolkonski) von der Militär-Revolution des Jahres 1825 lesen.

Das hier ist nicht das Klavier, das Bestuschew repariert und gestimmt hat. Es ist eins von drei Klavieren, die die Prinzessin bessessen hat. Dieses pyramidale Klavier, wahrscheinlich 1782 in Wien gebaut, ist vielleicht durch einen Musiklehrer ins Haus gekommen. Das Klavier, das ihr der Bruder geschenkt hatte, war ein Lichtenthal Flügel aus dem Jahre 1831, das erste Klavier (das Nikolai Bestuschew reparierte) sah ganz anders aus. Das seltene pyramidale Klavier und das wahrschenlich ebenson seltene Klavier von dem St Petersburger Klavierbauer Hermann Lichtenthal stehen heute im Museum in Irkutsk.

Es wird lange dauern, bis das Ehepaar Wolkonski in dem Haus wohnt, das heute ein Museum ist. Da muss erst der Zar Nikolaus sterben, und sein Nachfolger etwas Milde walten lassen. Vier Jahre, nachdem sie in Sibirien angekommen sind, malt Nikolai Bestuschew dieses Aquarell. Wir sehen kein elegantes Wohnzimmer, wir blicken in eine Zelle. Und das hier ist das erste Klavier, das nach Siberien kam. Bestuschew repariert und stimmt es. Und malt es auch gleich für uns. 

Marias Vater, der General Nikolai Nikolajewitsch Rajewski, war ein Held des Großen Vaterländischen Krieges. Der Zar hatte ihm die Ehre zuteil werden lassen, dass er an seiner Seite in Paris einreiten durfte. Marias Ehemann ist auch ein Held des Großen Vaterländischen Krieges. Er war der Flügeladjutant von Kutusow, er verfolgt Napoleon bis an die Beresina, er erhält nach der Völkerschlacht von Leipzig den Orden des Heiligen Georg, er ist im Gefolge von Zar Alexander beim Wiener Kongress dabei. Wenn ein Mann mit solcher Biographie sich gegen den neuen Zaren wendet, dann zeigt das die Krise des autokratischen Zarentums auf. Und Wolkonski ist nicht allein, es sind viele, seien sie General wie Wolkonski, Oberst wie Trubetzkoi oder Rittmeister wie Jakuschkin. Sie alle waren im Krieg gegen Napoleon, sie alle haben in Frankreich neue Ideen aufgegriffen. Sie wollen ein liberales Rußland. Und die Abschaffung der Leibeigenschaft.  

Sie werden ihre Ideale mit nach Sibirien nehmen. Man kann mit Bestimmtheit sagen, hat Nikolai Basargin geschrieben, dass unser langwährender Aufenthalt in den verschiedensten Orten Sibiriens fuer die geistige Entwicklung der Einwohner gewissen Nutzen gebracht hat und die gesellschaftlichen Beziehungen um einige neue und wertvolle Gedanken bereicherte. Bedenkt man dazu noch den Einfluss, den die Entdeckung der Goldfelder, die Erfolge in Industrie und Handel ausuebten, was eine grosse Anzahl kluger Menschen nach Sibirien lockte, so scheint es nicht verwunderlich, dass sich in den letzten zwanzig Jahren in diesem Lande so vieles zum Besseren gewendet hat. Das hat vielleicht auch Nikolai Bestuschew geglaubt, der sich hier mit einem Bild seines Bruders in der Hand, portraitiert hat. Er ist mit seinem Bruder Michail Bestuschew, in Sibirien geblieben. Seinen anderen Bruder, den damals sehr berühmten Schriftsteller Alexander Alexandrowitsch Bestuschew hatte die Familie aus der Gefangenschaft freikaufen können, unter der Bedingung, dass er sofort wieder in die Armee eintrat. Er fiel 1837 für sein Vaterland bei Sotschi. Alle Brüder Bestuchew finden Sie hier auf dieser sehr informativenBilderseite.

Das Ehepaar Wolkonski hätte in Tolstois Roman Die Dekabristen sicher eine wichtige Rolle gespielt, aber der Roman blieb ein Fragment. Tolstoi hatte es sich beim Schreiben anders überlegt und schrieb Krieg und Frieden. In dem Roman gibt es zwei Familien, die Bolkonski  und Drubetzkoj heißen, das ist wohl kein Zufall. Die Häuser der Fürsten Wolkonski und Ttubetzkoi sind heute Museen der Dekabristen.  Die Erinnerungen von Maria Wolkonskaja (hier von Bestuschew portraitiert) stehen im Original im Internet, leider nicht in deutscher Übersetzung. Man findet das Buch aber noch leicht antiquarisch für kleines Geld. Das Nachwort der Übersetzerin Lieselotte Remané können Sie hier lesen. Das Buch von Christine Sutherland Die Prinzessin von Sibirien: Maria Wolkonskaja und ihre Zeit ist auch noch leicht zu finden.

Ich habe mit einem Korvettenkapitän, der in Sibirien das Klavier einer Prinzessin repariert, angefangen. Und dann kam, wie das häufig bei mir so ist, eins zum anderen. Sophy Robert hat das Klavier der Wolkonskaja zum Anlass genommen, um über die Klaviere in Sibirien zu schreiben. Man kann aber auch sagen, dass durch die Prinzessin nicht nur ein Klavier nach Sibiren kommt, das Klavier ist ein Symbol für die Kultur, die jetzt nach Sibirien kommt. Die Prinzessin soll auf ihrem Klavier irgendwann Stille Nacht, Heilighe Nacht gespielt haben. Das erzählen die Fremdenführer in Irkutsk gerne, aber ich weiß nicht, ob das wahr ist.

Freitag, 27. Mai 2022

glibberig


Man konnte auf dem Photo bei ebay von dem Hemd nicht viel erkennen, aber das Hemd hatte ein echtes WISICA Etikett. Es sollte acht Euro im Sofortkauf kosten, der Preis war aber noch verhandelbar. Ich verhandelte nicht, ich kaufte. Das Hemd kam am nächsten Tag als Maxibrief, nagelneu und ungetragen, ein Maßhemd einer deutschen Manufaktur. Wie es der Zufall wollte, passte es mir. Das Hemd hatte richtige Manschetten, also das, was die Engländer French cuffs nennen. Die Manschettenknöpfe musste ich erst suchen. Seit ich nicht mehr in der Uni bin, trage ich selten Anzüge. Zu Anzügen habe ich immer Hemden mit Doppelmanschetten getragen, das gehört sich so. Es gaht viel verloren in dem, was man so schön Kleidungskultur nennt. Ich fand den kleinen Karton mit den Manschettenknöpfen, ich nahm die goldenen. Die hatte meine Mutter mal meinem Vater geschenkt. Er hat sie nie getragen, il ne faut jamais rien outrer. Das Hemd war schon in der Maschine, ist aber nicht gebügelt. Nach einer Nacht auf dem Kleiderbügel war es völlig glatt. Und wenn Sie mich jetzt fragen, wie sich West Indian Sea Island Cotton auf der Haut anfühlt, kann ich nur sagen: glibberig. Viel zu glatt. Wenn Ihnen dieser Text zu glatt und gibberig vorkommt, dann liegt es an dem Hemd, das ich gerade trage.


Montag, 23. Mai 2022

Circe


Der Professor hatte einen Termin beim Kultusminister. Das würde ein schöner ruhiger Vormittag werden. Dachten wir. Aber dann stand er plötzlich bei uns in der Tür. Ihr kommt mit, sagte er. Alle drei. Ich weiß nicht, wofür er diese drei Mann Eskorte brauchte, aber wir fuhren mit ihm zum Kultusministerium. Als wir da waren, hatte er es sich anders überlegt: Ihr bleibt im Wagen, sagte er und marschierte ins Ministerium. Und da saßen wir nun in dem alten Mercedes, den wir alle kannten, weil wir alle schon einmal Chauffeur für den Professor gespielt hatten. Draußen war es schweinekalt, ein eisiger Wind fegte über die Ostsee. Wir froren, und das Warten war furchtbar langweilig. Bis Paul anfing, ein Gedicht aufzusagen. Er begann langsam, irgendwie kämpfte er noch mit dem Text, aber dann kam sein Vortrag ins Rollen:

Sie kenn' doch Circe? Sie kenn' doch Circe?
Den ersten Zauberer, den es gab mit Schürze
Sie lebte auf 'ner Insel, ferne von Urlaubern
Ganz alleine, denn da konnt'se besser zaubern
Ja, is' wahr, man zaubert besser oft allein
Fällt was aus'm Ärmel, steckt man's wieder rein

Sie kenn' doch Kirke? Sie kenn' doch Kirke?
Den erste Zaub'rer, der gebaut war wie 'ne Birke?
Sie war zwar griechisch, doch sie lebte fern von Griechen
Denn sie konnte nun die Griechen mal nicht riechen
Von dieser Sorte gibt's auch heut' ein ganzes Corps
Das zieht gut und gern Ascona vor

War schlechtes Wetter - vom Himmel tropft es
Circe zauberte sich grad'n Ding, da klopft es
"Nanu?", denkt sie - "Nanu?" denkt sie auf Griechisch
"Das wer'n doch nicht die Platos sein, das wär' ja viechisch!
Immer wenn's mir gemütlich mach' allein
Renn' die Platos mir die Bude ein!"

Sie drückt den Drücker - is' gar nicht Plato
Es is'n Kerl, den sie noch nie gesehen bis dato
Sieht blendend aus, könnte fast der Theo Heuss sein
"Ach du lieber Schreck, das wird doch nicht der Zeus sein?
Der kommt immer so verkleidet
Was eim alles gleich verleidet
Manchmal kommt er gar als Schwan
Wer soll das ahn'!"

Da sprach der Wanderer: "Ich bin ja'n And'rer
Ihr Zeus ist momentan grad' Goldfisch bei Kassandra
Andra moi ennepe!" ruft er und lüpft die Wade
"Sie kennen mich doch sicher aus der Iliade!
Ich bin Odysseus und ich habe mich verirrt
Is' hier die Villa, wo gestripteast wird?"

"Ich mach' Sie aufmerksam", sprach da die Circe
"Sie glauben fälschlich, in der Circe liegt die Würze
Wenn sie Homer gelesen hätten, seh'n Sie Kleinchen
Dann wüssten Sie, ich mach' aus allen Männern Schweinchen
Na, nu sind'se scho'mal da, nu komm'se rein
Und wie das Schicksal spielt, ich habe grad' kein Schwein!"

Da rief der Fremdling: "Halb elf, au weia!
Ich muss nachhaus' zu meinem Weib Penelopeia
Vor ihrer Türe japsen einundzwanzig Freier
Stand im Stern, sie nimmt sie alle in die Heia!"
Aber Circe sprach: "Nu sei nicht doof, mein Kind
Jeder Ochse weiß doch, dass die spinnt!"

Er blieb zum Lunch und zum Diner
Trank vorm Zubettgeh'n brav noch seinen Zaubertee
Und frisch gestärkt, ganz ohne Sorgen
Erschien zum Frühstück er und grunzte: "Guten Morgen!"
Dann kam der Sommer, der Winter gar
Im Ganzen blieb das Kerlchen, glaub' ich, siebzehn Jahr'
Und wurde faul, und schlief oft ein
Zu der Zeit war er schon ein ziemlich altes Schwein

Da rief er plötzlich: "Halb zwölf, au weia!
Ich muss nach Haus' zu meinem Weib Penelopeia!"
Da sprach die Callas - ooch, ich mein' natürlich Circe:
"Geh Onasseus, nicht mehr lange warten wird'se!"
Happy End? Nee, Talent! Doch füg' ich bei:
Schwein muss man haben bei der Zauberei

Toi-toi toi toi!
Toi-toi toi toi!
Brion, brion!

Ich weiß jetzt nicht mehr, ob der Paul genau diesen Text vorgetragen hat. Dies hier ist der Text, den Hanne Wieder gesungen hat. Friedrich Hollaender hatte das Chanson für sie geschrieben. Unser Professor kam wenig später zum Auto zurück. Unverrichteter Dinge, mit stinkiger Laune. Und dabei war der Kultusminister sein Parteifreund. Wenn es für ihn auch ein verlorener Vormittag war, für mich blieb die Erinnerung an dieses freche Gedicht von Circe und Odysseus. 

Wenn Sie mehr über Circe wissen wollen, dann kann ich den Bestseller Ich bin Circe von Madeline Miller empfehlen. Er wird bei Amazon mit dem Zusatz Eine rebellische Neuerzählung des Mythos um die griechische Göttin Circe versehen, die Romanheldin heißt je nach Erscheinungsland des Buches Crice, Circé oder Kirke. Auch wenn Sie die Geschichte schon aus der Oyssee, von Gustav Schwab oder von Robert Ranke Graves kennen, man kann ihr immer noch Neues abgewinnen. Lassen Sie sich von Madeline Miller becircen.

Samstag, 21. Mai 2022

Christine


Sie lehnte sich an dem Geländer weit zurück, um noch etwas von der Sonne aufzufangen. Junge Frauen können ja nicht genug davon bekommen. Es war einer der letzten Tage des Sommersemesters, sie würde in den Ferien in Spanien sein, erzählte sie mir. Sie sprach immer sehr leise, man musste ihr nahe sein, um sie zu verstehen. Es ist, als ob sie in sich versinkt. Sie hat große ausdrucksvolle Augen. Aber soviel Nähe war mir ein wenig unheimlich, so gut kannte ich sie noch nicht. Sie fragte mich, was ich in den Semesterferien machen würde. Arbeiten, sagte ich. Ich mochte ihr nicht sagen, dass ich in den nächsten Wochen eine Uniform tragen würde, ich wusste nicht, welchen Stellenwert Reserveoffiziere der Bundeswehr bei jungen Frauen hatten. Wir verabredeten uns, dass wir uns am ersten Tag des Wintersemesters hier am Dreiecksplatz wiedertreffen würden. Es gab keinen Abschiedskuß, soweit waren wir noch nicht. Wir sind noch beim Sie.

Der Dreiecksplatz ist immer noch da, das eiserne Geländer, das sich ebenso vor dem Lammers findet, auch. Auf der anderen Seite der Straße, vor dem Haushaltswarengeschäft Tom Watson, ist auch ein Geländer. Da hat der Chauffeur von Lubinus mal den nagelneuen Aston Martin seines Chefs bei leichtem Glatteis reingesetzt. Totalschaden. Aston Martin hat den Motor zurückgekauft. Mein Bruder war damals Assistenzarzt bei Lubinus, er rief mich an: Komm hier heute nicht vorbei, hier ist die Hölle los, sagte er. Vielleicht waren auch die Straßenbahngleise Schuld an dem Unfall, damals fuhr hier noch die Straßenbahn. Ich hatte noch kein Auto, ich hatte immer eine Monatskarte. Die Uni war damals noch über die ganze Stadt verteilt, die Kunsthistoriker saßen in der Dänischen Straße, mit der Linie 2 kam man aber elegant von dort zu den Teilen der Uni, die in den alten ELAC Gebäuden beheimatet waren. Die Geschichte mit dem Aston Martin muss ich mal meinem Freund Keith erzählen, der hat nämlich einen. Elegant in grau. Sean Connery hat den mal ein Wochenende zur Probe gefahren, ihn aber doch nicht gekauft. Jetzt fährt Keith den grauen Aston Martin, aber so vorsichtig wie er fährt, wird er den bestimmt nicht am Dreiecksplatz in das Gitter setzen.

Ich war am ersten Tag des Wintersemesters nicht da, ich lag nach einem Manöverunfall im Bundeswehrlazarett Hamburg-Wandsbek, das Wintersemester war für mich gelaufen. Die Frau, die ich Christine nannte, habe ich nie wiedergesehen. Ich habe sie auch schnell vergessen. Avec le temps, va, tout s'en va on oublie le visage et l'on oublie la voix. Aber als ich vor drei Jahren beim Aufräumen ein altes schwarzes Schulheft fand, das Christine betitelt ist, da war sie wieder da. Das habe ich schon in dem Post prezzies gesagt. Innen findet sich der Titel Mitteilungen über Christine. Klingt ein wenig nach Uwe Johnsons Mutmassungen über Jakob. Wir hatten ja damals alle eine Uwe Johnson Phase. Es sind dahingestreute Notizen, Impressionen. Flüchtige Augenblicke steht auf der zweiten Seite. Mit dem Notieren von flüchtigen Augenblicken bin ich gut. Könnte ich das alles zusammenfügen, was ich an flüchtigen Momenten notiere, wäre ich Romanautor. Ich habe von mir selbst nichts Ganzes aus einem Stück, nichts Einheitliches und nichts Festes, nichts ohne Verwirrung und nichts Unvermischtes zu sagen, und nichts, was man in einem Wort fassen könnte Wir sind alle aus Flicken zusammengesetzt und das so ungestalt und kunterbunt, daß jedes Stück jeden Augenblick ein eigenes Spiel treibt. Das hat Montaigne gesagt, den zitierte ich schon damals gerne.

Ich habe in dem Heft Schwierigkeiten, meine Schrift zu entziffern. Es ist mit dem Füllfederhalter beschrieben, Füllfederhalter hassen mich. Ob sie eine Goldfeder haben oder nicht. Habe ich das Ganze im Dunklen geschrieben? Habe ich das wirklich geschrieben? Der Autor dieser Mitteilungen ist mir sehr fremd. Zwei Semester aus der Vergangenheit stehen in dem Heft, skizzenhafte Aufzeichnungen über eine junge blonde Frau mit Strähnchen im Haar. Der ganze Text des Heftes ist voller französischer Zitate.
 
L'amour s'en va, et le tien ne saurait durer
Comme les autres, un beau jour tu vas me quitter
Si ce n'est toi, ce sera moi qui m'en irai
L'amour s'en va, et nous n'y pourrons rien changer


Wollte ich mir selbst imponieren? Andererseits bedeutete mir Frankreich seit den Exi Tagen sehr viel. Es sind auch zahlreiche englische und lateinische Zitate im Text, das wundert mich wenig, auch meine Tagebücher sind voll davon. Aber in den Tagebüchern taucht die blonde Christine überhaupt nicht auf. Kein einziges Mal.

Es ist manchmal ganz gut, dem anderen Ich zu begegnen, das man einmal gewesen ist. Das sagt auf jeden Fall Joan Didion in ihrem Essay On keeping a notebook: It all comes back. Perhaps it is difficult to see the value in having one’s self back in that kind of mood, but I do see it; I think we are well advised to keep on nodding terms with the people we used to be whether we find them attractive company or not. Otherwise they turn up unannounced and surprise us, come hammering on the mind’s door at 4 a.m. of a bad night and demand to know who deserted them, who betrayed them, who is going to make amends. We forget all too soon the things we thought we could never forget. We forget the loves and the betrayals alike, forget what we whispered and what we screamed, forget who we were.

Und dann taucht da in dem Text noch Carlo auf. Ich hatte beinahe vergessen, dass er auch hier studierte. Wir kamen aus demselben Ort, gingen zur selben Schule. Waren mehr oder weniger befreundet. Er hatte keine literarischen Interessen. Man konnte mit ihm nicht über Proust reden wie mit Peter, oder über Thackerays Vanity Fair wie mit Ekke. Ich glaube, der Ekke kennt heute noch die Namen von allen Nebenpersonen des Romans. Auch sportlich war Carlo niemand, mit dem etwas anfangen konnte. Kein Fußballer, man stellte ihn in der Mannschaft immer nach hinten. Aber er war im Yachtclub, gesegelt hat er sein ganzes Leben. Deshalb war er wohl auch an diese Uni gekommen, die Ostsee lag vor der Tür.

Sein Vater war Arzt gewesen, war auf der Höhe des Wirtschaftswunders plötzlich gestorben. Das Haus war wohl abbezahlt, aber viel blieb für die Familie nicht. Und dennoch war Carlo im Yachtclub und besaß als erster von uns allen einen Burberry Regenmantel. Seine Mutter arbeitete jetzt als Verkäuferin in einem Luxusladen, sie hatte keine Ahnung von den Dingen, die da verkauft wurden, aber sie war eine Dame. Das mochten die Kunden. Vornehme Damen waren offenbar damals schon selten geworden. Für sein Medizinstudium hatte Carlo ein Stipendium bekommen, seine Schwester wollte der Mutter nicht zur Last fallen, lernte Schneiderin und studierte dann Modedesign.

Ich weiß nicht mehr, wie die Frau, die ich Christine nannte, wirklich hieß. Ich weiß auch nicht, ob ich jemals wusste, wie sie wirklich hieß. Nur der Carlo, der beinahe jede junge Frau im Ort kannte, kannte ihren Namen und wußte, wo sie wohnte. Er wußte auch, wo ich wohnte, lud sich immer bei mir auf einen schottischen Whisky ein und brachte häufig Frauen mit. Allerdings niemals diese blonde Christine. Einmal schleppte er Anne an, was mir ein wenig peinlich war, weil ich mit der mal eine Liebelei hatte. Ich kann den Carlo nicht mehr nach der Christine fragen, er ist seit Jahren tot. Hätte ich das schwarze Heft gefunden, als er noch lebte, hätte ich ihn sofort getragt. So bleibt sie namenlos, obgleich der Name Christine zu ihr passen würde. Ein Jahr vor seinem Tod hat er mich in der Uni angerufen, wollte mir sein ganzes Leben erzählen. Ich sagte ihm, er möge es kurz machen, ich müsste gleich in den Hörsaal. OK, sagte er, die Kurzfassung: drei Frauen, drei Kinder, drei Segelboote. Manchmal konnte er witzig sein.

Ich las damals Jacobsens Nils Lyhne und Kierkegaards Tagebuch eines Verführers, beides sehr schlechte Ratgeber in Liebesdingen. Ich weiß nicht, was Christine las, ich weiß allerdings, dass sie Vivaldi mochte, das hat sie mir einmal erzählt. Wir redeten manchmal miteinander. Ich weiß auch nicht wirklich, was sie studierte. Ich glaube, dass es Romanistik ist, weil sie Spanisch kann, aber ich sehe sie immer bei den Germanisten und bei den Kunsthistorikern. Sie kommt immer zu spät zur Vorlesung, geht dann katzenartig, beinahe auf den Zehenspitzen, durch den Mittelgang, bis sie ihren Platz findet. In Gedanken halte ich ihr immer einen Platz frei, aber wir sitzen nie nebeneinander. Doch wir lächeln uns zu. 

Wegen des katzenartigen Ganges nenne ich sie in meinem Text manchmal Clawdia Chauchat, aber sie ist keine kirgisenäugige Schönheit mit breiten Wangenknochen und schmalen Augen. Ihr Gesicht ist eher von einer klassischer Schönheit. Sie wäre in einem Film von Ingmar Bergman gut aufgehoben, in den französischen Filmen der nouvelle vague nicht, auch wenn sie Romanistik studiert. Die Romanistikstudentinnen, die ich kenne, sehen alle so aus, als würden sie sich ihre Klamotten in Paris kaufen. Christine kleidet sich nicht gut, sie könnte mehr aus sich machen. Vielleicht ein wenig Lippentift. Die letzten jungen Frauen, mit denen ich ausging, trugen Kaschmirtwinsets und Perlenkettchen. Sie ist definitiv nicht der Typ für Kaschmirtwinsets. Auch nicht der Typ für Rouge und Lippenstift.

I tell you this neither in a spirit of self-revelation nor as an exercise in total recall, den Satz klaue ich mir mal bei Joan Didion. Ich weiß nicht, warum ich damals das schwarze Heft vollgeschrieben habe mit diesen flüchtigen Augenblicken. Ich war nicht wirklich verliebt in Christine. Vielleicht ein bisschen, weil sie mich an Ingrid erinnerte. Aber das Heft mit dem Titel Christine ist keine Beschreibung einer amour fou, nicht einmal einer amour. Ich hätte das Ganze auch interesseloses Wohlgefallen nennen können, die belle inconnue verschönerte den tristen Alltag der Universität. Mehr war da nicht. 

Donnerstag, 19. Mai 2022

die Passe


Ich hatte ja in dem Post Hemdenkauf bei ebay in Aussicht gestellt, irgendwann über italienische Hemden zu schreiben. Das mache ich auch, ich habe sogar schon angefangen, aber ich will mal eben noch etwas vorwegnehmen, was zum Grundwissen über Hemden gehört. Hier misst gerade ein Schneidermeister seinem Kunden das Hemd an, und da oben, wo er seine rechte Hand hat, das ist die Passe. Die auch Schulterpasse heißt, es ist dieses Stück Stoff, das den vorderen und den hinteren Teil des Hemdes miteinander verbindet. Die Schulterpasse nimmt auch die Falten auf der Rückseite des Hemdes auf, gute Hemden haben immer zwei Falten oder eine große Falte in der Mitte. Auch wenn hier ein Schneider an der Arbeit ist, so wie das hier sollte ein Hemd nicht aussehen, das enge Hemd sieht aus wie eine Wurstpelle.

Englische Hemden haben meistens eine geteilte Schulterpasse (split yoke), darauf bestehen die Engländer. Turnbull & Asser sowieso, aber auch bei Charles Tyrwhitt finden wir die. In Deutschland ist das eher selten. Die deutsche Firma Olymp bietet sie in ihrer signature Linie an: Auch die Rückenpasse eines Olymp Signature ist ganz zugeschnitten auf Bequemlichkeit. Sie wird geteilt und mit einer separaten Naht versehen, an der sich Streifen und Karos spiegeln. Die einzelnen Seiten der Schulterpartie werden durch diese Teilung anschmiegsamer und elastischer, der gesamten Schulter bietet sich so mehr Bewegungskomfort. Ich weiß nicht, ob das nur Werbelyrik ist. Auch van Laack hat das bei seinen Meisterwerk Hemden (die wie die anderen Hemden in Tunesien oder Vietnam entstehen) neuerdings im Programm. Sieht hübsch aus, allerdings sollten die Streifen von der Passe an die Streifen des Ärmels angepasst werden. Das hier ist eine ästhetische Katastrophe, und so etwas nennt sich nun Meisterwerk.

Auf disem amerikanischen Hemd von Robert Talbott ist alles richtig, die Streifen der Schulterpasse laufen in die Streifen der Ärmel. Talbott ist meines Wissens der einzige amerikanische Hersteller, der noch handgenähte Hemden anbietet. Die Hemden der Donald J. Trump Signature Edition haben niemals eine geteilte Schulterpasse. Sie kommen auch niemals aus den USA, sie werden in Bangladesch genäht. Soviel zum Thema make America great again. Bei den Hemden von Ralph Laurens Purple Label findet man die geteilte Passe, aber diese Hemden kommen aus Italien, nicht aus den USA. Mein Talbott Hemd hat auf dem Etikett noch den Zusatz bespoke, der vorige Beisitzer hatte es sich in den USA machen lassen. Einmal getragen und dann bei ebay für 12,50€ verkauft. Es passt mir hervorragend. Die geteilte Schulterpasse ist ein Relikt aus der Zeit, als Hemden noch vom Schneider an den Körper des Kunden angemessen wurden, mit einer geteilten Passe konnte man noch in letzter Minute Änderungen vornehmen. 

Man muss natürlich sagen, dass Hemden mit einer geteilten Passe richtig scharf aussehen. Vor allem, wenn sie Streifen haben wie dieses Duchamp Hemd. Ist natürlich schade, dass meine Gäste das nicht sehen, weil ich immer ein Sweatshirt darüber trage. Gestreifte Passe und angepasster Musterverlauf kosten mehr Material und mehr Arbeitszeit, sie sind ein Zeichen von Qualität und von viel handwerklichem Können. 

Es gibt da noch eine Steigerung: gemusterte Hemden ohne Schulterpasse. Sind sehr selten. aber ich habe ein paar (dies ist eins davon). Da laufen bei einem gestreiften Hemd die Streifen ungehemmt durch die Naht der Passe bis in die Schulternaht. Und treffen dort mustergenau auf die Streifen der Frontpartie. Die Schulterpasse ist dabei nach innen verlegt, man sieht sie nicht. Die kleinen Kunstwerke haben alle ein kleines Made in Italy Etikett und ein Etikett von Rudolf Böll. Und der verrät nicht. wo er die her hat. Ich habe meine aus einem Secondhand Laden, die verkauften sich da nicht, weil niemand wusste, dass Rudolf Böll in Rottach-Egern der teuerste deutsche Herrenausstatter ist.


Noch mehr Hemden in den Posts: Oberhemden, Papierkragen, Handschuhknopf, Ralph Lauren Purple Label, Haikragen, Jermyn Street, gatsby-weiß, Tab Kragen, Bielefelder Qualitätshemden, Nordstrom, fliegende Tauben, Kieler Chic, Retouren, WISICA, Schweizer Oberhemden, englische Oberhemden, Mad Men

Montag, 16. Mai 2022

Greta Bridge


Der englische Maler John Sell Cotman wurde heute vor zweihundertvierzig Jahren geboren. Er hatte hier mit John Sell Cotman schon einen schönen ausführlichen Post. Es ist mir leider nie gelungen, ein Aquarell von Cotman zu finden; die fangen auch, wenn sie auf den Markt kommen, bei zehntausend Pfund an. Aber ich habe mal ein Aquarell von einem unbekannten Maler aus dem zwanzigsten Jahrhundert gekauft, das im ganzen Stil und dem Duktus der Zeichnung nach Cotman aussieht. Der Händler sagte mir, es käme aus adligem Besitz; so etwas hebt immer den Preis, aber ich habe den Preis heruntergehandelt. Das ist jetzt mein Cotman. Dies hier natürlich nicht, das ist Greta Bridge, Cotmans Aquarell der Brücke über den Fluss Greta, im Hintergrund ist der neopalladianische Landsitz Rokeby Park. Hier hing einst die Venus vor dem Spiegel von Velázquez. Und Walter Scott war ein häufiger Gast. Er schrieb das epische Gedicht Rokeby (episch bedeutet hier: 298 Seiten plus 100 Seiten Fußnoten), und schrieb damit die Landschaft von Teesdale auf die Landkarte romantischer Touristen.

Ich habe heute noch ein anderes Gedicht als das Rokeby von Sir Walter Scott, es ist von der englischen Dichterin Lucy Newlyn, und es ist ein Gedicht über dieses Bild von Cotman:

Greta Bridge

It’s autumn now; there’s not a hint of green.
The rounded shapes are soothing shades of brown.
The river’s low, with an unruffled silver sheen.

He moves you inward from dark foreground stones
which stand in their grey shadows to the curve
formed by the bridge, through which in subtler tones

you see, framed as a perfect egg, low buildings lie
close to the water’s edge: reflections caught
in shaded calm, as through an inner eye.

The coaching-house is angled, four-square, strong,
fronting the trees, its Georgian forehead high.
The bridge is low in York stone, nearly level, long.

The balanced interlocking planes are clean:
each edge and angle focused by the eye
that watches from the centre: cool, serene.

You’d have to stand and stare for a long time
in meditative peace before you’d dare
to lift your brush, or paint the view in rhyme.

Lucy Newlyn ist nicht nur eine Dichterin, sie eine emeritierte Professorin, eine weltbekannte Expertin für die Dichtung der englischen Romantik. Sie hat den Cambridge Companion to Coleridge herausgegeben und dann noch das wunderbare Gedicht Dear Coleridge geschrieben. Weil sie eben auch noch Gedichte schreibt. Das Gedicht Greta Bridge ist nicht das einzige Gedicht zu Bildern von Cotman. Auf ihrer Seite Brushstrokes hat sie eine Vielzahl von Gedichten zu Bildern von englischen Malern der Romantik. Sie hätte ihre Seite auch ut pictura poesis nennen können. Dieses Bild der Greta Bridge hat Cotman 1810 gemalt, fünf Jahre nach dem ersten Bild. Es ist ein schönes ausgewogenes Landschaftsbild, vielleicht zu schön und zu ausgewogen. Die ursprüngliche Kraft des ersten Bildes, to paint the view in rhyme, fehlt hier. 

Sonntag, 15. Mai 2022

Hinterhof


Das sieht nun ein klein wenig so aus wie der Blick, den ich aus dem Fenster der Mietskaserne in St Pauli in meinem ersten Semester hatte. Das hier ist kein Photo, das ist ein gemaltes Bild. Man könnte es für ein Bild des amerikanischen Photorealimus halten, aber es ist schon über hundertzwanzig Jahre alt. Es ist von dem dänischen Maler, dem wir die stillsten und rätselhaftesten Innenräume seit den Holländern des 17. Jahrhunderts verdanken: Vilhelm Hammershøi. Man hat ihn den dänischen Vermeer genannt. Im Dezember 1898 war der Maler in das Haus Strandgade 30 gezogen, wo er die nächsten elf Jahre bleiben wird. Davor hatte er häufig die Wohnung gewechselt. Hier wird er die meisten seiner kleinformatigen Bilder malen. Interieurs. Das Haus stammt aus den 17. Jahrhundert, dem Jahrhundert, in dem seine großen Vorbilder Vermeer und Pieter de Hooch lebten. Vielleicht ist er deshalb nach Christianshavn gezogen. Ein Jahr nach seinem Einzug in die Strandgade malt er diesen Innenhof, ein Exterieur, das wie ein Interieur aussieht. Es ist ebenso verstörend wie seine leeren Räume.

Aber ist es wirklich der Innenhof der Strandgade 30 und keine Phantasie des Malers? Der Innenhof der Strandgade 30 sieht heute so aus. Da ganz hinten in der Wohnung mit den drei Fenstern im ersten Stock hat er gewohnt. Hammershøi hat heute Geburtstag; da kann ein Bild von dem Mann nicht schaden, über den Georg Biermann 1909 schrieb: Der wundervolle Däne Wilhelm Hammershøi, dessen Bilder sicherlich mit zu dem Besten gehören, das die heutige Internationale zu vergeben hat, bedeuten nichts als die Lyrik der absoluten Ruhe und Weltabgeschiedenheit, wobei dieser moderne nordische Vermeer in den durchsichtig weichen Silberglanz, von dem seine Innenräume erfüllt, seine Gestalten umschlossen sind, ein malerisches Mittel von beinahe musikalischer Gewalt besitzt.

Die irische Dichterin Vona Groarke hat einen ganzen Zyklus von Gedichten auf den Maler geschrieben, der The Hammershøi Sequence heißt. Leider steht das Gedicht The courtyards of Vilhelm Hammershøi nirgendwo im Netz, das hätte mir jetzt gut gepasst. Die Zeilen, die ich fand, klangen vielversprechend: 

the lit window summons the dark 
as if from one frame of mind to another,
as if from one future to a future opposite
runs a tripwire of desire.


Ein Gedicht aus dieser Sequenz habe ich vor sechs Jahren in Hammershøis Bäume zitiert. Aber man kann nicht alles haben. Wir begnügen uns heute mal mit der Tristesse von Hammershøi und rätseln, ob hier wirklich jemand wohnt. Und warum das Fenster in zweiten Stock offen ist.

Das Bild ist nicht sehr groß, 35 x 25 Zentimeter, aber für die 875 Quadratzentimeter Bild hat ein Liebhaber bei Sotheby's 875.000 Pfund bezahlt.

Freitag, 13. Mai 2022

Georges Braque


Heute vor einhundertvierzig Jahren wurde der Maler Georges Braque geboren, ein Freund von Picasso, Erfinder des Kubismus. 1914 wurde er als Feldwebel eingezogen, ein Jahr später wurde er, gerade zum Leutnant befördert, in der Schlacht von Artois schwer verletzt. Es dauert zwei Jahre, bis er sich von seiner Kopfverletzung erholt. Er bekommt das gerade geschaffene Croix de Guerre (zuerst in Bronze, dann das mit Palmen) und wird Chevalier de la Légion d’Honneur. Er braucht lange Zeit, um sich wieder im Leben zurechtzufinden. Der Mann, den man auf dem Schlachtfeld erst hatte liegen lassen, weil man ihn für tot hielt, wird noch lange leben. Und er wird sehr reich werden. Dieser Post heute stand hier schon einmal vor sechs Jahren, mir fällt gerade nichts Bsseres ein. Es ist aber ein sehr schöner Post, den man auch zweimal lesen kann.

Georges Braque, 74, Kunstmaler und Massenproduzent moderner Bilder, kaufte sich als zweiter französischer Maler nach seinem Kollegen Bernard Buffet, 28, (Spiegel 28/1956) ein Rolls-Royce-Auto, schrieb der Spiegel 1956. Das mit dem Massenproduzenten mag der Künstler wohl nicht so gerne gehört haben. Als Braque sich den Rolls kaufte, hatte der Maler einen Chauffeur. In den zwanziger Jahren fuhr er noch selbst. Zum Beispiel diesen Alfa Romeo. Den er auch noch bemalt hatte, sozusagen ein echter Braque.

Das dürfen Maler mit ihren Autos ja tun. Wird viel zu wenig gemacht. Der Satz von Henry Ford, any color so long as it is black, gilt für das Europa des Art Déco nicht. Denn bevor John Lennon in einem psychedelischen Rolls spazierenfuhr, gab es schon das hier. Dieses Auto hier wurde nach einem Design von Sonia Delaunay neu gespritzt (es war nicht das einzige Fahrzeug, das sie bemalte). Auch die beiden Damen, die das Auto dekorieren, tragen Kleidung, die von Delaunay entworfen wurde. Hergestellt wurden die Pelzmäntel von Jacques Heim, mit dem Delaunay lange zusammenarbeitete. Jacques Heim hatte übrigens 1946 auch einen Bikini erfunden, den er Atom nannte, aber da setzte sich doch das Modell von Louis Réard mit dem Namen Bikini durch (das hier schon einen Post hat).

Frauen scheinen in den zwanziger Jahren keine Angst vor dem Automobil zu haben. Tamara de Lempicka malt sich 1929 voller Stolz am Lenkrad ihres grünen Bugattis. Es ist die Zeit der flapper, jener jungen Frauen, die jetzt Sport treiben (wie in Jordan Baker in Fitzgeralds Great Gatsby), Hosen tragen, öffentlich Zigaretten rauchen und Automobile besitzen. In der Geschichte der Emanzipation spielt das Automobil eine wichtige Rolle. Und ein Auto wie der Jordan Playboy war nicht für eine männliche Kundschaft konzipiert (lesen Sie hier mehr über eine der berühmtesten Anzeigen der Werbegeschichte).

Die roaring twenties sind nicht nur die Zeit der flapper, sie sind auch die große Zeit des Art Déco - das Photo von Sonia Delaunays Auto und ihren Pelzmänteln wurde von einem Pavillon der Exposition Internationale des Arts Décoratifs et Industriels Modernes (kurz: Art Déco) gemacht. Die zwanziger Jahre sind auch die große Zeit des Plakats. Hier hat André Edouard Marty eine junge Dame der Pariser Gesellschaft in ihrem Citroen abgebildet. Wir können hier sehen, dass das Automobil ein Accessoire der Haute Couture geworden ist.

Marty hatte an der Ecole des Beaux Arts studiert und arbeitete für die führenden Modejournale wie die Gazette du Bon Ton, das Journal des Dames et les Modes oder Vogue. Er war sogar so berühmt, dass ihn London Transport für Plakate verpflichtete. Das hätte ich in dem Post Keep calm and carry on vielleicht noch erwähnen sollen. Um das wieder gutzumachen, habe ich hier ein schönes Plakat, das er für die London Underground entworfen hat.

Der Elendsmaler Bernard Buffet hatte nicht nur einen Rolls, er malte ihn auch gerne. Obgleich es viele Künstler gibt, die einen Rolls besitzen, malt kaum jemand das Objekt der künstlerischen Begierde. Marcel Duchamp tat das nicht, und auch Joseph Beuys hat seinen Bentley nicht gemalt. Der Massenproduzent Georg Baselitz weiß weshalb: Wenn einer zu viele Ringe an den Fingern trägt oder einen Rolls-Royce fährt, wird der geschmäht. Das ist ein Phänomen, das in einer Neidgesellschaft wuchert. Ganz übel, und Deutschland hat dazu alle Fundamente gelegt.

Das ist natürlich schlimm, Maler wie Baselitz haben es in Deutschland ganz schwer. Ein Rolls Royce ist etwas für Könige. Und für Kleinbürger wie Baselitz, der sich - ebenso wie Bernard Buffet - ein Schloss kaufte. Etwas weniger beklagt sich da Markus Lüpertz. Massenproduzent moderner Bilder, Millionär und Rolls Royce Liebhaber Markus Lüpertz hatte soviel Humor, das Cover für den Krimi von Joseph Wambaugh Der Rolls-Royce-Tote zu zeichnen.

Georges Braque war in seiner Jugend ein wilder Fahrer gewesen. Sein Freund Picasso war um ihn besorgt und hatte ihm immer zu einem Chauffeur geraten. Den bunt bemalten Alfa hatte Braque nicht lange behalten, er verkaufte ihn für tausend Francs an den Dichter Blaise Cendras (lesen Sie mehr in dem Post Blaise Cendrars). Kaufte sich aber sofort einen neuen Alfa. Als Braque sich einen großen Hispano Suiza kaufte, leistete er sich dann auch einen Chauffeur. Mit Livree.

Ein Hispano Suiza war damals viel exklusiver als ein Rolls (lesen Sie hier mehr dazu), der Name war noch nicht ruiniert durch den HS 30 Panzer. Wahrscheinlich war diese Exklusivität auch ein Grund dafür, dass Picasso sich 1953 auch einen kaufte. Und sich natürlich einen Chauffeur zulegte. Er mochte das Auto, weil es so groß war, dass er seine ganze Malausrüstung darin verstauen konnte. Braque andererseits hatte ein kunstvolles System ersonnen, um Leinwände und Malmaterial auf dem Dach seines Rolls zu befestigen. Ein Jahr bevor sich Picasso seinen Hispano Suiza kaufte, hatte er diese Plastik eines Pavians geschaffen, dessen Kopf aus einem Auto besteht, aber Picassos Plastik und sein Auto haben bestimmt nichts miteinander zu tun. Man weiß nicht, was in Picassos Kopf vorgeht.

Ein Rolls Royce bietet sich für einen Künstler schon deshalb an, weil er selbst ein Kunstwerk ist, da hätte man den Plan von Alina Szapocznikow, einen riesigen Rolls-Royce aus portugiesischem rosa Marmor herzustellen, gar nicht gebraucht. Der Kunsthistoriker Erwin Panofsky hat in einem witzigen Aufsatz mit dem Titel The ideological antecedents of the Rolls-Royce radiator auf die gerade, klare Gliederung der Villen des Palladian Style hingewiesen (und der Rolls-Royce Kühler verdankt Palladio ja auch vieles), die in völligem Gegensatz zu der gewollten Unordnung der Natur des englischen Landschaftsgartens steht. Deshalb stellen Sie Ihren Rolls am besten in den Park. Aber niemals unter Lindenbäume. Sagt ein Handbuch für Rolls Royce Chauffeure.

Man kann einen Rolls in jeder beliebigem Form bekommen. Das hier gilt allgemein als der hässlichste Rolls, der je gebaut wurde. Nubar Gulbenkian (der bestimmt ein halbes Dutzend Rolls Royce besaß) hatte ihn sich 1947 von der Karosseriefabrik Hooper bauen lassen. Not everyone will care for the very advanced appearance - but there is no doubt it is striking, schrieb die Zeitschrift Autocar. Man kaufte bei der Firma Rolls Royce eigentlich nur Fahrwerk und Motor, alles andere machten Firmen wie Hooper, Mulliner oder Park Ward.

Die Erfahrung musste auch der junge Michael Caine machen, als er ein spezielles Modell haben wollte. Ein älterer Herr sagt ihm bei der Autoshow: I think I can assure you myself, sir, that the Mulliner Park Ward chassis will never be available on the model you require because Mr Mulliner is dead and I am Mr Park Ward, so you are getting your information straight from the horse's mouth, as the saying goes. Lesen Sie mehr dazu in dem Post Luxuskutschen. Heute fährt Michael Caine, der noch keinen Führerschein hatte, als er sich seinen ersten Rolls kaufte, einen grauen Lexus: I used to drive a Rolls and all that but they were just too ostentatious for this world now. I had to get rid of them. Die goldene Rolex ist auch vom Arm verschwunden. So etwas hat doch Stil. Der Link bei Rolex führt übrigens zu einem Post, der mehr als zehntausend Mal angeklickt wurde.

Natürlich ist es immer feiner, einen Bentley zu haben als einen Rolls Royce. Das hatte Braque auch eingesehen, sein Rolls machte einem grauen Bentley Platz. Der Spiegel wusste damals zu vermelden: Georges Braque, 79, französischer Kubist, läßt seinem 80 000-Mark-Auto, einem britischen Bentley, bei den täglichen Spazierfahrten in Paris zwei Motorroller-Fahrer vorauseilen, damit er rechtzeitig vor Verkehrsstockungen gewarnt wird, die dem Maler zuwider sind. Wenn man Massenproduzent moderner Bilder ist, kann man sich auch so etwas leisten.

Es gibt genügend Gemälde, auf denen Automobile sind. Und es gibt auch inzwischen eine große Zahl von Büchern wie Das Automobil in der Kunst 1886 - 1986 von Reimar Zeller (Prestel Verlag), Automobil: Das magische Objekt in der Kunst (derselbe Autor, diesmal beim Insel Verlag), Art and the automobile von D.B. Tubbs oder Gerald D. Silks Automobile and Culture (und ich hätte hier für Liebhaber amerikanischer Automobile noch einen Link zu einer sehr interessanten Nummer des Michigan Quarterly Review). 

Dieser schöne Cézanne mit einem alten Citroen ist in all den oben erwähnten Büchern nicht zu finden. Man kann das Bild lediglich in der Folge Who Killed Harry Field? der englischen Krimiserie Morse sehen. Sie können sie hier in mehreren Teilen sehen, ich finde, dass es der beste Morse ist. Der Maler, der dieses Bild gefälscht hat, sagt in dem Film zu Morse: Two golden rules of forgery, Mr. Morse, spontaneity and never do Raphael. Braques werden häufig gefälscht (ein Raffael seltener), auch unser Wolfgang Beltracchi hat falsche Braques gemalt. Wenn Sie einen Georges Braque haben wollen, dann wenden Sie sich doch mal an diese Adresse.

Das ist kein Fälscher, i bewahre, das ist ein Künstler: When I paint in the style of one of the greats… Monet, Picasso, Van Gogh… I am not simply creating a copy or pale imitation of the original. Just as an actor immerses himself into a character, I climb into the minds and lives of each artist. I adopt their techniques and search for the inspiration behind each great artist’s view of the world. Then, and only then, do I start to paint a ‘Legitimate Fake’. Raffael hat der Mann nicht im Programm, Braque schon. Wenn Sie ihn bitten, malt der Produzent von legitimate fakes Ihnen bestimmt auch einen kleinen Rolls Royce zwischen die Häuser.


Ich weiß nicht, wie es kommt, aber die Firma Rolls Royce kommt immer wieder in diesem Blog vor. Sie könnten auch noch lesen: automobiliaLuxuskutschenTraumwagenAprilLindenbäumePalladioDes Königs JaguarLisbethKönig FarukGregor von RezzoriF. Scott Fitzgeralds AutomobileMercédèsFranco CostaPolitische SymbolikKieler WocheCutty SarkJens Christian JensenKieler ChicHerrenausstatterPatti d'ArbanvilleSwinging LondonFahrstuhl zum Schafott, Borgward, Basel, Segelboote, Invasion, Jogginghosen, Neo Rauch, Nachtigallen.

Mittwoch, 11. Mai 2022

WISICA


Als Otto Schily noch jeden Tag in den Nachrichten war, hat er sich einmal in einem Interview beklagt, dass das Londoner Kaufhaus Harrods seine geliebten Hemden aus Sea Island Baumwolle nicht mehr führe. Er wäre dankbar für jeden Tip, wo man die kriegen könnte. Eine Aussage, die umgehend im Spiegel und in der Zeit kolportiert wurde. Ich habe mich damals darüber gewundert, dass er seine Hemden bei Harrods kaufte, einem Haus, das nun nicht für seine Oberhemden berühmt war. Aber Hemden aus Sea Island Baumwolle mussten es für Schily unbedingt sein, angeblich das Nonplusultra unter den Oberhemden. Wahrscheinlich hätte er seine Hemden bei Turnbull & Asser finden können, die heute noch Sea Island Hemden anbieten. Sea Island Hemden werden heute von vielen Firmen angeboten. Bei Brioni kostet so etwas beinahe siebenhundert Euro, das Doppelte von einem normalen Brioni Hemd.

Es ist eine besondere Sorte Baumwolle, die diesen Namen trägt. Sie unterscheidet sich von der ägyptischen Giza Baumwolle und der amerikanischen Supima Baumwolle. Sie kommt aus der Karibik, aus der Gegend, die Harry Belafonte besungen hat. Aber wenn der them old cotton fields back home besingt, dann sind das die Baumwollfelder von Louisiana, nicht die von Jamaika, wo er in seiner Jugend einige Jahre gelebt hat. Doch von dort kommt die weltweit gesuchte Baumwolle, aus Jamaika und Barbados. Sie hat längere Fasern als andere Baumwolle, sie wird mit der Hand geerntet, und es gibt nur ganz wenig davon. Die Baumwollplantagen haben sich inzwischen zu einem Verband zusammengeschlossen, der die Qualität überwacht. Das Ganze heißt WISICA und steht für West Indian Sea Island Association. Die italienische Firma Brioni steht auf der Kundenliste der WISICA, und so wissen wir, woher die Baumwolle kommt.

Das ist bei der Bezeichnung Sea Island nicht so einfach, denn der Name steht auch für eine ganz andere Gegend als der Karibik. Und das sind die Sea Islands, eine Inselgruppe vor der Ostküste der USA, die sich von South Carolina bis Florida ersteckt. Manche der Inseln sind in die Literatur gewandert. Also diese Szene hier spielt auf Sullivan's Island. Es ist eine Szene aus Edgar Allan Poes The Gold-Bug. Poe kannte die Insel, weil er in seiner Zeit als Soldat auf dieser Insel vor Charleston stationiert war. Die Insel wurde im Jahr 2000 noch einmal berühmt, weil man hier das U-Boot CSS Hunley der Südstaatenarmee aus dem Bürgerkrieg gefunden hat.

Das hier sind kleine Villen für Touristen an der King Cotton Road in Edisto. Vor dem Bürgerkrieg sind hier englische und schottische Einwanderer mit dem Anbau von Baumwolle reich geworden. Edisto Island 1663 to 1860: Wild Eden to Cotton Aristocracy heißt das Buch von Charles Spencer, das die Geschichte der Insel behandelt. Doch das lasse ich für einen Augenblick beiseite, weil ich mal eben den Roman Ediso von Padgett Powell erwähnen muss. Über den sagte Walker Percy: Edisto is a truly remarkable first novel, both as a narrative and in its extraordinary use of language. It reminds one of The Catcher in the Rye, but it’s better—sharper, funnier, more poignant. Und der Nobelpreisträger Saul Bellow urteilte: When asked for a list of the best American writers of the younger generation I invariably put the name Padgett Powell at the top. Der Roman Edisto (den es auch in der Übersetzung von Harry Rowohlt gibt) hat hier schon einen langen Post.

Auf den Sea Islands hat man um 1780 westindische Baumwolle aus Barbados angepflanzt, was erst nach mehreren Anläufen gelang. Es gibt da nämlich kalte Winter, und das verträgt die Pflanze (Gossypium barbadense) nun gar nicht. Sie ist auf den westindischen Inseln besser aufgehoben als auf den amerikanischen Sea Islands. Und man kann ziemlich sicher sein, dass die Hemden von Herrn von Freyberg (der sich dies hier als Trademark hat schützen lassen) kein Etikett der WISICA haben. Der Freiherr Gernot von Freyberg hatte einen Hemdenladen in Frankfurt, der vor elf Jahren Starbucks weichen musste. Er soll die besten Hemden in Deutschland verkauft haben, made from the world's finest cotton fabrics. Und er war in den Schlagzeilen, weil er seinen Mercedes mit Schmähreden auf Daimler-Benz beschriftet hatte. Ich weiß nicht, wie gut seine Sea Island Hemden waren und woher die Baumwolle kam. Die Hemden ließ er sich in Italien machen, gute Qualtät, aber es geht noch besser. Das kann ich sagen, weil ich ein von Freyberg finest two ply Hemd besitze.

Der Anbau der Baumwolle ist das eine, sie zu einem feinen Garn verarbeiten das andere. Und da haben zwei Firmen das Sagen. Die eine ist die Albini Group (zu der auch Thomas Mason gehört), die einen Vertrag mit der WISICA haben, angeblich haben sie ein Exklusivrecht auf die Baumwolle von Barbados. Zum anderen ist da die Schweizer Firma Spoerry 1866, ihr Chef Peter Spoerry war schon in dem Post Schweizer Oberhemden abgebildet. 1995 war die Firma im Guinness Book of Records, weil sie das feinste Baumwollgarn der Welt herstellte, 2003 kaufte man eine Plantage auf Jamaika.

Den besten Werbetext für West Indian Sea Island Baumwolle hat die Engländerin Emma Willis hinbekommen: There are many imitations of the infamous Sea Island Cotton out there but this is the authentic, inimitable real thing and you will be able to tell when you feel its silken touch but with weight. Grown in the ideal climate and conditions of the West Indies, like wine cotton depends on the soil and weather, and here they cultivate their prized cotton with hundreds years of passed down experience and care. The special thing about real Sea Island cotton is the weight, two fold 140’s so not the finest, but the silkiest of touches due to the quality of the raw cotton. therefore the whites and even better the undyed natural ivory Sea Island Cotton have body to them and are not in any way transparent, but how soft to wear. It deserves its reputation and I would choose white, ice blue and ivory for a dream shirt wardrobe. Ihre Stoffe kommen von der Schweizer Firma Alumo, die auch die Firma Bruli beliefert.

Dies Etikett auf einem alten Turnbull & Asser Hemd besagt wenig, Sea Island Cotton Quality kann vieles heißen. Neuerdings ist Turnbull & Asser Kunde der WISICA. Der preiswerte italienische Internethändler Apposta allerdings auch, bei ihm kostet ein Hemd 229 €. Die Hemden der italienischen Spitzenfirmen wie Finamore, Fray oder Pegaso kosten leicht das Doppelte, und die sind nicht aus dem angeblich so gesuchten Gossypium barbadense aus der Karibik. Aber täuschen wir uns nicht, es gibt noch an vielen Stellen der Welt langstapelige Baumwolle. Die peruanische Pima Baumwolle, die Seide Südamerikas, hat ihren Namen nach den Pima Indianern beommen. In Texas und Kalifornien ist sie seit 1911 zuhause. Im Jahre 1954 wurde die Bezeichnung Supima (für Superior Pima) geschaffen. Seit 1970 gibt es in Indien Suvin Bauwolle, die aus einer Kreuzung der indischen Sujata (eine Variante der ägyptischen Karnak Baumwolle) und Baumwolle von der Karibikinsel St Vincent bestand. Aus Suraja und Vincent wurde Suvin. Und dann haben wir da noch die ägyptische Baumwolle, die schon immer für ihre Spitzenqualitäten berühmt war.

Ich kann keine Werbung für irgendeine Firma machen, ich besitze kein einziges Hemd, dessen Stoff aus der Karibik kommt. Ich glaube auch nicht unbedingt an das, was in dem Werbetext von Frau Willis steht. Wenn mir nach Karibik ist, lege ich Belafontes Jamaica Farewell auf.

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