Montag, 31. Januar 2011

Isambard Kingdom Brunel


Am 31. Januar 1858 ist sie vom Stapel gelaufen. Die Great Eastern, das größte Schiff seiner Zeit. Der erste Versuch eines Stapellauf 1857, als halb London zuguckte, war gründlich misslungen, jetzt hat es geklappt. Kann ja auch nichts werden, wenn man Wasser statt Sekt beim Stapellauf verwendet. Stapelläufe gehörten zu meiner Jugend, wenn man aus einem Kaff an der Weser kommt, das nur aus Werften besteht, kann das nicht ausbleiben. Das war immer spannend, wenn der Bremer Vulkan seine Pforten für Besucher öffnete. Gut, es gab keine zum Tode Verurteilte mehr, die die Klötze unter dem Schiff wegkloppten. Aber man wusste nie, ob es gutgehen würde. Mit einem Stapellauf ist ja auch seit Jahrhunderten viel Aberglauben verbunden. Kriegt die elegante Dame im Nerzmantel oben auf dem hölzernen Podest es beim ersten Mal hin, die Sektflasche so gegen die Bordwand zu werfen, dass sie zerschellt? Unten wurden noch Wetten angenommen.

Nerzmäntel waren damals de rigueur für Taufpatinnen, die in der Regel die Ehefrauen oder Töchter des Eigners waren. Jemanden wie Veronica Ferres hätte man damals keine Sektflasche in die Hand gedrückt. Aber damals hießen Schiffe auch noch nicht Color Magic. Der Schiffseigner trug meistens einen off white Burberry Raglanmantel, ist zwar auf einer Werft wahnsinnig unpraktisch, weil der am Ende des Tages höchstens noch off off white war. Helle Regenmäntel waren aber damals ein Statussymbol. Waren sie ein Jahrzehnt später bei der französischen Bourgeoisie immer noch.

Schiffstaufen finden heute kaum noch in Deutschland statt, zumindest nicht, wenn sie mit einem Stapellauf verbunden sind. Denn der findet immer in Korea statt. Oder wo es gerade am billigsten ist, ein Schiff bauen zu lassen. Heute heißen die Werften nicht mehr AG Weser, Bremer Vulkan, Blohm und Voss oder Howaldt, heute heißen die Hyundai, Samsung und Daewoo. Die Schiffe sehen auch nicht mehr wie richtige Schiffe aus, den Verfall des Designs haben sie mit dem Automobilbau gemeinsam.

Isambard Kingdom Brunels Great Eastern ist designmäßig auch etwas seltsam, weil es ein stählernes Segelschiff ist, das verschiedene Sorten von Motorantrieb besitzt. Und wahrscheinlich gilt für solche Monster auch schon das form follows function. Die Great Eastern ist dreimal so lang wie die Gorch Fock. Ich schreibe den Namen mal so ganz unbelastet hier hin, ich habe ➱hier schon über das Schiff geschrieben, als ich noch nicht ahnte, dass es eines Tages Gesprächsstoff für die ganze Nation werden würde. Und wer da neuerdings alles fachmännisch mitredet bei all diesen Politikern und den talking heads im Fernsehen! Leute, die Backbord nicht von Steuerbord unterscheiden können. Leute, die keine Halse fahren können, wenn man ihnen auf einer Jolle Pinne und Großschot in die Hand drückt. Aber plötzlich sind sie alle Fachleute dafür, wie es an Bord eines Großseglers auszusehen hat. Wenn man alle Folgen von Traumschiff gesehen hat, reicht das heute schon, um als nautischer Experte im Fernsehen aufzutreten.

Isambard Kingdom Brunels Great Eastern heisst eigentlich gar nicht so, sie wurde auf den Namen Leviathan getauft. Für Brunel blieb sie das great babe. Die Schiffstaufe am 3. November 1857 ist eigentlich eine Nottaufe. Kurz bevor Brunel seinen ersten Versuch beginnt, das Schiff vom Helgen in die Themse zu lassen, kamen die Direktoren der Reederei mit einer Namensliste zu ihm. Call her Tom Thumb if you like, soll Brunel gesagt haben. Er kocht vor Wut. Dies sollte überhaupt kein Stapellauf sein, nur ein erster Versuch, das Schiff in Richtung Themse zu bewegen. Noch nie in der Geschichte der Menschheit ist ein so großes Schiff vom Stapel gelaufen. Und dann auch noch seitlich, weil es anders nicht in die Themse gepasst hätte.

Es war Brunel völlig klar, dass dies nicht beim ersten Versuch klappen würde. Aber er hat die Macht der Presse unterschätzt, die seit zwei Jahren den Bau des Schiffes auf der Isle of Dogs beobachtet und kommentiert. Und ständig den sofortigen Stapellauf fordert. Und dann hat auch noch der Sekretär der Reederei ohne Autorisierung seitens Brunels dreitausend Eintrittskarten verkauft. Wo Brunel Ruhe und viel Platz haben wollte, ist jetzt Jahrmarkt. Die Schaulustigen behindern alle Arbeiten, es ist eigentlich ein Wunder, dass es zu nur einem Todesfall gekommen ist. Das Opfer heißt Thomas Donovan, ein älterer irischer Werftarbeiter, der an der rotierenden Winsch, die ihn durch die Luft schleudern wird, gar nichts zu suchen hatte. Die Presse macht aus dem verunglückten Probelauf eine Katastrophe, als sei die Tay Brücke zusammengebrochen. Es wird noch zwei weitere Versuche im November geben (und auch zahlreiche kleinere Unglücke) bis die Leviathan am 31. Januar endlich im Themsewasser schwimmt.

Natürlich ist der Name Leviathan daran Schuld. Für alle Unglücke, die einem Schiff zustossen, gibt es eine Erklärung im Aberglauben. Wenn man auf einem Schiff Salz verschüttet, bringt das Unglück. Frauen an Bord bringen Unglück. Das lassen wir jetzt mal unkommentiert. Wenn man alles über den Klabautermann, Elmsfeuer und den Fliegenden Holländer erfahren will, dann sollte man zu dem mehrbändigen Werk Deutsche Philologie im Aufriß greifen. Das war in den fünfziger Jahren die größte Bestandsaufnahme der deutschen Germanistik, und man vermutet da drin eigentlich nichts über den Äquatortaufe. Steht aber drin. Der Herausgeber Wolfgang Stammler hat es sich nicht nehmen lassen, in Band III einen wunderbaren 70-spaltigen Lexikonartikel über Seemanns Brauch und Glaube zu schreiben.

Brunel, der in den Monaten vor dem Stapellauf kaum noch zum Schlafen gekommen ist, wird es nicht mehr erleben, dass seine Great Eastern (wie sie inzwischen heißt) den Atlantik überquert. Er stirbt, als er die Nachrichten von der Katastrophe auf der Jungfernfahrt hört. Er war der bedeutendste viktorianische entrepreneur und gilt vielen Engländern auch heute noch als einer der bedeutendsten Engländer. Tunnel, Brücken, Schiffe - alles was technisch denkbar ist, macht er möglich. Es sind die Ingenieure und Architekten, die jetzt das viktorianische England verwandeln. Manchmal klappt das nicht so richtig, das kennen wir aus Fontanes Ballade Die Brück' am Tay. Tand, Tand ist das Gebilde von Menschenhand.

Die beste Biographie zu Isambard Kingdom Brunel ist immer noch, obgleich schon ein halbes Jahrhundert alt, die von L.T.C. Rolt. Von der Verlegung des Transatlantikkabels durch die Great Eastern handelt der Bestseller Rausch (Signal & Noise) von John Griesemer. Literarisch vielleicht nicht besonders wertvoll, aber ein pralles Sittengemälde der viktorianischen Zeit.

Sonntag, 30. Januar 2011

Sir Nikolaus Pevsner


John Betjeman hat den deutschen Emigranten Nikolaus Pevsner nicht so richtig gemocht. Betjeman liebte die Architektur des viktorianischen Londons, Pevsner stand spätestens seit seinem Buch Pioneers of Modern Design für die Moderne. Ein Freund Betjemans, Peter Clarke (Mitbegründer der Victorian Society), wird im Punch die Spottverse Lieder aus der Pevsnerreise veröffentlichen:

From heart of Mittel-Europe
I make der little trip
to show der englisch dummkopfs
some echt-deutsch scholarship
Viel Sehenswürdigkeiten
by others have been missed
but now comes to enlighten,
der Great Categorist. 


Hier stoßen jetzt zwei Welten aufeinander. ➱Betjeman und Clarke sind englische Gentlemen, die sich als Amateure mit der Kunstgeschichte beschäftigen. Dieses Fach gibt es an englischen Universitäten, bevor die aus Deutschland vertriebenen jüdischen Gelehrten ins Land kommen, überhaupt noch nicht. Und nun kommt der deutsche Professor to show der englisch dummkopfs some echt-deutsch scholarship. Clarkes Zeilen treffen das schon genau, zumal Pevsner bei all seiner Liebenswürdigkeit ein sehr deutsches, sehr pedantisches Wesen nicht abzusprechen war.

Betjeman hat ihn immer gehasst: his arch-nemesis, Nikolaus Pevsner, the apostle of Kunstgeschichte, whose Prussian efficiency and professionalism offended his determined sense of amateurism schrieb vor wenigen Jahren Brooke Allen im New Criterion (was wäre die Zeitschrift ohne sie?). Der Krieg zwischen dem späteren poet laureate Betjeman und dem deutschen Gelehrten - that dull pedant from Prussia - beginnt im Jahre 1941, als Betjeman einen Nachruf auf Charles Voysey geschrieben und dem Architectural Review zugeschickt hatte. Betjeman hatte den völlig vergessenen Baumeister des Arts-and-Crafts Movement in den dreißiger Jahren wiederentdeckt und dafür gesorgt, dass der als Achtzigjähriger noch eine Goldmedaille vom Royal Institute of British Architects bekam. Aber der Architectural Review druckt den Nachruf von Betjeman nicht sondern den von Pevsner. Denn Pevsner ist da inzwischen in der Redaktion der Zeitschrift und lässt niemanden vergessen, dass er es war, der Voysey in Pioneers of Modern Design zu einem Vorreiter der Moderne gemacht hatte.

Als der Voysey sich niemals gefühlt hat, wie Betjeman bei seinem ersten Besuch bei Voysey 1931 feststellen musste. Er hasste die moderne Architektur, und er hasste es, von Pevsner als ein Begründer dieser Moderne in ein Buch hineingeschrieben worden zu sein. Es ist schon ein klein wenig schäbig, wie Pevsner das jetzt verkauft, wo er doch wissen sollte, dass die Wiederentdeckung Voyseys Betjemans Verdienst war. Es ist diese typisch deutsche Arroganz von jemandem, der auf seine akademischen Titel sehr stolz ist und der Betjeman als an undergraduate at Oxford bezeichnet. Womit er betont, dass Betjeman im Gegenzusatz our Herr-Professor-Doktor of today (so Betjeman) kein Examen vorweisen kann. Doch Betjeman hat seine Liebe zur Architektur, Pevsner nur diese kalte deutsche wissenschaftliche Klassifizierungssucht.

Charles Voysey wird Jahrzehnte später noch einmal neu entdeckt werden. Broad Leys am Lake Windermere wird eine Rolle in dem Film The French Lieutenant's Woman von Karel Reisz (zu dem Harold Pinter das Drehbuch geschrieben hatte) spielen und nach dem Erfolg des Films zu einer Touristenattraktion werden.

Nicht nur Pevsners Verhältnis zu dem Dichter und Architekturliebhaber Betjeman war schlecht, auch das Verhältnis Pevsners zu Englands Vorzeigekunsthistoriker ➱Kenneth Clark war eher unterkühlt. Was sicherlich auch Kenneth Clark lag. Der Sohn aus reichem Hause, der sich während seines Studiums schon echte Niederländer kaufen konnte, war mit dreißig Jahren Direktor der National Gallery. Während des Krieges veranstaltete er Kulturabende in der National Gallery, unter anderem tritt da die berühmte ➱Myra Hess auf. Ein Engländer (auch wenn er eigentlich ein Schotte ist) lässt sich von dem deutschen Bombenterror nicht einschüchtern. An einem dieser Abende ist Pevsner auch in der National Gallery. Er ist zu früh gekommen, sitzt mit seinem durchnässten Regenmantel in einer Vorhalle (die Fahrradklammern noch an den Hosen) und macht sich Exzerpte aus einem Buch. Und da gleitet Sir Kenneth an ihm vorbei, in einem eleganten Savile Row Anzug (er ist einer der elegantesten Männer Englands in seiner Zeit), und sagt leicht herablassend irgendetwas in der Art von Immer fleißig, der Herr Professor. Klingt ein wenig so wie das Always scribble, scribble, scribble! Eh, Mr. Gibbon? das Prinz William Henry zu Edward Gibbon sagte.

Die Fahrradklammern an den Hosen werden beinahe zu einem Symbol für Pevsner, wenn er nach dem Krieg beginnt, von Kirche zu Kirche zu radeln und das gewaltige Werk The Buildings of England zu schreiben. Allen Lane, dem der Penguin Verlag gehört, hat ihn dazu überredet. Spendiert ihm auch irgendwann ein Auto (einen Vorkriegs Wolseley Hornet), damit der Professor nicht immer mit dem Fahrrad durch England radeln muss. Aber Pevsner hat keinen Führerschein, seine Frau muss ihn fahren, oder seine Sekretärin, die Allen Lane ihm auch noch spendiert hat. Später fahren ihn seine Studis durch England. Driving Professor Pevsner, das wäre doch mal eine schöne Filmidee, ich würde auch das Drehbuch dazu schreiben. Allen Lane wird das alles nicht bereuen, The Buildings of Britain (angelegt wie Dehios Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler) werden ein großer Erfolg. Und sind es bis heute.

Und damit ist Pevsner, der sich mit Tweedjackett und Wollwesten immer große Mühe gegeben hat, wie ein Engländer auszusehen, endlich im Herzen der Engländer angekommen. Zumal er dann noch in der BBC die berühmten Reith Lectures zum Thema The Englishness of English Art hält. Er bekommt den CBE Orden und wird 1969 (im gleichen Jahr wie John Betjeman) sogar geadelt, der erste ausländische Kunsthistoriker, dem diese Ehre zuteil wird (Ernest Gombrich wird ihm da nachfolgen). Aber dennoch kommt sein Ruhm nicht an den von ➱Sir Kenneth Clark heran. Nachdem der die TV Serie Civilisation gemacht hat, die Millionen Menschen weltweit gesehen haben, ernennt ihn die satirische Zeitschrift Private Eye zu Lord Clark of Civilisation. Er nimmt sich als Adelstitel aber lieber Lord Clark of Saltwood, da er gerade das gleichnamige Schloss gekauft hat. In den beiden Bänden seiner Autobiographie (Another Part of the Wood und The Other Half) erwähnt er Pevsner kein einziges Mal.

Während viele der emigrierten deutschen und österreichischen Kunsthistoriker in ihren Gastländern sofort eine Anstellung fanden - Erwin Panofsky in Princeton, Alfred Neumeyer am Mills College in Oakland, Ernst Gombrich am Courtauld Institute - hat es Pevsner in England nicht leicht gehabt. England remains alien to me and, despite all my admiration for its qualities, somehow hateful, hat er einmal gesagt. Dabei kannte er das Land schon lange, sein Großvater wohnte in Hampstead. Den hatte er schon als Kind besucht, und er war Ende der zwanziger Jahre der einzige deutsche Kunsthistoriker, der sich mit englischer Kunst beschäftigte. Er arbeitete zwar schon 1933 nach seiner Entlassung in Göttingen in England, konnte sich aber erst 1935 zur Emigration entschliessen. 1933 hatte er dem Reporter der Birmingham Post noch in einem Interview gesagt Hitler is planning public works on a vast scale to cure the unemployment problem, and I believe that he has the courage and will to do what he says und glaubte noch an die puritan and moral aspects des Nationalsozialismus.

Da war er zweifellos nicht so scharfsinnig wie andere Emigranten. Zeitweilig arbeitete er als Berater einer Möbelfirma (die sich aber immerhin dem von ihm propagierten modernen Design verschrieben hatte). Zu Beginn des Krieges wurde er als feindlicher Ausländer in Liverpool interniert, man wollte ihn nach Australien deportieren. Dank seiner Beziehungen konnte er das abwenden und in England bleiben - das Schiff sank übrigens im Pazifik. An jenem Abend, als Pevsner mit seinen Fahrradklammern an den Hosen in der National Gallery sitzt, kann es gut sein, dass er gerade von seinem Dienst als Luftschutzwart gekommen ist. Da hat the Herr Professor Doktor von seiner anfänglichen Begeisterung für die Nationalsozialisten, die Stephen Games in Pevsner: The Early Life: Germany and Art nachgezeichnet hat, schon längst Abstand genommen.

Viele seiner Bücher, nicht nur die Buildings of Britain, sind heute Klassiker der Kunstgeschichte. Pioneers of Modern Design ist immer wieder aufgelegt worden, seine Geschichte der europäischen Architektur auch. Von dem Lexikon der Weltarchitektur, das er mit John Fleming und Hugh Honour herausgegeben hat, ganz zu schweigen. Ian Buruma hat in Voltaire's Coconuts, or Anglomania in Europe (einem der besten Bücher über die Englishness) ein schönes Kapitel über Dr Pevsner. Eine Biographie von Susie Harries Nikolaus Pevsner: Bringer of Riches wird am 18. August 2011 bei Chatto&Windus erscheinen. Darin findet sich auch die kleine Anekdote, dass Pevsner 1965 John Lennon für die Victorian Society werben wollte: From your book and otherwise, I have a strong feeling that you would make an ideal member of the Victorian Society. Warum er diesen Brief geschrieben hat, wird wohl immer ein Rätsel bleiben.

Nikolaus Pevsner wurde am 30. Januar 1902 in Leipzig geboren, er starb hochgeehrt in England im Jahre 1983. Er liegt auf dem Friedhof von Clyffe Pypard in Wiltshire. Seine Frau und er hatten dort ein Wochenendhaus. Auf dem schlichten schwarzen Granitstein steht Lola Pevsner born Kurlbaum 1902-1963 und darunter: Nikolaus her husband 1902-1983her husband - unter dem grünen Gras braucht man keine akademischen Titel mehr, keinen undergraduate und keinen Professor.

Samstag, 29. Januar 2011

Automobil


she being Brand
-new;and you
know consequently a
little stiff i was
careful of her and (having
thoroughly oiled the universal
joint tested my gas felt of
her radiator made sure her springs were O.
K.) i went right to it flooded-the-carburetor cranked her
up, slipped the
clutch (and then somehow got into reverse she
kicked what
the hell) next
minute i was back in neutral tried and
again slowly; barely nudging (my
lever Right-
oh and her gears being in
A 1 shape passed
from low through
second-in-to-high like
greasedlightning) just as we turned the corner of Divinity
avenue i touched the accelerator and give
her the juice, good
(it
was the first ride and believe i we was
happy to see how nice she acted right up to
the last minute coming back down by the Public
Gardens i slammed on
the
internalexpanding
&
externalcontracting
brakes Bothatonce and
brought allofher tremB
-ling
to a:dead.
stand-
; Still)


125 Jahre Automobil. Wir feiern das mal mit dem bezaubernden Gedicht von edward estlin cummings: she being Brand. Und falls Sie eine Interpretation dazu brauchen sollten, klicken Sie einfach ➱hier.

Freitag, 28. Januar 2011

Montaigne


Nur denen, welche den Montaigne gar nicht kennen, hat man es nötig zu sagen, wie viel kühnes und lesenswürdiges sie darinne finden können. Allein werden sie sich wohl durch die Aufschriften reizen lassen, wenn sie der Ruhm des Verfassers nicht reizen kann? Man kann nach dem strengsten Wortverstande behaupten, daß man nichts schönes von einem Franzosen gelesen hat, ohne den Montaigne gelesen zu haben; und es würde eine Schande für unsre Landsleute sein, wann sie den und jenen neuen Moralisten, der doch vielleicht nichts als ein Kopiste, oder wohl gar ein unverschämter Ausschreiber dieses ursprünglichen Schriftstellers war, mit Vergnügen gelesen und wohl gar bewundert haben sollten, und gegen den Vater derselben unempfindlich blieben. Kostet in den Vossischen Buchläden hier und in Potsdam 1 Rtlr. 8 Gr.

Schreibt Gotthold Ephraim Lessing. Die schöne Prachtausgabe der Essais von 1998, Sonderband in der Reihe Die andere Bibliothek, kostet heute nicht mehr einen Reichsthaler und acht Groschen sondern 77 Euro. Noch in diesem Jahr wird sie bei dtv als Taschenbuch erscheinen, kostet dann nur noch 29,90 Euro. Ihr Übersetzer Hans Stilett (Bild) hat ein erstaunliches Leben hinter sich. Nachdem er dreißig Jahre im Bundespresseamt tätig war, hat er zu studieren begonnen und wurde mit 67 Jahren mit einer Arbeit über das Reisetagebuch des Michel de Eyquem promoviert. Als er die komplette Neuübersetzung von Montaignes Essais vorlegte, war er 76 Jahre alt.

Lessing betont bei seiner Besprechung von Montaignes Essais, dass sie nach der neuesten Ausgabe des Herrn Peter Coste ins Deutsche übersetzt seien. Wobei er den Übersetzer Johann Daniel Tietz nicht erwähnt, der die gerade von dem in London lebenden Franzosen Pierre Coste herausgegeben Essais in nur einem Jahr ins Deutsche übertragen hatte. Diese Übersetzung hat sich über Jahrhunderte gehalten. Zweitausendeins hat sie gerade wieder neu herausgebracht, verschweigt aber im Katalog dezent, dass die Ausgabe aus dem Jahr 1753-54 stammt. Dafür kostet sie aber auch nur noch 9,99 €. Hans Stilett hat für seine Übersetzung etwas länger gebraucht als der fünfundzwanzigjährige Johann Daniel Tietz. Aber ich nehme an, dass sie auch Jahrhunderte halten wird.

Die Ausgabe, durch die Montaigne bei uns Deutschen bekannt wurde ist aber nicht die von Tietz sondern die von Johann Joachim Christoph Bode, dem Übersetzer von Sterne, Smollett und Goldsmith. Über die hat der Schweizer Historiker Herbert Lüthy im Nachwort zu seiner eigenen Übersetzung für den Manesse Verlag (1953) einige Nettigkeiten gesagt, die so bezaubernd sind, dass ich sie gerne hier abtippe: Die zweite, berühmte Übertragung von Johann Jakob Christoph Bode hat der direkten, knappen und bündigen Verdeutschung von Tietz wenig sachliche Verbesserungen, einige übersetzerische Goldfunde, manche ganze Abschnitte und Gedankengänge unkenntlich machende Mißverständnisse und vor allem so viel hausbackene teutsche Späßchen und Schörkel hinzugefügt, sie geht so aufs Ungefähr neben dem halbverstandenen Text her und macht ihn so duzbrüderlich zum biederen deutschen Aufklärer mit närrisch archaisierenden Zöpfchen, daß von Geist und Stil Montaignes wenig übrigeblieben ist.

Ich besitze die blaue Prachtausgabe auch. Weil ich sie von Heike und Friedhard geschenkt bekommen habe. Davor bin ich mit der alten Manesse Ausgabe durchs Leben gekommen. Man kann vielleicht auch ohne Montaigne durchs Leben kommen, aber was wäre das für ein Leben, wenn man ihn nicht gelesen hätte? Die Manesse Ausgabe habe ich seit dem März 1962, das Datum habe ich vorne ins Buch geschrieben. Mit echtem Gold, das war mir Montaigne wert. Das Gold stammte von einer kleinen Goldfolie, die die Degussa als Werbegeschenk weggab. Damit habe ich damals nur meine wichtigsten Bücher signiert. Die Prachtausgabe vom Eichborn Verlag braucht kein goldenes Datum, sie hat das Gold schon vorne auf dem Einband. Ist kein echtes Gold, sieht aber eindrucksvoll aus. Sie ist auch sehr schön gedruckt, die Seiten haben ein wunderbares Layout wie das bei den Büchern der anderen Bibliothek von Greno/Eichhorn üblich ist. Ein schönes Seitenlayout ist ja schon selten geworden, optische McDonalds Einheitsmenüs allenthalben. Aber diese Seiten sind wie das Essen in einem französischen Landgasthof, mit offenem vin de pays auf der Papiertischdecke, auf der die Kinder malen können. Die Manesse Ausgabe hat gegenüber Eichborns Prachtband allerdings einen Vorteil: man kann sie im Bett, in der Eisenbahn oder im Flugzeug lesen, weil sie so schön klein ist.

Im Vorwort zu seinem Buch wendet sich Montaigne (sicherlich ein klein wenig kokettierend) an den Leser: C'est icy un livre de bonne foy, lecteur. Il t'advertit dés l'entree, que je ne m'y suis proposé aucune fin, que domestique et privee : je n'y ay eu nulle consideration de ton service, ny de ma gloire : mes forces ne sont pas capables d'un tel dessein. Je l'ay voüé à la commodité particuliere de mes parens et amis : à ce que m'ayans perdu (ce qu'ils ont à faire bien tost) ils y puissent retrouver aucuns traicts de mes conditions et humeurs, et que par ce moyen ils nourrissent plus entiere et plus vifve, la connoissance qu'ils ont eu de moy. Si c'eust esté pour rechercher la faveur du monde, je me fusse paré de beautez empruntees. Je veux qu'on m'y voye en ma façon simple, naturelle et ordinaire, sans estude et artifice : car c'est moy que je peins. Mes defauts s'y liront au vif, mes imperfections et ma forme naïfve, autant que la reverence publique me l'a permis. Que si j'eusse esté parmy ces nations qu'on dit vivre encore souz la douce liberté des premieres loix de nature, je t'asseure que je m'y fusse tres-volontiers peint tout entier, Et tout nud. Ainsi, Lecteur, je suis moy-mesme la matiere de mon livre : ce n'est pas raison que tu employes ton loisir en un subject si frivole et si vain. Und mit A Dieu donq. De Montaigne, ce 12 de juin 1580 schliesst er diese Vorrede ab. Eigentlich hätte er nur einen Satz gebraucht, nämlich den, den sich Thomas Mann im Frühjahr 1904 in seinem Tagebuch notierte: J’ay faict ce que j’ay voulu: tout le monde me recognoist en mon Livre et mon Livre en moy.

Michel Eyquem wurde am 28. Februar im Jahre 1533 auf dem Schloss Montaigne geboren. montaigne ist eigentlich nur eine andere Schreibweise für montagne, aber irgendwie klang das de Montaigne für ihn wohl etwas vornehmer als der Familienname Eyquem. Im Kapitel Von der Eitelkeit sagt er Quel remede ? c'est le lieu de ma naissance, et de la plus part de mes ancestres : ils y ont mis leur affection et leur nom. Das stimmt nicht so ganz, dass all seine Vorfahren auf dem Schloss Montaigne geboren seien, sein Vater war der erste. Ein klein wenig eitel ist der Michel Eyquem doch. Das ist sehr beruhigend.

Donnerstag, 27. Januar 2011

Giuseppe Verdi


Er ist heute vor 110 Jahren gestorben. Er hat schöne Arien für Maria Callas geschrieben. Irgendjemand hat mal gesagt, dass seine Musik durch die Drehorgelspieler bekannt wurde. Oder ist es andersherum? Die Drehorgeln klingen in seinem Werk immer wieder durch. Ich mag ihn nicht so besonders, aber ich habe viele CDs von Verdi Opern. Eigentlich nur, weil da Leute singen, die ich mag. Also zum Beispiel Ferruccio Tagliavini als Graf von Mantua. Niemand singt La donna e mobile so parfümiert süßlich wie der kleine dickliche Italiener. Und dann ist da natürlich die großartige Aufnahme von La Traviata aus dem Teatro Nacional de Sǎo Carlos in Lissabon vom 27.3.1958. Habe ich in einer billigen Raubkopie, aber die teure EMI Aufnahme ist wahrscheinlich klangtechnisch nicht viel besser. Wenn Sie einen Eindruck von Maria Callas und Alfredo Kraus bekommen wollen, klicken Sie hier einmal in das Un dì, felice, eterea hinein. Ich sollte La forza del destino nicht vergessen, diese Oper, wo niemand die konfuse Handlung versteht, aber die Callas ist göttlich darin.

Verdi, der auch einmal in das Parlament gewählt wurde, lebte in einem Italien, das sich im politischen Ausnahmezustand zwischen Revolution und Restauration befindet. Aber wann ist Italien nicht in einem Ausnahmezustand? Haben die heute etwa normale Verhältnisse? Die Zensur behindert häufig sein Schaffen. Ganz besonders bei Un ballo in maschera. Es ist natürlich auch ein starkes Stück, in Neapel eine Oper über einen Königsmord in Schweden aufführen zu wollen, wo es da wenige Jahre zuvor ein Attentat auf den König von Neapel gegeben hat. Und in Frankreich eins auf Napoleon III, da sehen es die Bourbonen nicht so gern, wenn dieser Verdi eine Attentatsoper komponiert. Es gibt sie auch in zwei Fassungen. Die von der Zensur entschärfte spielt in Boston, das ist weit weg. Aber später wird sich die originale Fassung durchsetzen (obgleich die Boston Version manchmal noch gespielt wird), die natürlich am Hof von Gustav III von Schweden spielt.

Die Ermordung des schwedischen Königs durch Jacob Johan Anckarström ist vom dem Literaturfabrikanten Eugène Scribe (der immer eine Vielzahl von ghostwriters beschäftigte) zu einem Theaterstück verarbeitet worden, das die Grundlage für Verdis Oper war. Verdi hätte natürlich auch den Roman Das Geschmeide der Königin (Drottningens juvelsmycke) von Carl Jonas Almqvist nehmen können. Kennen Sie nicht? Da haben Sie etwas verpasst. Ein Schmuckstück der europäischen Romantik hat man den Roman aus dem Jahre 1834 genannt, und ein Schmuckstück ist der Roman über die (oder den?) androgyne Tintomara wirklich. Diese geheimnisvolle Tintomara soll die Tochter der Ballerina Giovanna Bassi gewesen sein, vielleicht eine Halbschwester des Königs Gustav Adolf IV.

Der Roman, der 1970 als Tintomara verfilmt wurde, hat Kindler im Jahre 2005 in einer Neuübersetzung herausgebracht. Die ist leider schon wieder vergriffen (eine englische Übersetzung, The Queen's Tiara, ist noch lieferbar). Im Jahr 2004 hatte ein anderer Roman von Almqvist Furore gemacht. Der stammte aus dem Jahre 1839 und war damals ein gesellschaftlicher Skandal. Unter dem Titel Die Woche mit Sara geriet er 2004 auf die Bestsellerliste. Dieser Carl Jonas Love Almqvist ist auch heute noch ein erstaunlich moderner Autor.

Wenn man nicht wüsste, dass sein Roman Das Geschmeide der Königin (den er ein Romaunt in zwölf Büchern nannte) aus dem Jahre 1834 stammt, man könnte ihn für ein Werk der Postmoderne halten. Thomas Pynchon hätte bestimmt seine Freude an diesem Roman. Der Autor zieht alle literarischen Register, Rahmenerzählung, Briefe, ganze Kapitel als kleine Dramenaufzüge (Melville macht das in Moby-Dick auch an einigen Stellen), ständig wechselnde Erzählperspektiven. Abenteuerlich.

Abenteuerlich wie das Leben des Autors, das in voller Länge darzustellen würde mehr Raum erfordern, als die Handlung von La Forza del destino wiederzugeben. Er wird 1793 geboren, ein Jahr nach dem Tod von Gustav III, sein Vater ist Kriegskommissar. Das ist kein Oberst, wie in einer schwedischen Quelle zu lesen ist, das ist ein kleiner Beamter, der für die Verpflegung der Armee zuständig ist. Seine Mutter ist eine Tochter von Carl Christoffer Gjörwell, einem berühmten Journalisten. Sein Onkel Carl Christoffer Gjörwell, Jr. ist ein bekannter Architekt, der unter anderem das Wrangelsche Palais umbaut. Almqvist studiert, macht seinen Magister, wird Lehrer, wird auch zum Pfarrer ordiniert. Sieht wie eine bürgerliche Karriere aus, täuscht aber. Denn da war die Phase mit der Landkommune, als er zu viel von Rousseaus revenons à la nature gelesen hatte. Und eigentlich hält er es nirgendwo richtig aus. Wahrscheinlich, weil er auch alles gleichzeitig ist: Dichter, Romanschriftsteller, Komponist, Journalist, Lehrer, Pastor, Sozialreformer. Seinen Beruf als Lehrer verliert er, als seine ersten Bücher zum Skandal werden. Vor allem Det gȧr an im Jahre 1839. Das ist der Roman, der bei uns anderthalb Jahrhunderte später zum Bestseller wird. 1851 muss Almquist Schweden verlassen, er wird verdächtigt, einen Mordversuch an einem Wucherer unternommen zu haben. Mit Arsen. Tintomara! zweierlei ist weiß: Unschuld - Arsenik, steht auf dem Vorsatzblatt zu seinem Romaunt in zwölf Büchern. Ein Apotheker in Stockholm kann sich später in dem Prozess gegen Malmqvist genau daran erinnern, dass Malmquist das Arsen kaufte, weil er wissen wollte wie es aussehe. Er wolle es in einen Roman schreiben.

Die erste Station seiner Flucht bewältigt er auf dem Schiff Mälaren. Das wäre eigentlich unwichtig zu erwähnen, hätte das Schiff nicht einen berühmten Besitzer, nämlich den Vater von August Strindberg. Gjörwell, Almqvist, Strindberg, Schweden ist schon klein in dieser Zeit. Ähnlich klein wie das Kopenhagen von Kierkegaard wie Harald von Mendelssohn es in seinem Buch Kierkegaard: Ein Genie in einer Kleinstadt beschrieben hat. Und Almquists Weltanschauung (wahrscheinlich ist er Schwedens erster Feminist) gefällt der Kirche genau so wenig wie die dänische Kirche Sören Kierkegaard mag. Da die schwedische Justiz gerade Herrn Assange verfolgt, bringt mich das zu einer schönen kleinen Verschwörungstheorie. Man weiß nicht, wie schuldig oder unschuldig unser Dichter (letzter Beruf: Regimentspfarrer) ist, aber er flieht.

Nach Amerika, wo er unter einer Vielzahl von Pseudonymen lebt. Eins davon klingt so ähnlich wie der Fußballspieler aus Wolfsburg, den Bayern gerade abgeworben hat. Über die fünfzehn Jahre in Amerika ist nicht so viel bekannt. Almqvist soll unter einem seiner Pseudonyme Privatsekretär von Lincoln gewesen sein. Aber das ist wohl nicht wahr, auch wenn es einmal in der Encyclopedia Britannica gestanden hat. Er hat 1854 eine gewisse Emma Nugent geheiratet, eine 69-jährige Pensionswirtin. Obgleich er natürlich Frau und Kinder zu Hause in Schweden hat. Aber vielleicht braucht er dann nicht mehr 1 Dollar 75 cents die Woche für Unterkunft und Verpflegung zu bezahlen. In dem Punkt hat er sich getäuscht, er ist jetzt eine Art Faktotum. Emma behandelt ihn wie einen Hund. Der Komponist muss zur Belustigung der Gäste Klavier spielen.

Seiner Familie wird er immer schreiben, auf Schwedisch natürlich. Er schreibt auch immer noch, an seinem größten Werk, das er nie vollenden wird. Denn Das Geschmeide der Königin war ja nur ein Teil eines größeren Werkes, das Törnrosens bok heißt. Jetzt sollen die anderthalb tausend Seiten von Om Svenska rim da auch noch hinein. Aber mit dem Ende des Bürgerkriegs, da ist er 72 Jahre alt, will er zurück nach Schweden. Er kratzt alles Geld zusammen für eine Schiffspassage. Nach Bremen. Der Name, den er in diesem Ort verwendet, ist Professor Carl Westermann, manchmal auch Jules Charles. Wenn die Bremer wüssten, wen sie da ein Jahr lang in ihrer Stadt haben. Bei Giftmördern oder jenen, die des Giftmords verdächtigt sind, werden die Bremer ja ein wenig neurotisch. Wir haben da auf dem Domshof den berühmten Spuckstein, wo jeder Bremer ausspucken darf. Das ist die Stelle, wo man der Giftmörderin Gesche Gottfried den Kopf abgeschlagen hat.

Carl Jonas Almqvist alias Professor Westermann alias Jules Charles alias Lewis Gustavi kommt zurück nach Solna in Schweden, aber da ist er schon lange tot. Erst einmal spendiert ihm die Freie und Hansestadt Bremen nach seinem Tod im Krankenhaus am 26. September 1866 ein Armengrab auf dem Friedhof vor dem Herdentor, bevor seine sterblichen Überreste 1901 nach Schweden überführt werden. Die Geschichte wäre ja Stoff für einen Roman, oder wenigstens eine Novelle. So wie die schöne Erzählung von Gustav Hillard Der Smaragd über den Tod des dänischen Königs Frederik VIII in Hamburg. Es hat lange gedauert, bis man sich in Bremen dieser Geschichte angenommen hat. Erst das Bremische Jahrbuch 89 im Jahre 2010 enthält einen Aufsatz Der schwedische Schriftsteller Carl Jonas Love Almqvist in Bremen 1865/66 von Jan Osmers, wo, in bewunderswerter detektivischer Kleinarbeit aufgespürt, alles Bekannte und Unbekannte über Almqvist zu finden ist. Das ist übrigens der gleiche Jan Osmers, der schon einmal in diesem Blog als Biograph und Herausgeber von Konrad Weichberger vorkam. Der macht interessante Dinge, dieser Jan Osmers. Denn Verborgenes und Vergessenes wieder zu Tage zu fördern, ist eins der schönsten Ziele von Philologen und Historikern. Und natürlich von Bloggern.

Einen Literaturtip zu Verdi hätte ich auch noch: Joseph Wechsberg, Giuseppe Verdi, es gibt nichts Besseres.

Mittwoch, 26. Januar 2011

Cosi fan Tutte


Heute vor 221 Jahren ist Così fan tutte o sia La scuola degli amanti zum ersten Mal aufgeführt worden, es ist vielleicht die schönste Oper von Mozart. Man kann nur von Glück sagen, dass Salieri, für den das Libretto eigentlich bestimmt war, seine Oper nicht fertig gekriegt hat. Zwei Akte. Zwei Frauen (Fiordiligi und Dorabella), zwei Männer (Gugliemo und Ferrando) und dann noch zwei Person in der Mitte zwischen den Liebenden (Despina und Don Alfonso), die die Handlung vorantreiben. Denn von schmachtenden Liedern über die Liebe allein lebt keine Oper. Obgleich das wirklich schöne schmachtende Arien sind. Hören Sie doch einmal hinein, wie der große Alfredo Kraus Un'aura amorasa singt. Und es sind nicht nur die Arien, auch die Terzette sind schön. Wenn Sie das Soava sia il vento von der Glyndebourne Aufnahme hören, werden Sie sicher gleich die DVD bestellen wollen. Sie machen damit auch bestimmt keinen Fehler!

Die beiden jungen Offiziere sind sich ihrer Liebe sicher, alles wäre gut, wenn da nicht der zynische Don Alfonso wäre, der sie zu einer Wette verführt. Etwas, was wir dramentechnisch als Intrige bezeichnen. Kommt von Lateinischen intricare, in Verlegenheit bringen, und ist so etwas wie das Taschentuch in Othello. Denn was wäre jene Geschichte ohne das Taschentuch? Alfonso überredet die Liebenden, die Treue ihrer Angebeten zu testen. Die beiden verkleideten sich als Offiziere einer fremden Nation. Aber es sind doch genau die gleichen wie vorher, sagt eine Sechsjährige in der Oper. Sechsjährige merken das, liebende Frauen auf der Opernbühne offensichtlich nicht. Oper hat mit dem zu tun, was Coleridge so schön als the willing suspension of disbelief bezeichnet hat.

Ihre Liebe sei wie ein Fels (Como scoglio immota resta), der Wind und Wetter trotzt, singt Fiordiligi im Ersten Akt. Aber ist sie sich da wirklich so sicher? Der Untertitel der Oper ist Die Schule der Liebenden, und die Oper zeigt, dass man in der Liebe immer noch etwas dazulernen kann. Auf dem Wege zum happy ending gibt es eine Vielzahl von Verwicklungen, simulierte Selbstmordversuche, Wunderheilungen durch dottoressa Despina, Burleske und große Gefühle wechseln sich wohldosiert ab.

Man kann heute eine Vielzahl von Aufnahmen, CD und DVD, kaufen. Eine sollte man auf jeden Fall haben und das ist die Fritz Busch Inszenierung (Glyndebourne) aus dem Jahre 1935 (mit Souez, Helletsgruber, Domgraf-Fassbaender, Nash). Die wird zu den unterschiedlichsten Preisen angeboten, man sollte sie aber nicht mit der Fritz Busch Aufnahme von 1951 verwechseln. Am besten und preisgünstigsten fährt man mit der Naxos Aufnahme.

Jeder Kritiker hat seinen eigenen Geschmack, hat seine eigenen Lieblingsaufnahmen, ich auch. Auf den nächsten Platz kommt bei mir unbedingt die alte Decca Aufnahme von Karl Böhm (1955). Die Aufnahme von John Eliot Gardiner mit Originalinstrumenten (Deutsche Grammophon 1993) ist sicherlich sehr schön, aber wenn man einen herzerfrischend neuen Mozart hören möchte, dann sollte man zu der Aufnahme von René Jacobs von 2004 greifen. Und für eine DVD Aufnahme ist die aus Glyndeborne 2006 zu empfehlen, die ich schon weiter oben hervorgehoben habe. Die preiswerteste Gesamtaufnahme auf dem Markt ist übrigens nicht die schlechteste: Sigiswald Kuiken mit seiner Petit Bande (Liveaufnahme Budapest 1992). Und jetzt habe ich es doch glatt wieder vergessen, die Karajan Aufnahme mit Elisabeth Schwarzkopf zu erwähnen.

Mein allerschönstes Cosi fan Tutte Erlebnis gibt es leider auf keinem Ton- und Bildträger. In den 90er Jahren war die etwas schräge Truppe des Music Theatre London mehrfach mit Mozart Opern nach Hamburg gekommen. Es dirigierte Tony Britten (der gerade die Champions League Hymne komponiert hatte), und das Ensemble bestand aus actor-singers. Schauspielern, die ein wenig singen können oder Sängern, die auch gute Schauspieler sind. Aus der Truppe, die bei Cosi fan Tutte auf der Bühne stand, sind wohl nur Simon Butteriss und Jacinta Mulcahy (oben) noch berühmt geworden. Die Inszenierung verlegt das Stück in den Golfkrieg. Zuerst sind Gugliemo und Ferrando englische RAF Piloten, die sich dann als prollige US Offiziere verkleiden. Man merkt den Engländern an, dass ihnen das so richtig Spaß gemacht hat. Der Abend stand dem Boulevard und der Music Hall Tradition näher als der Scala oder der Met. Die leichten sängerischen Defizite wurden durch die Spielfreude wettgemacht. Mozart hätte jede Minute davon gefallen. Ich war hingerissen von Jacinta Mulcahy. Und man muss ja auch erst einmal auf die Idee kommen, dass sich Fiordiligi in schwarzem Mieder (mit Strapsen) vor dem Spiegel aufbrezelt und dabei von der ewigen Liebe singt. Man findet wenig Fiordiligis, die mit schwarzen Strapsen so gut aussehen wie Jacinta Mulcahy damals, und die auch noch singen können. Ich kann jetzt nur hoffen, dass irgendjemand beim NDR (der alle Auftritte des Music Theatre London im Hamburg aufgezeichnet hatte) jetzt mal ins Archiv stapft und sich ernsthaft überlegt, das Ganze mal auf DVD herauszubringen.

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Dienstag, 25. Januar 2011

Melancholie


Schon das Vorwort, in dem er sich an seine Leser wendet und erklärt, weshalb er sich den Namen Democritus junior gegeben hat, ist sehr lang. Was danach folgt ist noch länger, und er wird sein ganzes Leben lang dieses Buch überarbeiten. Er lebt auch in einer Zeit, als man noch viel Zeit für lange Bücher hat, von der Bibel mal abgesehen. Er schreibt sein Wissen in dieses Buch, und er gebraucht das schöne Bild vom Zwerg auf den Schultern des Giganten: Though there were many giants of old in physics and philosophy, yet I say with Didacus Stella, 'A dwarf standing on the shoulders of a giant may see farther than a giant himself’; I may likely add, alter, and see farther than my predecessors. Er ist nicht der erste, der es gebraucht. Aber da sein Buch in seiner Zeit so erfolgreich ist, schreibt man es ihm gerne zu. Es ist ja lange Zeit auch ein Sinnbild für das Wissenschaftsverständnis gewesen. Und man fing auch nicht an, wissenschaftlich über ein Thema zu schreiben, solange man die gesamte Literatur nicht gesichtet und bewertet hatte. Das ist heute in manchen Fächern der Geisteswissenschaften ein wenig anders geworden, wo viele die Würdigung der Leistung von Gelehrtengenerationen nicht mehr nötig haben. Und sich die Zwerge einbilden, Riesen zu sein. Wenn die Sonne der Kultur tief steht, werfen auch Zwerge lange Schatten.

Das Lebenswerk des unermüdlichen Democritus Junior heißt The Anatomy of Melancholy und hat in der in den letzten Jahren so gefeierten Ausgabe der New York Review of Books Classics knapp 1.400 Seiten, die mehrbändige Ausgabe der Oxford University Press ist noch umfangreicher - und wesentlich teurer. Falls Sie zufälligerweise noch die gute alte dreibändige Everyman Ausgabe haben sollten, sind Sie fein heraus, die NYRB Classics Ausgabe ist nix anderes als die Everyman Ausgabe von 1932. Als die erschien war das Buch schon dreihundert Jahre alt und fand immer noch Leser. Der Autor dieses Mammutwerkes hieß natürlich nicht Democritus Junior sondern Robert Burton, er ist heute vor 371 Jahren gestorben. Da fängt ein anderer Gelehrter an zu schreiben, der ihm in vielem ähnlich ist, Sir Thomas Browne. Den liest man eigentlich nicht freiwillig, aber wenn man sich Herman Melville beschäftigt, kommt man nicht an ihm vorbei. Thomas Browne ist vielleicht im Stil noch anspruchsvoller und wissenschaftlich einen Schritt weiter - seine Bibliothek ist ein schönes Abbild des Standes der damaligen Wissenschaft - aber beide sind sich in vielem ähnlich.

Robert Burton unterteilt sein Riesenwerk sehr sorgfältig. Zuerst kommen die drei partitions, die Hauptteile. Dann kommen sections, members und subsections. Und immer wieder Abschweifungen, die einen an Lawrence Sternes Tristram Shandy erinnern (der natürlich seinen Burton gelesen hat). Und tausende von Fußnoten. Es kommt uns heute schon wie eine Wissenschaftsparodie vor, aber Burton treibt nur eine Methode auf die Spitze, die die theologische Diskussion des Mittelalters perfektioniert hatte. Aber was er schreibt ist nicht ad maiorem Dei gloriam, dies ist jetzt die Wissenschaft des 17. Jahrhunderts. Auch wenn es aus einer Laune heraus geschrieben ist.

Aus vielen Passagen des Buches spricht aber auch nicht nur die Wissenschaft, sondern - und da ist das Buch Montaignes Essais ähnlich - die schlichte Vernunft. Some say redheaded women, pale-coloured, black-eyed, and of a shrill voice, are most subject to jealousy, sagt Burton, und er weiß, dass er jetzt ein bekanntes Vorurteil präsentiert. Sichert das dann aber noch, wie es so seine Art ist, mit einem Zitat ab: High colour in a woman choler shows,/ Naught are they, peevish, proud, malicious;/ But worst of all, red, shrill, and jealous. Aber dann kommt, kurz und trocken, die Stimme der Vernunft: Comparisons are odious, I neither parallel them with others, nor debase them any more: men and women are both bad, and too subject to this pernicious infirmity. Die Leser des 17. Jahrhunderts haben das Buch nicht als ein Werk der Wissenschaft verstanden, sie haben es zur Unterhaltung gelesen. Und sie werden sicher auch den common sense, der aus seinem Werk spricht gewürdigt haben. Was sind das für paradiesische Zustände, wenn die Wissenschaft und die Philosophie zur Unterhaltung werden! Es gibt noch keine Romane, wenn wir einmal von Sir Philip Sidney Arcadia absehen - auch ein Bestseller in dieser Zeit.

Man hat es damals nicht allein deshalb gelesen, weil die Melancholie gerade chic und en vogue ist. Und das ist sie, wenn wir einmal einen Blick auf diesen Gentleman von Nicholas Hilliard werfen. Ist Hamlet etwa nicht melancholisch? Wahrscheinlich hat diese Hinwendung der Dichter und Gelehrten zur Melancholie schon mit Albrecht Dürers rätselhafter Melencolia I begonnen. Eigentlich ist The Anatomy of Melancholy - und jetzt überspitze ich das mal - gar kein Buch über die Melancholie, es ist ein Buch über ALLES. Man folgt dem Verfasser und gibt sich der Lektüre hin, wohin einen auch die subsections und digressions führen mögen. Die Leser damals hatte noch kein Fernsehen, die konnten sich nicht mit GZSZ betäuben und brauchten sich nicht über einen der Bild Zeitung hörigen bairischen simplicius simplicissimus zu ärgern. Sie konnten Jahre auf die Lektüre der anderthalb tausend Seiten verwenden, konnten bei Tageslicht oder bei Kerzenlicht lesen. Sie konnten es in fröhlicher Stimmung lesen oder sich Hilfe davon zu erhoffen, wenn sie das überkam, was Winston Churchill seinen black dog nannte. Womit ich dies Buch nicht unbedingt als eine Therapie für Leser empfehlen möchte, die eine klinische Depression haben. Obgleich vielleicht doch dieses Buch manchem Licht in die Dunkelheit bringen kann. Es ist auf jeden Fall in einer Depression eine bessere Lektüre als Franz Kafka.

Ich habe heute meine Depri, hört man Leute sagen. Und wenn jemand derart mit einer schweren Krankheit kokettiert, dann hat er sie bestimmt nicht. Aber das Kokettieren mit der Melancholie, das ist von Anfang an da bei den Dichtern, denn auch für Burton hat die melancholia ein Element, das desirable ist. Zumal es in der Zeit, in der Burton schreibt, ja auch chic ist, ständig über den Tod zu schreiben. Auch aus der Malerei sind die vanitas Symbole nicht wegzudenken. Eine ähnliche morbide Stimmung wird es erst wieder in der Zeit der graveyard poetry und der Romantik geben. Und in den meisten Fällen haben die Dichter auch ihren Burton gelesen. John Keats, der die Ode on Melancholy geschrieben hat, hat das auf jeden Fall getan.

Über John Keats und die Melancholie bei den englischen Dichtern will ich gerne noch ein anderes Mal schreiben. Zumal die (wie auch schon bei Burton) der Melancholie auch das Element der pleasure abgewinnen können. Wie man es hundert Jahre nach Burton in Thomas Whartons The Pleasures of Melancholy: A Poem sehen kann. Burtons Anatomy of Melancholy ist heute trotz aller Zeitgbundenheit immer noch eine faszinierende Studie. Wenn man etwas Neueres zum Thema lesen will, kann ich nur Melancholie von dem Ungarn László R. Földényi (Matthes&Seitz 1988) empfehlen. Dieser Autor, der auch ein wirklich phantastisches Buch über Heinrich von Kleist (sicherlich auch ein Melancholiker) geschrieben hat, ist bei uns in intellektuellen Kreisen gar nicht genügend gewürdigt worden. Kunsthistoriker, die sich mit dem Thema beschäftigen, werden an Saturn und Melancholie: Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst von Raymond Klibansky, Erwin Panofsky und Fritz Saxl (Suhrkamp Taschenbuch) nicht vorbeikommen.

Montag, 24. Januar 2011

Winston Churchill


Am 24. Januar des Jahres 1965 ist Winston Churchill gestorben. Auf den Tag genau siebzig Jahre nach seinem Vater. Er war wahrscheinlich der einflussreichste Politiker Englands im 20. Jahrhundert. Er war auch Träger des Literaturnobelpreises, sozusagen ein Kollege von Herta Müller. Ich kann mich an seinen Tod noch ganz genau erinnern, weil ich damals mit meinem Bataillon auf dem Truppenübungsplatz Bergen-Hohne war und am Sonntag nach seinem Tod an dem militärischen Festgottesdienst der englischen Garnison teilgenommen habe. Es war ein eindrucksvolles Erlebnis. Da ich das schon in meine immer wieder unterbrochenen Memoiren hineingeschrieben habe, stand ich vor der Frage: erzähle ich die Geschichte noch einmal oder kopiere ich es? Und da ich immer noch diesen grippigen Infekt habe, habe ich mich für das Leichtere von beiden entschieden. Habe aber den Text aus den Bremensien, der dort in einem größeren Zusammenhang mit Kriegsgräbern in Frankreich steht, etwas umgeschrieben. Was wäre ein Blogger, wenn er nicht schreiben dürfte?

Vier Wochen nach unserer Abfahrt aus dem französischen Zentralmassiv sind wir schon wieder im Manöver, diesmal in Bergen-Hohne (was etwas besser als Bergen-Belsen klingt). In La Courtine lag schon meterhoch Schnee, hier ist nur Schmuddelwetter. Bergen war der größte Truppenübungsplatz der Wehrmacht, dann übernahmen ihn die Engländer. Der englische Schauspieler Dirk Bogarde, damals Hauptmann im Nachrichtenkorps, war hier. Hatte das KZ in Belsen gesehen. Hatte mit seinen Offizierskameraden das Zelt angezündet, in dem am Vortag Montgomery die deutsche Kapitulation entgegengenommen hatte. Jetzt ist es der größte Truppenübungsplatz der NATO. Zwar ist er seit wenigen Jahren offiziell nicht mehr in englischer Hand, aber die Engländer haben immer noch das Sagen.

Ich werde als Verbindungsoffizier zu den Engländern abgestellt, da mein Kommandeur weiß, dass ich in wenigen Monaten Englisch studieren werde. Als ich mich dem Kommandeur der 11. Husaren vorstelle, schleppt der mich sofort in die Offiziersmesse, vor ein Ölgemälde der Schlacht von Waterloo. Er erklärt mir, dass dieser kaum zu erkennende Offizier, der die Hand an den Speichen des Rades einer Kanone hat, der UrUrUrGroßvater des Leutnants X. sei. In der Vorhalle sind die emblazoned battle honours, ich entdecke Somme 1916/1918 und Amiens. Ich erzähle ihm, dass ich da vor sechs Jahren mit meiner Jugendgruppe Gräber gepflegt habe. Er hört es sich mit einem really? höflich an, aber es interessiert ihn nicht wirklich. Gehören Gräber und Friedhöfe so zum Soldatenhandwerk, dass sie nicht weiter erwähnenswert sind? Dass mein Großvater und mein Vater Offiziere waren, das interessiert ihn. Tradition wird hier großgeschrieben, Klassenbewusstsein und Snobismus auch.

Was mir damals keiner sagt ist, dass dies ein Eliteregiment ist, das auf der englischen Snobismusskala ganz oben steht (hier Prince Michael of Kent in der Uniform des Regiments). Und George MacDonald Fraser hat seine Flashman Romane noch nicht geschrieben, sonst hätte ich gewusst, wo ich bin. Junge Leutnants haben kleine Perserbrücken als Fußmatten in ihrem Land Rover, auf solchen Snobismus muss man kommen.  Ein verkaterter Leutnant bringt frühmorgens schlingernd seinen MG Sportwagen (British Racing Green) auf dem Paradeplatz zum Stehen. Steigt aus, in unordentlichem Zivil unter seinem British Warm Coat und nimmt die Parade seiner Kompanie ab. So etwas könnte bei uns nie passieren. Ich wundere mich auch nicht über die Erzählungen, dass diese arroganten Hunde häufig im Schutz der Dunkelheit von ihren eigenen Soldaten verprügelt werden. Ich habe mit diesen subalterns, die nur auf ihre Public School und ihren Oberklassenakzent stolz sind, nichts gemeinsam. Einer von denen wird wenig später Anthony Beevor sein, der als Schüler von John Keegan noch als Militärhistoriker berühmt werden wird. Aber das weiß ich damals nicht. Ich nehme an, dass er das Niveau der subalterns gewaltig gehoben hat.

Mit ihren Captains und Colonels komme ich bestens aus. Ich gewinne neue Freunde, die auf lange Zeit Freunde bleiben werden. Major Harry H. wird nach seiner Pensionierung ein Hotel in Leeds aufmachen wird: Headingley, Jay, overlooking the cricket ground! Da passt es gut, dass die Krawatte des Regiments genau so aussieht wie die des MCC. Harry H. erzählt mir, dass alle englischen Offiziersfamilien Deutschland lieben. Sie sind schon überall auf der Welt gewesen, aber hier ist am besten. Armeeangehörige bekommen Rabatt beim Kauf eines Mercedes. Wenige Jahre später hätten sie auch gerne deutsche Nummernschilder an dem Benz. Weil die irischen Terroristen diese Army Auslandsnummernschilder so leicht erkennen können.

So sehr ihnen Deutschland gefällt, sie beklagen, dass sie kaum Kontakte zu deutschen Offizieren haben. Ich versuche das zu ändern und will meine Freunde in die englische Offiziersmesse mitnehmen. Sie weigern sich alle, Berührungsängste. Mangelhafte Sprachkenntnisse, sie können das englische Nato-Alphabet, können einfachen Funkverkehr auf Englisch, können Roger, over am Funkgerät sagen. Aber sie haben nicht wie ich seit sie sechzehn sind jeden Montag den Observer am Bahnhofskiosk gekauft. Und gelesen. Die Kompaniechefs beherrschen ihr militärisches Handwerk, und sie sind auch menschlich und charakterlich Vorbilder für die Soldaten, aber bei Fremdsprachen hört es auf. Da sind wir jungen Reserveoffiziere, die nur für einige Jahre als Zeitsoldaten in der Armee sind, ihnen überlegen. Als wir die drei Monate in Frankreich waren, waren wir die einzigen im Bataillon, die Französisch konnten. Das soll jetzt nicht herablassend klingen, die Berufssoldaten waren zum großen Teil aus einer anderen Generation, die hatten nicht unsere Bildungschancen gehabt. Ich will über mein altes Bataillon, das es ebenso wie die 11. Husaren nicht mehr gibt, kein einziges böses Wort sagen. Die Bundeswehr könnte sich glücklich schätzen, wenn sie heute noch ein solches Offizierscorps hätte, wie ich es erlebt habe.

Winston Churchill stirbt am 24. Januar. Wenige Tage später gibt es einen Gedenkgottesdienst, ich habe eine offizielle Einladung vom Colonel und nehme einen befreundeten Oberleutnant von den Panzeraufklärern mit. Die sind die Nachfahren der Kavallerie, ihr Offizierkorps ist damals zu achtzig Prozent adelig, der Oberleutnant ist es auch. Die können sich noch benehmen. Sie haben gelbe Kragenspiegel und tragen manchmal gelbe Seidenwesten unter der Uniform (was natürlich verboten ist). Ich versuche, meinen Kommandeur mitzuschleppen. Aber dieser Mann, den ich bewundere und der sonst vor nichts Angst hat und, kneift in dieser Stunde. Das deutsche Standortkommando schickt einen Oberfeldwebel als Repräsentanten. Es hätte sich gehört, einen General zu schicken. Wir haben in Deutschland wirklich keinen Stil. Der Oberleutnant aus dem hannöverschen Adel und ich sind die einzigen deutschen Offiziere an diesem Vormittag in der Kirche. 

Ich ärgere mich in diesem Augenblick, dass ich nur die zweite Garnitur auf den Truppenübungsplatz mitgenommen habe und meine neue elegante hellgraue Uniformjacke zu Hause gelassen habe. Gerade mal eine Spur im Hellgrau dunkler als die des Kommandeurs. Der mag das gar nicht, wenn seine jungen Leutnants hellere Uniformjacken haben als er. Die englischen Offiziere, die ich vom Truppenübungsplatz nur in den Nato-Tarnfarben kenne, sind heute nicht wiederzuerkennen. Sie tragen nicht den khakifarbenen Service Dress, eingeführt von General Wolseley, jenem Wolseley, den Gilbert und Sullivan in ihrer Oper The Pirates of Penzance so wunderbar karikiert haben.

Nein, dies ist die Full Dress Uniform, dunkelblaue und rote Jacken mit Orden, dunkle Hosen mit breiten roten Streifen. Die 11. Husaren tragen rote Hosen, sie sind die einzigen in der englischen Armee, die rote Hosen tragen. Jeder Offizier hat ein Stöckchen unter dem Arm, das muss offensichtlich sein, auch in der Kirche. General Gordon (of Khartoum) ist in China nur mit seinem swagger stick bewaffnet den Chinesen entgegenmarschiert. Vor der Kirche stehen zwei Panzer, frisch dunkelgrün angemalt, aus dem Ersten Weltkrieg, deren Einsatz Winston Churchill so energisch durchgesetzt hat. Es bleibt mir rätselhaft, wo man die in den letzten drei Tagen aufgetrieben hat. Die Feier ist eine Mischung aus anglikanischem High Church Gottesdienst (auch der Militärgeistliche trägt Orden an seinem Talar) und militärischem Zeremoniell, man weiß nie, wann man niederknien und wann man salutieren soll. Es fehlt jetzt nur noch ein Tattoo, so ein ganzes Musikcorps, und der Trommler mit Leopardenfell behängt. Aber es wird draußen nur einen Trompeter neben den Churchill Tanks geben, der einen retreat bläst.

Die 11. Husaren sind von der Welle der Auflösung und Zusammenlegung von Regimentern in der Zeit von 1958 bis 1961 verschont geblieben, der nächsten im Jahre 1969 werden sie nicht entgehen. Sie werden mit den Royal Hussars (Prince of Wales’s Own) zusammengelegt werden. Ihre Emblazoned Battle Honours dürfen sie behalten, denen kann man entnehmen, dass sie seit dem Siebenjährigen Krieg in jeder europäischen (plus Tobruk und El Alamein) Schlacht waren, inklusive der Charge of the Light Brigade bei Balaclava. Tennysons Gedicht über sie ist in jedem Schulbuch.

Sie heißen cherrypickers, weil sie von Napoleons Truppen in einem Garten bei San Martin de Trevejo beim Kirschenpflücken überrascht wurden und sich da wieder herausgehauen haben. Ihre roten Hosen haben aber nichts mit dem Kirschenpflücken zu tun, sagt mir der Colonel. Das sind die Farben von Albert von Coburg-Gotha, Victorias Prinzgemahl, dessen Husarenregiment sie seit 1840 sind. Ihr Motto ist deutsch: Treu und fest. Hier ist George VI als Colonel of the Bataillon zu sehen. Im Oktober 1968 (da weiß er schon, dass das Ende dieses Regiments bevorsteht) wird ihr Colonel Peter Hamer in dem Manöver Eternal Triangle in der Lüneburger Heide die Centurion-Panzer von zwei Schwadronen einen letzten Panzerangriff in geschlossener Formation fahren lassen. Sieht toll aus, ist aber völlig unsinnig. Schwanengesang. Wenn die Engländer untergehen, tun sie es mit Stil. Und auf Kosten der niedersächsischen Landwirtschaft. Unser Regierungsamtmann, der in diesem Manöver hinter der Truppe her fährt, um die Manöverschäden aufzunehmen, wird seine Freude daran gehabt haben.

Nach dem Trauerfeierlichkeiten in London ist Sir Winston Churchill auf Saint Martin’s Churchyard in Bladon zur letzten Ruhe gebettet worden. Unweit des prächtigen Schlosses, das nach einem kleinen bayrischen Kaff an der Donau namens Blindheim den Namen Blenheim hat. Weil die Engländer Blindheim nun mal nicht aussprechen können. Das war die Zeit, als John Churchill, der Herzog von Marlborough (über den Winston Churchill ein Buch geschrieben hat), Englands berühmtester General war. 

Als die Franzosen Marlbrough s'en va-t-en guerre, Ne sait quand reviendra sangen. Churchill ist im Schloss Blenheim geboren worden, die Geschichte, dass seine Mutter ihn in einer Tanzpause in der Damentoilette zur Welt gebracht hat ist ein klein wenig übertrieben. Siebzig Jahre vor seinem Tod schreibt der junge Winston Churchill an seine Mutter: I went this morning to Bladon to look at Papa's grave . . . . I was so struck by the sense of quietness and peace, as well as by the old-world air of the place that my sadness was not unmixed with solace. Er hat das Familiengrab immer wieder besucht und schon früh den Wunsch geäußert, dort auch begraben zu werden, the paths of glory lead but to the grave.

I stood beside the grave of him who blazed
The comet of a season, and I saw
The humblest of all sepulchres, and gazed
With not the less of sorrow and of awe
On that neglected turf and quiet stone,
With name no clearer than the names unknown,
Which lay unread around it; and asked
The Gardener of that ground, why it might be
That for this plant strangers his memory tasked
Through the thick deaths of half a century;
And thus he answered -"Well, I do not know
Why frequent travellers turn to pilgrims so;
He died before my day of sextonship,
And I had not the digging of this grave."
And is this all? I thought, -and do we rip
The veil of Immortality? and crave
I know not what of honour and of light
Through unborn ages, to endure this blight?
So soon, and so successless?

Das ist der Anfang eines Gedichtes, das Churchill's Grave heißt. Lord Byron schreibt hier aber nicht über den Herzog von Marlborough, sondern über seinen Dichterkollegen Charles Churchill. Dennoch haben diese Zeilen auch für Churchills Grab auf dem Friedhof von Bladon Bedeutung. Man hat die Grabstätte der Familie nicht pfleglich behandelt. 1998 hat man die schlichte und schöne Grabplatte durch eine kitschige monströse Platte ersetzt, die vielen ein Ärgernis ist. Wie auch die Pilgerschar der Besucher auf dem Friedhof. Irgendwie sind die da in Bladon ein wenig undankbar, denn ohne Churchill wären sie vielleicht nicht mehr auf der Landkarte.

Sonntag, 23. Januar 2011

Schlipse


Der Herr, der sich in einem gutbürgerlichen Geschäft nach Schlipsen erkundigte, wurde vom Geschäftsführer mit dem Satz irritiert Schlipse haben wir nicht, da müssen Sie schon über die Straße zu C&A gehen. Wir führen nur Krawatten. Wahrscheinlich sollte das, mit einer leicht herablassenden Bonhomie vorgetragen, witzig sein. Der Herr, ein Admiral in Zivil, bedankte sich für diese Auskunft und verließ stante pede den Laden. Er ging zwar nicht zu C&A, aber auch nie wieder in diesen Laden. Die Geschichte ist wahr, ich habe sie nur ein klein wenig verändert, damit man die Beteiligten nicht erkennt. Offensichtlich sind Krawatten etwas Feineres als Schlipse. Es gibt einen Krawattenmann des Jahres (Guido Westerwelle und Roy Black waren das einmal) aber keinen Schlipsmann.

Eigentlich wäre es völlig unnötig, über Krawatten oder Schlipse zu schreiben, wenn nicht in dieser Woche ein junger Abgeordneter (der ist 26, sieht aber aus wie sechzehn) eine Grundsatzdiskussion entfacht hätte. Wir haben es ja in Deutschland mit den Grundsatzdiskussionen. Selbst bei den lächerlichsten Anlässen holen wir sofort Kants Kategorischen Imperativ aus der Schublade. Derjenige, der als Schriftführer im Deutschen Bundestag auf die Würde des Amtes hingewiesen wurde, verkündete sofort es geht ums Prinzip. Und in der Geschäftsordnung des Bundestag stände nichts von Krawatten. In der Geschäftsordnung des Bundestags steht auch nichts von der Erdanziehung, und trotzdem gibt es die. Müssen Selbstverständlichkeiten des guten Benehmens in einem Gesetz oder einer Verordnung stehen? Braucht der Bundestag eine Zentrale Dienstvorschrift für die Bekleidung so wie die ZDv 37/10 für die Bundeswehr? Dann sollten wir als nächstes den Einsatz von Disco Türstehern an den Türen des Plenarsaals fordern. Gesichtskontrolle. Und den Einsatz der clothes police. Es wäre dann im Parlament noch leerer als sonst.

In meinem Büro in der Uni tauchte vor Jahren eines Vormittags ein Student auf, der einen Brief in der Hand hielt. Sie haben mir doch das Gutachten für den Assistant Teacher Job geschrieben, sagte er mit einem leichten Vorwurf in der Stimme, die haben mich an dieser Public School genommen. Sie wollen aber, dass ich im Unterricht einen Schlips trage. Und dann kam die etwas überraschende Bitte: Können Sie mir mal eben zeigen, wie man einen Schlips bindet? Er hatte auch gleich einen mitgebrachtIch habe das getan, mochte ihm aber nicht sagen, dass ihn die Public School nicht wegen seiner Leistungen im Fach Englisch oder wegen meines Gutachtens genommen hatten, sondern weil er eine Fußballtrainerlizenz hatte. Aber auch Fußballtrainer trugen in England schon einen Anzug und einen Schlips als deutsche Trainer noch im Trainingsanzug auf der Bank saßen. Weil sie Männer waren, und da gehörte in England der Anzug und der Schlips dazu. Inzwischen tragen deutsche Trainer ja auch solch ein Outfit. Selbst Winfried Schäfer, den man früher nur mit Matte und Lederjacke kannte, ist inzwischen schon mit Anzug und Schlips gesehen worden. Und Trainer von italienischen und spanischen Vereinen zeigen heute schon eine größere Eleganz als unsere Bundestagsabgeordneten.

Jeder Karnevalsverein hat Bekleidungsvorschriften, jede Disco ihren Dresscode. Es ist nichts dagegen zu sagen, zu einem hellen Baumwollanzug bei einer sommerlichen Gartenparty den Langbinder wegzulassen. Es ist in manchen Gegenden Deutschlands auch sinnvoll, am Tag der Weiberfastnacht nicht unbedingt eine seven fold von Kiton umzubinden. Es ist dagegen schon etwas widerlich, wenn Politiker, um sich jugendlich zu geben, neuerdings auf die Krawatte verzichten. Ganz besonders blöd hat Tony Blair mit diesem Look ausgesehen. Aber man sieht diesen Look neuerdings vermehrt bei der FDP. Dazu kann man nur sagen: wo bleibt das Goldkettchen um den Hals und das Brusthaartoupet? Wenn schon den Strizzi Look, dann auch konsequent. Aber diese Geschmacksverirrungen sind nicht das Thema. Wohl auch nicht die Blümchenkrawatten, die der junge Bundestagsabgeordnete, der jüngste seiner Partei, bei anderen Abgeordneten monierte. Es war mir in seiner Rede nicht klar, was das Schlimme an Blümchenkrawatten sei soll. Haben die Grünen neuerdings etwas gegen Blumen? Eigentlich sollte doch jeder Abgeordnete dieser Partei einen Blümchenschlips tragen.

Ich habe überhaupt nichts dagegen, wenn der Bundestagspräsident oder sein Stellvertreter auf die Würde des Hauses achtet. Der Bundestag ist nun mal keine come as you are party. Wo wollen wir die Grenzen setzen, ohne uns zum Gespött zu machen? Muss erst ein Volksvertreter in T-Shirt, Jogginghose und Adiletten mit einem six pack Bier in der Hand zum Rednerpult schlurfen? Steht das anything goes schon in irgendeinem Parteiprogramm? Ich kann Sven-Christian Kindler, MdB, nur empfehlen, einmal Richard Sennetts The Fall of Public Man zu lesen. Gibt es für Politiker auch auf deutsch mit dem vielsagenden Titel Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Als im Paris des Jahres 1968 die ersten Gymnasiallehrer ohne Schlips zum Unterricht erschienen, brach für Teile des Bourgeoisie eine Welt zusammen, wie Pierre Bourdieu in La dinstinction mit einer gewissen Süffisanz notierte. Jetzt haben wir eine politische Posse in Berlin. Was so ein kleines Stück Seide aus Como oder Krefeld nicht alles anrichten kann.

Eine der schönsten Anekdoten eines Verstoßes gegen die sartoriale Norm kommt - woher sollte sie sonst kommen? - aus dem Vereinigten Königreich. Ein Gast, der zu einer Party in einem irischen Schloss eingeladen war, erkundigte sich vorher bei dem Gastgeber nach der Kleiderordnung. Just the usual fancy dress, sagte der. Womit er natürlich das dinner jacket und black tie meinte. Der Gast, eine simple Seele, nahm das mit dem fancy dress wörtlich und lieh sich in einem Kostümverleih eine Ritterrüstung aus. Schien im das Passende für irische Schlösser. Sie können sich jetzt diese Geschichte zu Ende denken. Ich habe sie aus John Morgans Debrett's New Guide to Etiquette & Modern Manners stibitzt. Was im Gegensatz zu der stuffiness seiner Vorgänger ein erstaunlich modernes und vernünftiges Regelwerk ist. Seit Baldassare Castigliones Il Cortegiano hat es immer wieder Regelwerke für das Benehmen gegeben. Und es gilt nicht nur truth is the daughter of time, auch die Benimmbücher sind ein Kind der jeweiligen Zeit. Man mag heute über Erica Pappritz lächeln, aber für die Adenauerrepublik hatte ihr Buch durchaus seine Bedeutung. Ideas travel upwards, manners travel downwards, hat ➱Bulwer-Lytton einmal gesagt.

Die kleine sartoriale Groteske im Bundestag wurde beendet durch Agnes Alpers von der Linken, die den verwaisten Posten eines Schriftführers einnahm. Mit Schlips. Mit rotem Schlips! Das kann man nicht übertreffen, das muss man bewundern. Man sollte sie sofort zur Krawattenfrau des Jahres ernennen.


Samstag, 22. Januar 2011

Victoria


Heute vor 110 Jahren ist die englische Königin Victoria gestorben. Als John Bernard Books das in der Zeitung liest, weiß er, dass auch er bald sterben wird. Obgleich Books kein Untertan Ihrer Majestät ist, berührt ihn der Tod der Königin von England und Kaiserin von Indien doch. John Bernard Books ist der Held des Filmes The Shootist, und er wird verkörpert von John Wayne. Der in diesem Spätwestern ein Relikt aus einer anderen Zeit spielt, so wie Victoria bei ihrem Tod ein Relikt aus einer anderen Zeit war. John Wayne hatte eine ähnliche Rolle schon in True Grit gespielt. Damals sagte Leslie Fiedler über den Duke - und das gilt sicher auch für The Shootist:

Aber der Film von John Wayne, dieser schöne komische Film, wo er mit dem jungen Mädchen spielt, 'True Grit', das ist wirklich ein wunderbarer Film, denn erstens sehen wir hier nicht einen jungen Gunfighter oder jungen Cowboy, sondern einen alten Mann in dieser Periode seines Lebens, wo er nicht sicher ist, ob er mit einem Pferd über einen Zaun springen kann, und zweitens wird diese Rolle ausgerechnet von John Wayne gespielt, und der Film wird zu einer Parabel des Lebens von John Wayne, dieser elenden reaktionären Kanaille, die das Image des Westens auf die Leinwand projiziert hat und der nun zum ersten mal seine Rolle mit Humor spielt, als Selbstparodie, als Travestie seiner eigenen Figur. Das ist sehr zart, sehr schön, sehr komisch. Dieser Film hat mich tief gerührt.

Nach dem Tod von Victoria trauert das Land. Wenn die Engländer unter Victoria eins gelernt haben, dann ist es das Trauern. Als ihr geliebter Prinzgemahl Albert stirbt, trauert die Königin für drei Jahre. Ein Jahr weniger wird sich für alle Witwen als die Norm durchsetzen, manche tragen ihre Trauerkleidung fünf Jahre. Andere ihr Leben lang. Wie Victoria. Im 19. Jahrhundert, das in England auch das Victorian Age genannt wird, wird immer getrauert, Kinder sterben früh, irgendeinen Trauerfall gibt es immer in der Familie. Von den vielen Soldaten, die für das immer größer werdende Empire ihr Leben lassen, wollen wir gar nicht reden.

Und es gibt ein rigides System von Äußerlichkeiten, die zu beachten sind. Wenn getrauert wird, werden selbst Kleinkindern schwarze Fäden in die Unterwäsche genäht. Fabrikanten von Trauerkleidern und machen jetzt riesige Geschäfte. Samuel Courtauld zum Beispiel, der als Seidenfabrikant angefangen hat. Sein Name wird eines Tages für einen der größten Chemiekonzerne der Welt stehen, aber auch für eins der wichtigsten kunsthistorischen Institute der Welt. Wenn man all die viktorianischen Bekleidungsvorschriften für den Trauerfall beachten will, braucht man ständig neue Kleidung, was bei der working class häufig zur Verschuldung führt. Gegen Ende des Jahrhunderts setzt das Parlament sogar eine Kommission ein, die Vorschläge gegen die exzessive Trauerkultur erarbeiten soll.

Die Viktorianer geben nicht nur für Trauerkleidung viel Geld aus. Wenn man den Statistiken von Mrs C.S. Peel  (Constance Dorothy Evelyn Peel [née Bayliff]) in ihrem Kapitel Homes and Habits in dem Buch Early Victorian England Glauben schenken kann, geben Unter- wie Oberschicht gleichermaßen verhältnismäßig viel Geld für Kleidung aus. Die einen, um ihren Status in der jetzt entstehenden Dreiklassengesellschaft zu zeigen, die anderen um bei dem Spiel dabei zu sein, das den Namen hat keeping up with the Joneses.

In der viktorianischen upper class führt die Farbe Schwarz für die Damenwelt zu immer neuen Varianten, Kunstseide und Industriefarben bieten jetzt immer neue Möglichkeiten. Denn normalerweise war das keine Farbe für eine Dame, schwarz war etwas für das Dienstpersonal und die Gouvernante. Jane Eyre, die im gleichnamigen Roman normalerweise einen black stuff dress trägt, zieht bei besonderen Gelegenheiten one of a black silk an. Der Amtsantritt der Königin markiert in der Herrenmode - und das ist sicherlich eher ein Zufall - einen mehr oder weniger abrupten Wechsel der Gentlemen zur Farbe schwarz. Die blauen, braunen und grünen Fräcke verschwinden, respectability heißt das viktorianische Zauberwort. Und die kann der Gentleman nur in schwarzer Kleidung und mit weißer Hemdbrust ausstrahlen. Die vielen kleinen clerks in den Romanen von Charles Dickens wechseln ihr weißes Hemd nicht jeden Tag, und ihr schwarzer Anzug sieht schon etwas schäbig aus, aber sie bemühen sich, respectable zu sein und ein Abbild des Gentleman abzugeben. Die Verkäufer bei P+C, einem Konzern, der von einer calvinistischen Familie kontrolliert wird, halten sich noch immer an dies Ideal.

Die Viktorianer erschienen der Krämerstochter, die es zur Premierministerin gebracht hatte, das richtige Vorbild für die Nation zu sein. Immer wieder predigte sie öffentlich die Victorian values. Das war auch der Titel des Buches des Historikers James Walvin (der einzige Geschichtsprofessor, der ein Buch über den englischen Fußball geschrieben hat). Da sehen bei einer genauen Betrachtung die Victorian values nicht so toll aus. Prüderie und Prostitution (brillant beschrieben in Ronald Pearsall The Worm in the Bud), Wohltaten und Ausbeutung, Savile Row und sweatshops, Oberschicht und Unterwelt.

Wer immer diesen Satz Sie sagen Gott und meinen Kattun zuerst formuliert hat, er hängt den Engländern an. Samuel Courtauld (der mit der Marotte der Königin schwarz zu tragen so reich geworden ist) gilt in der viktorianischen Zeit als jemand, der allen Reformen aufgeschlossen gegenübersteht. Aber gegen den Factory Act von 1833 da ist er schon ganz entschieden: Legislative interference in the arrangement and conduct of business is always injurious, tending to check improvement and to increase the cost of production. Bevor Sie jetzt sagen, dass das auch im Parteiprogramm derjenigen steht, die schwarze Anzüge mit gelben Schlipsen kombinieren, sollte ich vielleicht sagen, dass der Factory Act etwas mit der Kinderarbeit zu tun hatte. Und mit der Kinderarbeit in seinen Fabriken macht Cortauld sein Geld.

Bevor wir jetzt die Viktorianer verdammen, sollten wir bedenken, es hat sich nicht so viel geändert. Die Zeit hat letztens den Weg eines Hennes&Mauritz T-Shirts für 4,95 € nachverfolgt. Falls Sie es verpasst haben, dann sollte Sie dies doch mal schnell lesen. Falls Sie sich aber schon vor einem Jahrzehnt Naomi Kleins No logo gekauft haben, können Sie sich die Lektüre sparen. A propos Lektüre, die großartige Biographie zu Victoria ist auch noch nicht geschrieben, vielleicht ist diese Queen auch zu langweilig. So taugt sie gerade als als Namensgeberin eines Zeitalters und eines Passagierschiffes. Die Biographien von Karl-Heinz Wocker, Stanley Weintraub und Herbert Tingsten sind ganz nett, und auch den Band von Jürgen Lotz in der Reihe von rowohlts monographien kann man lesen. Aber das ist ja nichts im Gegensatz zu der zum Teil brillanten Literatur zum viktorianischen Zeitalter. Wenn ich mal viel Zeit habe und mir nichts anderes einfällt, stelle ich die hier vor. Und solange müssen Sie mit dem hervorragenden Victorian Web vorliebnehmen.

John Bernard Books stirbt in The Shootist kurz nach der Königin Victoria. John Wayne stirbt wenige Jahre nach diesem Film. Viele werden seinen Tod betrauern. Victoria hatte das Leben ihrer Untertanen bestimmt, John Wayne die Träume seiner Fans. He determined for ever the shape of certain of our dreams hat Joan Didion in John Wayne: A Love Song gesagt. Der Essay ist das Schönste, was über John Wayne geschrieben wurde. Man kann ihn in Slouching towards Bethlehem lesen, oder hier im Independent... it was there, that summer of 1943 while the hot wind blew outside, that I first saw John Wayne. Saw the walk, heard the voice. Heard him tell the girl in a picture called 'War of the Wildcats' that he would build her a house, 'at the bend in the river where the cottonwoods grow'.
   As it happened I did not grow up to be the kind of woman who is the heroine in a Western, and although the men I have known have had many virtues and have taken me to live in many places I have come to love, they have never been John Wayne, and they have never taken me to that bend in the river where the cottonwoods grow. Deep in that part of my heart where the artificial rain forever falls, that is still the line I wait to hear.