Mittwoch, 31. Juli 2024

Landbote


Heute vor hundertneunzig Jahren wurde im Großherzogtum Hessen-Darmstadt heimlich eine achtseitige Flugschrift namens Der Hessische Landbote verteilt. Eine revolutionäre Schrift mit dem Titel Friede den Hütten! Krieg den Pallästen! Der anonyme Autor war einundzwanzig Jahre alt. Er hatte noch drei Jahre zu leben. In der Zeit schrieb er eine Doktorarbeit, drei Theaterstücke und eine Erzählung. Und übersetzte zwei Dramen von Victor Hugo. Was kann man im Leben mehr erreichen? Ich rede natürlich von Georg Büchner, der hier schon einen Post hat. Das Projekt Gutenberg hat dankenswerterweise seine Texte. Wenn Sie den ganzen Büchner in Buchform haben wollen, dann empfiehlt sich Werke und Briefe vom Hanser Verlag (1980), die sogenannte Münchener Ausgabe. Das Buch gibt es auch als dtv Taschenbuch. Ist inzwischen in der 18. Auflage. Das heißt, Büchner wird immer noch gelesen. Ich habe die Dramen 1962 gelesen, das weiß ich, weil ich mir damals alles aufschrieb, was ich gelesen hatte. Das Stück Leonce und Lena kannte ich schon vorher, weil unsere Schultheater Gruppe es aufgeführt hatte. Ich hatte eine kleine Nebenrolle als Staatsrat, aber eigentlich war ich Regieassistent und Souffleur. Ich kann heute immer noch große Teile des Stückes auswendig. Was ich von Büchner las, war mein eigener persönlicher Büchner, davon war ich überzeugt. Ich war neunzehn.

Besser als die Texte des Projekts Gutenberg sind die Texte, die wir in dem Georg Büchner Portal finden können. Das ist eine ganz wunderbare Seite, auf der man alles zu Büchner finden kann. Über sein Leben wissen wir beinahe alles, wie er ausgesehen hat, wissen wir nicht wirklich. Vielleicht ist dies hier von all den Bildern das genaueste. Büchners Werk hat immer wieder Interpretationen erfahren. Die Germanisten des Kaiserreichs wollten das Revolutionäre aus den Texten nehmen und sahen Büchner als einen Romantiker oder einen Vertreter des Biedermeier. Die Büchner Interpreten des Dritten Reichs wollten ihn für ihre Ideologie vereinnahmen, so wie sie das schon mit Hölderlin oder Caspar David Friedrich getan hatten. Alles das kann man nachlesen in dem von Wolfgang Martens herausgegebenen Band Georg Büchner in der Reihe Wege der Forschung der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft. Kann man bei amazon für 2,92€ bekommen. Ich habe dafür noch sechs Mark bei Eschenburg bezahlt. Es gibt offenbar einen Büchner für verschiedene Epochen, wo man ihn anders versteht. Aber im Juli 1834, da hat ihn schon jeder Leser des Landboten verstanden. Die Obrigkeit auch, die die Verfasser verfolgt. Büchner flieht nach Straßburg, die Mitverschwörer werden verhaftet.

Es ist eine tiefe Schwermut in der Komödie Leonce und Lena, ist das die Melancholie Büchners, die ihn den berühmten Fatalismusbrief schreiben lässt? Ich weiß es nicht. Je mehr ich lese, desto weniger weiß ich. Mein Kopf ist ein leerer Tanzsaal:

Ein sonderbares Ding um die Liebe. Man liegt ein Jahr lang schlafwachend zu Bette, und an einem schönen Morgen wacht man auf, trinkt ein Glas Wasser, zieht seine Kleider an und fährt sich mit der Hand über die Stirn und besinnt sich – und besinnt sich. – Mein Gott, wieviel Weiber hat man nöthig, um die Scala der Liebe auf und ab zu singen? Kaum daß Eine einen Ton ausfüllt. Warum ist der Dunst über unsrer Erde ein Prisma, das den weißen Gluthstrahl der Liebe in einen Regenbogen bricht? – (Er trinkt) In welcher Bouteille steckt denn der Wein, an dem ich mich heute betrinken soll? Bringe ich es nicht einmal mehr so weit? Ich sitze wie unter einer Luftpumpe. Die Luft so scharf und dünn, daß mich friert, als sollte ich in Nankinhosen Schlittschuh laufen. – Meine Herren, meine Herren, wißt ihr auch, was Caligula und Nero waren? Ich weiß es. – Komm Leonce, halte mir einen Monolog, ich will zuhören. Mein Leben gähnt mich an, wie ein großer weißer Bogen Papier, den ich vollschreiben soll, aber ich bringe keinen Buchstaben heraus. Mein Kopf ist ein leerer Tanzsaal, einige verwelkte Rosen und zerknitterte Bänder auf dem Boden, geborstene Violinen in der Ecke, die letzten Tänzer haben die Masken abgenommen und sehen mit tod[t]müden Augen einander an. Ich stülpe mich jeden Tag vier und zwanzigmal herum, wie einen Handschuh. O ich kenne mich, ich weiß was ich in einer Viertelstunde, was ich in acht Tagen, was ich in einem Jahre denken und träumen werde. Gott, was habe ich denn verbrochen, daß du mich, wie einen Schulbuben, meine Lection so oft hersagen läßt? 

Das kann ich immer noch auswendig. Und die gelben Nanking Hosen, die damals Mode waren, sind schon häufiger in meinem Blog aufgetaucht. Ich habe den Text nicht zitiert, weil ich ihn auswendig kann, sondern weil ich auf Büchners Sprache hinweisen will. Die je nach dem Gegenstand anders ist. Im Woyzeck ist es das Hessische des einfachen Mannes, in dieser Komödie klingt Büchner manchmal wie Shakespeare, den er natürlich gelesen hat. Aber wie immer er schreibt, er hat uns etwas zu sagen:

Wer sind denn die, welche diese Ordnung gemacht haben, und die wachen, diese Ordnung zu erhalten? Das ist die Großherzogliche Regierung. Die Regierung wird gebildet von dem Großherzog und seinen obersten Beamten. Die andern Beamten sind Männer, die von der Regierung berufen werden, um jene Ordnung in Kraft zu erhalten. Ihre Anzahl ist Legion: Staatsräthe und Regieru[n]gsräthe, Landräthe und Kreisräthe, Geistliche Räthe und Schulräthe, Finanzräthe und Forsträthe u.s.w. mit allem ihrem Heer von Secretären u.s.w. Das Volk ist ihre Heerde, sie sind seine Hirten, Melker und Schinder; sie haben die Häute der Bauern an, der Raub der Armen ist in ihrem Hause; die Thränen der Wittwen und Waisen sind das Schmalz auf ihren Gesichtern; sie herrschen frei und ermahnen das Volk zur Knechtschaft. Ihnen gebt ihr 6,000,000 fl. Abgaben; sie haben dafür die Mühe, euch zu regieren; d.h. sich von euch füttern zu lassen und euch eure Menschen- und Bürgerrechte zu rauben. Sehet, was die Ernte eures Schweißes ist.

Das reicht doch heute noch, wenn man den Hessischen Landboten ein klein wenig umschreibt, in vielen Ländern der Welt noch für eine Revolution.

Dienstag, 30. Juli 2024

Gastbeitrag


Diese Nation wurde auf einem einfachen, aber tiefgreifenden Prinzip gegründet: Niemand steht über dem Gesetz. Nicht der Präsident der Vereinigten Staaten. Nicht ein Richter am Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten. Niemand.

Aber die 6:3-Entscheidung des Obersten Gerichtshofs vom 1. Juli, Präsidenten weitgehende Immunität vor Strafverfolgung für Verbrechen zu gewähren, die sie im Amt begehen, bedeutet, dass es praktisch keine Grenzen für das gibt, was ein Präsident tun kann. Die einzigen Grenzen werden diejenigen sein, die sich die Person im Oval Office selbst auferlegt.

Wenn ein zukünftiger Präsident einen gewalttätigen Mob dazu anstiftet, das Kapitol zu stürmen und die friedliche Machtübergabe zu verhindern – wie wir es am 6. Januar 2021 gesehen haben –, hat dies möglicherweise keine rechtlichen Konsequenzen.

Und das ist erst der Anfang.

Zusätzlich zu gefährlichen und extremen Entscheidungen, die etablierte Rechtspräzedenzfälle umwerfen – darunter Roe v. Wade – steckt das Gericht in einer ethischen Krise. Skandale, in die mehrere Richter verwickelt sind, haben die Öffentlichkeit dazu veranlasst, die Fairness und Unabhängigkeit des Gerichts in Frage zu stellen, die für die gewissenhafte Erfüllung seiner Mission der Gleichberechtigung vor dem Gesetz unerlässlich sind. So werfen beispielsweise nicht offengelegte Geschenke an Richter von Personen mit Interessen an Fällen vor Gericht sowie Interessenkonflikte im Zusammenhang mit den Aufständischen vom 6. Januar berechtigte Fragen zur Unparteilichkeit des Gerichts auf.

Ich war 36 Jahre lang US-Senator, unter anderem als Vorsitzender und ranghöchstes Mitglied des Justizausschusses. Als Senator, Vizepräsident und Präsident habe ich mehr Nominierungen für den Obersten Gerichtshof überwacht als jeder andere heute lebende Mensch. Ich habe großen Respekt vor unseren Institutionen und der Gewaltenteilung.

Was jetzt passiert, ist nicht normal und untergräbt das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Entscheidungen des Gerichts, einschließlich jener, die persönliche Freiheiten betreffen. Wir stehen jetzt in einer Bresche.

Aus diesem Grund fordere ich – angesichts der zunehmenden Bedrohungen für Amerikas demokratische Institutionen – drei mutige Reformen, um das Vertrauen in das Gericht und unsere Demokratie wiederherzustellen und ihre Rechenschaftspflicht zu wahren.

Erstens fordere ich eine Verfassungsänderung namens 'Niemand steht über dem Gesetz'-Änderung. Es würde klarstellen, dass es keine Immunität für Verbrechen gibt, die ein ehemaliger Präsident während seiner Amtszeit begangen hat. Ich teile die Überzeugung unserer Gründerväter, dass die Macht des Präsidenten begrenzt und nicht absolut ist. Wir sind eine Nation der Gesetze – nicht der Könige oder Diktatoren.

Zweitens haben wir seit fast 75 Jahren Amtszeitbeschränkungen für Präsidenten. Dasselbe sollten wir für Richter am Obersten Gerichtshof haben. Die Vereinigten Staaten sind die einzige große konstitutionelle Demokratie, die ihrem Obersten Gerichtshof lebenslange Sitze zuspricht. Amtszeitbeschränkungen würden dazu beitragen, dass sich die Mitglieder des Gerichts mit einer gewissen Regelmäßigkeit ändern. Das würde den Zeitpunkt für die Ernennungen an das Gericht vorhersehbarer und weniger willkürlich machen. Es würde die Wahrscheinlichkeit verringern, dass eine einzelne Präsidentschaft die Zusammensetzung des Gerichts für kommende Generationen radikal verändert. Ich unterstütze ein System, in dem der Präsident alle zwei Jahre einen Richter ernennt, der 18 Jahre lang im aktiven Dienst des Obersten Gerichtshofs steht.

Drittens fordere ich einen verbindlichen Verhaltenskodex für den Obersten Gerichtshof. Das ist gesunder Menschenverstand. Der derzeitige freiwillige Ethikkodex des Gerichts ist schwach und selbstauferlegt. Richter sollten verpflichtet werden, Geschenke offenzulegen, sich öffentlicher politischer Aktivitäten zu enthalten und sich von Fällen zurückzuziehen, in denen sie oder ihre Ehepartner finanzielle oder andere Interessenkonflikte haben. Jeder andere Bundesrichter ist an einen durchsetzbaren Verhaltenskodex gebunden, und es gibt keinen Grund, warum der Oberste Gerichtshof davon ausgenommen sein sollte.

Alle drei dieser Reformen werden von einer Mehrheit der Amerikaner unterstützt – sowie von konservativen und liberalen Verfassungsrechtlern. Und ich möchte der überparteilichen Präsidentenkommission für den Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten für ihre aufschlussreiche Analyse danken, die einige dieser Vorschläge beeinflusst hat.

Wir können und müssen den Missbrauch der Macht des Präsidenten verhindern. Wir können und müssen das Vertrauen der Öffentlichkeit in den Obersten Gerichtshof wiederherstellen. Wir können und müssen die Leitplanken der Demokratie stärken.

In Amerika steht niemand über dem Gesetz. In Amerika regiert das Volk.


Der Text, den hier Google Translate übersetzt hat, wurde gestern in der Washington Post veröffentlicht. Es war der Text eines Gastautors, zu dem die Zeitung vermerkte: The writer is president of the United States. Woodrow Wilson war der letzte amerikanische Präsident, der sich seine Reden selbst schrieb, dann kamen die Ghostwriter. Franklin Delano Roosevelt hatte mit Archibald MacLeish sogar einen richtigen Dichter, der ihm die Reden schrieb. Mit dem übrigens Thomas Mann befreundet war, der auch einmal in den amerikanischen Wahlkampf eingriff: Ich bin öffentlich für FDR herausgekommen, aber man hört auf mich immer noch viel zu wenig. Das ist die Tragik, man hört immer zu wenig auf die Dichter. Dabei hatte doch Shelley gesagt: Poets are the unacknowledged legislators of the world. Seit Woodrow Wilson sind hundert Jahre vergangen. Hundert Jahre schöner Reden von Ghostwritern, was haben sie bewirkt? Auch dieser Text wird von einem Ghostwriter geschrieben worden sein, wir hoffen aber mal, dass der Text etwas bewirkt.
 

In diesem Blog gibt es zahlreiche Posts, in denen der Supreme Court eine Rolle spielt: Supreme Court, Earl Warren, Bilder: Geschichte, Rechtsprechung, Gunfighter Nation, Schnellfeuergewehre, Roy Cohn, irgendwann muss Schluß sein, Flaggentag, Amistad

Sonntag, 28. Juli 2024

Alpina


Alpina sind Wandfarben, die alpinaweiß sind, es sind aber auch Automobile von BMW. Oder Fahrradhelme und Rasenmäher. Die Firma Alpina, über die ich heute schreibe, ist ein wenig untergegangen. Aber sie war einmal das Einzige, das man mit dem Namen Alpina verband. Auf meinem Schreibtisch steht eine silberne Taschenuhr, gehalten von einem kleinem Plastikständer. Ich ziehe die Uhr morgens auf, wenn ich mich an meinen Computer setze. Auf dem Zifferblatt steht Union Horlogère, ein Firmenname, den man in der Schweiz verwendete, bis man zu dem neuen Namen Alpina überging. Neben der Taschenuhr steht noch eine Funkuhr, die ist ein wenig genauer als die Union Horlogère, die in Wirklichkeit eine Zenith Taschenuhr ist. Die Schwanenhals Feinregulierung ist am Ende der Skala angekommen, die Uhr geht ein wenig nach. Eigentlich müsste sie mal zum Uhrmacher, aber die Unruhe schwingt noch derart fröhlich, dass ich die Uhr lasse, wie sie ist.
 
Als ich am 1. April 1883 in Winterthur geboren wurde, gründete mein Vater mit einigen Uhrmacherkollegen, darunter der damalige Uhrmacher und Redaktor Christian Graf-Link von der 'Schweizerischen Uhrmacherzeitung', in der 'Kronenhalle' in Zürich die 'Schweizerische Uhrmacher Korporation'. Später wurde diese unter dem Namen 'Alpina Union Horlogère AG zur ältesten und größten Uhrenverkaufsorganisation dieser Art. Das schreibt der Sohn von Gottlieb Hauser, dem Gründer der Union Horlogère. Das ist eine Genossenschaft von Herstellern von Uhrwerken, Gehäusen und Zifferblättern gewesen, die gute und preiswerte Uhren herstellen wollte. Sie können hier eine Liste der Mitglieder einsehen. Firmen, die hier schon einen Post haben wie Certina und Moeris, waren auch dabei. 

Ein einziger deutscher Uhrenhersteller war auch in der Union Horlogère, nämlich J. Assmann aus Glashütte, dessen Uhren qualitativ ebenso gut waren wie die von Lange & Söhne. Assmann brauchte eigentlich nichts aus der Schweiz, er war nur in der Union Horlogère, damit er seine Uhren in der Schweiz verkaufen konnte. Als Assmann 1904 aus der Alpina ausstieg, gründete die Alpina in Glashütte eine eigene Firma, die Taschenuhren mit Schweizer Werken herstellte. Sie wurde sofort von Lange & Söhne verklagt, allerdings war der Prozess bis zum Kriegsanfang noch nicht entschieden. Und nach dem Krieg war die Alpina Glashütte pleite. Wenn es auch keine echten Glashütter Uhren sind, dank ihrer Qualität erzielen die Alpina Glashütte Uhren bei Auktionen immer noch sehr gute Prieise. 

1909 konnte die Union Horlogère ihre Marke Alpina mit den Herstellungsorten  Biel - Genf - Glashütte i. Sa bewerben und fügte hinzu: in jeder Qualität von der einfachsten Stahluhr bis zum feinsten Gold-Chronometer. Alpina-Uhren sind mit allen technischen Verbesserungen ausgerüstet und bieten so in jeder Qualität etwas Hervorragendes. Die Union Horlogère ist in jeder Stadt durch ein renommiertes Uhrengeschäft vertreten. Man bot auch Schüler-Uhren für Knaben und Mädchen an, die seien von hohem erzieherischen Wert, Kinder an Pünktlichkeit und Zeiteinteilung zu gewöhnen.

Der wichtigste Lieferant der Union Horlogère für die →Uhrwerke der Taschenuhren war Jacob Straub in Biel. Er war auch der erste, der den Namen Alpina für ein Uhrwerk verwendete und den Namen auf das Zifferblatt einer Uhr schrieb. Auf dem Dach seiner Fabrik können wir hier auch den Namen Alpina sehen. 1904 wurde der Wortname Alpina ins Namensregister eingetragen. Der Name Alpina wurde dann für die hochwertigen Uhren der Union Horlogère verwendet, die Uhren von einfacher und mittlerer Qualität bekamen die Namen A (1926), Festa (1928) oder Novice. In den 1920er Jahren kamen noch Hermann Aegler und Marc Favre als Lieferanten für Armbanduhrwerke zu der Gruppe hinzu. Das war für die Genossenschaft wichtig, denn J. Straub stellte bislang nur Werke für Taschenuhren her. 

Hermann Aegler belieferte die amerikanische Firma Gruen, die von 1929 bis 1935 auch Mitglied der Union war. Die beiden Brüder Frederick und George Gruen (die auch schon einmal in Glashütte eine Fabrik gehabt hatten) saßen auch im Verwaltungsrat der Union Horlogère. Die Firma Gruen konnte von dem Vertriebsnetz von 1.575 Einzelhändlern und sechs Ländervertretungen in Europa profitieren, das die Alpina aufgebaut hatte. Der zweite Kunde von Aegler war die 1913 von London nach Biel gezogene Firma Rolex. Aus der Zeit der Zugehörigkeit von Gruen zur Union stammt auch diese Alpina Gruen mit einem Aegler Werk, das später auch in den Rolex Prince Uhren war. Wenn Alpina draufsteht, kostet es einen Sammler mindestens sechstausend Euro, wenn Rolex draufsteht das Doppelte. Das sollte einem der Name Rolex schon wert sein.

Marc Favre, der Urgoßvater der Schweizer Malerin Valérie Favre, wurde mit seiner Fabrik in Biel zu einem der wichtigsten  Schweizer Hersteller. Dessen wahre Größe lange →→unbekannt blieb. Er belieferte auch viele Firmen außerhalb der Alpina, die sich Manufakturen nannten und geheimhielten, dass sie keine eigenen Werke bauten. Favre war der Überzeugung, dass die Zukunft der Armbanduhr gehörte. Was er lieferte, waren erstklassige Werke. Sogar die vornehme Firma Universal Genève bezog Werke von ihm; und in manchen Omega Uhren tickt etwas, was bei Favre entwickelt wurde. 

Eines seiner bekanntesten Werke ist das Alpina Kaliber 595, das manchmal auch den Namen Siegerin trägt. Das Werk war auch in der →Alpina Tresor, die schon in einem Post vorkommt. Im obigen Absatz ist das Werk in einer Uhr für die deutsche Kriegsmarine, da steht KM auf dem Zifferblatt. Ich habe noch zwei kleine Alpina Marineuhren mit dem KM auf dem Zifferblatt, eine hat sogar noch dieses scheußliche graue Originalband. Vor dreißig Jahre wollte die niemand haben, heute zahlen Sammler viel Geld dafür. Das ist bei allen Militäruhren das Gleiche. Die Uhren haben keine Stoßsicherung, die Marine verzichtete darauf. Aber in den Alpina Uhren, die über die Dugena (seit 1917 juristisch unabhängig von der Muttergesellschaft Alpina) an das deutsche Heer geliefert wurden, waren Stoßsicherungen drin. Darauf bestand das Heer. In den Uhren der US Army waren keine Stoßsicherungen, auch so kann man den Krieg gewinnen.

Auf die Firma Alpina bin ich gekommen, weil ich gerade diese beiden Hübschen gekauft habe, eine Alpina Starliner (links) und eine Dugena Precision. Beide Uhren waren kaum getragen und kosteten zusammen nicht einmal dreistellig. Zu den Dugena Precision Uhren sagt der Barnie immer Überraschungseier. Man weiß nie, was drin ist. In den meisten Fällen ist es ein schönes rotvergoldetes Helvetia Werk, manchmal auch ein Peseux 320. Ich habe hier eine Liste aller Uhrwerke, die die Dugena verbaut hat. Was mich mehr als die Dugena Precision (davon habe ich schon zwei) interessierte, war die Starliner der Alpina.

In der tickt das letzte Werk von Marc Favre, das Kaliber 598. Das gab es in drei Qualitäten, hier drin ist die beste, das 598R. Hat eine glatte Glucydurunruhe und ein bewegliches Spiralklötzchen, das haben das 598 und das 598E nicht. Eine direkte Zentralsekunde hat das Werk noch nicht, soweit war man 1950, als das Werk auf den Markt kam, nocht nicht. Das 592er Werk, aus dem das 598 entstand, hatte noch eine kleine Sekunde (es hatte auch die gleiche Bauweise des alten 595). Das Werk war berühmt für seine Robustheit und Ganggenauigkeit, die Uhrmacherschule in Biel verwendete es als Lehrmodell für die angehenden Uhrmacher. Und das Werk, das eines der besten Handaufzugswerke seiner Zeit war, geht heute noch genau und hat nach über sechzig Jahren noch leicht und locker vierzig Stunden Gangreserve.

Die  Union Horlogère wird in der Quarzkrise untergehen wie so viele Schweizer Firmen. 1972 wird sie in die Alpina Watch International umgewandelt. Diese Gesellschaft hatte von der Union Horlogère SA alle Fabrikations- und Markenrechte und die Absatzorganisation übernommen. Viel mehr als der Name war da aber nicht mehr. Die Herstellung eigener Uhrwerke hatte man aufgegeben, jetzt sind ETA und ASSA in den Uhren. Anfang der 1970er Jahre war die Fabrik von Straub, die inzwischen auch Armbanduhrwerke wie dies Kaliber 490 baute, geschlossen worden. Da man die Imitation der Werke in Billiglohnländern verhindern wollte, entschied man sich für die Verschrottung aller Maschinen. Die Marc Favre & Cie AG war 1953 in die SSIH eingegliedert worden. Robert-Marc Favre wurde noch Direktor der Omega, die auch einmal Kunde bei Marc Favre gewesen war. 2002 wurde die Alpina Watch International von der Frédérique Constant Gruppe übernommen. 2016 kaufte der japanische Konzern Citizen die Schweizer Frédérique Constant Gruppe inklusive der Marke Alpina. Die Uhren mit diesem Namen kann man jetzt ab 650 Euro bei Amazon oder auch Online kaufen.

Meine Lieblings Alpina ist außer der neuen Starliner (bei der ich inzwischen alle Kratzer aus dem Glas herauspoliert habe) eine Alpina President aus den 1950er Jahren. In ihr steckt das AS 584, eine Hammerautomatik, die einseitg aufzieht. Mit lautem Geräusch, das rüttelt und schüttelt am Arm. Die Firma von Adolph Schild versuchte wissenschaftlich zu beweisen, dass ihre Uhr besser aufzog als die Automatik der Eterna. Das ist vielleicht sogar richtig, man braucht die Uhr nur in die Hand zu nehmen, dann rennt der kleine rote Sekundenzeiger schon los. Aber es bleibt dieses Rütteln und Schütteln. 

Heute baut eigentlich niemand mehr eine Hammerautomatik, aber die neue Firma Alpina hat mit dem AL-709 Werk seit 2021 wieder eine Hammerautomatik (hier rechts auf dem Bild) im Programm. Auch mit Nostalgie kann man Uhren bewerben, viele Firmen haben wieder Modelle herausgebracht, die einmal Klassiker der Marke waren. Ich mag die alte President trotz des Rüttelns, auch wenn es ein technischer Irrweg war. Meine eleganteste Alpina ist eine andere President, die ich mal im Winter auf einem Flohmarkt in der Mensa II kaufte. Sie war umgeben von zentimeterdicker brauner Schmierseife. Ich pulte ein wenig davon ab und sah, dass die Uhr nicht vergoldet war, sondern eine echte Goldhaube hatte. Das erzählte ich dem Händler allerdings nicht. Ich nahm sie für kleines Geld mit. Als ich zuhause die Schmierseife von der Uhr entfernt hatte, stellte ich fest, dass ich jetzt eine niemals getragene Alpina President besaß.

Donnerstag, 25. Juli 2024

Olympia


Auf dem Gehäuseboden dieser Uhr lodert die olympische Flamme. In 750er Gold. Ein Goldplättchen hat meine alte Eterna Kontiki auch. Dies hier ist eine Omega Seamaster Diver, die gerade zu den Olympischen Spielen in Paris erschienen ist. Das wirklich potthässliche Teil mit einer goldenen Lünette kostet 9.700 Euro. Wer kauft sich so etwas? Die Firma Omega war über hundert Jahre eine inhabergeführte Firma, heute ist sie eine Tochtergesellschaft der Swatch Group. Und der geht es schlecht, sehr schlecht. Das ganze Chinageschäft ist weggebrochen.

Aber Werbung mit den Olympischen Spielen lässt sich die Firma Omega nicht nehmen, Olympia ist ihre Werbeplattform. Seit 1932 statten sie die Olympischen Spiele mit Zeitmessern aus. Mit der Ausnahme der Olympischen Spiele 1964 in Tokio, da wurden die Zeiten von Seiko gestoppt. Die brachten auch eine Olympia Uhr heraus, die war aber nicht so teuer. Das hier ist die Schweizer Sprinterin Léa Sprunger, die teure Omega am Arm hat sie bestimmt nicht selbst bezahlt. Aber so nett sie aussieht, auf die Seite der Omega Botschafter hat sie es noch nicht geschafft. Nicole Kidman schon. Doch Omega hat da noch eine Extraseite für sportliche Markenbotschafter. Ich nehme an, dass die jetzt alle so eine Olympiauhr mit Goldplättchen kriegen.

Von vorne sieht das Modell so aus. Als ich die Bilder zum ersten Mal sah, dachte ich mir, das sei eine alte Wostok Columbus, das Goldbronzemodell. Mit Sportlern zu werben, ist nicht ungefährlich. Was ist, wenn der Markenbotschafter beim Doping erwischt wird? Die IWC wird damals nicht so begeistert über ihren Markenbotschafter Jan Ullrich gewesen sein. Während der Spiele dürfen Athleten für nichts Werbung machen. Steht so in der Regel 40 des IOC: Kein Wettkampfteilnehmer, Trainer, Betreuer oder Funktionär darf seine Person, seinen Namen, sein Bild oder seine sportliche Leistung für Werbezwecke während der Olympischen Spiele einsetzen, außer dies wurde vom IOC genehmigt.

Eine vernünftge Regel, würden wir denken. Aber nun klagt das Bundeskartellamt gegen das IOC und den Deutschen Olympischen Sportbund. Sie behinderten durch ihre Marktmacht die armen Athleten, die jetzt nicht mit der Werbung ein klein bisschen Geld machen können. Neun Tage vorher und während der ganzen Olympischen Spiele darf ein Omega Markenbotschafter keine Werbung mit seiner Uhr machen. Das bedeutet für einen Amateur, und es sind ja nur Amateure in Paris, einen goßen Verdienstausfall. Wir reden ja heute nicht mehr über den Geist von Olympia, das citius, altius, fortius gilt nur noch für die Werbung.

Montag, 22. Juli 2024

das Blaue Band

Da läuft sie am 9. Juli 1959 zur ✺Jungfernfahrt nach New York aus, die neue Bremen. Sie wird für die Fahrt zwanzig Stunden mehr brauchen als jene Bremen, die heute vor fünfundneunzig Jahren in der Rekordzeit von vier Tagen, 17 Stunden und 42 Minuten den Atlantik überquert hatte. Die Bremen von 1959 war das fünfte Schiff des Norddeutschen Lloyds, das diesen Namen trug. Vorher hieß das Schiff Pasteur. Der Norddeutsche Lloyd hatte das 32.336 BRT große französische Schiff für dreißig Millionen Mark gekauft, um es beim Bremer Vulkan wieder zum Luxusdampfer umbauen zu lassen. Der Umbau, zu dem ich hier einen kleinen Fernsehfilm von Radio Bremen habe, wird das Doppelte des Kaufpreises kosten. Der Verkauf der Pasteur hatte in Frankreich zu großem Unmut geführt, weil die Franzosen hier ein Symbol Frankreichs an die boches verkauft sahen. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie sie die Weser herauf geschleppt wurde, der ganze Ort stand unten am Strand. Das Schiff wurde zuerst nach Bremen geschleppt, dort bei Hochwasser im Hafen gedreht und dann wieder nach Vegesack gebracht. Da lag sie nun, sozusagen direkt vor der Haustür. Und da konnten wir zwei Jahre lang bewundern, wie sie immer schöner wurde.

Als das Schiff ankam, hatte es nichts mehr von einem stolzen Passagierschiff an sich. Dass die Pasteur zuvor kein Passagierschiff mehr war, sondern nur noch ein Truppentransporter, wusste ich damals nicht. Aber Hans Fander hat mir erzählt, dass er mit diesem Schiff zusammen mit tausenden anderer Fremdenlegionäre aus Indochina nach Frankreich zurückgekommen war. Von 1945 bis 1956 hatte die Pasteur 750.000 französische Soldaten befördert. Hin und her zwischen Marseille und Indochina. 

Als sie 1959 den Vulkan mit dem gelben Schornstein vom Norddeutschen Lloyd verließ, galt sie als das schönste Schiff seiner Zeit. Das Piano im großen Salon war schneeweiß. Das hat mir der Peter erzählt, der die Bremen dank einer Führung des Direktors vom Vulkan besichtigte, bevor sie abgeliefert wurde. Ich hätte auch dabei sein können, war es aber nicht. Ich konnte diesen Direktor des Bremer Vulkans nicht ausstehen. Der Vater meines Klassenkameraden Dirk Havighorst, der eine Bootswerft in Rönnebeck hatte, hatte einen Teil der Rettungsboote der Pasteur gekauft. Für jeden Passagier gab es im Rettungsboot eine kleine Kurbel. Wenn man mit sechs Mann ordentlich kurbelte, konnte man mit dem Boot auf der Weser fahren. War eine tolle Sache. Als Hans Fander mir erzählte, dass er während der ganzen Überfahrt nach Frankreich beinahe immer in einem Rettungsboot gelegen hätte, weil es unter Deck nicht auszuhalten war, habe ich ihm gesagt, dass wir vielleicht mit genau diesem Rettungsboot auf der Weser herumschipperten.

Hier, wo gerade die alte Bremen in den dreißiger Jahren von der Bremerhavener Kolumbuskaje ablegt, ist mein Opa mit Oma bei einer der ersten Fahrten der Bremen an Bord gegangen. Einmal Bremerhaven nach Southampton, Touristenklasse. Zurück ging's mit Fähre und Bahn. Er hatte eine Speisekarte von dieser Reise aufbewahrt, die meine Mutter 1959 blöderweise der Reederei der neuen Bremen geschenkt hat. Sie kriegt einen Dankesbrief dafür und einen bunten Prospekt. Ich fand das richtig doof, eine originale Speisekarte von einem Bremer Schiff wegzuschenken, welches einmal das Blaue Band errungen hatte. Vor allem, weil der Kapitän Ziegenbein seinen Gästen zu Ehren des Blauen Bandes ein ganz neues Gericht namens Cordon Bleu serviert haben soll.

Denn als der Kommodore Leopold Ziegenbein mit seiner Bremen in New York ankam, war das die schnellste ✺Atlantiküberquerung, seit die Mauretania der Cunard Line 1909 das Blaue Band erobert hatte. Das Schiff konnte nur deshalb so schnell sein, weil der Hundt hinter dem Ziegenbein her war, wie es später hieß. Der Hundt ist Julius Hundt, der Chefingenieur des Schiffes. Die Engländer werden den Deutschen diese Trophäe wieder abnehmen, die Queen Mary wird 1936 schneller sein als die Bremen. In Erinnerung daran hatte die englische Pfeifenfirma Comoy's ein Modell Blue Riband herausgebracht. Über den Schnelldampfer Bremen gibt es in diesem Blog schon einen Post, den ich heute noch einmal einstelle, überarbeitet und erweitert.

Wir springen mal eben in das Jahr 1939. Hier wird die Bremen noch einmal angestrichen für die große Fahrt über den Atlantik. Die Bremer Speckflagge flattert stolz am Bug. Während der letzten Überfahrt der Bremen über den Atlantik hat der neue Kapitän Adolf Ahrens das Schiff von Freiwilligen (das heißt: der gesamten Besatzung einschließlich der Musiker des Bordorchesters) als Tarnfarbe grau streichen lassen. Während der Fahrt. Er wollte nicht, dass sein Schiff dem Engelsmann, wie er sich ausdrückte, in die Hände fällt. Der Zweite Weltkrieg steht vor der Tür.

Als er mit seiner Bremen den New Yorker Hafen verließ, hat er nicht die amerikanische Nationalhymne The Star-Spangled Banner, sondern das Horst Wessel Lied spielen lassen. Was ja eigentlich nichts anderes als das Lied vom Wildschütz Jennerwein ist (lesen Sie doch einmal den Post The Happy Wanderer). Aber es ist natürlich ein schlimmes Lied, das der Bremer Kapitän da spielen lässt: Als die 'Bremen' in den Hudson hinausgleitet, mehr als die halbe Strombreite einnehmend, intonierte die Kapelle das Deutschland- und das Horst-Wessel-Lied. Mit erhobenen Armen steht die Mannschaft und singt die Lieder der Nation. Machtvoll schallt das stolze Bekenntnis zu Deutschland über die Piers und den Strom. Seine Schriften wie Die Siegesfahrt der Bremen oder Männer Schiffe Ozeane, aus denen dies Zitat stammt, werden nach dem Krieg in der Sowjetisch Besetzten Zone wegen ihres nationalsozialistischen Gedankenguts verboten werden. 

Allerdings muss man bedenken, dass der größte Teil seiner Bücher von einem Ghostwriter namens Christian Hilker stammt, der aus Die Siegesfahrt der Bremen (man beachte allein den Titel) ein Propagandawerk gemacht hat. 1936 war Ahrens als Nachfolger von Kommodore Leopold Ziegenbein Kapitän der Bremen geworden, dem schnellsten und schönsten Schiff der Welt. Bei dem sogar der Schiffsname nachts beleuchtet war. Auf der Fahrt im September 1939 allerdings nicht mehr. Da ist alles dunkel. Es ist das Ende der deutschen Passagierschiffahrt.

Ich hoffe, dass es mir gelingt, euch gesund nach Hause zu bringen, hatte er der Besatzung am 30. August 1939 gesagt, als die Bremen ihre Heimfahrt antrat. Im letzten Krieg war er mit seinem Dampfer Derfflinger in Alexandria von den Engländern aufgebracht und fünf Jahre auf Malta interniert worden. Seit 1894 ist Ahrens auf See, da hat er als Schiffsjunge auf der Viermastbark Renée Rickmers angefangen. Den Bremerhavener Werftbesitzer Rickmer Clasen Rickmers kannte er, sein Vater war bei Rickmers der Gärtner. 1901 besteht der junge Ahrens sein Kapitänsexamen, danach ist er für den Norddeutschen Lloyd auf allen Weltmeeren. Meist in Ostasien. Nach dem Ersten Weltkrieg hatte Ahrens den elterlichen Gemüsehandel in Nordenham übernommen. Dass er kaufmännisch tätig war (wie es im Wikipedia Artikel steht) klingt natürlich besser, aber es war nun mal der Gemüsehandel.

Schon auf der Reise nach New York hatte er am 25. August 1939 südlich von Neufundland den Befehl empfangen, sofort nach Deutschland zurückzukehren und nur noch verschlüsselt zu funken. Der Kapitän Ahrens ist seit 1934 in der NSDAP, aber er gehorcht den Befehlen nicht. Er ist nicht ganz dumm. Er hat hohe amerikanische Diplomaten an Bord und der Sprit reicht nicht bis zurück nach Deutschland.

Doch als er in New York ist, tut er alles, um sofort wieder auszulaufen. Ohne Passagiere. So etwas wie die fünf Jahre Malta soll ihm nicht noch einmal passieren. Die Behörden machen ihm das Leben schwer. Ahrens ahnt, dass man ihn aufhalten will, um sein Schiff den Engländern zu übergeben. Aber als die Zollbeamten am Nachmittag des 30. September das Schiff verlassen, legt Ahrens ab. Zuvor hatte man noch Strafantrag gegen einen desertierten Tellerwäscher gestellt, das ist deutsche Gründlichkeit. Da steht dann im Logbuch: Heute desertierte der Tellerwäscher R.M. geboren 30.8.1913, unter Mitnahme seiner Effekten, Strafantrag wird gestellt. Ich weiß nicht, ob dieser Tellerwäscher Millionär geworden ist, aber glücklicher als im Nazideutschland wird er in Amerika wohl geworden sein.

Dass er solche Photos von Passagieren an Bord der Bremen, die die Silhouette von New York betrachten, nicht mehr machen wird, das ist Hanns Tschira klar. Hanns Tschira arbeitet seit Ende der zwanziger Jahre als Photograph für den Norddeutschen Lloyd. Bei dieser Reise ist er auf der Bremen. Auf dem Leuchtband der Nachrichten am Times Building kann er Englands Erklärung lesen, bei einem deutschen Angriff auf Polen die Polen zu unterstützen. Mit einem Male ist mir die ganze Stadt verleidet. Daß unser Führer die polnischen Provokationen weiter hinnimmt, ist ausgeschlossen, das steht in dem Buch Die Bremen kehrt heim, das den Untertitel Deutscher Seemannsgeist und deutsche Kameradschaft retten ein Schiff hat. Herausgegeben in Kooperation mit der NS Gemeinschaft Kraft durch Freude. Die meisten Bilder in diesem Post stammen von Hanns Tschira, sie können auf dieser Seite beinahe alles sehen, was er an Bord der Schiffe des Norddeutschen Lloyd photographiert hat.

Die Bremen (zweite von unten) wird eins der letzten deutschen Schiffe sein, das Amerika verlässt. Eigentlich wollte Ahrens lieber nach Kuba, aber die Telegramme aus Berlin sind jetzt eindeutig. Kuba ist nicht drin. Der Kapitän der französischen Normandie, die neben der Bremen liegt, lässt als Gruß einmal die Trikolore dippen. Sein Schiff wird den Rest des Krieges in New York bleiben. Ahrens schafft es, ohne dass ihn die Engländer aufhalten, über den Atlantik. Zwar nicht nach Bremerhaven, erst einmal in den noch neutralen Hafen Murmansk. Und von da aus im Dezember dann endlich doch nach Bremerhaven. Den Triumph, gleich zu Beginn des Krieges das schönste und größte Schiff der deutschen Handelsflotte zu erbeuten, wird der Engländer jedenfalls nicht erleben, wird er schreiben. 1940 verleiht ihm der Norddeutsche Lloyd den Titel eines Kommodore und der Bremer Senat die goldene Ehrenmedaille. Ein Jahr später wird er pensioniert.

Es ist viel Gewese um die Rückreise (die ja zu einer Siegesfahrt stilisiert wird) der Bremen gemacht worden. Niemand redet von dem Kommodore Friedrich Ferdinand Heinrich Kruse von der Hamburg Amerika Linie. Das Flaggschiff New York der Hapag ist auch Ende August vor New York. Es wird betankt und erreicht Murmansk zwei Tage nach der Bremen. Am 10. November 1939 ist die New York nach einer Schleichfahrt entlang der norwegischen Küste in Kiel-Holtenau. Aber da ist kein bekannter Photograph an Bord, der sofort ein Buch über die Fahrt schreibt wie Hanns Tschira. Und wahrscheinlich ist Kruse auch nicht in der Partei. Die New York wurde 1945 durch einen Luftangriff der Amerikaner vor dem Seebad Bellevue in der Kieler Förde versenkt.

Am dritten September 1939, als die Bremen den sechzigsten Breitengrad erreicht, sagt Ahrens der Mannschaft, dass er niemals zulassen werden, dass sein Schiff der britischen Marine in die Hände fiele. vorher werde er es versenken. Und setzt hinzu: Obendrein zünde ich das Schiff noch an! Das Anzünden soll zwei Jahre später angeblich der siebzehnjährige Decksjunge Gustav Schmidt besorgt haben, der deshalb nach Marinerecht (die Bremen gehörte inzwischen der Kriegsmarine) zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Aber es gibt erhebliche Zweifel an dieser Darstellung. Das Schiff wird in Bremerhaven ausbrennen.

Ahrens war die Verkörperung des befähigten Seemannes und Nautikers, der die angeborene Gabe besaß, mit bewunderswerter Sicherheit schwierige Situationen vorauszuahnen und unnachahmlich zu meistern, heißt es in der Bremischen Biographie über ihn. Dort wird auch sein Engagement für die Stiftung Haus Seefahrt in Grohn gelobt. Eine Leistung, die vielleicht größer ist, als die Bremen nach Hause zu bringen. Ahrens war als Schiffahrtsexperte von 1949–1953 als Mitglied der Deutschen Partei im Bundestag. Die konservative Partei, die nur in den norddeutschen Bundesländern antrat (und in Bremen die meisten Stimmen bekam) war damals sogar Regierungspartei.

Die Entnazifizierungsakte stuft Ahrens als Mitläufer ein. Das Kommando der Bremen hätte er wohl nicht bekommen, wäre er nicht in der Partei gewesen. Das war sein Vorgänger, der Kommodore Leopold Ziegenbein, auf keinen Fall. Der war 1936 in Pension gegangen, offiziell aus Altersgründen (er war zweiundsechzig), in Wirklichkeit war es wohl eher eine Zwangspensionierung, an der er und die Reederei gleichermaßen interessiert waren. Er wäre nie auf die Idee gekommen, seine Briefe Mit deutschem Gruß und Heil Hitler zu unterzeichnen, wie Ahrens das tut. Er beendet offizielle Feiern der Mannschaft an Bord der Bremen mit einem dreifachen Hurra, nicht mit Sieg Heil. Dass 1934 das jüdische Bordpersonal entlassen wurde, hatte er nicht verhindern können. Dass 1935 in New York die Hakenkreuzflagge vom Heck der Bremen gerissen wird, hat ihn nicht besonders berührt.

Er war ein Mann, der mit allen Situationen fertig wurde. Als er noch ein junger Seeoffizier auf der Prinz Ludwig war und sich eine Diplomatengattin kreischend über eine Ratte in ihrer Kabine beschwerte, wäre der gute Ruf der Schiffe des Norddeutschen Lloyds beschädigt gewesen. Wenn da nicht der Erste Offizier Leopold Ziegenbein gewesen wäre. Mit gewinnendem Lächeln dankte er der Dame für das Wiederauffinden des schon schmerzlich vermissten Maskottchens des Schiffes. Es braucht wohl nicht hinzugesetzt werden, dass die Ratte natürlich kein Maskottchen war.

Er war der berühmteste deutsche Kapitän seiner Zeit, die Stadt New York hatte ihn zum Ehrenbürger gemacht (oben ist er mit Graf Luckner zu sehen). Ziegenbein war Freimaurer (und Rotarier), er verstand sich als nationaler Patriot und Weltbürger, der sich und seine Reederei immer als Botschafter seines Landes ansah. Albert Ballins Satz Mein Feld ist die Welt könnte ihn charakterisieren. Aber das Deutschland der Nazis war nicht mehr das seine. Das waren sowieso freudlose Fahrten für den Mann geworden, der die schönen Frauen liebte: der internationale Jet Set meidet deutsche Schiffe. Die Bremen ist zu einem Nazischiff geworden. Im Oktober 1936 teilt er dem Norddeutschen Lloyd seinen bevorstehenden Rücktritt aus gesundheitlichen Gründen mit.

Ziegenbein zog sich in sein Haus in Bremerhaven (wo es heute eine Kommodore Ziegenbein Promenade gibt) zurück und hisste die schwarz-weiß-rote Flagge, wenn die Bremen zurückkam. Niemals die mit dem Hakenkreuz. Es war für ihn der schmerzlichste Augenblick seines Lebens, die Bremen brennen zu sehen. Das war sein Schiff gewesen, er hatte schon die Bauaufsicht bei der AG Weser gehabt. Hatte der Mauretania das Blaue Band abgenommen. Da hatte sogar Willem aus seinem Exil in Doorn ein Glückwunschtelegramm gesandt. Natürlich kam auch ein Telegramm von Hindenburg, der das Schiff getauft hatte. In Uniform mit Pickelhaube. Als die Amerikaner Bremerhaven besetzten, verbannten sie Ziegenbein in seinem Haus unters Dach. Das hat der Ehrenbürger von New York ihnen übelgenommen. Die Bremische Biographie 1912-1962, die eine ganze Seite für Adolf Ahrens übrig hat, erwähnt Leopold Ziegenbein mit keinem Wort. Ein Schiff, zwei Kapitäne. Und ein hingerichteter Schiffsjunge. Auf einer Sandbank bei Blexen kann man bei starker Ebbe noch die Reste des Schiffes sehen. 

Der erste Kapitän der neuen (fünften) Bremen hieß 1959 Heinrich Lorenz. Er sitzt auf diesem Photo rechts neben Fidel Castro. Seine Tochter Marita sitzt links neben Castro. Lorenz' Gattin, Alice June Lofland (eine Cousine von Henry Cabot Lodge), war unter dem Künstlernamen June Paget einmal Ballerina am Broadway gewesen. 1932 haben die beiden in Bremerhaven geheiratet. Im Krieg verhalf sie gefangenen französischen Widerständlern zur Flucht. Sie wurde denunziert und landet mit ihrer kleinen Tochter Marita im KZ Bergen-Belsen. Sie haben beide Bergen-Belsen überlebt. 

Die Tochter Marita Lorenz wird noch berütmt, weil sie eines Tages eine Liebesaffäre mit Fidel Castro hat. Hier sind Marita und Fidel bei einem Tête-à-Tête und rauchen kubanische Zigarren. Marita arbeitet dann nicht wie ihre Mutter für das NSC, sondern für die CIA. Bekam von Frank Sturgis den Auftrag, Fidel Castro zu vergiften. Tat sie aber nicht, stattdessen schlief sie mit ihm. Aber das ist eine andere Geschichte.

Adolf Ahrens' Buch Die Siegesfahrt der Bremen lag bei meinem Opa herum, ich habe es gelesen, als ich noch klein war. Es war nicht so interessant wie die Erzählungen der Kapitäne, mit denen mein Vater befreundet war. Wenn Sie mehr zu der denkwürdigen Fahrt der Bremen lesen wollen, kann ich noch empfehlen: Gertrud Ferber, 'Acht Glas': Kommodore Ziegenbein. Wesen und Wirken eines deutschen Seemannes (1940). Klaus-Peter Kiedel, Die letzte Transatlantikreise des Schnelldampfers Bremen. In: Jahrbuch der Schiffbautechnischen Gesellschaft 98 (2004). Nils Aschenbeck, Schnelldampfer Bremen (1999). Peter A. Huchthausen, Shadow Voyage: The Extraordinary Wartime Escape Of The Legendary SS Bremen (2005) und Thomas Siemon, Ausbüxen, Vorwärtskommen, Pflicht erfüllen: Bremer Seeleute am Ende der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus 1930-1939 (2002), Schnelldampfer Bremen Hg. Norddeutscher Lloyd 2013.

Freitag, 19. Juli 2024

Ellen Andrée: nue et habillée

Der Maler Edgar Degas wurde heute vor hundertneunzig Jahren geboren, das wäre ein Grund, über ihn zu schreiben. Was ich aber nicht tun werde, weil ich ihn nicht mag. Weshalb ich ihn nicht mag, das steht in dem Post Edgar Degas. Und auch in dem Post Ratten sage ich nichts Nettes über ihn. Dieses Bild wird immer mit dem Titel L'Absinthe zitiert, original hieß es Dans un Café. Das grünliche Zeug, das die Dame vor sich hat, ist Absinth, ein Getränk, das Baudelaire in seinem Gedicht →Le vin des chiffonniers den Wein der Bettler, genannt hat. Die Dame trinkt in Wirklichkeit keinen Absinth, der Herr neben ihr wohl schon. Es ist der Maler Marcellin Gilbert Desboutin, der neben der Schauspielerin Hélène (oder mit ihrem Künstlernamen Ellen) Andrée sitzt. Die war über das Bild überhaupt nicht glücklich, fünfzig Jahre später hat sie gesagt: Je suis devant une absinthe. Desboutin devant un breuvage innocent, le monde renversé, quoi ! Et nous avons l’air de deux andouilles. Das ist es, die beiden sehen aus wie Idioten, eine Nutte und ein Penner. Soll das die Bohème sein oder nur die Demimonde?

Als Degas das Bild malte, war Ellen Andrée zwanzig Jahre alt. Sie war Schauspielerin, war aber auch das Modell für viele Maler. Sie hat für Degas, Manet und Renoir (und andere) Modell gesessen. Die Maler liebten sie, nicht weil sie besonders schön war, sondern weil sie lange in der Position sitzen oder stehen lonnte, die der Maler gerne haben wollte. Die Wikipedia hat eine schöne Seite für die Schauspielerin, mit vielen Bildern. Hier ist sie das Modell für Édouard Joseph Dantans Bild Un Moulage sur Nature. Das ist eins der wenigen Male, wo sie nackt posiert. Das zweite Bild mit der nackten Ellen habe ich natürlich auch, es war ein Bild, dass 1878 ein Pariser Skandal war.

Das Bild Rolla, das Henri Gervex gemalt hat, war schon zweimal in diesem Blog, einmal in Ratten und zum zweiten Mal in les grandes horizontales. Das Bild Rolla hat etwas mit einer Verserzählung von Alfred de Musset zu tun, in der der Lebemann und Wüstling Jacques Rolla gerade Sebstmord begehen will. Er hatte sich in die junge Marie (die hier auf dem Bett liegt), verliebt. Für die kleine Marie war die Prostitution eine Flucht aus der Armut. Ich zitiere einmal die passende Stelle und dann haben wir das Bild besser verstanden:
 
»Was mit mir ist?« sprach er – »beim Himmel, liebe Kleine,
Weißt du denn nicht, daß ich seit heute Nacht ruiniert?
Das weiß ja alle Welt! – Drum muß ich sterben gehen,
Und kam die Nacht hierher, noch einmal dich zu sehen.«
»Ja hast du denn gespielt?« – »O nein, ich bin ruinirt!«
»Ruiniert?« frug sie; und wie zur Statue gerührt,
Ließ sie den vollen Blick starr auf der Decke ruhn –
»Ruiniert? Ruiniert? Hast du denn keine Mutter? Hör!
Verwandte? Keinen Freund? Auf Erden niemand mehr?
Und tödten willst du dich? Weshalb willst du es thun?«
Vom weichen Kissen hob plötzlich das Haupt Marie,
Und süßer glomm ihr Blick als wie in allen Tagen.
Es bebte ihr der Mund im Drang von tausend Fragen,
Doch keine wurde laut – nur schluchzend neigte sie
Ihr Angesicht auf seins zu einem langen Kuß. –
»Jakob – zürnst du, wenn ich um etwas bitten muß?«
So schluchzte sie – »du weißt, Jakob – Geld hab ich nie –
Denn was du mir auch gabst, nahm mir die Mutter ab –
Jedoch – dies Halsband hier – 's ist Gold – soll ich's verkaufen?
Du nimmst das Geld und spielst – laß, Jakob – ich will laufen ....«
Ein mattes Lächeln war die Antwort, die er gab;
Drauf zog ein Fläschchen er hervor, trank's langsam leer,
Neigte sich über sie und küßte ihren Schmuck.
Dann sank auf ihre Brust sein Haupt mit leisem Druck –
Und als Marie es hob, da war es kalt und schwer.
Durch diesen keuschen Kuß ließ er die Seele scheiden,
Und, einen Augenblick, hatten geliebt die Beiden.

Der Salon hatte das Bild 1878 schon angenommen, aber kurz vor der Ausstellungseröffnung ließ der Direktor das Bild von der Wand nehmen. Weil es unmoralisch sei. Das Moralische ist ja bei der Aktmalerei immer ein Problem. Dass es hier gerade Sex gegeben hat, das ist uns klar. Den Spazierstock des Herrn, der zwischen ihrer Unterwäsche auftaucht, haben die Betrachter als Penissymbol verstanden: L'attitude d'abandon de cette nudité voluptueuse, à laquelle la chemise ouverte de l'homme fait écho, suggère, sans équivoque, l'ivresse sensuelle d'une nuit d'amour que conforte au premier plan, telle une nature morte, l'amoncellement de dessous féminins - corset rouge doublé de blanc, jarretière de soie rose et jupon empesé - dans lesquels s'enchevêtrent la canne et le chapeau haut de forme de l'amant, sagt Sophie Barthélémy, die Direktorin des Musée des Beaux-Arts de Bordeaux, dazu. 

Und Betrachter hat das Bild gehabt. Zwar nicht im Salon, aber für drei Monate im Schaufenster eines Kunsthändlers in der Rue de la Chaussée d’Antin. In einem Interview hat Gervex 1924 gesagt: Manet, Degas, Stevens, die Alten und die Jungen, alle drängten sich vor dem Gemälde, das schon berühmt war, bevor es den Salon betrat... Doch kaum hing es an der Wand, als Turquet, der Superintendent des Beaux-Arts, unterstützt von der Jury des Salons, den brutalen Befehl gab, es aus Gründen der Unmoral zu entfernen... So kam es, dass ein Kunsthändler mir anbot, 'Rolla' in seinem Geschäft in der Chaussée-d'Antin auszustellen... Ich nahm, wie Sie sich vorstellen können, dankbar an, und tatsächlich gab es drei Monate lang einen ununterbrochenen Besucherstrom mit einer Reihe von Kutschen, die sich bis zur Oper stauten. Eine von Gervex angefertigte Kopie des Bildes mit der nackten Ellen Andrée brachte bei Sothebys im Jahre 2016 den erstaunlichen Preis von 1,38 Millionen Pfund, der Schätzwert hatte bei 400.000 bis 600.000 Euro gelegen. Vielleicht kam dieser Preis zustande, weil es gerade im Musée d’Orsay die Ausstellung Splendeurs et misères: Images de la Prostitution, 1850-1910 gegeben hatte, in der das Original von Gervex auch zu sehen war. Dies Bild von Manet, das La Parisienne heißt, zeigt uns Ellen Andrée (die auch Gervex gerne als Modell nahm) vollständig bekleidet. Manet hat sie mehrfach gemalt, nie nackt.

Sophie Barthélémy sagte zu sensationellen öffentlichen Ausstellung des Bildes von Gervex, die zu erheblichen Verkehrsbehinderungen führte: On venait y respirer le même parfum de scandale qui avait accompagné un an plus tôt la subversive 'Nana' de Manet. Das mit dem respirer le même parfum de scandale finde ich sehr schön ausgedrückt. Manets Nana besitzt die Hamburger Kunsthalle, 1973 stand das Bild im Zentrum der Ausstellung Nana – Mythos und Wirklichkeit. Das schöne Katalogbuch von DuMont kann man antiquarisch noch für wenige Euro finden. Auch so gut wie garnichts kostet das Buch Monet und Camille: Frauenportraits im Impressionismus, das ich schon in dem Post Camille in grün erwähnt habe. Noch mehr zu dem Thema findet sich in dem Buch Painted Love: Prostitution in French Art of the Impressionist Era von Hollis Clayson (hier im Volltext).

Ellen Andrée, hier von Degas gemalt, ist siebenundsiebzig Jahre alt geworden. Sie hat alle Maler, die sie malten, überlebt. Der Skandal um das Bild Rolla begünstigte ihre Karriere als Theaterschauspielerin. Und zum Schluss habe ich in diesem Post, der es geschickt vermeidet, den spießigen Kleinbürger und virulenten Judenhasser Degas zu erwähnen, noch ein wunderbares Gedicht von Mascha Kaléko, das zu dem Bild von Gervex passt. Er heißt Der nächste Morgen: 

Wir wachten auf. Die Sonne schien nur spärlich
Durch schmale Ritzen grauer Jalousien.
Du gähntest tief. Und ich gestehe ehrlich:
Es klang nicht schön. Mir schien es jetzt erklärlich,
Dass Eheleute nicht in Liebe glühn.
Ich lag im Bett. Du blicktest in den Spiegel,
Vertieftest ins Rasieren dich diskret.
Du griffst nach Bürste und Pomadentiegel.
Ich sah dich schweigend an. Du trugst das Siegel
Des Ehemanns, wie er im Buche steht.

Wie plötzlich mich so viele Dinge störten!
Das Zimmer, du, der halbverwelkte Strauss,
Die Gläser, die wir gestern abend leerten,
Die Reste des Kompotts, das wir verzehrten.
... Das alles sieht am Morgen anders aus.
Beim Frühstück schwiegst du. 
(Widmend dich den Schrippen.)
Das ist hygienisch, aber nicht sehr schön.
Ich sah das Fruchtgelée auf deinen Lippen
Und sah dich Butterbrot in Kaffee stippen –
Und sowas kann ich auf den Tod nicht sehn!

Ich zog mich an. Du prüftest meine Beine.
Es roch nach längst getrunkenem Kaffee.
Ich ging zur Tür. Mein Dienst begann um neune.
Mir ahnte viel –. Doch sagt ich nur das Eine:
"Nun ist es aber höchste Zeit! Ich geh..."