Sonntag, 7. Juli 2024

der rote Morgenmantel


Das ist der Oberstleutnant Pozzi im Jahr 1918, dem Jahr, in dem er sterben wird. Nicht an der Front, er kommandiert keine Truppen. Er ist Arzt und kommandiert die Lazarette in Paris. Er stirbt, weil ihn ein ehemaliger Patient erschiesst. Seine Beerdigung wird eine Art Staatsbegräbnis sein, der Dr Samuel Jean Pozzi war ein berühmter Mann. Julian Barnes hat sich den Lebenslauf von Dr Pozzi genommen, um damit in einer tour de force eine Kulturgeschichte (und Medizingeschichte) des ausgehenden 19. Jahrhundert zu entwerfen. Das Wikipedia Lexikon nennt sein Buch The Man in the red coat (Der Mann im roten Rock) einen Essay. Ist das das richtige Wort? Immerhin ist das Buch 263 Seiten lang. Mit Bildern. Wahrscheinlich sollte man eher von historiografischer Metafiktion reden, ein neuer Begriff, unter den Romane wie John Fowles' The French Lieutenant's Woman und Thomas Pynchons Mason & Dixon fallen, eine Vermischung von Roman und historischer Darstellung. Man könnte auch Barnes' wunderbares Buch Flaubert's Parrot dazu zählen.

Das Buch von Barnes über die Belle Époque hat seinen Namen von dem lebensgroßen Gemälde Dr Pozzi at Home von John Singer Sargent. Das Bild war schon in den Posts Eine Liebe von Swann und Stanley Olson zu sehen. Ich habe das Buch schon länger, habe es aber ganz langsam gelesen, weil ich viel dazugelernt habe. Jürgen Kanold schreibt in der Südwest Presse: Pozzi führte ein derart romanhaftes Leben, dass ein Schriftsteller nur eklektisch scheitern könnte an diesem Stoff. Barnes weiß das, er spielt damit, mit Fiktion und Wahrheit – erzählt aber nur Fakten. Die freilich so wunderlich erscheinen, dass man ihnen immer wieder verblüfft hinterhergoogelt. Da hat Kanold recht, ich habe auch viel gegoogelt. Nicht am Anfang, wenn es um Huysmans, Robert de Montesquiou-Fezensac und Oscar Wilde geht, da war ich zuhause. Bei Proust auch, das wissen Sie. Aber es gab viel zu lernen. Ich wusste nicht, dass Prousts Bruder Assistent von Professor Pozzi am Hôpital de Lourcine-Pascal war, und dass ein Gutachten von Pozzi Marcel Proust 1914 vor dem Kriegsdienst bewahrte.

Das Bild, das der junge John Singer Sargent malt (den Auftrag hatte ihm sein Lehrer Carolus-Duran vermittelt), wirft Rätsel auf, nicht nur die Geste der rechten Hand. Wenn Anders Zorn den schwedischen König Gustav V. aufrecht stehend lebensgroß malt, dann ist das eine konventionelle Form. Könige und Staatsmänner werden so gemalt. Wenn Sargent 1902 Lord Ribblesdale als arroganten Dandy malt, dann ist das auch noch konventionell. Ebenso wie Edvard Munchs Bild von Harry Graf Kessler. Aber warum lässt sich ein Gynäkologe, noch nicht einmal korrekt gekleidet, im intimen Boudoir so malen? Hat ihn Sargent, der in der Kunstwelt noch kaum bekannt war, dazu überredet? Damit das Bild ein kleiner Skandal oder ein großer Gesprächsststoff wurde? Dr Pozzi wird das Bild in seiner Wohnung in der Dunkelheit lassen, seine Nachkommen werden es mit Tüchern verhängen. Die Wikipedia hat zu Dr Pozzi at Home einen informativen Artikel, und ich kann hier noch eine Interpretation des Bildes von der Kunsthistorikerin Susanne Neuburger anbieten. Für den Rest müssen Sie schon das Buch von Julian Barnes lesen. Sie können hier bei Google Books schon damit anfangen.

Auf diesem Photo von Nadar trägt der Dr Pozzi kein rotes dressing gown, sondern so etwas wie einen Morning Coat, korrekt den Zylinder in der Hand. So sah Marcel Proust auch aus, als er die Vermeer Ausstellung besuchte. Das Bild von Proust findet sich in dem Post Morning Coat, ein Post, den ich gerne erwähne. Weil er laut Statistik 25.930 mal angeklickt wurde. Julian Barnes hatte das Bild von Sargent im Jahre 2015 in London gesehen; das war das erste Mal, dass das im Familienbesitz befindliche Bild einer größeren Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Barnes schrieb sein Buch ein Jahr vor dem Brexit, den er Britain's deluded, masochistic departure from the European Union nennt. Er zitierte dazu eine Maxime von Dr Samuel Pozzi: Chauvinismus ist eine Erscheinungsform der Ignoranz. Es liegt eine gewisse Trauer über sein Heimatland in dem Nachwort von Julian Barnes. Aber es gibt Hoffnung für das dahinsiechende Königreich. Auch wenn die neue englische Regierung den Brexit nicht rückgängig macht, das England des Boris Johnson ist endgültig vorbei. 

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