Dienstag, 28. Februar 2017

Niedergang


Stelle dir nemlich vor, daß es einen derartigen Schiffs-Eigner, sei es vieler Schiffe, oder sei es eines einzigen, gebe, welcher an Größe und Stärke alle im Schiffe befindlichen übertrifft, aber halbtaub und in gleicher Weise kurzsichtig ist und eine diesen Eigenschaften entsprechende Einsicht in das Seewesen hat, hiebei aber die Bootsleute unter sich betreffs der Lenkung des Schiffes im Zwiespalte seien, indem jeder derselben Steuermann sein zu müssen glaubt, welcher weder jemals diese Kunst gelernt hat, noch auch irgend einen Lehrer in derselben, oder eine Zeit, wann er sie gelernt habe, aufweisen kann, und noch dazu Alle behaupten, sie könne gar nicht gelehrt werden, und gleich zur Hand sind, jenen, welcher sie als eine lehrbare bezeichnet, in Stücke zu hauen, sie selbst aber den Schiffseigner immer mit Bitten und allem Uebrigen umlagern, damit er ihnen das Steuerruder anvertraue, und zuweilen, wenn nicht sie, sondern etwa irgend Andere dieses durchsetzen, sie dann diese Anderen tödten oder aus dem Schiffe werfen, jenen köstlichen Schiffseigner aber durch einen Schlaftrunk oder durch Weingenuß oder durch irgend ein anderes Mittel in Fesseln schlagen und die Herrschaft über das Schiff den Mitsegelnden überlassen und trinkend und schwelgend eben dahinfahren, wie es von Derartigen zu erwarten ist, dabei aber als Seemann und als befähigt zur Führung des Steuerruders und als Schiffskundigen überhaupt denjenigen bezeichnen und lobpreisen, welcher gewandt ist, Hand mit anzulegen, damit sie entweder durch Ueberredung oder durch Bewältigung des Schiffs-Eigners die Herrschaft ausüben, und denjenigen, der dieß nicht kann, als einen Unbrauchbaren tadeln, betreffs des wahrhaften Steuermannes aber nicht einmal eine Ahnung davon haben, daß er nothwendig seine Sorgfalt auf das Jahr und seine Zeiten und auf den Himmel und seine Gestirne und auf die Winde und überhaupt auf Alles zu jener Kunst Gehörige richten muß, woferne er in Wirklichkeit ein Herrscher des Schiffes sein soll, sondern es sogar für eine Unmöglichkeit halten, daß man betreffs der Art und Weise der Lenkung, mag dieselbe Einigen erwünscht sein oder nicht, irgend eine Kunst und regelrechte Uebung zugleich neben der eigentlichen Steuermannskunst erreichen könne. 

Ich weiß, das ist ein wenig umständlich und vertrackt, kein Punkt, kein Absatz. Es ist Plato über den Staat in der Übersetzung von Carl von Prantl. Man muss es vielleicht zweimal lesen. Der Herr, den die Möbelpacker (der wunderbare Cartoon stammt von ➱Clay Bennett) hier beliefern, kann es zehnmal lesen, er wird es nicht verstehen. Der Text über Schiffseigner ist eigentlich recht aktuell, und damit meine ich jetzt nicht den ➱Herrn Kortüm. Ich will darauf hinaus, dass man den Staat als Schiff sehen kann. Diese Metapher brauche ich gleich. Plato versteht viel von der griechischen ➱Mentalität, wenn er von einem Schiffs-Eigner, sei es vieler Schiffe, oder sei es eines einzigen spricht - er ahnt die Herren Niarchos und Onassis schon voraus.

Ich habe da diesen schönen Cartoon gefunden, mit dem wir wieder beim Schiff des Staates sind. Der Schiffseigner, der halbtaub und in gleicher Weise kurzsichtig ist, ist auch zu sehen, es ist der Herr mit den gelben Haaren. Die politische Karikatur kann ja viel, wenn Sie sich vielleicht noch einmal den Cartoon ➱The White Man's Burden in dem Post ➱Yellow Press anschauen, da sagt ein Bild auch noch nach hundert Jahren mehr als tausend Worte. Dieser Cartoon von dem englischen Karikaturisten Martin Rowson ist ganz frisch, vierzehn Tage alt. Er zeigt Michael Flynn, den ehemaligen Sicherheitsberater des amerikanischen Präsidenten, wie er das Staatsschiff verlässt. Er geht einen Niedergang hinunter, das ist ein nautisches Wort für diese Treppe. Der Niedergang, den Flynn benutzt ist aber auch sein Niedergang. Oben warten neben einem Schild, auf dem Line for Trump Dump steht, unsere alternative facts Kellyanne und Sean Spicer. Die werden wohl als nächste von Bord gehen, jene Bootsleute, die selbst aber den Schiffseigner immer mit Bitten und allem Uebrigen umlagern, damit er ihnen das Steuerruder anvertraue.

Neben der Signatur von Martin Rowson steht after Tenniel auf dem Cartoon. Diesen John Tenniel, der am 28. Februar 1820 geboren wurde, kennen wir, er ist der Zeichner, der mit leichter Hand ➱Alice in Wonderland illustriert hat (Sie können das Buch hier im ➱Volltext lesen). Wobei man vielleicht sagen sollte, dass die Zusammenarbeit zwischen Lewis Carroll und John Tenniel nicht immer einfach war. Ich lasse Lewis Carroll, dieses Genie, diesen verklemmten Spinner, heute mal einfach weg. Er hat schon genügend Platz in diesem Blog in den Posts ➱Go ask Alice, ➱Charles Lutwidge Dodgson und ➱Alice bekommen.

Wir bleiben noch einen Augenblick bei John Tenniel, den die Königin ➱Victoria 1883 zum Ritter geschlagen hat. Er war der erste englische Cartoonist, der es soweit gebracht hatte. George III, der die ständige Zielscheibe der politischen Karikatur war, wäre wohl kaum auf die Idee gekommen, die Herren ➱Gillray, ➱Rowlandson oder ➱Cruikshank zu adeln. John Tenniels Kollegen beim Punch nahmen das mit Befriedigung auf, endlich war ihr Berufsstand reputierlich geworden. Es ist der Königin nicht furchtbar schwergefallen, Tenniel zum Ritter zu schlagen, denn der ➱Punch behandelte die Monarchin mit ➱Samthandschuhen.

Dies ist der wohl berühmteste Cartoon von Sir John. Dropping the Pilot erschien im März 1890 im Punch, da war Bismarck gerade als Kanzler zurückgetreten, weil er sich mit Wilhelm II nicht verstand. Im Deutschen hat die Zeichnung den Titel ➱Der Lotse geht von Bord, was etwas ganz anderes als der englische Titel ist: Während die deutsche Version so etwas wie einen freiwilligen Rückzug Bismarcks aus seinen politischen Ämtern signalisiert, deutet die englische Fassung zu Recht an, dass der Lotse weggeschickt wird, weil der Kapitän (Wilhelm II.) ihn an Bord nicht mehr haben will, da er selbst das Kommando zu übernehmen gedenkt. Die Metaphorik des Bildes ist mit Händen zu greifen: das Schiff als das Deutsche Reich; das Meer als das Feld der Politik, auf dem sich Deutschland behaupten muss; der Lotse als die Person, von der der Kurs und die Sicherheit des Staates abhängen.

Es ist ein Cartoon, der in seiner Struktur immer wieder verwendet worden ist. Martin Rowson, der Michael Flynn von Bord gehen lässt (wobei dort statt des Ruderboots ein sowjetisches U-Boot liegt), ist nicht der erste, dem das eingefallen ist. Der unbekannte Zeichner des Titelbilds des Spiegel auch nicht. 1990 veranstaltete das Wilhelm Busch Museum in Hannover die Ausstellung Der Lotse geht von Bord: zum 100. Geburtstag der weltberühmten Karikatur, da konnte man viele Varianten sehen. Den Katalog kann man noch finden, er ist aber teurer als dieses Exemplar vom Spiegel, das auch schon Sammlerwert hat.  Ob der ➱Steinbrück, der nicht von Bord, sondern an Bord geht, auch etwas wert ist, weiß ich nicht. Hat das Schiff des Staates davon profitiert, dass der Lotse Steinbrück an Bord gehen wollte? Ich zitiere da lieber zum Schluss noch einmal den Satz des Petronius, den ich schon in dem Post ➱Andrea Doria gebrauchte: Si bene calculum ponas, ubique naufragium est.

Samstag, 25. Februar 2017

Theaterschlacht


Auf der Bühne liegen schon einige Tote, im Zuschauerraum prügeln sich die Lebendigen. Die auf der Bühne des Théâtre Français sind natürlich nicht tot, es sind nur Schauspieler in einem Stück namens Hernani ou l'honneur castillan von Victor Hugo. In Tragödien liegen am Schluß immer welche auf der Bühne herum, denken Sie nur an Hamlet. Oder an diese wunderbaren Jakobäischen Rachetragödien. Alles, was in der Shakespearezeit geschrieben wurde, kann man heute noch lesen. Tragödien aus dem 19. Jahrhundert sind in den meisten Fällen furchtbar langweilig. Wir nehmen ➱Georg Büchner (der auch zwei ➱Dramen von Victor Hugo übersetzte) da mal aus. Ich denke bei langweiligen Dramen an Autoren wie Friedrich Hebbel. Können Sie sich vorstellen, zwei Abende zu opfern, um ➱Die Nibelungen zu sehen?

Die Schauspieler bei der Premiere von Hernani, insbesonders die berühmte Mademoiselle Mars (Bild), sind glücklich, dass die ganze Sache zu Ende ist, und sie auf der Bühne liegen dürfen. Mademoiselle Mars hatte große Schwierigkeiten mit dem Satzbau von Victor Hugo. Und dann ist da noch der fehlende Humor. In der programmatischen ➱Vorrede zu Cromwell hatte Hugo die Vermischung von Tragik und Komik gefordert. Hat sich aber nicht an seine Forderungen gehalten. In Shakespeares Tragödien ist immer ein wenig Witz und Humor, ein wenig comic relief. Das können die Engländer besser als die Deutschen. Victor Hugo hat (ebenso wie Friedrich Hebbel) überhaupt keinen Humor. Das beklagte schon Henry James: the absence of this quality is certainly Victor Hugo's great defect. Stendhal hatte für da 1823 für die Romantiker nur ein Les romantiques ne conseillent à personne d'imiter directement les drames de Shakespeare übrig. Da bleiben wir doch lieber bei den Engländern. Die können auch ihre Klassiker auf die Schippe nehmen, ich zitiere dazu einmal Spike Milligan (den Prince Charles sehr mag, er hatte ihn sogar zu seiner ➱Hochzeit eingeladen):

Said Hamlet to Ophelia,
I'll draw a sketch of thee,
What kind of pencil shall I use?
2B or not 2B?


Das Bild im ersten Absatz zeigt wie dieses Bild hier die Bataille d'Hernani. Mit den ➱Worten25 février 1830 ! Cette date reste écrite dans le fond de notre passé en caractères flamboyants : la date de la première représentation d’Hernani! Cette soirée décida de notre vie! beginnt Théophile Gautier seinen Bericht über die Theaterschlacht. Denn in eine bataille artete die Uraufführung von Victor Hugos Drama Ernani aus. Es ist ein Kampf der Romantik gegen den erstarrten Klassizismus.

Noch einmal Théophile Gautier, der mit seinem ➱roten Wams (so etwas trägt man im Théâtre Français natürlich nicht, da trägt man einen schwarzen ➱Frack) und seinen langen Haaren mittendrin in dem Getümmel ist: Le jeune poëte, avec sa fière audace et sa grandesse de génie, aimant mieux d’ailleurs la gloire que le succès, avait opiniâtrement refusé l’aide de ces cohortes stipendiées qui accompagnent les triomphes et soutiennent les déroutes. Les claqueurs ont leur goût comme les académiciens. Ils sont en général classiques. C’est à contre-cœur qu’ils eussent applaudi Victor Hugo: leurs hommes étaient alors Casimir Delavigne et Scribe, et l’auteur courait risque, si l’affaire tournait mal, d’être abandonné au plus fort de la bataille. On parlait de cabales, d’intrigues ténébreusement ourdies, de guet-apens presque, pour assassiner la pièce et en finir d’un seul coup avec la nouvelle École. Les haines littéraires sont encore plus féroces que les haines politiques, car elles font vibrer les fibres les plus chatouilleuses de l’amour-propre, et le triomphe de l’adversaire vous proclame imbécile. Aussi n’est-il pas de petites infamies et même de grandes que ne se permettent, en pareil cas, sans le moindre scrupule de conscience, les plus honnêtes gens du monde. 

Das rote Wams wird Gautier noch Jahrzehnte später tragen, so notiert Edmond de Goncourt in seinem ➱Tagebuch im Jahre 1870: Ihn selbst, den Gott, finde ich heute alt: heute abend hat er rote Augenlider, den ziegelfarbenen Teint, den ich bei Roqueplan gesehen habe, Bart und Haare sind zerzaust. Ein rotes Wams geht über die Aermel seiner Jacke, und ein weisses Halstuch ist unordentlich um seinen Hals geschlungen. Doch die wahre literarische Revolution des Jahres 1830 ist nicht Hernani ou l'honneur castillan. Die wahre Revolution kommt aus der Feder eines anderen: 1830 veröffentlichtlicht ➱Stendhal Le Rouge et le Noir. Ein Roman, der den Untertitel Chronique de 1830 hat. Das Theaterstück Hernani kommt (wie die ganze Gesellschaft dieser Zeit) in dem Roman vor. Und ein anderer französischer Autor, ➱Gustave Flaubert, läßt in seiner Komödie Le Candidat eine Figur sagen: Ah ! c'est que je suis de 1830, moi ! J'ai appris à lire dans Hernani, et j'aurai voulu être Lara! J'exècre toutes les lâchetés contemporaines, l'ordinaire de l'existence et l'ignominie des bonheurs faciles. Aber das ist eher ironisch.

Es ist immer schön, wenn im Zuschauerraum auch ein wenig Theater ist. Also, wenn da ein Herr ganz in Schwarz durch den Zuschauerraum kommt und den Zuschauern zuruft: Sie brauchen nicht länger zu warten, ich bin Godot. Meine Lieblingsgeschichte ist die vom großherzoglichen Oldenburgischen Theater (die kleine Geschichte ist wohl schon hundert Jahre alt). Da soll es Pferde auf der Bühne geben, auf jeden Fall erzählt man sich das in Westerstede so. Sofort beschließt eine Delegation von Bauern: Dat möt wi seihn! In Oldenburg wird Verdis Aida gespielt, da waren ja in anderen Teilen der Welt als Oldenburg schon mal Elefanten auf der Bühne. Unsere Bauerndelegation sitzt etwas verunsichert in der Oper, die Lichter verlöschen, die Ouvertüre beginnt. Und als die mal für einen Augenblick etwas leiser ist, ruft es aus der Dunkelheit des Saales: Nu hört mol up mit dat Gedudel und lot de Päär rut!

Victor Hugo hat wegen seines Hasses auf Napoléon le Petit viele Jahre außerhalb Frankreichs leben müssen, da war er im politischen Exil in Belgien und auf den englischen Kanalinseln. Die für ihn ein Stückchen Frankreich, ins Meer gefallen und von England aufgesammelt waren. In diesem Haus auf Guernsey hat er Les Misérables geschrieben. Habe ich nicht gelesen, ebensowenig wie ich Hernani ganz gelesen habe. Der exilierte Schriftststeller hat über die Kanalinseln gesagt:

Die Kanalinseln haben wie England eine Art Hierarchie. Es gibt dort Kasten, die ihre eigenen Ansichten haben und sich dadurch behaupten. Diese Kastenansichten sind überall diesselben, in Indien ebensogut wie in Deutschland. Adel erwirbt man durch das Schwert und verliert man durch Arbeit; man bewahrt ihn durch Müßiggang. Nichts tun heißt auf adelige Weise leben; wer nicht arbeitet, wird geehrt. Einen Beruf ausüben ist erniedrigend. In Frankreich bildeten früher nur die Glasfabrikanten eine Ausnahme. Flaschenleeren war gewissermassen der Ruhm eines Edelmanns, und Flaschenmachen entehrte ihn keineswegs. Wer in England oder auf den Kanalinseln adlig bleiben will, muß reich sein.

Wahrscheinlich gilt das heute noch immer, es ist ein Paradies für Millionäre und Steuerflüchtlinge. Der Herr hier ist bestimmt Millionär, wir kennen ihn als ➱Chief Inspector Barnaby, in der Serie, aus der dies Bild stammt, heißt er Jim Bergerac und ermittelt auf Jersey, diesem Stückchen Frankreich, ins Meer gefallen und von England aufgesammelt. John Nettles ist auf der Insel auch manchmal zu sehen, er hat über die ein Buch geschrieben, das nicht jedermann liebte: Jewels and Jackboots: Hitler’s British Channel Islands.

Als ich klein war, besaß ich diese schöne Briefmarke, da hätte ich schon gerne gewusst, wer dieser Hernani war. Computer waren noch nicht erfunden und das Lexikon sagte nur, dass es ein Drama von Victor Hugo war. Mich hätte damals das Schicksal dieses Hernani schon interessiert, aber niemand, den ich kannte, hatte ein Exemplar des Theaterstücks. Und so las ich mich erst einmal durch den Rest der ➱Weltliteratur. Kam irgendwann zu Balzac (diese hübschen kleinen blauen Rowohlt Bände) und dann zu Stendhal und Flaubert. Wenn man ➱Stendhal und ➱Flaubert gelesen hat, kann man nicht zu Victor Hugo zurück. Das stand schon 2015 in dem Post ➱Victor Hugo. Ich bin auch noch gerne bereit zu den Namen Balzac, Stendhal und Flaubert den Namen ➱Dumas hinzuzusetzen, aber da hört es dann auch auf.

Heinrich Heine hat Hugo gelobt, doch das war eine zweischneidige Sache. Denn nach dem Ja, Victor Hugo ist der größte Dichter Frankreichs folgt Bösartiges, und deshalb zitiere ich mal den ganzen Absatz aus ➱Über die Französische BühneJa, Victor Hugo ist der größte Dichter Frankreichs, und, was viel sagen will, er könnte sogar in Deutschland unter den Dichtern erster Klasse eine Stellung einnehmen. Er hat Phantasie und Gemüt und dazu einen Mangel an Takt, wie nie bei Franzosen, sondern nur bei uns Deutschen gefunden wird. Es fehlt seinem Geiste an Harmonie, und er ist voller geschmackloser Auswüchse, wie Grabbe und Jean Paul. Es fehlt ihm das schöne Maßhalten, welches wir bei den klassischen Schriftstellern bewundern. Seine Muse, trotz ihrer Herrlichkeit, ist mit einer gewissen deutschen Unbeholfenheit behaftet. Ich möchte dasselbe von seiner Muse behaupten, was man von den schönen Engländerinnen sagt: sie hat zwei linke Hände.

Dieser Herr ist Joseph Léopold Sigisbert Hugo‎. Er hat wenig Orden auf der Brust, der Brigadegeneral hat auch keine Schlachten gewonnen. Bei Waterloo war er nicht dabei. Sein Sohn Victor hat über ➱Waterloo ein ➱Gedicht geschrieben und hat die Schlacht in Les Misérables hinein geschrieben. Er mochte den Herzog von ➱Wellington ebenso wenig wie sein Vater und hat über den Briten gesagt: Bei Waterloo wurde eine Schlacht ersten Ranges geschlagen und von einem Feldherrn zweiten Ranges gewonnen. Die Franzosen lieben ihren Victor Hugo für solche Sätze. Der Vorname Victor bedeutet der Sieger, eine Schlacht hat der Sohn des Generals Hugo gewonnen: die Theaterschlacht am 25. Februar im Théâtre Français.

Aber es ist ein Scheinerfolg, die Herrschaft des Epos nähert sich ihrem Ende behauptete Hugo im Préface de Cromwell. Im Gegenteil, die Herrschaft des Dramas- klassizistisch oder romantisch - ist zu Ende. Nur die Boulevardkomödie von Scribe wird überleben. Weil der Boulevard immer überlebt. Aber als die führende literarische Form kommt jetzt der französische Roman: Le Rouge et le Noir, La Chartreuse de Parme und Madame Bovary. Die Theater behält man, man kann ja auch Opern darin spielen. Wie ➱Giuseppe Verdis Oper ➱Ernani

Donnerstag, 23. Februar 2017

Mordsee


Totenstill wurde es in der Kirche auf Finkenwärder. Regungslos saß die Gemeinde. In die Augen kam eine Dunkelheit wie von aufsteigenden Tränen.
     Denn die See nahm das Wort, die Nordsee, die Mordsee – mit ihren jagenden, zerrissenen Wolken, mit ihrem pfeifenden, brausenden Sturm, mit ihren haushohen, schäumenden, brüllenden Seen, mit Brand und Wetterleuchten, mit Dünung und Gewitter – mit geborstenen Segeln, gebrochenen Masten, blakenden Notfackeln, verlorenen Wracks und hilferufenden Fahrensleuten.
     Und es war niemand da, der nicht ihre Stimme vernommen hätte.


So steht es bei ▹Gorch Fock in ▹Seefahrt ist not! Mit solchen Texten, die von der See handelten, bin ich aufgewachsen, mit dem Schimmelreiter auch. Und mit Ottjen Alldag, der auf einer Eisscholle auf der Weser in Richtung Norsee treibt. Nordsee ist Mordsee, das ist ein Satz, der bleibt im Kopf. Wir wussten in unserem Kaff an der Weser, was Stürme waren. Mehrmals im Jahr stand die ▹Strandstraße unter Wasser, bei der ▹Flutkatastrophe 1962 war es höher als jemals zuvor, 5,35 Meter über Normalnull. Ich wollte in der Nacht noch meinen üblichen Weserspaziergang mit dem Hund machen, da stand das Wasser schon im ▹Stadtgarten. Ich bewunderte den blauschwarzen Nachthimmel und die fliegenden Wolken, die am Vollmond vorbeiwischten. Warum dem Schrecken nicht einen Augenblick der Schönheit abgewinnen? Ich wusste, dass man die Katastrophe nicht aufhalten konnte, Trutz, Blanke Hans ist nur eine Gedichtszeile, man kann dem Meer nicht trotzen. Das Wasser würde kommen, die Nordsee würde bis zum Weserwehr heraufschwappen. Und unser Direx würde in der Nacht in seinem überfluteten Wohnzimmer versuchen, die Abiarbeiten zu retten.

Stürme und Hochwasser hatten wir immer, aber an unserem Teil der Weser gab es keine großen Schiffsunglücke. Auf der Außenweser, da, wo die Nordsee anfängt, da schon. Manchmal schaffte es bei uns ein Kümo nicht, an der Weserbiegung vom ▹Schönebecker Sand die Kurve zu kriegen. Der landete dann auf unserer Weserseite auf dem Strand, da hätte man schon Hein duck di - da kommt'n Damper över'n Diek! sagen können. Der Kümo wurde dann bei der nächsten Flut unter dem Gelächter der Zuschauer von einem Schlepper wieder in die Fahrrinne gezogen.

In meiner Jugend war die Weser das, was für Huck Finn der Mississippi war. Wenn draußen keine Schiffe tuteten, konnte ich nicht einschlafen. Wenn ich frühmorgens die ▹genagelten Stiefel der Vulkanesen hörte, die in der Mitte der Weserstraße zu ihrer Werft marschierten, dann wusste ich, dass ich aufstehen musste. Wenn ich das Radio anmachte, las gerade eine Stimme vor, wo im Hafen noch Schauerleute gebraucht wurden. Danach kam Rudolf Kinau (der Bruder von Gorch Fock) mit Hör mal ’n beten to. Ohne Rudi Kinau konnte der Tag nicht anfangen. Ich las morgens in der Zeitung als erstes die Schiffahrtsnachrichten, an den Teil kam ich immer heran, der interessierte meinen Vater nicht. Würden große Pötte kommen? Die musste man sehen. Mein Vater interessierte sich nicht für den Schifffahrtsteil, weil ihm seine Patienten, die auf dem Vulkan, bei Lürssen oder Abeking & Rasmussen arbeiteten, alles erzählten, was man über die Schiffe auf der Weser wissen musste.

Aber wir kleinen Pökse, wir mussten an die Weser. Wir kannten John Masefields Gedicht I must go down to the seas again, to the lonely sea and the sky noch nicht, aber wir mussten an die Weser. Wir konnten die Heimatflaggen und die Reedereiflaggen lesen. Und wir waren Experten im Schätzen von Bruttoregistertonnen. Wir lagen, wenn es warm war, auf dem Anleger vom ▹Ruderverein und fingen kleine Aale mit der Hand. Der ▹Konny hatte immer mehr als ich. Wir warfen sie aber wieder in den Fluß. Heute ist die Weser so dreckig, dass man keinen Aal mehr darin sehen könnte. Der Anleger vom Ruderverein ist auch nicht mehr da. Der Ruderverein auch nicht. Wenn heute bei einem Kümo an der Weserbiegung die Steuerung versagt, dann landet der nicht sanft auf dem Sand. Dann kracht es in die neue Spundwand.

In meinem Heimatort schien jeder ein Kapitän zu sein, alle Männer trugen Elbsegler oder Prinz Heinrich Mützen. Viele standen den halben Tag am Anleger der Dampfer der Schreiber Reederei oder am ▹Utkiek und guckten auf das Wasser. So wie es Herman Melville im Kapitel ▹Loomings von Moby-Dick beschreibt: Look at the crowds of water gazers there ... Posted like silent sentinels all around the town, stand thousands upon thousands of mortal men fixed in ocean reveries. Dies ist nicht New York, dies ist eine kleine Hafenstadt an der Weser, mit ▹Heringsloggern, Werften und Segelmachern. Es sind auch keine tausende, die da stehen. Bestenfalls zwei Dutzend, aber auch sie haben ihre ocean reveries. Man könnte sie für Arbeitslose halten, die nichts mit sich anzufangen wissen, aber die meisten von ihnen sind wirklich zur See gefahren. Viele als Kapitän oder Steuermann. Sie haben alle diesen leeren Blick in die Ferne.

Ich weiß es noch genau, wie ich vor fünfzig Jahren auf dem Weg nach Hause war und auf der anderen Straßenseite Kapitän ▹Hugo Gottsmann sah. Er war nicht der Mann für einen Klönschnack, er redete eher wenig. Mit ▹Kapitän Biet konnte man stundenlang schnacken, mit Kapitän Gottsmann kaum. Der war nicht schlank und elegant wie Ernst Biet, den die Damen auf seinen schönen und großen Lloyddampfern vergötterten. Hugo Gottsmann war klein und knöterig. Aber er war ein Freund meiner Eltern, war mit meinem Vater in der ▹Freimaurerloge und hatte mir das Segeln beigebracht. Ich überquerte die Straße, um ihn zu begrüßen, überall lagen noch Zweige und Äste, die der Sturm in der Nacht zuvor heruntergefegt hatte. Der kleine Kapitän mit seinem grauen Tweedmantel guckte mich schweigend an und sagte dann: Die Adolph Bermpohl ist untergegangen. Ich wusste nicht, ob er weinte, er hatte immer diese leicht glasigen wasserblauen Augen.

Ich konnte das mit der Bermpohl nicht glauben. Das Schiff mit dem Namen des ▹Gründers der DGzRS war hier bei Abeking & Rasmussen gebaut worden, hier von der 21-jährigen Irmhild Schneider (einer geborenen Bermpohl) getauft worden. Und das Beiboot der Bermpohl hieß auch noch Vegesack. Es war, als hätte der Ort ein Stück Geschichte verloren. Kapitän Gottsmann hatte alle Ozeane gesehen, er war als Kapitän eines Segelschiffs um Kap Hoorn gesegelt, er knüppelte für A&R noch im Alter von über achtzig jedes Jahr eine Luxusyacht über der Atlantik (dafür spendierte ihm die Werft acht oder zehn Mann Besatzung), aber die Sache mit der Adolph Bermpohl  nahm ihm den Atem. Die unsinkbare Adolph Bermpohl untergegangen. Nordsee ist Mordsee.

Am 23. Februar 1967 haben in einem Orkan vor Helgoland der Vormann Paul Denker und drei Rettungsmänner der Adolph Bermpohl den Tod gefunden. Auch die drei Holländer im Beiboot Vegesack, die die Bermpohl kurz zuvor gerettet hatte, starben. Denn die See nahm das Wort, die Nordsee, die Mordsee – mit ihren jagenden, zerrissenen Wolken, mit ihrem pfeifenden, brausenden Sturm, mit ihren haushohen, schäumenden, brüllenden Seen, mit Brand und Wetterleuchten, mit Dünung und Gewitter – mit geborstenen Segeln, gebrochenen Masten, blakenden Notfackeln, verlorenen Wracks und hilferufenden Fahrensleuten.

War es ein Kaventsmann, eine Grundsee? Die ▹Unglücksursache wurde nie geklärt. Der Seenotkreuzer wurde einen Tag später gefunden, er war zwar schwer zerstört, aber wirklich unsinkbar. Den Orkan, bei dem achtzig Seeleute in der Nordsee ertrunken sind, haben Meteorologen später den Adolph Bermpohl Orkan getauft. Man hatte am 23. Februar mit 14 Beaufort die höchsten Windstärken gemessen, die jemals in der Nordsee gemessen wurden (ein normaler Orkan hat die Beaufort Stärke 12). An die vier Rettungsmänner der Adolph Bermpohl erinnerten später noch die Namen von vier Rettungskreuzern: Paul Denker, H.J. Kratschke, Otto Schülke und G. Kuchenbecker.

Denken wir mal einen Augenblick an sie.


Mittwoch, 22. Februar 2017

Russen


Zur Wiedereröffnung der Kunsthalle im Juni 1986 präsentierte der Kieler Kunsthallendirektor ➱Jens Christian Jensen aufsehenerregende Neuerwerbungen: Malerei des 19. Jahrhunderts aus Russland und Polen. Erworben aus der Sammlung Georg Schäfer, zu der Jensen im Ruhestand als Kurator wechselte. Berater war er in Schweinfurt schon lange. Die Kunsthalle Kiel war plötzlich das einzige öffentliche Museum in der Bundesrepublik, das russische Malerei besaß. Das ist ungewöhnlich, von der russischen Malerei des 19. Jahrhunderts weiß man ja meistens nicht so viel, von der russischen Literatur schon.

Ich hatte mal eine Phase, in der ich nur russische Literatur gelesen habe, von Gontscharow bis Lermontow (obgleich ich lange brauchte, bis ich ➱Krieg und Frieden las), aber von der russischen Malerei wusste ich nichts. ➱Friedrich Hübner schon, aber der ist Slavist. Ist mit einer Kunsthistorikerin verheiratet und hat die Wohnung voller Kunst der Düsseldorfer Schule. Dass wir in Kiel plötzlich so viele Russen hatten, ist natürlich irgendwie passend, denn hier oben haben sich auch der Zar Peter und ➱Katherina kennengelernt.

Friedrich Hübner hat später auch noch Delegationen von russischen Kunsthistorikern durch die Säle der Kunsthalle geführt. Die wollten gerne wissen, wo und wie die Bilder ihrer Maler in diesen Räumen hingen. Was Friedrich Hübner dabei mit den Nachfolgern von Jens Christian Jensen erlebte, kann ich leider nicht weitergeben, sonst lacht ganz Deutschland über die Direktoren. Würde ich einen Roman schreiben, dann kämen sie natürlich hinein. Das ist das Problem beim Bloggen, man bekommt wunderbare Geschichten erzählt, aber man kann sie nicht verwenden Zwischen SILVAE und der Gala sind doch noch Unterschiede, auch wenn ich ziemlich geschwätzig bin.

Ich stelle mal eben das hierhin, was ich in dem Nachruf für Jens Christian Jensen über seine Nachfolger gesagt habe: Jensen bringt die Kieler Kunsthalle in kürzester Zeit in die Champions League, um es salopp auszudrücken. Sein Nachfolger wird sie in kürzester Zeit in die Bezirksliga führen. Wenn der geht und man denkt, es kann nichts Schlimmeres kommen, wird man eines Besseren belehrt werden. Gewiss ist es ungerecht, diese beiden Herren (die ungenannt bleiben sollen) an den Paulis, ➱Lichtwarks und ➱von Bodes messen zu wollen, aber es finden sich für sie in der Bundesrepublik auch keine Vergleichsgrößen. Wobei Größe eigentlich das falsche Wort ist. Jens Christian Jensen hat mir kurz vor seinem Tod geschrieben, dass er sehr, sehr unglücklich über seine beiden Nachfolger war.

1986 habe ich in einer inzwischen untergegangenen Universitätszeitung etwas über die großartige Leistung der Architekten des Neubaus geschrieben. Und dabei en passant einige gehässige Bemerkungen über das Landesbauamt II gemacht, das so etwas nie hingekriegt hätte. Das Landesbauamt hat daraufhin einen halben Tag lang getagt und sich überlegt, ob man mich verklagen könnte (für so etwas haben die Zeit!). Das hat mir einer der Architekten des Erweiterungsbaus auf einer Party bei Volker erzählt. Er hat mir auch von den ➱Problemen mit seiner IWC erzählt, aber das mit dem Landesbauamt war natürlich viel interessanter.

Das Bild von Iwan Kramskoj im ersten Absatz oben ist berühmt, Sie haben das bestimmt schon auf einer Postkarte oder einem Buchumschlag gesehen (es ist auch auf dem ➱Cover der LP, wo Gert Westphal Anna Karenina liest). In dem Post ➱La Belle Inconnue findet sich einiges dazu, auch noch zu den anderen Russen, die in Kiel hängen.

Und da wird auch noch der Kommentar eines Lesers veröffentlicht, der natürlich aus der Feder von Friedrich Hübner stammt. Was Kiel leider nicht besitzt, das sind Bilder von dem russischen Maler Fjodor Wassiljew, der nach dem gregorianischen Kalender heute vor 167 Jahren geboren wurde. Er wurde, aus kleinen Verhältnissen kommend und ohne eine akademische Bildung, zu einem der bedeutendsten russischen Landschaftsmaler seiner Zeit. Hatte einen kurzen Höhepunkt und ist dann schon mit dreiundzwanzig Jahren an der Lungenschwindsucht gestorben.

Er hat den Himmel für uns entdeckt, soll der russische Maler Nikolai Ge gesagt haben. Nach einer anderen Quelle hat Ge nicht vom Himmel, sondern vom Nachthimmel gesprochen. Wenn wir dieses Nachtbild von St Petersburg betrachten, können wir das glauben. Man wagt sich gar nicht vorzustellen, was Wassiljew noch hätte malen können, hätte er länger gelebt. Der Artikel bei Wikipedia zu dem Maler ist ganze drei Zeilen lang, der englische Artikel ist sehr viel ausführlicher. Aber der deutsche Artikel hat einen Link zu einer ➱Seite, auf der man 135 Werke des Malers sehen kann (bei ➱Wikiart gibt es 119 Bilder). Das ist doch schon mal etwas. Alle Bilder heute, bis auf die schöne Unbekannte im ersten Absatz, sind von Fjodor Wassiljew.

In dem Post La Belle Inconnue habe ich ein Bild (das in Kiel hängt) von Iwan Schischkin abgebildet und besprochen. Und dieser Schiskin, der zu den ➱Peredwischniki, den russischen Wandermalern gehört, ist wichtig für Wassiljew. Der verliebt sich nämlich in Wassiljews Schwester und bringt, als er Wassiljews Talent entdeckt, dem jungen Mann die Grundlagen der Landschaftsmalerei bei. Stellt ihn auch den Malern Iwan Kramskoj und Ilya Repin (von dem die Kunsthalle Kiel drei ➱Bilder besitzt) vor und bereist mit ihm Rußland. Und - und das ist vielleicht noch wichtiger - er macht ihn mit dem Sammler Pawel Michailowitsch Tretjakow bekannt. Das ist der Mann, nach dem die Tretjakow Galerie ihren Namen hat.

Dieses Bild, das den Titel Tauwetter hat, war eins der ersten Bilder, das Tretjakow dem jungen Maler abkaufte. Da ist der Ruhm des jungen Mannes schon gemacht, ein Wunderkind wird man ihn nennen. Er wird den Ruhm nicht lange genießen können. Es ist eine erstaunliche Geschichte, da wird einer zum Maler, weil sich ein Maler in seine Schwester verliebt. Man könnte einen Roman daraus machen. So einen langen russischen Roman mit ganz vielen Personen, deren Namen man nicht richtig aussprechen kann.

Das Tauwetter oben hat nicht mit einem politischen Tauwetter zu tun, aber die Peredwischniki sind schon ein wenig revolutionär. Sie wenden sich gegen die Petersburger Akademie, wo das Studium bis zu fünfzehn Jahre dauerte und wo immer ein Polizist im Zeichensaal stand. Sie orientieren sich auch erst einmal nach Paris, weil sie wissen, dass in Frankreich eine neue Malerei begonnen hat. Und so haben ihre Bilder ein wenig von der Freiluftmalerei von Barbizon, haben ein wenig von dem ➱licht en lucht der Holländer, haben viel russische Weite und viel russische Seele.

Montag, 20. Februar 2017

skandinavische Mode


Könnten Sie nicht einmal über skandinavische Mode schreiben? wurde ich gefragt. Was halten Sie zum Beispiel von Oberhemden von Eton und Stenströms? Wir sind mit diesen Fragen bei der Herrenmode. Über die skandinavische Damenmode kann ich wenig sagen. Wo kauft die Königin Margrethe ein? Vielleicht trägt sie eins dieser Label, die nach Harper's Bazaar ganz heiß sind. Sie hat ja ihren eigenen ➱Stil, der über die ➱Jahre immer gewagter geworden ist, aber sie kann das tragen. Den modischen Mut von Margrethe wünschte man Angela Merkel auch mal. Als ich Margrethe zum ersten Mal sah, trug sie ein blaues Abendkleid, das war noch sehr konventionell. Wenn Sie die ganze Geschichte dazu lesen wollen, dann klicken Sie ➱Des Königs Jaguar an. Die Prinzessinnen in meinem Heimatort, also zum Beispiel meine Freundin ➱Gudrun, trugen damals Kleider von der finnischen Firma Marimekko, die wunderbare Farben und Muster hatten.

Das karierte Hemd, das da aus dem hellen Regenmantel hervorlugt, war in den sechziger Jahren mein Lieblingshemd (die etwas seltsame Handhaltung erklärt sich daraus, dass ich eine Hundeleine halte, an der unten ein Hund zerrt). Das Hemd kam von der schwedischen Firma Melka, die damals in Deutschland stark vertreten war und mit Sätzen wie Sie empfinden ein gutes Stück Schweden, frei leger und persönlichkeitsbetont warb. Das karierte Melka Hemd aus dickem Leinen besaß einen weißen Kragen und eine weiße Knopfleiste, das war damals außergewöhnlich. Ich habe es noch, es liegt irgendwo im Schrank, der schon ein kleines Modemuseum ist.

Melka bot damals auch viele Hemden aus Viyella an, einer Mischung aus Wolle und Baumwolle, Viyella war auch bei englischen Fabrikanten sehr beliebt. Denn in England war es kalt, eine gut funktionierende Zentralheizung war im England der fünfziger Jahre in Seltenheit. Türen, die bis zum Boden gingen auch. Sie kennen das aus ➱Agatha Christie Filmen, wo  kleine Botschaften (oder kleine Schlangen) da unten durch geschoben werden. In diesen Filmen tragen die Herren beinahe immer dicke Tweedanzüge mit Weste oder Pullunder. Cool Britannia hatte damals eine andere Bedeutung.

Ein Jahrzehnt später trug ich Hemden von der schwedischen Firma Stenströms, die einmal der größte Hemdenproduzent Schwedens war. Die hatte ➱Kelly im Angebot, mit vielen runden Kragen und ➱Piccadilly Kragen, die mit einer Nadel die Krawatte umschlossen. Eine University Line (Bild) gab es auch. Das war schon etwas anderes als die deutschen ➱Nyltest Hemden, die Produkte aus Bielefeld mit den furchtbar steifen Kragen, die die Hausfrauen noch stärkten. Oder die fürchterlichen Seidensticker Hemden mit der schwarzen Rose.

Ich habe immer noch Stenströms Hemden, habe mir mit der Zeit aus reiner Nostalgie immer wieder einmal eins gekauft. Die Baumwolle ist erstklassig, aber leider haben sie nicht mehr die tollen Kragen der siebziger Jahre. Die Firma Stenströms gibt es seit 1899, die Firma Eton ist dreißig Jahre jünger. Um die habe ich einen Bogen gemacht, weil die mir zu langweilig ist. Aber ➱Michael Rieckhof von der Firma Kelly's hat mir versichert, dass die Ehefrauen es lieben, wenn der Gatte sich ein Eton Hemd kauft. Weil man die so schön bügeln kann.

Ich bleibe mal in Schweden, nehme Sie mit in die Vergangenheit, als es in Schweden noch Linksverkehr gab. So etwas wie hier hatte ich auch einmal. Mein gelber Lamamantel kam von der schwedischen Firma Tiger. Die stellt heute Billigklamotten für junge Leute her, damals war sie etwas ganz anderes: Företaget, som tidigare hette "Tiger of Uddevalla", tillverkade förr endast herrkläder av klassiskt snitt, och målgruppen var på senare år främst äldre män. Mein Mantel (der schon in dem Post ➱Aimez-vous Brahms? erwähnt wird, kam aus dem Laden von Hans Kalich in Bremen, ein Geschäft, das es heute leider nicht mehr gibt, das damals aber modisch noch vor Herrenausstattern wie Charlie Hespen oder Stiesing rangierte.

Sie können hier sehen, dass die Firma ➱Tiger von Marcus Fredrik Schwartzman den schwedischen König belieferte, der heutige König würde bestimmt nicht mehr diese Marke tragen. Heute produziert Tiger Kleidung für junge Menschen, alles slimline, nichts mehr von der Qualität von damals. Wird auch nicht solange halten wie mein gelber Lamamantel. Zweireihige gelbe Kamelhaarmäntel waren in den sechziger Jahren chic, Karajan und Carlo Ponti trugen so etwas, und in ganz Deutschland konnte man billige Kopien dieses Klassikers sehen, den man im anglo-amerikanischen Bereich einen ➱Polo Coat nannte. Ich bin aus meinem königlichen Tiger Mantel herausgewachsen, heute habe ich einen Mantel von Caruso aus gelbem Loro Piana Doeskin, der nach viel Geld aussieht. War aber vor zehn Jahren bei ebay ganz billig.

Es kam noch mehr aus Schweden als der Hoflieferant Tiger of Sweden, zum Beispiel die Firma ESSGE, die sich King of Tailoring nannte und auch noch handmade auf ihre Etiketten schrieb. So etwas hatte ich mal in der Hand, war aber nicht toll. Sehr steife Einlagen, das konnte die deutsche Firma ➱Regent vor fünfzig Jahren besser. Die können allerdings bei allem Werbeaufwand immer noch nicht die Karos anpassen, was bei ESSGE ebenso war. Was ➱Caruso, Canali, ➱Nervesa und Pal Zileri mit links machen, das sollte man bei Regent auch mal irgendwann hinkriegen. Ich sollte noch den schwedischen Tuchfabrikanten Saxylle Kilsund erwähnen, die einen Stoff namens Dubbel Stretch herstellten. Es war ein Stoff, der für unkaputtbare Hosen sorgte.

So sah es in Kopenhagen in den sechziger Jahren aus. Ich habe das Photo aus dem Internet, aber meine Photos von Kopenhagen zeigen ganz ähnliche Bilder. Auf der Ströget habe ich 1960 einen eleganten dänischen Herren gesehen, der einen braunen Glencheckanzug mit einem braunen Bowler und einem braunen ➱Schirm komplettierte. Als ich mir meinen ersten englischen Schirm kaufen durfte, war das ein brauner Schirm, einen braunen Bowler (von Christie's) besitze ich auch. Mir fehlte zu meiner sartorialen Nostalgie nur noch der braune Glencheckanzug. Den sah ich eines Tages bei Charlie Hespen im Schaufenster, ich konnte ihn anprobieren, so lange ich wollte, er war leider zu klein. Es war ein Anzug von der dänischen Firma Hobson of Copenhagen, die bei Herrenausstattern in Norddeutschland damals gut vertreten war.

Und die natürlich Hoflieferant für das dänische Königshaus war, wie man diesem Etikett entnehmen kann. Die Firma exisitierte von 1952 bis 1985, dann kaufte die italienische Firma ➱d'Avenza den Namen. Die Firma aus Avenza war 1957 von Myron Ackerman gegründet worden. Er war der Sohn von Simon Ackerman, der die englische Firma Chester Barrie gegründet hatte, eine Firma, die ja heute leider nur noch ein Schatten ihrer selbst ist.

Die Firma ➱d'Avenza, die gerade einen Neuanfang gemacht hat, ist heute immer noch im Hochpreissegment tätig ist. Sie sollen auch die RTW Kleidung für große Namen (wie zum Beispiel ➱Battistoni) machen. Einer ihrer Klassiker ist das Forte Jacket (keine Angst, das ist nur innen eingestickt), ungefüttert, Blasebalgtaschen und ein kleiner Rückengürtel. Ich habe solch ein Teil, und ich liebe es. Ich weiß nicht, ob die Firma Hobson damals so etwas auch im Programm hatte. Das Forte Jacket ist ja nix als die Kopie eines englischen Sportjacketts aus den dreißiger Jahren - so wie Dänemark in den fünfziger und frühen sechziger Jahren eine kleine Kopie von England war: überall englische Autos und englische Tweedjacketts.

Es ist eigentlich die Frage, ob sie es sich leisten können, zu Hause zu bleiben, wenn die Dänische Herrenmode Messe während der Tage vom 4. bis 7. September die bedeutenden Kollektionen der dänischen Fabrikanten für das Frühjahr 1966 zeigt. So rührend naiv konnte man 1965 im Herrenjournal die dänische Mode bewerben. Die ersten Kopenhagener ➱ModemessenDansk Modeuge und Dansk Herremodeuge, waren 1958 abgehalten worden. Die Firma Christonette (die schon in dem Post ➱Overcoats vorkommt) bewarb ihre Mäntel mit Wenig teurer, viel besser und versprach: Christonette kreiert die Mantellinie der Zukunft. 

Die Werbung war damals noch nicht so aggressiv wie heute, damals genügte: Erzählen Sie dem Christonettehändler ihre Wünsche - robuster maskuliner Tweed oder Luxus. Probieren Sie andere Mäntel, bevor Sie einen Christonette kaufen. Ich brauchte damals nicht viele Mäntel anzuprobieren, ich fand meinen Christonette Mantel bei Kelly's im Ausverkauf. Der Mantel war hellgrau und war mit großen schwarzen und braunen Karos übersät, so etwas hatte niemand im Ort. Obgleich die Karos auffällig waren, so wie das Hobson Sakko weiter unten sah der Mantel natürlich nicht aus.

Christonette traute sich sogar auf den amerikanischen Markt und warb im New Yorker (wo sonst?) mit dem Text: Introducing Christonette of Copenhagen - not only protection, but fashion. Fully weather-proofed cotton trench coat, styled with that indefinable look of good taste - Christonette of Copenhagen. See it. Try it. Buy it - at Paul Stuart, New York and other fine stores. Irgendwann gab es keine Mäntel von Christonette mehr, da hatte Otto Aulbach aus ➱Miltenberg den Namen gekauft.

Amerika ist für die Europäer ein schwieriger Markt, aber dort kaufen die Herren vielleicht schon einmal so etwas. In England würde man den Stoff vielleicht als Pferdedecke verwenden. Dies ist ein Jackett der Firma Hobson of Copenhagen, das den Weg nach Amerika gefunden hatte. Solche wunderbaren Geschmacksverirrungen findet man heute manchmal in Second Hand Läden oder bei ebay. Ich glaube nicht, dass man so etwas in Dänemark hätte verkaufen können. Obgleich der Prinz Henrik, der ja einen sehr exzentrischen Geschmack hat, das vielleicht getragen hätte. In den siebziger Jahren habe ich auch immer großkarierte Jacketts getragen, natürlich nicht so große Karos wie Peter Frankenfeld. Und auch nicht wie dieser ➱Gauland. Aber stilvolle, großkarierte Jacketts. Als der Geschäftsführende Direktor des Instituts mich am Anfang des Semesters den neuen Studenten einmal als Jay, den Sie immer an seinen Jacketts erkennen, vorstellte, habe ich damit aufgehört.

Elegante Damenmode kommt immer noch aus Dänemark, hier ein Modell von Baum und Pferdgarten. Wenn die dänische Königin keinen Schneider oder eine Schneiderin hätte (einen Teil ihrer Garderobe entwirft sie selbst), könnte sie in Kopenhagen sicherlich Dinge finden, die ihr gefallen. Wir müssen dabei immer bedenken, dass die Königin (im Gegensatz zu Frau Merkel) nicht nur ein modisches Gespür hat, sondern dass sie neben ihren eigenen Kleidern auch Kostüme für die Kopenhagener ➱Oper entwirft.

Ob Prinz Henrik dänische Kleidung trägt, weiß ich nicht (zeitweilig hatte er einen Schneider in Hong Kong, wo er damals studierte). Der französische Graf hatte ja immer Schwierigkeiten, sich an die Dänen anzupassen: Wenige Monate nach meiner Ankunft wurde alles, was ich tat, kritisiert. Mein Dänisch war schwankend, ich bevorzugte Wein statt Bier, Seidenstrümpfe statt Stricksocken, Citroën statt Volvo, Tennis statt Fußball. Selbst für die Gauloises, die ich anstelle von Virginia-Tabak rauchte und die hierzulande den Ruf hatten, die Marke gesellschaftskritischer Intellektueller zu sein, konnte ich nicht auf Nachsicht hoffen. Ich war anders. Ich schien mit dieser Position zufrieden zu sein und mich nicht zu schämen. Das waren gleich zwei Fehler! Wir sehen Henrik hier, noch rank und schlank, mit der Prinzessin Margrethe und seinem ➱Citroen.

Die Textilwirtschaft und die Bekleidungsindustrie trugen erheblich zu Dänemarks Wirtschaft bei, es gab 1961 beinahe tausend Textilbetriebe. Die im übrigen mehr erwirtschafteten als die 748 Betriebe der dänischen Möbelindustrie, die immer Dänemarks Vorzeigeindustrie war. Damals wurden in der Bekleidungsindustrie keine schlechten Löhne gezahlt (an eine Verlagerung nach Asien dachte noch niemand), laut Wirtschaftsstatistik des Jahres 1959 lagen die Löhne für die Textilindustrie im oberen Viertel der Lohnskala.

Es geht der dänischem Bekleidungsindustrie auch heute gar nicht so schlecht. 2015 verbuchte die dänische Bekleidungsindustrie neue Rekorde: der Gesamtumsatz dänischer Firmen stieg gegenüber dem Vorjahr um 5,0 Prozent auf 42,2 Milliarden Dänische Kronen (5,68 Milliarden Euro). Der Umsatzzuwachs von H+M ist natürlich größer, mit Billigklamotten ist viel Geld zu machen. Was heute aus Skandinavien kommt (H+M, Dressman, J. Lindeberg, Scandic, Gant - you name them), ist - mit der Ausnahme von Stenströms und Eton - nicht auf dem Niveau von Tiger of Sweden der sechziger Jahre, von Hobson und Christonette. Und von der Firma Winkler's Mayfair of Copenhagen, von der ich drei rattenscharfe Flanellhosen hatte, habe ich auch nie wieder gehört. Modegeschichte ist Nostalgie, aber eins bleibt: der Qualitätsverfall ist leider überall zu finden. Davon, wie vom Wandel der Mode, bleibt diese junge ➱Dame in Kopenhagen natürlich unberührt.


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