Mittwoch, 31. Oktober 2012
Jan Vermeer
Heute vor 380 Jahren wurde Jan Vermeer in Delft getauft. Er ist einer der bekanntesten und beliebtesten holländischen Maler, und dennoch wissen wir sehr wenig über ihn. Man ist sich nicht einmal sicher, wie viele ➯Bilder er gemalt hat. Dreiunddreißig? ➯Siebenunddreißig? Vor einigen Jahren hat ein Amerikaner namens Benjamin Binstock in seinem Buch Vermeer's Family Secrets die These aufgestellt, dass ein großer Teil seines Werkes von seiner Tochter gemalt sei. Wenn dem so ist, dann konnte sie besser malen als der Vermeer Fälscher Han van Megeeren, der sogar Hermann Göring einen gefälschten Vermeer andrehte. Immer wieder hat die stille Kunst Vermeers Dichter und Schriftsteller herausgefordert: ➯Proust, der ihn in Die Suche nach der verlorenen Zeit hineinschrieb, ist vielleicht der berühmteste. Zu diesem Bild eines unbekannten Mädchens mit einem Perlenohrring gibt es inzwischen sogar einen Film, dessen Handlung aber nicht mit dem wirklichen Leben Vermeers verwechselt werden sollte.
Ich bleibe noch einen Augenblick bei dem ➯Kunstfreund Hermann Göring. Der hatte 1939 dem Hamburger Unternehmer Philipp Reemtsma die Genehmigung erteilt, das Bild, das heute Die Malkunst heißt (früher hieß es lange Zeit Der Maler im Atelier oder Modell und Maler), von dem österreichischen Grafen Jaromir Czernin zu kaufen und hatte telegraphisch das Ausfuhrverbot für das Kunstwerk aufgehoben. Göring und Reemtsma kannten sich gut, sie waren ständig geschäftlich miteinander verbandelt. Nach dem Krieg wurde dem Nazi-Profiteur Reemtsma wegen Bestechung und Anstiftung zur Rechtsbeugung der ➯Prozess gemacht, mehr als sieben Millionen Reichsmark soll er an seinen Fliegerkameraden Göring gezahlt haben. Aus dem Verkauf des Bildes an Reemtsma ist nichts geworden, Hitlers Reichskanzlei meldete Vorbehalte an.
Das Bild hatte sich bis zum Tode Vermeers in seinem Besitz befunden. Wie viele Bilder anderer Maler, mit denen Vermeer ziemlich erfolglos zu handeln versuchte. Man weiß nicht, ob er es als Schaustück behalten hat, oder ob er es nicht verkaufen konnte. Das Bild wird in einer Auflistung seiner Frau Catharina Bolnes als een stuck schilderie ... waerin wert uytgeheelt de Schilderkonst bezeichnet. Die behauptet zwar, dass ihr das Bild nicht gehöre, weil sie es an die Schwiegermutter des Malers Maria Thins verkauft habe, aber auf solche Schutzbehauptungen lässt sich der Nachlassverwalter und Freund Vermeers, der berühmte Antoni van Leuwenhoeck, nicht ein. Der Vermeer wird verkauft. Er ist auch bald kein Vermeer mehr, weil den niemand mehr kennt - und weil niemand Geld für einen Vermeer bezahlt. Das Bild wird zu einem Pieter de Hooch umfrisiert. Bekommt auch eine schöne neue Signatur. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird es als Vermeer erkannt und anerkannt. Zwanzig Jahre nachdem der Direktor der Berliner Galerie Gustav Friedrich von Waagen das Bild als echten Vermeer identifiziert hatte, wird das Bild von dem Mädchen mit dem Perlenohrring bei einer Auktion in Holland für zwei Gulden verkauft. Vermeer hat noch keine Konjunktur.
Als Waagen - gleichzeitig mit Théophile Thoré - 1860 das Bild identifiziert, ist es das Prunkstück der Sammlung des böhmischen Grafen Johann Rudolf Chernin von und zu Chudenitz (1757-1845), der kurz vor seinem Tod in seinem Wiener Palast eine eindrucksvolle Gemäldegalerie eingerichtet hatte; die sogar, wenn auch in begrenztem Masse, der Öffentlichkeit zugänglich war. Czernin hatte den angeblichen de Hooch 1813 aus der Sammlung des Baron Gottfried van Swieten (ja, das ist der Förderer von Mozart, Haydn und Beethoven) gekauft, es kann sein, dass das Bild schon zuvor dessen Vater Gerard gehört hatte. Bezahlt hatte Czernin damals fünfzig Gulden. Nach dem Tod des ehemaligen Außenministers Ottokar Czernin (1857–1932) gehen die Erben an das Zerstückeln der Sammlung.
Die beiden Haupterben Eugen Czernin (1892–1955) und sein Neffe Jaromir Czernin (1908–1966) einigen sich 1933 bei der Verteilung der Latifundien in der Tschechoslowakei und in Österreich und bei der Aufteilung des Kunstbesitzes. Der Vermeer wird mittlerweile auf eine Million Schilling geschätzt, der gesamte Rest der Sammlung (hervorragende Bilder von ➯Tizian und ➯Dürer eingeschlossen) auf nicht einmal ein Viertel dieser Summe. Jaromir Czernin erbt vier Fünftel des Vermeers, er möchte ihn sofort verkaufen. Angeblich hat er ein Angebot von einer Million Golddollar von ➯Andrew W. Mellon. Wenn da nur dieses Ausfuhrverbot für Kunstwerke nicht wäre, dass es seit 1923 gibt! Aber als Kurt Schuschnigg durch seine zweite Ehe sein Schwager wird, hat Czernin die Hoffnung, dass der das Ausfuhrverbot kippen könnte. Doch kurze Zeit später marschieren die Nazis ein, und Schussnigg ist Gefangener der Gestapo. Glücklicherweise meldet sich just in diesem Moment, in dem die Verkaufsverhandlungen mit Philipp Reemtsma gescheitert sind, ein uneigennütziger Landsmann, der bereit ist, mehr als anderthalb Millionen Reichsmark für das Bild zu bezahlen. Und auch noch die Steuern in Höhe von 500.000 Mark zu tragen.
Sie ahnen schon, wer dieser österreichische ➯Kunstfreund ist. Ich bitte, meinen aufrichtigsten Dank entgegennehmen zu wollen. Mit dem Wunsche, das Bild möge Ihnen, mein Führer, stets Freude bereiten, schrieb Graf Czernin 1940 an den neuen Besitzer. Na ja, so lange währt die Freude von dem gescheiterten Kunstmaler an dem Bild von der Malkunst nicht, das die Nummer 1096 in der Führersammlung hatte. Im Herbst 1945 stellt Graf Czernin seinen ersten Antrag auf Restitution, er sei zu dem Verkauf zu einem viel zu niedrigen Preis gezwungen worden. Im Januar 1946 wird dieser Antrag zurückgewiesen, auch zwei weitere Versuche von Czernin, das Bild zurückzubekommen (oder mehr Geld zu bekommen), scheitern. 2009 werden seine Erben noch einmal einen ➯Versuch machen, sich als Opfer des Nationalsozialismus darzustellen, aber es wird - trotz eines international großen Echos - nichts bringen. Das Bild bleibt im Besitz Österreichs. Eugen Czernin hat wahrscheinlich völlig unspektakulär das bessere Geschäft gemacht, er hat Anfang der fünfziger Jahre den geerbten Dürer, den Tizian und einen anonymen holländischen ➯Meister an die Sammlung Samuel H. Kress verkauft.
Die junge Dame im Hintergrund von Vermeers Bild lächelt seit Jahrhunderten stillvergnügt vor sich hin (nun gut: auf diesen beiden postmodernen Werken von Sophie Matisse und Gerhard Gutruf lächelt sie nicht, weil sie gar nicht im Bild ist). Der Trubel, der durch die Betrachter vor dem Bild ist, stört sie nicht. Was würde Vermeer zu diesen Bildern einer ➯Wiener Ausstellung sagen? Die Landkarte von Holland hinten an der Wand ist inzwischen veraltet. Für die Invasion Hollands konnte Hitler sie nicht gebrauchen. Beeinflusst es unsere Sicht des Bildes, wenn wir daran denken, dass es einmal Adolf Hitler gehört hat? Warum wollte er unbedingt dies Bild haben? Für kein Kunstwerk hat der verhinderte Kunstmaler Hitler mehr gezahlt, als für diesen Vermeer. Wo immer das Geld herkam. Den nächsten Vermeer in seiner Sammlung, ➯De astronoom, hat er nicht bezahlt, den hat er in Paris einfach klauen lassen. Aber der Baron de Rothschild, dem er gehörte, hat ihn nach dem Krieg zurückerhalten. Viele enteignete Besitzer von Kunstwerken haben nicht dieses Glück.
Wahrscheinlich spielen künstlerische Erwägungen bei dem Banausen Hitler keine Rolle; es ging ihm nur den finanziellen Wert des Bildes von der Malkunst, denn wie schon Martin Borman wusste: An sich hat dieses beste Bild des Vermeer einen internationalen Wert, der weit über den bewilligten Preis hinausgeht. Es geht wie bei vielen Kunstverkäufen um Geld, nicht um den Kunstgenuss. Einen Satz wie 'Der Maler in seinem Atelier' in Wien. Wie gern hätte ich dieses Bild gesehen! hat man von Hitler nicht gehört, dieser Satz stammt von Auguste Renoir. Kriege kommen und vergehen, was bleibt, sind einzig die Werke der Kultur. Daher meine Liebe zur Kunst, Musik und Architektur! dieser Satz ist von Hitler, der davon träumte, als großer Kunstsammler in die Geschichte einzugehen.
Mehr Vermeer in diesem Blog findet sich bei ➯Malkunst, ➯Bilder und ➯Holländer.
Montag, 29. Oktober 2012
Jimmy Savile
Vor einem Jahr ist Sir James Wilson Vincent Savile, OBE, KCSG, LLD, gestorben. Ich konnte im August, als ich ihn in den Post ➱Jogginghosen hineinschrieb, nicht wissen, was jetzt ganz England weiß. Was ganz England erschüttert. Innerhalb von Wochen ist der Wohltäter, der liebenswerte Exzentriker, zu einem ➯Kinderschänder geworden. Wer sich letztens bei der Auktion irgendwelche Jimmy Savile Devotionalien (zum Beispiel seine Jogginghosen) ersteigert hat, wird sich jetzt überlegen, was die noch wert sind. Manche stehen allerdings zu ihren Käufen wie Mr Barr aus Derby, der dem Derby Telegraph sagte:
I'm certainly not going to set fire to my coat, which has been suggested to me. I think a lot of the stuff being printed in the press is nonsense. People are climbing on the bandwagon and the newspapers are loving it – they can't be sued for libel because he's dead. OK, there may be a grain of truth in the accusations but on the other side of the coin he raised a hell of a lot of money for charitable causes. I'm not burning the coat, I'm keeping it. It's an unusual and useful coat, it keeps me warm and goes well with my 1970s car. It's historical. People still collect stuff that belonged to Jack the Ripper because they're historical pieces. Dazu kann man nur sagen: Sammler! Denen ist nicht zu helfen, ob sie nun Überraschungseier sammeln, die Kostüme von Mrs Thatcher oder die Jogginghosen von Jimmy Savile.
Wahrscheinlich wird man bald in der London Gazette lesen können, dass ihm die Königin seinen Titel, den er for services to charity bekam, entzogen hat. Der Vatikan hat da größere Schwierigkeiten, offensichtlich kann man einem Ritter des Ordine Equestre Pontificio di San Gregorio Magno seinen Titel nicht nachträglich aberkennen. Aber der offizielle Sprecher des Vatikans Federico Lombardi bemühte sich in einem Interview der BBC zu sagen, dass der Vatikan firmly condemns the horrible crimes of sexual abuse of minors. Das klingt nun wieder ungewollt komisch, das sagen sie zwar immer, aber katholische Kirche und Pädophilie, das ist so ein Thema.
Es scheint immer klarer zu werden, dass die BBC das alles schon länger gewusst hat (und jetzt hängt auch noch ➱Gary Glitter da mit drin), da werden sicher noch Köpfe rollen. Und Mark Thompson, der neue Chef der New York Times, wird das vielleicht auch nicht lange bleiben, weil er vor seinem amerikanischen Engagement Chef der BBC war. Im Zweifelsfall hat er natürlich nichts gewusst, die Sache mit den drei Affen funktioniert doch immer. Wer sich nicht weggeduckt hat, ist die Familie von Jimmy Savile. Sein Neffe Roger Foster hat ein Statement abgegeben, das ein Meisterwerk der rhetorischen Formulierung ist; es wäre schön, wenn jedes Wort davon wahr wäre:
A year ago our uncle, Sir Jimmy Savile, passed away. It was a shock when it happened as I had only seen him the week before and although seeming under the weather, I had no concerns over his wellbeing. A week later he was dead and my cousin and I were left with the task of organising his funeral.We were proud of him. Proud of his achievements and the help he had been able to give to others. We knew nothing of the firestorm of allegations to come. We set out to organise the funeral knowing that he was well respected by many, many thousands of people. We knew that the funeral was going to grow because so many people wanted to be a part of the celebration of his life. We felt so honoured that so many wanted to remember him and mark his passing.
As time passed, the grieving process enabled us to come to terms with his death. By the time summer arrived we were getting ready for the auction of his possessions so that, as he requested in his will, the money could go to his charities. It was a great success. We became aware of the programme that was being made with allegations of a darker side to him that we knew nothing about. I watched the programme in horror and could not believe that these allegations were about our uncle. This wasn’t the man we knew and loved. Like everyone else we asked the question, Why now? We couldn’t find an answer. The allegations kept coming and were beginning to overwhelm us. Media were chasing us asking for interviews as family members.
The allegations are very serious and we began to have doubts as to our own feeling towards our uncle. How could the person we thought we knew and loved do such a thing? Why would a man who raised so much money for charity, who gave so much of his own time and energy for others risk it all doing indecent criminal acts? How could anyone live their life doing the ‘most good and most evil’ at the same time? We became more aware of the outrage that many members of the public were feeling.
We began to think that his headstone, which we had only unveiled a couple of weeks earlier could become a target for people wishing to show their emotions. The dignity of the cemetery, the people who are buried there and the relatives who tend the graves had to be respected. We took the decision to remove and destroy the headstone so that it couldn’t become a focus for malicious people. The decision was a difficult one to make but we knew it was the right one.
A vilification of his name, his achievements and everything he stood for followed. People are moving as quickly as possible to disassociate themselves from him. His charities, which he was so proud of, debated the prospect of removing his name from their title. The trustees have since decided that this wasn’t enough and that the charities will have to be wound up and the monies given to other charities working in a similar field. Records of all his efforts and the good work he had done, have been, or are in the process of being removed.
We recognise that even our own despair and sadness does not compare to that felt by the victims. Our thoughts and our prayers are with those who have suffered from every kind of abuse over so many years and we offer our deepest sympathy in what must have been a terrible time for all of them. We can understand their reluctance to say anything earlier and can appreciate the courage it has taken to speak out now. Our hearts go out to them and we offer them our sympathy and understanding in their anguish.
Where will it all end? Who knows? The repercussions of this scandal are enormous. We, as his closest family, have to endure further revelations on a daily basis. Our feelings are in turmoil as we await the next turn of events.
William Shakespeare hätte das kürzer gesagt: The evil that men do lives after them; The good is oft interred with their bones. Den gerade erst aufgestellten Grabstein (unter dem er mit seinen Jogginghosen in einem goldenen Sarg liegt) mit der goldenen Schrift It Was Good While It Lasted hat die Familie entfernen lassen. Das ist auch gut so, It Was Good While It Lasted ist angesichts der täglich neuen Meldungen doch ein bisschen zu viel. Da kann man nur mit Gerard Way von My Chemical Romance sagen:
I'll tell you all how the story ends
Where the good guys die and the bad guys win (who cares?)
It ain't about all the friends you made
But the graffiti they write on your grave
Wo kein Grab ist, gibt es auch keine Graffiti, the evil that men do lives after them.
Samstag, 27. Oktober 2012
1.000 Posts
Die Statistikseite der neuen Blogger Oberfläche sagt mir, dass das gestern der Post Nummer 1.000 war. Ich habe im Januar 2010 begonnen, an diesem HiLo Kulturblog mit dem schönen Namen SILVAE zu schreiben - ich wusste nicht, wohin es mich führen würde. Ich musste auch erst einmal lernen, mich in dieser ganzen Welt zurechtzufinden. Inzwischen plaziert mich Google, wenn ich SILVAE eingebe, auf Platz Eins der Ergebnisse. Wie der Held von ➯Room at the Top habe ich es ganz nach oben geschafft, allerdings ohne meine Seele aufzugeben. Es gibt in diesem Blog kein wirkliches Ordnungsprinzip, es geht hier zu wie Kraut und Rüben, aber dazu möchte ich mit ➯Herman Melville sagen: There are some enterprises in which a careful disorderliness is the true method. Das gilt auch für meinen Schreibtisch.
Wenn diese neue Blogger Oberfläche mir nicht diese Zahl 1.000 serviert hätte, dann hätte ich das gar nicht gewusst, dass gestern ein besonderer Tag war. Wo ich es nun weiß, will ich das auch feiern und erlaube mir einige Tage Pause. Zitiere noch mal eben schnell Lessing:
Wenn du von allem dem, was diese Blätter füllt,
Mein Leser, nichts des Dankes wert gefunden:
So sei mir wenigstens für das verbunden,
Was ich zurück behielt.
Und schon mach ich den Schuh. Es gibt viel zu tun am Wochenende: Kindergeburtstag, alle Uhren auf die ➯Winterzeit umstellen (für Uhrensammler ein Problem) und einen Oberbürgermeister wählen. Und die Symptome von der Grippespritze auskurieren. Wenn ich nur wüsste, was mir mein Doc gespritzt hat.
P.S:
Ich möchte dem noch etwas hinzufügen, was mir ein Leser, der anonym bleiben möchte, heute schrieb:
Dear Jay -
Here's a humble reader of your prime blog extending his felicitations to its polymath author on the occasion of the ton. How can one person be so knowledgable in matters as diverse as balance springs, fob pockets, Audubon or whatever AND put out a daily essay the mere reading of which gives most of your clientele the fancy of belonging to a select class of people?
Der schickte eine Stunde später noch eine E-Mail hinterher, dass dies nicht ironisch gemeint sei.
Freitag, 26. Oktober 2012
Don Siegel
Bevor Tarrantino mit seinen Gangstern in schwarzen Anzügen kam, gab es Don Siegel, der uns zeigte, wie cool amerikanische Gangster sind. Auf jeden Fall im Film, wenn sie aussehen wie Lee Marvin. In der Wirklichkeit sehen sie wahrscheinlich etwas anders aus. Dieses Bild stammt aus dem Film The Killers, der nach einer Kurzgeschichte von Hemingway gedreht wurde. Hat aber mit der Kurzgeschichte wenig zu tun. Der Film mit Angie Dickinson (und Ronald Reagan) und Lee Marvin war der Durchbruch von Don Siegel. Thriller konnte er gut, besser als andere. Mit Ausnahme von Die schwarze Windmühle von 1974, da muss er von allen guten Geistern verlassen gewesen sein. Obgleich er damals so einen Lauf hatte. Mit Filmen die bemerkenswert waren: Dirty Harry (1971), Charley Varrick (1973) und The Shootist (1976). Das war beinahe so gut wie im Jahrzehnt zuvor, als er nach The Killers (1964) Coogan's Bluff (1968) und Madigan (1968) drehte. Alles Filme, die schon zu Klassikern geworden sind. Bis auf Die schwarze Windmühle, da konnte Michael Caine auch nichts retten.
Manche im Filmgeschäft verdanken Don Siegel ihre Karriere. Clint Eastwood hatte seinen ersten Erfolg außerhalb von Amerika mit Italowestern, Don Siegel machte ihn zum Hollywoodstar. Was wäre aus ihm geworden, wenn er nicht den umstrittenen Film Dirty Harry gedreht hätte? Der Kritiker ➯Garrett Epps, der Dirty Harry als fascist propaganda and sadomasochistic wet dreams bezeichnete, liegt da nicht so falsch. Mit Dirty Harry II-IV hat Siegel nichts zu tun. Und einen Film wie Ein Mann sieht rot hat er nicht gedreht, das war der Engländer Michael Winner.
Don Siegel hat auch Sam Peckinpah (der in dem Punkt fascist propaganda and sadomasochistic wet dreams viel mit ihm gemeinsam hat) eine neue Karrierechance gegeben. Und sein Film The Shootist zeigt (ebenso wie True Grit Jahre vorher) den Westernhelden ➯John Wayne zum letzten Mal in einer Rolle, die ihm auf den Leib geschneidert war. So eine ähnliche Rolle wie in True Grit. Für True Grit hatte Wayne einen Oscar bekommen, und selbst Leslie A. Fiedler konnte sich für den Film begeistern. Vielleicht hätte er das gleiche über The Shootist gesagt wie: Aber der Film von John Wayne, dieser schöne komische Film, wo er mit dem jungen Mädchen spielt, 'True Grit', das ist wirklich ein wunderbarer Film, denn erstens sehen wir hier nicht einen jungen Gunfighter oder jungen Cowboy, sondern einen alten Mann in dieser Periode seines Lebens, wo er nicht sicher ist, ob er mit einem Pferd über einen Zaun springen kann, und zweitens wird diese Rolle ausgerechnet von John Wayne gespielt, und der Film wird zu einer Parabel des Lebens von John Wayne, dieser elenden reaktionären Kanaille, die das Image des Westens auf die Leinwand projiziert hat und der nun zum ersten mal seine Rolle mit Humor spielt, als Selbstparodie, als Travestie seiner eigenen Figur. Das ist sehr zart, sehr schön, sehr komisch. Dieser Film hat mich tief gerührt.
All diese Filme von Siegel handeln von der Gewalt, cinéaste de la violence et du anti-héros hat der französische Filmkritiker Guy Allombert ihn genannt. Das amerikanische Kino ist von Gewalt besessen, Violent America: The Movies 1946-1964 hieß die Ausstellung, die Lawrence Alloway 1971 für das Museum of Modern Art organisierte. Die begleitende Filmreihe, die das MOMA dazu zeigte, musste in The American Action Movie 1946-1964 umgetauft werden, den Verleihfirmen gefiel das Wort violent nicht. Wie einfach man doch die Gewalt aus dem Film nehmen kann! I’m a firm believer in entertainment, hoping that every picture I make will be a commercial success, hat Siegel gesagt.
Ist es nur das? Viele Kritiker haben seinen Film Invasion of the Body Snatchers als einen Kommentar auf die McCarthy Zeit gesehen. Systemstabilisierend sind seine Filme jedenfalls nicht, seine lakonischen Helden (wortkarg wie die Cowboys) stehen außerhalb der Gesellschaft, gleichgültig, ob sie gut oder böse sind. Man könnte sie als die verspäteten Nachfolger der Film Noir Helden sehen, wo es ja nicht nur ein good bad girl, sondern auch viele good bad guys gibt. Aber selbst wenn sie ein wenig außerhalb des Gesetzes stehen wie Charley Varrick, dann haben sie doch ihren eigenen Code und eine Moral. Darin ähneln sie Hemingways code heroes und den Gangstern des französischen Kriminalfilms. Richard Combs hat in Sight and Sound gesagt: His protagonists, an unarguably consistent line of defiant loners, outside whatever system may be operating, may be interchangeably one side or the other – which seems to beg all sorts of social issues.
Schnell hatte Don Siegel all das adaptiert, was wir als typisch amerikanisch empfinden. Seine Jugend hatte er in England verbracht, er hat in Cambridge studiert. Seit den dreißiger Jahren war er im Filmgeschäft. Er hat hinter den Kulissen alles gemacht, bevor er zum ersten Mal the name above the title lesen konnte. Die französischen Filmkritiker der Nouvelle Vague haben ihn eher als einen Europäer und einen auteur mit einer eigenen Handschrift gesehen - er selbst konnte mit diesem Lob nichts anfangen. Er sah sich als Handwerker, als Professional. Und er weigerte sich auch, Interpretationen zu seinen Helden zu liefern: The more you describe, analyze and explain a character, the less real he becomes. The trick is to suggest—to try to leave holes, problems, questions that the viewer’s imagination will fill in a much more satisfying way than we could ever do.
Manchmal brauchen wir Don Siegels Helden für eine Flucht aus dem Alltag in das Böse, einen Film wie Charley Varrick zu sehen, hinterlässt bei mir immer ein Gefühl der Befriedigung. Ich finde es immer wieder schön, wenn Ronald Reagan am Schluss von ➯The Killers erschossen wird. Ich glaube ja immer noch an Aristoteles' phobos und eleos, obgleich die Katharsis Theorie für die filmische violence wohl nicht stimmt. All normal people need both classics and trash, hat Shaw gesagt, wir können nicht immer Goethe lesen, wir müssen auch mal trash lesen. Solange das nicht Fifty Shades of Grey oder Tintenherz ist, ist ja alles in Ordnung. Wir können nicht immer nur Filmkunst oder Bibel TV sehen, es darf auch schon mal Dirty Harry sein. Solange Clint Eastwood für uns kein role model wird und Sie zu Hause keine 44er Magnum haben, ist das auch O.K.
Übrigens kommt der viel zitierte Satz Go ahead, make my day in Dirty Harry gar nicht vor. Der fällt erst in dem vierten Dirty Harry Film, mit dem Don Siegel nichts zu tun hat. In Dirty Harry sagt Inspector Harry Callahan zu dem Bankräuber, den er angeschossen hat und der ihn noch mit dem Gewehr bedroht: I know what you're thinking, 'Did he fire six shots or only five?' Well, to tell the truth, in all this excitement I kinda lost track myself. But being this is a .44 magnum, the most powerful handgun in the world, and would blow your head clean off, you've got to ask yourself one question. 'Do I feel lucky?' Well, do ya, punk?
Don Siegel wurde heute vor hundert Jahren geboren, seine Filme als DVD zu bekommen, ist nicht so schwer. Gute Literatur über ihn zu finden, ist schon schwerer. Stuart M. Kaminskys Don Siegel: Director (1974) kann man vergessen, der hätte besser bei seinen Krimis bleiben sollen. Violent America: The Movies 1946-1964 von Lawrence Alloway (dem Erfinder des Begriffes Pop Art) bleibt ein Klassiker und ist noch zu finden. Obgleich man heute dafür mehr bezahlen muss als die 1.95 $, die mich das schrille lila Teil beim Strand Book Store vor Jahrzehnten gekostet hat. Aber für Filmfreunde und Don Siegel Fans hätte ich ➯hier noch eine sehr schöne Seite. Die schwarze Windmühle wollte ich ja eigentlich nicht mehr erwähnen, aber wegen der wunderschönen Delphine Seyrig gibt es doch noch ein Photo aus dem Film.
Donnerstag, 25. Oktober 2012
William Merritt Chase
Dies Selbstportrait malt er ein Jahr vor seinem Tod (er ist am 25. Oktober 1916 gestorben), er ist auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Schon seit Jahrzehnten. Seit der Duveneck Boy aus München zurückgekommen ist. Ebenso wie ➯Childe Hassam ist er ein amerikanischer Impressionist. Gemessen an seinem Erfolg ist Chase, wenn er überhaupt Impressionist ist, Amerikas Impressionist No. 1. Als ➯Albert Bierstadt pleite war, hatte er dessen riesiges Studio in New York übernommen, musste aber nach ein paar Jahren feststellen, dass das selbst für einen erfolgreichen Impressionisten ein klein wenig größenwahnsinnig war. Zumal seine Familie immer weiter wuchs, und es ihn seit einigen Jahren jeden Sommer nach Long Island zog, wo er auch ein Haus und ein Studio hatte.
Der amerikanische Kunsthistoriker Nicolai Cikovsky, Jr. interpretiert in dem Katalog William Merritt Chase: Summers at Shinnecock 1891-1902 das Selbstportrait als ein Krisenbild. Er ist der Meinung, dass der berühmte Dandy William Merritt Chase etwas heruntergekommen wirkt und man auf dem Bild, das er malt, nicht sehen könnte, was es werden wird. Weil Chase nicht mehr weiß, was er malen soll. Heruntergekommen? Die Frage stellt sich natürlich anders: welche Malerfürsten stehen im Frack vor der Leinwand? Selbst der große Dandy Whistler malt sich als Arrangement in Grey: Portrait of the Painter mit ➯Malerkittel. Diese Joppe von Chase über dem Anzug ist doch wirklich praktisch. Und fangen nicht alle Bilder eines Künstlers mit dem Chaos auf der Grundierung an, wie das Bild von Chase? Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Wenn er sich in die feine Gesellschaft begibt, dann sieht der Mann, der Whistler (den er auch gemalt hat) in vielem kopiert, natürlich so aus wie auf dem ➯Selbstportrait oben.
Oder wenn ihn ein Kollege wie John Singer Sargent malt, dann darf der ihn etwas wirklichkeitsfremd in großer Pose (die schon beinahe eine Karikatur ist) als Dandy mit Pinsel und Palette malen. Dies Bild war ein Geschenk seiner Schüler. Schüler hat er viele, er unterrichtet gerne, Damen der High Society und angehende Künstler. Und obgleich er von all der Kunst, die nach dem Impressionismus kommt, überhaupt nichts hält (darin ähnelt er ➯Frank Duveneck und Childe Hassam), werden doch eine Vielzahl von amerikanischen Malern der Moderne einmal Schüler von Chase gewesen sein: Charles Demuth, Marsden Hartley, Joseph Stella, Georgia O'Keeffe, John Marin, ➯Edward Hopper und Norman Rockwell. Er war als Lehrer berühmt, was die Chicago Post zu dem nationalistischen Satz veranlasste: William Merritt Chase's teaching, like the British drumbeat is heard round the world.
Klingt ein wenig militaristisch, aber der Kern ist wohl wahr: er ist ein guter Lehrer. Er nimmt seine Studenten auch mit nach Spanien (wo er nicht aufhören kann, Velasquez zu kopieren) und nach Italien. So wie er mit Frank Duveneck und den Duveneck Boys in immer neuer Umgebung gemalt und gelernt hatte. Dieses Selbstportrait hat er den Uffizien geschenkt, die von ihm ein Portrait erbeten hatten. Das ist die wohl größte Ehre, die ein amerikanischer Maler erhalten konnte. Und natürlich stellt er sich für diese Gelegenheit anders dar als auf dem Bild The artist in his study ganz oben.
Nicolai Cikovsky, Jr. sieht in dem letzten Selbstportrait den Höhepunkt einer artistic disintegration. Und dann sagt er über das nicht gemalte Bild im Bild: And, in the painting's most revealing part, the large canvas before which he stands, Chase depicted the explanation of his condition. For its scrumbled forms and scribbled lines, intended though they may be as a shorthand notation of an object or the act of painting, are inescapably the image of confusion - of uncertainty and lost subject which is all the more touching and telling because, according to the logic of the picture, the image on the canvas should be Chase himself. Das ist so das Geschwafel, für das man Kunsthistoriker hasst. William Merritt Chase hat das Bild für das ➯Richmond Art Museum gemalt. Und in einem Brief an die Direktorin ➯Ella Bond Johnston schreibt er: I painted that picture for you people in Richmond. I thought you deserved something good. I have been interested in what you have been doing in the west for art. Und in Bezug auf die leere Leinwand, vor der er steht, sagt er, dass dies the great picture I am going to paint someday sei.
Das Studio, das er 1895 aufgab, war in dem Tenth Street Studio Building, es war zu einem Zentrum des künstlerischen und gesellschaftlichen Lebens New Yorks geworden. War so etwas Ähnliches wie Andy Warhols Fabrik. Aber bei Chase sah es anders aus als bei Andy Warhol. Viktorianischer Ausstattungsplüsch, Kunstwerke und Bric-à-Brac bis zum Abwinken. Alles hübsch dekoriert, damit sich die Klientele da zu Hause fühlt. Die Klientele sind die Reichen des Gilded Age. Die auch von John Singer Sargent oder ➯Anders Zorn gemalt werden, um nur einmal zwei Konkurrenten von Chase zu nennen (die beide besser malen als der etwas oberflächliche Chase). Sein amerikanischer Zeitgenosse Winslow Homer, der auch einmal ein Studio im Tenth Street Studio Building hat, malt diese Welt nicht, der malt die Welt draußen, nicht die Schickeria von New York. Aber wenn man nun gerne die Fifth Avenue in Frack und Zylinder entlanggeht und dabei ein paar Wolfshunde an der Leine führt, dann will man der Gesellschaft imponieren. Es ist eine ähnliche Geste wie die Hirsche vor Fürst Pücklers Kutsche.
Aber dennoch findet William Merritt Chase als Maler zum Außen, zur Natur. Die Schickeria gibt er dabei nicht ganz auf. Er macht da einen genialen Schachzug als er sein Studio schließt und ein Jahr später allen Bric-à-Brac und alle Bilder verkauft: er gibt jetzt Malunterricht für die betuchte Gesellschaft auf Long Island. In einem Haus, das die Firma McKim, Meade und White gebaut hat. Darunter tut er es nicht. Falls Sie Doctorows Ragtime gelesen haben: Stanford White (mit dem Chase befreundet ist) kommt darin vor. Chase wird das neue Zuhause malen, so wie er das alte gemalt hatte. Bei diesem Bild aus Shinnecock sieht das Zimmer nicht so überladen aus wie bei den Interieurs aus New York, es schmeckt eher ein wenig nach ➯Carl Larsson und nach den Malern aus Skagen. Blaue Vasen scheinen damals chic gewesen zu sein, allerdings sind die auf dem Bild ➯The Daughters of Edward Darley Boit von John Singer Sargent noch etwas größer.
William Merritt Chase macht Shinnecock, Long Island, zu einem Ort der Kunst. Plein-Air Malerei ist seit Barbizon angesagt. Worpswede und Skagen kennen wir alle, aber es gibt in Europa noch viel mehr Orte, an denen sich Künstler zusammenfinden. Der hervorragende Katalog ➯Künstlerkolonien in Europa: Im Zeichen der Ebene und des Himmels ist beinahe 600 Seiten stark.
Seine Palette hellt sich jetzt auf, die Braun- und Schwarztöne der Münchener Schule, die man bei seiner Rückkehr nach Amerika so bewunderte, finden sich jetzt kaum noch bei ihm. Man kann das bei diesem Bild, das eine seiner zahlreichen Töchter (er hatte insgesamt sechs Töchter und zwei Söhne) am Wegesrand zu dem Haus in Shinnecock zeigt, sehr schön sehen. Aber sich selbst sieht er nicht als Impressionisten: The school of the Impressionists has been an enormous influence upon almost every painter of this time. Most of this work I consider more scientific than artistic... the successful men like Monet succeede [sic] in rendering a brilliant and almost dazzling impression of light and air, schreibt er in seinen Notizen. Wirkliche Überzeugung eines Impressionisten für seine Malerei klingt anders.
Es wäre zum Schluss noch eine kleine Kuriosität hinzuzufügen. Chase hat seine ganze Malerkarriere lang Stillleben gemalt, meistens tote Fische. Die sich erstaunlich gut verkauften, zwischen tausend und zweitausend Dollar zahlten seine Kunden dafür. Das reichte fürs Haushaltsgeld. Gleichzeitig machte er sich aber Sorgen, dass er eines Tages nur als a painter of fish, a painter of fish in Erinnerung bleiben würde. Ich kann dazu wenig sagen, ich mag keinen Fisch, habe auch seit einigen Jahren eine Fischeiweißallergie, sodass es mir heute erspart bleibt, welchen zu essen - in meiner Jugend in Bremen leider nicht, das waren zwanzig Jahre lang jeden Freitag Fisch, da kennt man in Bremen gar nix.
Aber ich mag diese toten Fische von Chase überhaupt nicht. Wenn man schon Lebensmittel und Gemüse malt, dann sollte man das so machen wie Manet mit dieser ➯Spargelstange. Das ist einfach genial. Und das ist auch der Unterschied zwischen einem großen Maler und einem guten Maler, der technisch alles kann, aber letztlich wie Chase ein wenig oberflächlich ist. Das haben schon die Kritiker zu seinen Lebzeiten bemängelt. Es ist sicher alles gefällig, aber in der Kategorie, in der John Singer Sargent, James Whistler oder Winslow Homer sind, ist ➯William Merritt Chase nicht.
Aber er ist nicht vergessen, ist nicht nur a painter of fish geblieben. Es gibt bei der Yale University Press ein von Ronald G. Pisano begonnenes vierbändiges Gesamtverzeichnis, und die Bilder von Chase können bei Auktionen erstaunliche Ergebnisse bringen. Dies Bild hier, The Old Sand Road, wurde im letzten Jahr für mehr als eine Million Dollar verkauft. Es gibt Worpsweder, die besser sind. Da muss man schon ein großer Liebhaber von Sand und Heide auf Long Island sein. Wahrscheinlich wären die toten Fische billiger gewesen.
Mittwoch, 24. Oktober 2012
Hansjörg Schneider
Ach, ich mache heute einfach mal ein wenig Reklame für Hansjörg Schneider. Er hat mir nämlich geschrieben, dass er gerade eine neue Ausstellung hat. Da rechts auf dem Bild ist er, ich habe ihn gleich wiedererkannt, obgleich ich ihn seit zwanzig Jahren nicht gesehen habe. Er war einer unserer begabtesten Studenten. Nicht pflegeleicht, er hatte seinen eigenen Kopf. Er studierte nicht nur Englisch und Philosophie, er studierte daneben auch noch Kunst an der Muthesius Schule in Kiel. Kaum war er mit seinem Studium fertig, da erhielt er auch schon ➯Preise bei Wettbewerben, wie den Kunstpreis der Landesschau Schleswig-Holstein oder den Gottfried Brockmann Preis der Stadt Kiel. Als er sich vom Englischen Seminar verabschiedete, hat er mir eine Grafik geschenkt, unten rechts signiert.
Bei dieser Zeichnung, ➯Subway in London, wüsste ich, was sie bedeutet. Die Zeichnung, die ich habe, ist viel abstrakter. Ich weiß zwar nicht genau, was das schwarz-weiße Kunstwerk bedeutet - das weiß man ja häufig bei moderner Kunst nicht - aber ich finde es sehr schön. Die Grafik hängt bei mir neben einer Radierung von ➯Ekkehard Thieme, die aus seinem Moby-Dick Zyklus stammt, da weiß ich auch nicht, was sie bedeuteten soll. Das Geflecht von Linien hat etwas Geheimnisvolles. Natürlich hat Hansjörg Schneiders Bild ein schönes Passepartout und einen Rahmen bekommen, und manchmal sage ich zu Gästen: Das ist ein früher Schneider.
Wenn Sie wissen wollen, was der späte Schneider macht: Seine neue Ausstellung von Papierarbeiten heißt Schnittwerk, sie wird am Samstag, dem 27. Oktober 2012 um 14 Uhr mit einem Vortrag von Professor Dr. Günther Gercken eröffnet. Gercken ist kein Professor an einer Kunstschule, sondern ein emeritierter Professor für Biochemie an der Universität Hamburg. Er ist aber in Kunstkreisen kein Unbekannter, sein Name findet sich (als Beiträger oder Herausgeber) in einer Vielzahl von Ausstellungskatalogen zur modernen Kunst. Der Baselitz Sammler arbeitet zur Zeit an einem neuen Werkverzeichnis der Druckgraphik von Ernst Ludwig Kirchner.
Und natürlich gibt es im Anschluss einen Empfang, der Künstler wird anwesend sein. Das ist ja immer so. Und denken Sie bitte dran, den Sekt gibt es erst, wenn die Rede zu Ende ist. Das ist wie in einer Wagner Oper, It ain't over till the fat lady sings. Ich war mal bei der Ausstellungseröffnung des Harald Duwe Schülers ➯Udo Dettmann, da haben sich die versammelten Künstler und die Studenten der Kunstgeschichte schon über den Sekt hergemacht, bevor Professor ➯Lars Olof Larsson seine Rede hielt. Die Stimmung im Saal war, na ja, sagen wir: sehr beschwingt.
HANSJÖRG SCHNEIDER »SCHNITTWERK«
27. Oktober bis 9. Dezember 2012
Hans Kock Stiftung · Seekamper Weg 10 24159 Kiel · Tel: 0431 37 23 22 Öffnungszeiten: Sa.– So. 10:00 –17:00 Uhr
Montag, 22. Oktober 2012
Lino Ventura
Heute vor fünfundzwanzig Jahren ist er gestorben. Er war der coolste Typ des französischen Kriminalfilms. Melancholisch, einsam, stoisch dem Ende entgegen gehend. Gegen ihn wirkte Alain Delon in Der eiskalte Engel schon angestrengt und manieriert. Er konnte Gangster spielen und Kriminalkommissare. In der Welt des französischen Kriminalfilms ist das beinahe das gleiche. Beide tragen meistens Regenmäntel. Die Sache mit den Regenmänteln ist keine Erfindung der Franzosen, das gab es in Hollywood schon länger. Wodurch ist Humphrey Bogart berühmt geworden? Durch seinen Regenmantel (und natürlich seine Anzüge von ➱Oviatt): The role doesn't bother me. I've been doing the role for years. I've worn that trench coat of mine in half the pictures I've been in.
Die Franzosen haben ohne Zweifel bei den Amerikanern gelernt. Besonders Jean-Pierre Melville, der sogar den Namen eines amerikanischen Schriftstellers angenommen hat. Sie können sich im Film der Nachkriegszeit aus dem Fundus der amerikanischen Gangsterfilme der zwanziger und dreißiger Jahre und dem Film Noir bedienen. Dessen Ikonographie eignen sie sich mühelos an, schließlich waren es ja auch die Franzosen, die dieser Art von existentialistischem Film den Namen gegeben haben. Sie können sich natürlich auch bei den Filmen bedienen, die Marcel Carné nach den Drehbüchern von Jacques Prévert gedreht hat. Aber vielleicht haben die Amerikaner ihren Film Noir bei Carnés poetischem Realismus geklaut. Oder ➱Eugen Schüfftan hat den nach Amerika mitgebracht, das weiß niemand so genau.
Wenn Kommissare und Gangster mal keinen Regenmantel tragen, dann tragen sie im französischen Kriminalfilm elegante Mäntel. Wenn man Gangster ist, muss man einfach gut angezogen sein. Die Kleidung wird zu einem äußeren Zeichen des Erfolgs. Der Aufstieg des Gangsters ist eine success story, so etwas Ähnliches wie from log cabin to White House, darin ähnelt der Gangster dem Businessman. Auch dieses Element haben die Franzosen vom amerikanischen Gangsterfilm übernommen, auch wenn ihnen der der success story zugrundeliegende puritanische Aufstiegsmythos wesensmäßig fremd ist.
Bei dieser Verhörszene in Der zweite Atem wirkt Lino Ventura etwas derangiert, während Paul Meurisse (der einen Polizeikommissar spielt) ungeheuer cool ist. Behält sogar im Polizeipräsidium seinen Hut auf. Beide haben viel gemeinsam, sie lieben die gleiche Frau, sie bewegen sich ähnlich, sie haben beide die Angewohnheit, sich eine Zigarette in den Mund zu stecken, ohne sie anzuzünden. Die Austauschbarkeit von Gangstern und Polizisten manifestiert sich in den Details der Ikonographie Melvilles : In beiden Welten werden lange schwere Mäntel getragen, breitkrempige Hüte, dunkle korrekte Anzüge, sagt Hans Gerhold in dem Hanser Band Jean-Pierre Melville.
In seinem Buch Kino der Blicke recyelt er den Satz noch einmal, fügt aber oder emblematische helle Trenchcoats mit Gürtel und hochgeschlagenem Kragen hinzu, dann passt das auch auf Alain Delon in Der eiskalte Engel. Was man allerdings auch noch hinzufügen könnte: Meurisse und Ventura hatten im wirklichen Leben den selben Schneider, nämlich Joseph (oder José) Camps (heute heißt die Firma ➱Camps de Luca). Die neuere Generation von Schauspielern wie ➱Jean Paul Belmondo bevorzugte Francesco Smalto und andere Pariser Schneider. In den fünfziger Jahren, als der französische Gangsterfilm einen Höhepunkt hat, hat auch die Pariser Herrenmode ihre große Zeit. Von der alle Pariser Schneider profitieren. Auch Traditionshäuser wie Cifonelli, die im Gegensatz zu Joseph Camps oder André Bardot (dem Schneider von Jean Marais) modisch wenig wagemutig sind.
Aber alle Pariser Eleganz hin und her, am Ende eines wirklichen Gangsterfilms darf natürlich nicht - wie in einer typischen Horatio Alger Story - alles gut sein. Der Gangster muss untergehen. Paying the Penalty hieß in England Josef von Sternbergs Film Underworld, der die Basis für die Romantisierung des Gangsters im Film war. Der Gangster mag auf seinem Weg nach oben (ähnlich wie Jay Gatsby in Fitzgeralds Roman The Great Gatsby) all die Statussymbole der bürgerlichen Gesellschaft angesammelt haben: elegante Klamotten, große Autos, schöne Frauen - jetzt ist er dem Untergang geweiht.
Mother of God, is this the end of Rico? sind die letzten Worte von Edward G. Robinson in Little Caesar. Der amerikanische Filmkritiker Robert Warshow hat in seinem Essay ➱The Gangster as Tragic Hero dazu gesagt: At bottom, the gangster is doomed because he is under the obligation to succeed, not because the means he employs are unlawful. In the deeper layers of the modern consciousness, all means are unlawful, every attempt to succeed is an act of aggression, leaving one alone and guilty and defenseless among enemies: one is punished for success. This is our intolerable dilemma: that failure is a kind of death and success is evil and dangerous, is—ultimately—impossible. The effect of the gangster film is to embody this dilemma in the person of the gangster and resolve it by his death. The dilemma is resolved because it is his death, not ours. We are safe; for the moment, we can acquiesce in our failure, we can choose to fail.
Ob es der Tod auf den Stufen einer Kirche ist, wie in dem amerikanischen Gangsterfilm The Roaring Twenties, ob Jean Paul Belmondo in Melvilles Der Teufel mit der weißen Weste im Wohnzimmer seiner Villa, ob Alain Delon in Der Eiskalte Engel in einem Nachtclub stirbt - immer sterben die Helden einsam. Einsam, wie sie gelebt haben. Französische Filmgangster haben wenige Freunde. Wenn sie wirklich Freunde haben und nicht von Verrätern umgeben sind, sterben die vor ihnen. Der Verrat in der Unterwelt, die offensichtlich ihre eigenen Gesetze hat, ist ein Thema, das Jean Pierre Melville immer wieder variiert.
Wenn Lino Ventura, den eine ➱New Yorker Retrospektive so nett (nach einem Filmtitel) als Monsieur Gangster bezeichnete, nicht als Gangster unterging wie in Der zweite Atem, dann durfte er auch Kriminalkommissare (oder Geheimagenten) spielen. Wie in Fahrstuhl zum Schafott (den gab es ➱hier schon mal), dem Clan der Sizilianer oder in Das Verhör, was aber eher ein Kammerspiel als ein Gangsterfilm war. Das Genre Gangsterfilm veränderte sich seit den Tagen des poetischen Realismus immer wieder. Am besten war es, als die Welt (und das Filmmaterial) noch schwarz-weiß waren.
Irgendwann mutiert der Gangsterfilm von der strengen Form, die ihm Jean-Pierre Melville gegeben hatte, zur Gangsterkomödie. Und Lino Ventura schien die zu lieben. In Filmen wie Monsieur Gangster (Les Tontons flingueurs) oder Nimms leicht, nimm Dynamit (von der Filzlaus wollen wir gar nicht reden) blühte er richtig auf. Wie wir hier auf diesem Szenenbild von Lelouchs La bonne année sehen können: der Mann konnte auch lachen!
Und das hier? Ja, das war Lino Ventura bevor er der coole Gangster wurde und die eleganten Klamotten von Joseph Camps oder Cifonelli trug. Da war er als Ringer 1950 Europameister im Mittelgewicht. Mit der Schauspielerei hat er erst nach einem Sportunfall angefangen. Irgendwie ist das sehr witzig, manche haben im Gangsterfilm als tough guys reüssiert, Lino Ventura war einer. Er war aber auch ein stiller und verschwiegener Mann, in seinem Leben gab es keine Affären und Skandale wie bei Yves Montand oder Alain Delon. Ich werde heute Abend zur Feier des Tages Le Deuxième Souffle in den DVD Spieler legen, wo Lino Ventura als Gangster als Gustave Minda (Gu genannt) eine seiner stärksten Rollen hatte.
Sonntag, 21. Oktober 2012
Langenscheidt
Als Schüler hatten wir im Englischunterricht ein Wörterbuch, das Schöffler-Weis hieß. Es taugte überhaupt nichts. Man kann es heute ab einem Cent bei Amazon kaufen. Sparen Sie sich dieses Geld! Bücher sind wie Brot - man sollte es nicht wegwerfen. Aber in diesem Fall kann man sagen, falls Sie noch einen alten Schöffler-Weis haben, entsorgen Sie ihn im Papiermüll. Die Wörterbücher der Stunde sind heute quietschegelb und heißen Langenscheidt. Ich erwähne das nur mal ganz kurz, weil heute vor 180 Jahren der Verlagsgründer ➱Gustav Langenscheidt geboren wurde. Heute ist Langenscheidt ein Markenbegriff, wenn man sich die Verlagsseite anschaut, bekommt man das Gefühl, dass dieser Verlag alles verkaufen könnte.
Sie sind wahrscheinlich Marktführer, das soll aber nicht heißen, dass ihre Produkte denen der Konkurrenz wirklich überlegen sind. Ich denke da zum Beispiel an das Großwörterbuch von Klett (Pons). Als der Vorläufer des heutigen Wörterbuchs in der Neubearbeitung 1991 auf den Markt kam, war das eine Sternstunde für das Großwörterbuch. Es war dem Konkurrenzprodukt von Langenscheidt überlegen, und Klett hat diesen Vorsprung auch bei den Nachfolgern des grünen Bandes halten können. Wörterbücher werden heute mit Computern erstellt und sie greifen beinahe alle auf das gleiche ➱Computer Corpus des Englischen zurück. Da hat sich seit den Tagen von ➱Dr. Johnson und ➱James Murray einiges getan, in Bezug auf die Erfassung des Gegenwartsenglisch sind alle neueren Wörterbücher mit der gleichen Basis ausgestattet. Und doch unterscheiden sie sich. Und doch versagen sie in vielen Dingen kläglich. Da helfen auch die Reklamesprüche nicht, dass man auf ein Textkorpus von 500 Millionen Wörtern zurückgreifen kann.
Es wäre unsinnig, heutzutage ein einziges Wörterbuch als das allein seligmachende zu empfehlen. Aber für diejenigen, die für Beruf und Studium ein englisch-deutsches/deutsch-englisches Wörterbuch brauchen, wäre mein Tipp das Klett Pons Großwörterbuch kombiniert mit dem ➱Webster Collegiate Dictionary (für den Preis das beste englisch-englisch Wörterbuch der Welt!) und einem hundert Jahre alten Muret-Sanders. Der gute alte Muret-Sanders ist noch nicht vom Computer gemacht und in vielen Dingen ist er besser als die elektronische Konkurrenz (und seine neuen Nachfolger). Er ist der Liebling aller Übersetzer, die ältere Texte übersetzen müssen.
Und mit dem Muret-Sanders bin ich wieder bei Langenscheidt. Ich hatte einen von meinem Opa geerbt. Es wäre übertrieben zu behaupten, dass ich die beiden Bände auswendig gelernt habe. aber sie haben mir eine schöne Vokabelkenntnis verschafft. Das Parallelunternehmen für das Französische, den zweibändigen Sachs-Villatte, besitze ich natürlich auch. Mit dem Muret-Sanders und dem Sachs-Villatte begann die Erfolgsstory des Hauses Langenscheidt. Ich weiß nicht, ob es den furchtbaren Schöffler-Weis noch gibt. Wörterbücher für das Alltagsenglisch sind heute besser als vor einem halben Jahrhundert, aber heißt das, dass heute Schüler und Studenten ein besseres Englisch können? Leider ist das Gegenteil eher der Fall. Das ist sehr seltsam. Wahrscheinlich liegt es daran, dass heute niemand mehr beigeht und den guten alten Langenscheidt Muret-Sanders auswendiglernt. Und wahrscheinlich weil heute kein Englischlehrer mehr die Schüler zwingt, jeden Tag zehn neue Vokabeln zu lernen. Das tat unser Englischlehrer ➱Dr. "James" Tröbs, und ich bin ihm heute noch dankbar.
Abonnieren
Posts (Atom)