Freitag, 29. November 2024

Vegesack

Das kleines Kaff Vegesack, aus dem ich komme, hat es einmal geschafft, in die große Literatur zu kommen. Der Held des 'psychologischen Romans' Anton Reiser von Karl Philipp Moritz erlebt 1786 den Anblick des Vegesacker Hafens mit den Schiffen als unbeschreiblich ergötzlich: Den Nachmittag erreichte er Vegesack und betrachtete hier mit hungrigem Magen, was er noch nie gesehen hatte, eine Anzahl dreimastiger Schiffe, die in dem kleinen Hafen lagen. – Dieser Anblick ergötzte ihn ohngeachtet des mißlichen Zustandes, worin er sich befand, unbeschreiblich – und weil er an diesem Zustande durch seine Unbesonnenheit selber schuld war, so wollte er es sich gleichsam gegen sich selber nicht einmal merken lassen, daß er nun damit unzufrieden sei. Den Hafen, den Moritz in seinem Roman erwähnt, gab es damals schon hundertfünfzig Jahre, es ist der älteste künstliche Hafen Deutschlands. Von Holländern angelegt, die konnten so etwas. Die Bremer, die den Vegesacker Hafen dringend brauchten, weil die Weser versandet war, hätten das nicht hinbekommen.

Mein Heimatort Vegesack, über den Friedrich Engels sagte, Vegesack ist die Oase der bremischen Wüste, ist von Anfang an in diesem Blog gewesen. Mein Freund Konny hat mir im letzten Jahr gesagt, ich würde so viel über den Ort schreiben, da könnte ich doch ein Buch draus machen. Ich machte erst einmal etwas anderes, ich machte einen Vegesack Blog, der die schöne Adresse nordbremenamfluss hat. Und in diesen Blog muss ich jetzt eine kleine Hymne auf den Ort hineinschreiben, die ganz neu ist. Sie heißt ✺Vegesack und wird von Jan Böhmermann gesungen. Der war schon zweimal in meinem Blog, er wird in den Posts Erdogan und Oase in der bremischen Wüste erwähnt. In dem letztgenannten Post können Sie auch lesen, dass Böhmermann gar nicht aus Vegesack kommt, der kommt aus Aumund. Das sollte man der Genauigkeit halber vermerken. Aber hören Sie einfach mal in den Song hinein, der so schöne Verse enthält wie: Wer braucht Paris, New York und Ankara, schaffst du es hier, kommst du überall klar. Vegesack! Oh du, mein Vegesack.

Dienstag, 26. November 2024

Citizen


Dies ist meine erste Citizen, ein Flohmarktfund zur D-Mark Zeit. Auf dem Zifferblatt und dem Schraubboden steht Parawater, so hatte die Firma ab 1959 ihre wasserdichten Uhren benannt. Die Uhr kostete damals nur kleines Geld, und der Händler sagte: Citizen Uhren laufen immer. Das traute ich dieser Uhr zu, sie war nie getragen worden. Die hellgrüne Leuchtmasse zwischen den Indizes und auf den Zeigern (sogar die kleine Kugel auf dem Sekundenzeiger) leuchtet nach einem halben Jahrhundert immer noch. Die Uhr hat ein wirklich gutes Handaufzugswerk mit einundzwanzig Steinen, das die Kalibernummer 1802 hat. 

Das Werk ähnelt dem Seiko Kaliber 6222, und man hat das Gefühl, dass das alles japanische Klone des guten alten Schweizer ETA 1080 der fünfziger Jahre sind. Hier auf dem Bild können wir links das Werk der Seiko Super aus dem Jahre 1950 erkennen, rechts ist das ETA 1080. Auf einer Seiko Seite steht zu diesem Thema: The ETA 1080 was a ground breaking movement and defined the architecture of many manually wound movements for the next decade. The similarity between the Seiko movement and the ETA movement developed at the same time is remarkable. While the size and overall architecture are clearly the same, the actual location of the pinions do not line up exactly so one movement is not a direct clone of the other. However, the ‘Super’ was never claimed by Seiko to be an in-house movement so does this mean the super was in some way related to the Swiss movement? We think it probably was.

Citizen Uhren laufen immer, erzählte mir nicht nur der Flohmarkthändler. Auch mein Uhrmacher sagte das. Er verkaufte die Promaster wie geschnitten Brot an Segler, Camper und Angler. Die Uhren gehen immer, sind wasserdicht  und leuchten nachts im Zelt. Ich habe einen Citizen Wecker bei ihm gekauft, der von einer dicken Batterie gespeist wird. Wenn der klingelt, dann hört man das noch in den nächsten Stockwerken des Hauses.

Ich schreibe heute über die japanische Uhrenmarke Citizen, weil vor hundert Jahren zum ersten Mal der Name Citizen auf einer Taschenuhr erschien. Deshalb hat man in diesem Jahr zur Feier eine Taschenuhr herausgebracht, die so aussieht wie das Modell von früher. Das Snowflake Zifferblatt soll wohl bedeuten, dass in den hundert Jahren viel Schnee in Japan gefallen ist. In Japan liebt man ja diese Snowflake oder Diamond Dust Zifferblätter für Luxusuhren, das ist bei Seiko nicht anders. Das Werk ist auf dem neuesten Stand der Technik, hat sogar eine Stoßsicherung. Und es ist mit seinen Côtes de Genève und der perlierten Platine ja auch optisch schön anzusehen.

Aber zu Schönheit kommt bei Uhren noch die Genauigkeit, und auch da glänzt das Werk. Auf den Schenkeln der Unruh können Sie Schrauben und Gewichte sehen. Wenn man so etwas baut, dann will man eine Uhr feinregulieren. So fein, dass sie ein Chronometerzeugnis bekommt. Denn damit wird sie ausgeliefert, allerdings wird es schwierig, solch eine Jubiläumsuhr zu kaufen. Zum einen liegt sie preislich mit 7.000 Euro erheblich über dem Flohmarktpreis meiner hundert Jahre alten IWC Taschenuhr, zum anderen wird es weltweit nur hundert Stück geben.

Meine Zenith Taschenuhr, die neben dem Computer liegt, ist schon erwähnt worden. Wenn der Uhrmacher Petersen die überholen würde, wäre sie bestimmt wieder ein Chronometer. Aber der Uhrmacher hat im Augenblick zu viel zu tun; und ich warte noch, dass ich meinen Eterna Chronometer zurückbekomme. Meine Bunn Special schafft die Chronometernorm bestimmt ohne Schwierigkeiten, die superflache goldene Hamilton aus den 1930er Jahren auch. Die beiden letztgenannten und meine alte IWC sind Uhren, die nach hundert Jahren auch noch dieses Chronometerzeugnis bekommen würden, das die Jubiläums Citizen hat. Taschenuhren können sehr genau gehen, wenn man sie über hundert Jahre in einer Lage laufen lässt. Und ihnen von Zeit zu Zeit ein Tröpfchen Öl an der richtigen Stellen spendiert.

1918 war das Shokosha Watch Research Institute von Kamekichi Yamazaki gegründet worden, aus dem die Firma Citizen hervorging. Uhren produzierte man noch nicht, man bildete erst einmal Uhrmacher aus. Aber im Dezember 1924 hat man diese erste 15-steinige Taschenuhr (es gab sie auch mit zehn Steinen) fertig, die den Namen Citizen trägt. Den Namen soll der Bürgermeister von Tokio Shimpei Goto vorgeschlagen haben, eine Uhr für die Bürger sollte es sein. Eine der ersten Uhren verehrt man dem Kaiser, der mit dieser Uhr sehr zufrieden ist. 1924 taucht auch ein anderer japanischer Firmenname auf, da erscheint zum ersten Mal der Markenname Seiko auf dem Zifferblatt einer Armbanduhr der 1881 gegründeten Firma von Kintarō Hattori. Den Namen Seiko lässt sich die Firma auch gleich als Markennamen schützen. Aber im Gegensatz zu Seiko ist Citizen noch keine Firma, es ist erst einmal nur der Name einer Uhr. Sechs Jahre später wird daraus mehr. Da kauft Yosaburo Nakajima (Bild), der vorher für eine Schweizer Firma in Tokio tätig war, das Shokosha Watch Research Institute und gründet mit einigen anderen die  Citizen Watch Co., Ltd. Es wird die größte japanische Uhrenfabrik werden. 

Es ist auch Schweizer Kapital und Know-How bei der Gründung dabei gewesen. Und man muss auch betonen, dass alle japanischen Uhren der 1920er Jahre mit Schweizer Maschinen gefertigt wurden. Ohne die Schweiz geht noch nichts in Japan. Der eigentliche Gründer von Citizen ist ein Schweizer namens Rodolphe Schmid, der in Neuchâtel eine Uhrenfabrik mit dem Namen Cassardes besaß. Schmid war als Dreiundzwanzigjähriger 1894 nach Yokohama gekommen, handelte mit Uhren und hatte in den 1920er Jahren eine Uhrenfabrik mit zweihundert Beschäftigten in Tokio. In seiner Firma arbeiteten als Geschäftsführer Yosaburo Nakajima und Ryoichi Suzuki, die heute als die Citizen Gründer gefeiert werden. 

Der Markenname Citizen wurde 1930 in der Schweiz von der Uhrenfabrik R. Schmid & Co. eingetragen, die auch als Lieferant von Uhrenteilen und Zifferblättern von Citizen auftrat. Schmid hatte zusammen mit seinen Geschäftsführern Yosaburo Nakajima und Ryoichi Suzuki auch noch eine kleine Firma namens Star Watch Company, mit der sie Schweizer Uhren importierten. Insbesondere die Mido Multifort. Denn jetzt sind unkaputtbare Armbanduhren wie die Mido Multifort und die Wittnauer Allproof (die sich schon in dem Post Sportuhren findet) angesagt, nur so etwas kann man in Asien verkaufen. 

Alle drei Armbanduhren, die Citizen in den dreißiger und vierziger Jahren herausbringt, sind Kopien von Mido Uhren. Die ersten Citizen Werke nach Schweizer Vorbild sehen noch recht einfach aus. Im Absatz oben ist das 15-steinige Werk der Type F, der ersten Armbanduhr im Jahre 1931. Diese schlichte und einfache Uhr kostet heute bei ebay tausend Euro. Vielleicht gibt es ja Sammler dafür. Ich hätte lieber den Chronometer, den Citizen von 1962 bis 1966 gebaut hat, um der Firma Seiko mit ihren Grand und King Chronometern zu zeigen, dass sie so etwas auch könnten. Zwischen dem ersten Armbanduhrenwerk von Citizen und diesem Chronometer liegen genau dreißig Jahre und ganze uhrmacherische Welten.

Heute ist Citizen, die durch ihren Werkehersteller Miyota auch andere Firmen beliefern, der größte japanische Uhrenhersteller. Wenn man sich einmal die Chinesen wegdenkt, über deren Produktionszahlen man nichts weiß, ist Citizen wahrscheinlich der größte Uhrenhersteller der Welt. Genaue Verkaufszahlen gibt es nicht, aber man schätzt, dass die Firma zweihundert Millionen Uhren im Jahr verkauft. Dagegen nimmt sich der Schweizer Riese Rolex mit einer Million wie ein Zwerg aus. Wenn bei der Gründung der Firma Citizen auch die Schweiz ein bisschen mit ihm Spiel war, sieht das heute anders aus: Citizen kauft sich ein bisschen von der Schweiz. Im März 2012 erwarb die Citizen Watch Ltd die in La Chaux-de-Fonds ansässige Firma Prothor Holding, zu der die Prototec SA, die La Joux-Perret SA und die Luxusuhrenhersteller Graham Watches SA und Arnold & Son (The British Masters) gehörten. Im Mai 2016 kaufte Citizen die Schweizer Frédérique Constant Gruppe mit den Marken Frédérique Constant, Alpina und Ateliers de Monaco.

Früher sagte man zu den Uhren von Citizen Kaufhausuhren, weil man sie bei Karstadt und Hertie kaufen konnte und nicht beim Juwelier erwarb. Von den Kaufhäusern ist wenig übriggeblieben. Karstadt heißt jetzt Galeria, hat aber immer noch Citizen im Angebot. Die preiswerteste Citizen Uhr kostet 99 Euro, die teuerste 695 Euro. Was man nicht bei Galeria kaufen kann, ist das Luxusmodell The Citizen, das soviel wie eine Rolex kostet und zur Hundertjahrfeier auch in Deutschland erhältlich sein soll.

Ich weiß nicht, ob Citizen etwas für Sammler ist, aber ich habe mir im Jubiläumsjahr eine Citizen gegönnt, die vielleicht eine kleine Seltenheit ist. Denn da, wo normalerweise der Firmenname auf dem Zifferblatt steht, steht bei dieser Uhr Nippon Express Co. Ltd. Es ist eine Jubiläumsuhr aus dem Jahre 1968, die an verdiente Mitarbeiter von Nippon Express ausgegeben wurde. Die Uhr hat eine schöne Größe von 36 mm und liegt dank der tief gezogenen Hörner (spider lugs) auch sehr gut auf dem Arm. In der Uhr werkelt ein 17-steiniges Automatikwerk, das ist nix Dolles. Aber die Uhr geht immer, sogar sehr genau. Weil eine Citizen immer geht.

Donnerstag, 21. November 2024

Magic Mountain


Thomas Manns Roman Der Zauberberg wird hundert, das Feuilleton hat jetzt etwas über den Jahrhundertroman zu schreiben, der als Kurzgeschichte geplant war und dann ein unförmiges Opus wurde. Viele Journalisten zitieren Susan Sontags Satz No book has been more important in my life than 'The Magic Mountain'. Als sie fünfzehn war, hatte sie ihr Tagebuch a book for all of one’s life eingetragen. Als sie sechzehn war, interviewte sie Thomas Mann in Pacific Palisades und schrieb in ihr Tagebuch: I interrogated God this evening at six. Das ist jugendlicher Enthusiasmus, wir lassen das mal so stehen. Ich habe Susan Sontag nie für eine bedeutende Kritikerin gehalten, ich habe Joan Didion immer höher eingeschätzt. Susan Sontag hat sich immer reichhaltig auf dem französischen Markt der Ideen bedient und das dann in Amerika verkauft. Originell an ihren Ideen war wenig, aber als Teenie hatte sie ein Interview mit Gott.

Es gibt in diesem Blog viel Thomas Mann (der Post mit den meisten Lesern heißt Fickfackerei), aber es gibt keinen Post zum Zauberberg. Es gibt zwar einen Post Zauberberg, aber der handelt von einem italienischen Film mit Michael Caine: Es wird viel geredet in dem mit vielen Stars besetzten Film, aber inhaltlich gesehen, sagt uns eine Seite von Thomas Manns 'Zauberberg' mehr als der ganze Film. Und an Clawdia Chauchat kommen die ganzen exotischen Schönheiten auch nicht heran. Paolo Sorrentino, der den wunderbaren Film 'La Grande Bellazza' (lesen Sie dazu mehr in Felliniesque) gedreht hat, hat Michael Caine einen schönen Urlaub in einem alpinen Wellness Hotel verschafft. Ein Teil der Dreharbeiten wurde in dem Hotel gemacht, in dem Thomas Mann an seinem Zauberberg geschrieben hatte.

Ich habe den Zauberberg zum ersten Mal 1966 in einer Ausgabe von Gottfried Bermann Fischer (der ja die Tochter von S. Fischer geheiratet hatte) als Lizenzausgabe des S. Fischer Verlags gelesen, 657 eng bedruckte Seiten lang. Thomas Manns Verleger Samuel Fischer hat hier schon einen viel gelesenen Post. In der G.B. Fischer Ausgabe ist auch eine Rede abgedruckt, die Thomas Mann im Mai 1939 vor den Studenten von Princeton gehalten hat. Es ist eine Art Gebrauchsanweisung für die Lektüre des Romans. 

Die Rede (die ich hier zusammen mit dem ganzen Roman habe) beginnt mit der sehr arroganten Forderung, dass man den Roman zweimal lesen müsse. Was Mann sogleich relativiert: Diese Forderung wird natürlich sofort zurückgezogen für den Fall, daß man sich das erste Mal dabei gelangweilt hat. Kunst soll keine Schulaufgabe und Mühseligkeit sein, keine Beschäftigung contre coeur, sondern sie will und soll Freude bereiten, unterhalten und beleben, und auf wen ein Werk diese Wirkung nicht übt, der soll es liegen lassen und sich zu andrem wenden. Es lohnt sich immer noch, diese Rede zu lesen, die in vielen deutschen und englischen Ausgaben des Romans als Vorwort abgedruckt ist.

Seinem Roman Doktor Faustus (den ich in der Stockholmer Erstausgabe besitze) hat Thomas Mann das nützliche kleine Buch Die Entstehung des Doktor Faustus folgen lassen, das den Untertitel Roman eines Romans hat. So etwas haben wir für den Zauberberg leider nicht, deshalb sollten wir den Princeton Vortrag von 1939, den Thomas Mann übrigens in englischer Sprache hielt, als ein  wichtiges Hilfsmittel zum Verständnis des Romans nehmen. Ich kann Ihnen hier die originale Rede The Making of 'The Magic Mountain' anbieten.

Den 'Zauberberg' habe ich nie zu Ende gelesen, das war mir zu langweilig, hat Karl Lagerfeld gesagt. Der Mann, der angeblich 200.000 Bücher besaß, hat auch gesagt, dass er die Buddenbrooks auswendig kenne. Man muss Präferenzen setzen im Leben. Tolstois Krieg und Frieden lese ich jetzt zum dritten Mal, James Joyces Ulysses habe ich zwei Mal gelesen, Prousts Recherche auch. Mindestens. Moby-Dick habe ich sechs Mal gelesen, aber das war auch berufsbedingt. Den Zauberberg habe ich gleich wieder gelesen, als ich die erste Lektüre beendete. Was ich von Thomas Mann nie zu Ende gelesen habe, ist Joseph und seine Brüder. Der fette Band steht so gut wie ungelesen im Regal. Im Originalschuber. Als ich 1966 den Zauberberg las, studierte ich noch Germanistik. Das wissen Sie, wenn Sie den Post Kafka? gelesen haben. Ich habe dieses Studium aufgegeben, weil ich da wenig lernen konnte, ich hatte schon alles gelesen. Auf der 15-seitigen Leseliste, die Karl Otto Conrady 1966 seinem Buch Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft anfügte, konnte ich achtzig Prozent mit einem Häkchen versehen, perlegi. Als ich das Proseminar über Thomas Manns Erzählungen besuchte, stellte ich nach wenigen Wochen fest, dass der Dozent und ich die einzigen in dem Hörsaal Alte Mensa waren, die alle Erzählungen Thomas Manns gelesen hatten.

Germanistikstudenten hatten sich frühzeitig angewöhnt, Thomas Mann ein bisschen liebevoll, aber auch ein bisschen herablassend, den Tommy zu nennen. Ich habe das auch wohl einige Male getan, wenn ich ihn erwähnte. Und er ist häufig in diesem Blog gewesen. Häufig mit Nebensächlichkeiten wie in dem Post Segelboote. Ich bitte zu beachten, dass das einer meiner ersten Posts war. Es geht darin um unser Ruderboot F-47, Mahagoni geklinkert, gebaut bei Abeking und Rasmussen. In solch einem Boot ist Thomas Mann auch gerudert, denn die Familie Pringsheim hatte bei A+R gleich zwei Boote gekauft (Baunummern 369 und 370). Und dann ist da noch eine weitere Segelbootverbindung. A+R baute eine Segelyacht des Typs Concordia, die bei den Millionären der amerikanischen Ostküste sehr beliebt war. Es war die erste Yacht, die sich Elizabeth Meyer kaufte, die später durch ihre Yachtkäufe berühmt wurde. Elizabeth Meyer ist die Enkelin von Agnes Meyer, die als Mäzenin Thomas Mann im amerikanischen Exil durchfütterte. Aus diesem kleinen Post könnte man einen ganzen Roman machen.

Der Zauberberg kommt immer wieder in diesem Blog vor. Wie zum Beispiel in dem Post Blauer Dunst, wo es um eine Bremer Zigarrenmarke geht. Denn die Maria Mancini aus Bremen kommt auch schon im Zauberberg vor: »Wie schmeckt der Krautwickel, Castorp? Lassen Sie mal sehen, ich bin Kenner und Liebhaber. Die Asche ist gut: was ist denn das für eine bräunliche Schöne?« »Maria Mancini, Postre de Banquett aus Bremen, Herr Hofrat. Kostet wenig oder nichts, neunzehn Pfennig in reinen Farben, hat aber ein Bukett, wie es sonst in dieser Preislage nicht vorkommt. Sumatra-Havanna, Sandblattdecker, wie Sie sehen. Ich habe mich sehr an sie gewöhnt. Es ist eine mittelvolle Mischung und sehr würzig, aber leicht auf der Zunge. Sie hat es gern, wenn man ihr lange die Asche läßt, ich streife nur höchstens zweimal ab. Natürlich hat sie ihre kleinen Launen, aber die Kontrolle bei der Herstellung muß besonders genau sein, denn Maria ist sehr zuverlässig in ihren Eigenschaften und luftet vollkommen gleichmäßig. Darf ich Ihnen eine anbieten?« Ich weiß zwar nicht, weshalb in einem Sanatorium für Lungenkranke Zigarren geraucht werden, aber der Schriftsteller, der jeden Tag ein Dutzend Zigaretten und zwei leichte Zigarren rauchte, will das so.

In dem Post Frauen und Zigarren können Sie lesen: Dem Zigarrenraucher Mark Twain verdanken wir eine Vielzahl von schönen Zitaten zum Thema Zigarren. Wie zum Beispiel: 'Zuerst schuf der liebe Gott den Mann, dann schuf er die Frau. Danach tat ihm der Mann leid, und er gab ihm den Tabak'. Zigarren können den Namen von Frauen tragen wie die Maria Mancini, die Thomas Mann in den 'Zauberberg' hineinschreibt. Da heißt es über den jungen Hans Castorp, dass er die bürgerliche Arbeit nicht liebe, weil sie dem ungetrübten Genuß von Maria Mancini etwas im Wege war. Thomas Mann bezog seine Zigarren von der Bremer Firma Hagedorn und Söhne, die Marke Maria Mancini ist übrigens wiederbelebt worden. Und nicht nur das, ein Jahr nach der Publikation von Der Zauberberg überlegte die Bremer Firma ernsthaft, ob sie nicht eine Zigarre mit dem Markennamen Thomas Mann herausbringen sollte.

1931 rauchte man im Münchener Rotary Club noch Zigarren: Wir hatten beim letzten Lunch, als Ihr Brief vorgelesen wurde, leider keine geeignete Pfeife zur Hand und mussten uns daher mit Zigarren begnügen. Der Brief aus dem amerikanischen Keokuk, der an alle Rotary Clubs der Welt gegangen war, enthielt den Wunsch, dass alle eine Friedenspfeife rauchen sollten. Aus dieser schönen Idee wird nichts werden. Zwei Jahre später stößt der Münchener Rotary Club seinen berühmtesten Zigarrenraucher aus den Reihen aus. Thomas Mann schreibt am 8. April 1933 in seinem Tagebuch, es bliebe ihm nur ein Staunen über den Seelenzustand dieser Menschen, die mich, eben noch die ,Zierde' ihrer Vereinigung, ausstoßen ohne ein Wort des Bedauerns, des Dankes, als sei es ganz selbstverständlich

Neben den Nebensächlichkeiten gibt es auch Substantielleres im Blog. In dem Post Grand Hotel findet sich eine sehr nützliche Literaturempfehlung: Ich muss noch ein Buch erwähnen, dessen Verfasser ebenso detektivisch wie Luzius Keller in seinem Buch 'Proust im Engadin' vorgeht und das auch mit dem Grand Hotel zu tun hat. Es ist von keinem Literaturwissenschaftler, sondern von einem Journalisten. Der Hamburger Günther Schwarberg hat vor Jahren mit 'Es war einmal ein Zauberberg: Eine Reportage aus der Welt des deutschen Zauberers Thomas Mann' ein wirklich nettes Buch (die NZZ fand es nicht so gut, aber die Schweizer haben an Büchern über die Schweiz ja immer etwas zu mäkeln) über Thomas Mann und das Grand Hotel in Davos geschrieben. Günther Schwarberg kommt aus dem gleichen Bremer Vorort wie ich, sein Vater war ein Kollege meines Opas an der Schule. Sie konnten sich nicht leiden, Schwarbergs Vater war Sozialdemokrat, mein Opa hing immer noch an seinem Kaiser. Günter Schwarberg ist nach einer Vielzahl von journalistischen Stationen beim 'Stern' gelandet. Er hat wichtige Bücher geschrieben, wie zum Beispiel 'Der SS-Arzt und die Kinder vom Bullenhuser Damm' oder 'Das Getto: Spaziergang in die Hölle' (über unseren Vegesacker Kriegsverbrecher Többens). Von solcher Bedeutung ist 'Es war einmal ein Zauberberg' nicht. Dies ist der Versuch, die reale Basis von Thomas Manns Roman 'Der Zauberberg' zu finden, vom Bechstein Klavier (Fabrikationsnummer 112629) bis zum Bleistift, den Madame Chauchat dem jungen Hans Castorp leiht. Aber Schwarberg wäre nicht Schwarberg, wenn er nicht auch Politisches in das Buch brächte. Und so fehlt hier auch die Ermordung von Wilhelm Gustloff in Davos und die Vertreibung Thomas Manns aus Deutschland nicht.

In dem Post François Truffaut können wir lesen: Das Schwarzweiß Photo zeigt Truffaut im Smoking an der Seite von Marie-France Pisier. Mit siebzehn war sie in Truffauts Antoine und Colette zu sehen. Da hat sie Truffaut so verzaubert, dass er gleich seine Frau verlassen hat. Aber es hat nicht lange gehalten mit den beiden. Das ist bei Truffaut immer so. Zwanzig Jahre später ist sie Clawdia Chauchat, die Hans Castorp im 'Zauberberg' den Kopf verdreht. Und noch einmal Jahrzehnte später konnten wir sie als Madame Verdurin in Raúl RuizLe Temps retrouvé sehen. Das ist eine Romanverfilmung, die man sich ansehen kann.

Von Geißensdörfers Verfilmung von Der Zauberberg (die ich hier für Sie in der langen TV-Version habe) halte ich nicht so furchtbar viel. Literatur zu verfilmen, ist eine schwierige Sache. Große Literatur zu verfilmen, ist noch schwieriger. Sie können einiges dazu in dem Post The Go-Between lesen, in diesem Blog ist ja viel von Literaturverfilmungen die Rede. Bertrand Tavernier wäre meiner Meinung nach der richtige Regisseur für den Roman von Thomas Mann gewesen. Denn Un dimanche à la campagne nach dem Roman Monsieur Ladmiral Va Bientot Mourir von Pierre Bost, das ist schon richtige Kunst. 

Geißendörfers Film, den es in einer 150-minütigen Kinofassung und einer doppelt so langen Fernsehfassung gibt, ist eher eine Nummernrevue für bekannte Filmschauspieler (mit einer guten Kameraarbeit von Michael Ballhaus) als eine Romanverfilmung. Ich mag den Film trotzdem, weil Marie-France Pisier als kirgisenäugige Clawdia Chauchat, die breite Backenknochen und schmale Augen hat, in dem Film ist. Und weil Hans Christian Blech gut in die Rolle des Hofrats Dr Behrens passt. Und wenn der Film jemanden dazu bringt, den Roman zu lesen, dann ist das ja auch eine gute Sache.

Bei dieser Blütenlese aus Erwähnungen von Der Zauberberg in diesem Blog, muss natürlich ein Post hervorgehoben werden, in dem sehr viel zu dem Roman steht. Dieser Post heißt Gerhart Hauptmann, das hat einen einfachen Grund. Weil Thomas Mann sich einen kleinen literarischen Spaß daraus gemacht hat, den Schriftsteller Gerhart Hauptmann in den Mynheer Peeperkorn zu verwandeln: Kurz: einem Holländer, einem Säufer, einem Giftmischer, einem Selbstmörder, einer intellektuellen Ruine, von einem Luderleben zerstört, behaftet mit Goldsäcken und Quartanfieber, zieht Thomas Mann meine Kleider an. Der Golem lässt Sätze unvollendet, wie es zuweilen meine Unart ist. Wie ich, wiederholt er oft die Worte 'erledigt' und 'absolut'. Ich bin sechzig Jahre alt, er auch. Ich trage, wie Peeperkorn, Wollhemden, Gehrock, eine Weste, die bis zum Halse geschlossen ist. In dem herrlichen Hiddensee'er Klima hatten sich meine Fingernägel beinahe zu Teufelskrallen entwickelt, wie die Peeperkorns. Meine Augen sind klein und blass und werden nicht größer, wenn ich auch, wie Peeperkorn, nach Kräften versuche, die Augenbrauen heraufzuziehen. [...] Thomas Mann hat mich einmal auf seine Verantwortung den "ungekrönten König der Republik" genannt, daraus ist ein Kaffeekönig geworden. Und wenn Peeperkorn eine 'sommersprossige Kapitänshand' zeigt, so ist zu erwägen, dass Kapitän eben auf deutsch Hauptmann heisst. Das schreibt Hauptmann im Januar 1925 an Samuel Fischer, er war ziemlich beleidigt.

Wenn man Thomas Mann Der Zauberberg bei ebay oder booklooker eingibt, findet man erst einmal seitenlang Sekundärliteratur zu dem Roman. Die lässt man am besten weg. Ab fünfzehn Euro bekommt man schon den Roman; nehmen Sie keine Paperbackausgabe, die Geschichte liest sich am besten in einem schönen großen Buch mit einem Leinenrücken. Wer aber mit dem 'Zauberberg' überhaupt einmal zu Ende gekommen ist, dem rate ich, ihn noch einmal zu lesen, denn seine besondere Machart, sein Charakter als Komposition bringt es mit sich, da das Vergnügen des Lesers sich beim zweiten Mal erhöhen und vertiefen wird, sagt uns Thomas Mann. Glauben Sie ihm.


Montag, 18. November 2024

Poe im November


Er hat am 14. November 1848 in Stonington die Fähre nach New York bestiegen und schreibt der reichen Witwe, der Dichterin Sarah Helen Whitman, noch schnell einen Brief: My own dearest Helen, so kind so true, so generous — so unmoved by all that would have moved one who had been less than angel: — beloved of my heart of my imagination of my intellect — life of my life — soul of my soul — dear, dearest Helen, how shall I ever thank you as I ought.
I am calm & tranquil & but for a strange shadow of coming evil which haunts me I should be happy. That I am not supremely happy, even when I feel your dear love at my heart, terrifies me. What can this mean?
Perhaps however it is only the necessary reaction after such terrible excitements.
It is 5 o’clock & the boat is just being made fast to the wharf. I shall start in the train that leaves New York at 7 for Fordham. I write this to show you that I have not dared to break my promise to you.
And now dear dearest Helen be true to me

Er wäre nicht Edgar Allan Poe, wenn da nicht a strange shadow of coming evil im Brief stände. Er hat in den letzten Wochen eine Vielzahl von →Liebesbriefen geschrieben, hatte sich vor seiner Abfahrt im Studio von W.S. Hartshorn in Providence (Rhode Island) photographieren lassen. Hartshorn besitzt mit einem Kompagnon das Studio, aber die beiden Herren photographieren nicht selbst. Dazu holen sie sich Fachleute aus der Nachbarschaft. In diesem Fall war das ein Photograph namens Edwin H. Manchester, das können wir bei der Library of Congress nachlesen. Was Edwin H. Manchester am Morgen des 9. November 1848 photographiert, wird das berühmteste →Bild von Poe werden. Es ist das einzige Bild von Poe, auf dem er keine schwarze Krawatte oder Schleife trägt, sondern ein weißes Tuch umgeschlungen hat. I am trying to obtain a photograph for you from a daguerre of Poe taken in this city. It was taken after a wild distracted night (of which I will tell you the story hereafter) — when 'He had wandered home but newly From an ultimate dim Thule — A wild, weird clime, Out of space, out of time'. And all the stormy grandeur of that via Dolorosa had left its sullen shadow on his brow. But it was very fine, hat Mrs Whitman vier Jahre vor ihrem Tod an John H. Ingram geschrieben, der mit →Edgar Allan Poe: His Life, Letters, and Opinions die erste seriöse Biographie Poes vorlegt.

Vier Tage später ist Poe wieder im Studio von Hartshorn, um sich noch einmal photographieren zu lassen. Wieder photographiert ihn Edwin H. Manchester, der eines Tages den Laden von Hartshorn übernehmen wird. Das Bild ist für Sarah Helen Whitman bestimmt, mit der Poe sich gerade verlobt hat. Auf dem Swan Point Friedhof von Providence. Konnte er sich keinen anderen Ort aussuchen? Man muss dabei allerdings bedenken, dass die Anwohner von Providence diesen gartenartigen Friedhof als einen öffentlichen Park betrachten. Poe hat seiner Verlobten nicht erzählt, dass er drei Tage vor dem ersten Photo versucht hatte, sich mit einer Überdosis Laudanum das Leben zu nehmen.

Weihnachten wollten sie heiraten. Am 23. Dezember sitzen sie wieder im Athenæum, dem kulturellen Zentrum von Providence, beisammen, als ein Bote Mrs Whitman eine Nachricht überreicht. Poe hatte bei der Verlobung geschworen, den Alkohol aufzugeben, aber offenbar hatte er wieder mit dem Saufen angefangen. Sarah Helen Whitman bricht die Verlobung ab. In einem Brief an seine neue Brieffreundin Annie L. Richmond wird Poe von einem terrible day sprechen. Poes Brief vom Januar 1849 an Sarah Helen Whitman wird nicht mit My own dearest Helen sondern mit Dear Madam beginnen. In dem Brief beschuldigt er ihre Mutter, die Hochzeit hintertrieben zu haben. Was wohl der Wahrheit entspricht. Aber der Alkohol hat sicher auch eine Rolle gespielt.

Eine Novemberwoche. Ein Selbstmordversuch, zwei Photographien, eine Verlobung. Nach dem 23. Dezember 1848 im Athenäum haben sich Poe und Whitman nie wiedergesehen. Zehn Monate später war er tot. Man hatte ihn im Oktober 1849 in Baltimore auf der Straße gefunden, in great distress, and ... in need of immediate assistance. Sarah Helen Whitman hat das Photo, das er ihr schenkte, bis zu ihrem Tod aufbewahrt. Er habe eine sweet and serene expression, hat sie geschrieben. Der größte Fehler des armen Edgar Allan Poe in seinem Leben ist es gewesen, Rufus Griswold zum Verwalter seines literarischen Werkes zu machen. Der wird einen Nachruf und einen biographischen Abriss in der Werkausgabe schreiben, die eine Verleumdungskampagne par excellence ist. Aber da meldet sich, elf Jahre nach seinem Tod, seine ehemalige Verlobte mit dem Buch Edgar Allan Poe and His Critics zurück. In dem sie ihn und sein Werk gegen Griswold und andere Kritiker verteidigt. We loved with a love that was more than love, hat Poe in seinem Gedicht Annabel Lee geschrieben. Sarah Helen Whitman, die so energisch seinen literarischen Ruf verteidigt, hat immer geglaubt, diese Zeile sei für sie geschrieben. 

Samstag, 16. November 2024

Happy Birthday, Diana Krall

In dem Post über Melody Gardot habe ich geschrieben, dass Melody Gardot unterschätzt wird, so wie Diana Krall überschätzt wird. Ich mag sie trotzdem, und ich habe ein halbes Dutzend CDs von ihr. Und an ihrem Geburtstag soll es hier etwas von ihr geben. Es fällt mir nicht schwer, einen Musiktitel auszusuchen, es ist ein Lied, bei dem ich immer wieder die Wiederholungstaste drücke. Das Lied A Case of You ist auf der CD Live in Paris. Ihr erstes Live-Album ist schon über zwanzig Jahre alt, aber Diana Krall singt das Lied immer noch. Ich habe hier eine Aufnahme der Off Studio Productions von 2015, die ist auch sehr schön. Ohne die Geburtstagsfreude trüben zu wollen, muss man natürlich sagen, dass ihr Lied A Case of You eine Coverversion eines fünzig Jahre alten Liedes einer anderen Kanadierin ist. Und Sie hören jetzt bei Joni Mitchell einmal hinein (die singt das auch 2022 noch). Und herzliche Glückwünsche schicken wir natürlich auch nach Kanada. Das ist ja ein Land, in das einige Amerikaner ziehen werden, wenn Trump Präsident ist. Eva Longoria zum Beispiel hat das schon angekündigt.


Donnerstag, 14. November 2024

niemals nie sagen

Als ich den Post und jetzt nix mehr geschrieben hatte, machten sich einige Leser Sorgen um mich. Fragten, ob ich krank sei. Und versicherten mir, dass man niemals mit dem Sammeln aufhöre. Das sei ja der Sinn des Sammelns. Gut, ich wollte mit der Zenith Defy aufhören, denn so etwas bekommt man so schnell nicht wieder, vor allem nicht zu dem Preis. Aber ich gucke trotzdem immer noch in die Kataloge, die mir die Firma Henry's freundlicherweise zusendet, so wie wie ich in die Kataloge von Antiquariaten gucke. Bücher sind billig geworden, aber leider nicht alle. Das, was man sucht, ist immer teuer, das ist eine Grunderfahrung des Sammelns. Am besten sucht man nicht gezielt, sondern überlässt das Finden dem Zufall. In einem erstaunlich gut sortierten Antiquariat bei ebay fand ich Joseph Darracotts England's Constable: The Life and Letters of John Constable von der Londoner Folio Society, ungelesen und noch im Schuber, für sieben Euro. Portofrei. Obgleich ich schon zahlreiche Bücher über John Constable habe, habe ich das Buch doch gekauft.

Und obgleich ich ja eigentlich keine Uhren mehr sammle, habe ich doch einige gekauft. Das fängt mit dieser Dugena Watertrip an, die mal in den siebziger Jahren eine Taucheruhr war. Es gibt davon eine Vielzahl von Modellen, die je nach Gehäuse hundert oder zweihundert Meter wasserdicht waren. Die Dinger sind ziemlich teuer geworden, aber dieses Teil mit den orangefarbenen Indizes und den leuchtenden Zeigern, bei dem skin diver auf dem Gehäuseboden steht, war erstaunlich preiswert. Hat ein Handaufzugswerk, das von der Firma Bifora kommt. Die hatten ja sogar mal ein Chronometerwerk im Angebot gehabt. So eine Bifora Unima mit der Schwanenhals Feinregulierung kostet heute schon richtiges Geld. Meine Watertrip hier hat nicht mehr dieses Band, sie hat jetzt ein dickes schwarzes Band aus Haifischleder. Das muss eine echte Taucheruhr haben. Das Band war vorher an der Taravana gewesen, die gerade ein stilechtes sechziger Jahre Stelux Band bekommen hat.

Da ich gerade die Bifora Unima Chronometer erwähnt habe, muss ich auf einen Zenith Chronometer kommen, den ich bei kleinanzeigen fand. Ich bekam keine zittrigen Finger, als ich die Anzeige sah, in der eine Zenith Captain Chronometre angeboten wurde. Ich wollte ja keine Uhren mehr kaufen. Und ich besaß ja, da haben mehr als dreißig Jahre Flohmärkte ihre Spuren hinterlassen, ein halbes Dutzend Zenith Uhren. Da braucht man eigentlich keine mehr. Ich kenne noch alle Händler, bei denen ich sie gekauft habe. 

Manche habe ich schon hier im Blog erwähnt, von dem netten Herrn Brandt aus Hameln (der im Post Flohmarkt erwähnt wird) habe ich eine Zenith Defy und eine Zenith Surf. Vom Holger eine Sporto und von Barni die AF/D. Was für alta frequenza precisione steht. Zenith verkaufte sehr viele Uhren nach Italien. Das kann man bei ebay noch merken: die besten Uhren sind bei italienischen Händlern. Zenith belieferte auch die italienische Marine mit der 200 Meter wasserdichten S-58 Uhr. Da hatte der für die Regierung tätige Händler Antonio Cairelli in Rom die ganze Produktion von 2.500 Uhren aufgekauft. Cairelli belieferte auch die italienische Luftwaffe mit Zenith Chronographen. Was ich jetzt bei kleinanzeigen sah, war etwas ziemlich Luxuriöses und Seltenes. Wenn die Uhr gut war, dann wäre das zu dem Preis ein Schnäppchen. Es war eine Zenith Captain Chronometre. Nicht in Gold, wie dieses Modell hier. Das hier wird um 1950 eins der ersten Captain Modelle gewesen sein. 

Die goldene Captain sieht ein klein wenig wie ein Klon dieser Omega Constellation hier aus, aber das war etwas, wo Zenith mit der Linie Captain hinwollte. Noch höher hinaus. In der Captain Linie, die über zwanzig Jahre lang gebaut wurde, finden sich viele Golduhren und viele Uhren, die den Schriftzug Chronometre auf dem Zifferblatt haben. 

In dem goldenen Constellation Klon klötert eine Hammerautomatik, das Kaliber 133, das Ephrem Jobin für Zenith konstruiert hatte. Ich will nichts gegen Hammerautomatikwerke sagen, wenn man sie vorsichtig behandelt, können sie lange eine Uhr aufziehen. Ich habe sie in Uhren von Alpina, Cyma, Eterna, Omega und Tissot. Die Alpina President ist am lautesten. Das kleinste Werk ist in meiner Cyma Watersport, einer sehr eleganten Uhr. Sie können es hier sehen. Bei anderen Firmen füllen die Hammerautomatikwerke die Uhrengehäuse aus. Hier nicht. Dafür macht die Uhr auch nur ganz leise Geräusche

Ich wollte nie eins von den Wald-und Wiesenmodellen haben, auf deren Zifferblatt Captain steht. Ich wollte, wie wahrscheinlich alle Zenith Sammler, entweder die erste in Gold mit der Hammerautomatik oder dieses spezielle siebziger Jahre Modell haben, das firmenintern den Namen la tortue hatte. Das heißt auf deutsch Schildkröte, und den Namen hat sie, weil sie wie der Rücken einer Schildkröte aussieht. Die buckelige Uhr ist mit 38 mm auch größer als die Vorgänger. Es ist eins dieser typischen siebziger Jahre Monster, die Sie in dem Post was Fettes am Arm sehen können.

Und sie hat mit dem Kaliber 2562 PC auch das neueste Automatikwerk der Firma, das 28.800 Halbschwingungen schnell ist. Das Werk, das auch in der zweiten Serie der 3642 Defy verbaut wurde, sieht genauso aus wie all die anderen Zenith Kaliber der 25er Reihe. Hat aber eine Feinregulierung, weil es ein geprüfter Chronometer ist. Von alledem konnte man bei dem Angebot bei kleinanzeigen nichts sehen. Da gab es nur ein einziges mickriges Bild der Uhr. Ich bat den Händler um einige bessere Bilder. Er schickte welche, aber man konnte darauf wenig von der Uhr erkennen. Die Feinregulierung sah aus, als wäre sie mit Rost überzogen. Ich bedankte mich und winkte ab.

Kaufte mir erstmal eine verhältnismäßig preisgünstige Seiko QZ bei Tokei Japan. Die QZ war die letzte teure Quarzuhr von Seiko in den siebziger Jahren, die kam 1975 auf der Seiko Preisliste nach der Grand Quarz und der King Quarz. Sie blieb nicht lange im Angebot, denn ab 1977 kamen die Seiko Type II Uhren auf den Markt, die die Hälfte einer QZ kosteten. Und von denen Seiko fünfundneunzig verschiedene Modelle baute, das ist unglaublich. Die QZ hat ist ein knuffiges Teil, man merkt dem Gehäuse an, dass das noch Wertarbeit war. 

Vor allem, wenn man tagelang die Mikrokratzer aus dem Gehäuse poliert hat, dann kennt man die Uhr gut. Das Tollste an der Uhr ist natürlich dieses Diamond Dust Zifferblatt, das manchmal auch als Snowflake bezeichnet wird. Das tauchte zuerst auf der Grand Seiko auf, es war für die Uhr eine Art Markenzeichen (und Grand Seiko Uhren haben heute immer noch solche Zifferblätter). Es ist unglaublich, welchen Aufwand die Firma Seiko mit ihren Zifferblättern treibt. Auf den ersten Blick erscheint es wie ein schlichtes weißes Zifferblatt, aber auf den zweiten Blick erkennt man die Struktur.

Der Händler, dem ich zum Abschied meine Internetseite mit den Zenith Uhren geschickt hatte, meldete sich plötzlich wieder. Er schickte erst einmal bessere Bilder vom Innenleben der Uhr. Und schrieb dann, dass die Uhr in einem sehr guten Zustand sei, er hätte sie bei einem holländischen Zenith Händler gekauft. Die Zenith Captain Chronometre rückte wieder in mein Blickfeld. Die Photos sahen gut aus, kein Rost auf der Feinregulierung, die Geschichte mit dem Holländer klang glaubhaft. Ich dachte einen Tag nach und machte ein Kaufangebot, das etwas unter seiner Preisvorstellung lag. Er nahm das umgehend an. Ich glaube, er hatte auf einen Spinner wie mich gewartet. 

Die Uhr wurde mir zwei Tage später von der Briefzustellkraft übergeben, dieses neue Wort habe ich von DHL gelernt. Hieß früher Briefträger oder Postbote. Wir haben ja für vieles neue Wörter, die sich glücklicherweise nie in meinen Blog verirren. Die Uhr war wirklich in einem ausgezeichneten Zustand, keine Flecken auf dem Zifferblatt, keine Kratzer auf dem Glas. Und kein Rost im Werk. Ich entfernte, das etwas defekte Armband und spendierte der Uhr ein neues 20 mm Band. Sie bekam das weiße Straußenlederband, das vorher die Seiko Grand Quartz gehabt hatte, das sieht gut an dieser Uhr aus. Die Seiko Grand Quartz konnte nicht enttäuscht sein, sie hat jetzt ein dunkelgrünes Krokoband bekommen, das hatte ich noch in der Schublade. Ich habe diesen Post mit der Seiko QZ am Arm geschrieben. 

Die Zenith Captain Chronometre tüdelt auf dem automatischen Uhrenbeweger herum, das kann ihr nicht schaden. Vor über fünfzig Jahren bewarb Zenith das Modell mit diesem Text, in dem dem potentiellen Kunden versichert wurde, dass man in der Zeit, in der man dieses Modell polierte, zwanzig andere Uhren hätte bauen können. In dem Text besucht der démon de la vitesse die Zenith Werke in Le Locle, um ihnen zu sagen, dass man Uhren viel. viel schneller bauen könne: Vous, chez Zenith, vous me peinez. Regardez vos concurrents. Des gens connus. Chacun de leurs ouvriers fait 100, 200 montres par jour. Et vous qui êtes au moins aussi bien équipés qu'eux, vous interdisez à vos régleurs de dépasser 10 montres per jour. Aber Zenith gibt dem Werben des Teufels der Geschwindigkeit nicht nach. Das war auch gut so.


Sonntag, 10. November 2024

Boehlendorff


Am 4. Dezember 1801 schreibt Friedrich Hölderlin einem Freund: Von mir selber und wie es mir gegangen ist bisher [...] davon will ich mit nächstem Dir ... aus Bordeaux schreiben, wohin ich als Hauslehrer und Privatprediger in einem deutsch evangelischen Hauße nächste Woche abreise... Er wird nicht lange in Bordeaux bleiben, dazu gibt es hier schon mehr in dem Post Sonnenbräune? Hölderlin ist in seinem Brief voll des Lebensmuts: O Freund! die Welt liegt heller vor mir, als sonst, und ernster. Aber der Abschied fällt ihm schwer: Und nun leb wohl, mein Theurer! bis auf weiteres. Ich bin jezt voll Abschieds. Ich habe lange nicht geweint. Aber es hat mich bittre Thränen gekostet, da ich mich entschloß, mein Vaterland noch jezt zu verlassen, vieleicht auf immer. Denn was hab‘ ich lieberes auf der Welt? Aber sie können mich nicht brauchen. Deutsch will und muß ich übrigens bleiben, und wenn mich die Herzens- und die Nahrungsnoth nach Otaheiti triebe,

Herzens- und die Nahrungsnot tragen ihn nicht nach Tahiti, sie tragen ihn zurück nach Nürtingen. Wir wissen nicht, weshalb er die Stelle in Bordeaux als Hauslehrer so schnell aufgibt. Karl Friedrich Reinhard, den Talleyrand Das Geschenk Tübingens an Frankreich genannt hatte, war auch als Hofmeister in Bordeaux. Er hat über diese Zeit gesagt: Wir sind hier drei oder vier Hofmeister, die uns zuweilen gegenseitig unsere Noth klagen. Im Gewühl einer Stadt, wo Handlungsgeist alle Ideen und alle Gefühle absorbiert. Der Karakter von Bordeaux ist Egoismus. Das wird Hölderlin schnell gemerkt haben. Ein Jahr nach seinem Brief von 1801, auch wieder im Dezember, schreibt er seinem Freund:

Mein Theurer! Ich habe Dir lange nicht geschrieben, bin indes in Frankreich gewesen und habe die traurige einsame Erde gesehen; die Hütten des südlichen Frankreichs und einzelne Schönheiten, Männer und Frauen, die in der Angst des patriotischen Zweifels und des Hungers erwachsen sind. Das gewaltige Element, das Feuer des Himmels und die Stille der Menschen, ihr Leben in der Natur, und ihre Eingeschränktheit und Zufriedenheit, hat mich beständig ergriffen, und wie man Helden nachspricht, kann ich wohl sagen, daß mich Apollo geschlagen.

In den Gegenden, die an die Vendée grenzen, hat mich das Wilde, Kriegerische interessiert, das rein Männliche, dem das Lebenslicht unmittelbar wird in den Augen und Gliedern und das im Todesgefühle sich wie in einer Virtuosität fühlt, und seinen Durst zu wissen, erfüllt. Das Athletische der südlichen Menschen, in den Ruinen des antiken Geistes, machte mich mit dem eigentlichen Wesen der Griechen bekannter; ich lernte ihre Natur und ihre Weisheit kennen, ihren Körper, die Art, wie sie in ihrem Klima wuchsen, und die Regel, womit sie den übermütigen Genius vor des Elements Gewalt behüteten. Dies bestimmte ihre Popularität, ihre Art, fremde Naturen anzunehmen und sich ihnen mitzuteilen. Darum haben sie ihr eigentümlich Individuelles, das lebendig erscheint, sofern der höchste Verstand im griechischen Sinne Reflexionskraft ist, und dies wird uns begreiflich, wenn wir den heroischen Körper der Griechen begreifen; sie ist Zärtlichkeit, wie unsere Popularität.

Der Anblick der Antiken hat mir einen Eindruck gegeben, der mir nicht allein die Griechen verständlicher macht, sondern überhaupt das Höchste der Kunst, die auch in der höchsten Bewegung und Phänomenalisierung der Begriffe und alles ernstlich Gemeinten dennoch alles stehend und für sich selbst erhält, so daß die Sicherheit in diesem Sinne die höchste Art des Zeichens ist. Es war mir nötig, nach manchen Erschütterungen und Rührungen der Seele mich festzusetzen auf einige Zeit, und ich lebe indessen in meiner Vaterstadt.

Die heimatliche Natur ergreift mich umso mächtiger, je mehr ich sie studiere. Das Gewitter, nicht bloß in seiner höchsten Erscheinung, sondern in eben dieser Ansicht, als Macht und als Gestalt, in den übrigen Formen des Himmels, das Licht in seinem Wirken, nationell und als Prinzip und Schicksalsweise bildend, daß uns etwas heilig ist, sein Gang im Kommen und Gehen, das Charakteristische der Wälder und das Zusammentreffen in einer Gegend von verschiedenen Charakteren der Natur, daß alle heiligen Orte der Erde zusammen sind um einen Ort und das philosophische Licht um mein Fenster sind jetzt meine Freude; daß ich behalten möge, wie ich gekommen bin, bis hieherl Mein Lieber! ich denke, daß wir die Dichter bis auf unsere Zeit nicht kommentieren werden, sondern daß die Sangart überhaupt wird einen anderen Charakter nehmen, und daß wir darum nicht aufkommen, weil wir, seit den Griechen, wieder anfangen, vaterländisch und natürlich, eigentlich originell zu singen.

Schreibe doch nur mir bald. Ich brauche Deine reinen Töne. Die Psyche unter Freunden, das Entstehen des Gedankens im Gespräch und Brief ist Künstlern nötig. Sonst haben wir keinen für uns selbst, sondern er gehöret dem heiligen Bilde, das wir bilden. Lebe recht wohl!

Es ist ein berühmter Brief, weil in ihm die ganze  Poetik Hölderlins steckt. Walter Benjamin hat das in Deutsche Menschen so formuliert: Hölderlins Brief nun ist gänzlich auf jene Worte ausgerichtet, welche die späten Hymnen beherrschen: heimatliche und griechische Art, Erde und Himmel, Popularität und Zufriedenheit. Auf schroffen Höhen, wo der nackte Fels der Sprache schon überall an Tag tritt, sind sie, trigonometrischen Signalen gleich, 'die höchste Art des Zeichens' und an ihnen vermißt der Dichter die Länder, welche 'die Herzens- und Nahrungsnot' ihm eröffnete als Provinzen des griechischen. Nicht des blühenden idealen, sondern des verödeten wirklichen, dessen Leidensgemeinschaft: mit dem abendländischen und vor allem dem deutschen Volkstum das Geheimnis der historischen Wandlung, der Transsubstantiation des Griechentums ist, das von Hölderlins letzten Hymnen den Gegenstand bildet.

Aber wer ist der theure Freund, dem er hier schreibt? Diesen Dichter hat man völlig vergessen. Für Schiller war Casimir Ulrich Boehlendorff einer der hohlsten Köpfe, Goethe nannte sein Theaterstück Ugolino Gherardesca ein hohles Faß. Man kann, das, was er dichtet, nicht mit Hölderlins Gedichten vergleichen. Walter Benjamin hat verneint, dass im Dichterischen zwischen beiden auch nur die geringste Analogie obwaltet, das ist sehr zurückhaltend. Es hat beinahe zweihundert Jahre gedauert, bis man Boehlendorffs ganzes Werk lesen konnte. Denn erst im Jahre 2000 erschien Casimir Ulrich Boehlendorff: Werke in drei Bänden, herausgegeben von Frieder Schellhase beim Stroemfeld Verlag. 

Die mit dieser (sicherlich einmaligen!) Edition vorliegende erste Ausgabe seiner noch auffindbaren Werke macht einen Autor wieder zugänglich, von dessen Poesien nicht Weniges zum Anrührenden und zum Kühnsten aus der Zeit von früher Romantik bis zum beginnenden Realismus gehört, und der als Schriftsteller zu den eigenständigen und bemerkenswerten Stimmen im frühen 19. Jahrhundert gezählt werden darf ...  Eine vergleichbare Werkausgabe zu C. U. Boehlendorff hat es vorher nie gegeben – und wird es sicher nie wieder geben! – Die Bände enthalten: Band 1: Autobiographische Aufzeichnungen. Briefwechsel. Dokumente zur Person und Biographie. Band 2: Poetische Arbeiten. Rezensionen für die Erlanger Litteratur=Zeitung. Dokumente: Kritiken, literarische Anzeigen u. ä.. Band 3: Arbeiten zur Geschichte. Dokumente: Theaterkritik aus der Vossischen Zeitung. Jeder Band mit umfangreichem Kommentarteil!

Bis diese Ausgabe erschien, musste man sich damit begnügen, was der Germanist Karl Freye, der auch Jean Pauls Werke herausgegeben hat, über Boehlendorff herausgefunden hatte. Ich habe sein Buch Casimir Ulrich Boehlendorff, der Freund Herbarts und Hölderlins aus dem Jahre 1913 für Sie hier im Volltext. Erwähnt werden muss noch Johannes Bobrowskis Erzählung Boehlendorff (die es auch als Hörspiel mit Bruno Ganz und Uwe Friedrichsen gibt), die manche Kritiker als Variation von Büchners Lenz gesehen haben. Und dann ist da noch eine Publikation über Boehlendorff aus dem Jahre 1997 zu nennen. Eine Magisterarbeit über die Gedichte von Boehlendorff, geschrieben von einem Mann, der in den letzten Tagen jeden Tag, ja beinahe jede Stunde, im Fernsehen ist. Ich meine natürlich nicht Olaf Scholz, der hat keine Philologie studiert und kennt wohl kaum einen einzigen deutschen Dichter der Romantik. Nein, es ist niemand anderer als Robert Habeck, der über den erfolglosen, umhergetriebenen Schriftsteller Boehlendorff seine Magisterarbeit geschrieben hat. 

Boehlendorff, der seine Eltern früh verloren hatte, begann 1793 ein Jurastudium an der Academia Petrina in Mitau und wechselte dann nach Jena, wo er Fichte hörte. Er schloss sich dort der literarischen Gesellschaft der freien Männer an, zu der als Gründungsmitglied der spätere Bremer Bürgermeister Johann Smidt gehörte. Von 1797 bis 1799 ist er Hauslehrer in Bern und Lausanne, in diese Zeit fällt seine erste seelische Krise. 1799 ist er in Homburg und lernt Hölderlin kennen. Dann verschlägt es ihn nach Bremen, wo er im Freundeskreis von Johann Smidt private Vorlesungen hält. Trotz der Unterstützung durch seinen Studienfreund Smidt kann er sich in der Stadt, wo auch sein Theaterstück Fernando; oder Kunstweihe gedruckt wird, nicht halten. Er kann sich nirgends lange halten. Den Fernando hatte er Hölderlin geschickt, in der Hoffnung, dass der das Stück weiterempfiehlt. Aber Hölderlin nimmt in seinem Brief von 1801 das Stück nur, um eine eigene Kunsttheorie zu entwickeln. Boehlendorff geht nach Berlin und wird Journalist bei der Vossischen Zeitung, dann hat er einen Nervenzusammenbruch.

Er geht zurück in die Heimat Kurland, bettelt sich von Pfarrhaus zu Pfarrhaus, in elendem Aufzuge, oft kaum notdürftig bekleidet, allen lästig, die er aufsuchte. Arbeitet wieder als Hofmeister. Irrt von Gut zu Gut, baltische Gastfreundschaft als 'Krippenreiter' weit über Gebühr ausnutzend, schreibt Gero von Wilpert in seiner Deutschbaltischen Literaturgeschichte. Das Wandern wird bei ihm zum Thema von Gedichten wie in Ungestilltes Sehnen, aber das hier ist ein anderer Wanderer als der romantische Müllerbursche in Schuberts Schöner Müllerin:

Soll ich immer weiter wandern, 
Selten rasten, nimmer ruhn? 
Ach! Da komm ich nur zu Andern, 
Aber nimmer zu den Meinen; 
Weiß von Keinen 
Die mit Lust mir Liebes tun. 
Heimat ist mir längst entschwunden. 
Lieb' und Frieden sucht mein Herz, — 
Hat sie nimmer doch gefunden; 
Ach! Es sucht bis zum Ermüden 
Lieb und Frieden! — 
Werd' nicht müd', mein armes Herz! 

Es ist ein trauriges Leben, das er 1825 in Markgrafen (dem heutigen Mērsrags) mit der Pistole beendete. In einer lettischen Zeitung wird stehen: Gott hatte ihm eine besonders gute Begabung mitgegeben. Aber er wurde geisteskrank, und da er überall fürchtete, daß die Menschen ihm seine Freiheit nehmen wollten, wanderte er mehr als zwanzig Jahre umher, viele Mal ganz Kurland und einige Mal auch Livland zu Fuß durchquerend. Der verehrte Leser wird ihn, mit dem Bündel mit Büchern auf der Landstraße wandernd, gesehen haben. Zuletzt ist er anscheinend gesund geworden und übernahm das Amt eines Lehrers bei den Kindern des Marggrafenschen Arrendators, welche er beinahe zehn Monate unterrichtet hat. Mag er nun im Grabe den Frieden finden, welchen er hier auf Erden wohl überall suchte, aber nirgends fand.

In seinem Gedicht Einsamkeit hatte Boehlendorff eine Kurzfassung seines traurigen Lebens gegeben:

Mich treibt ein unerklärlich tiefes Sehnen
Durch's Leben hin; 
Ich suche Frieden, ach! und finde Thränen, 
Wo ich auch bin. 
Kein Weib, kein Kind beschwichtigt meinen Busen 
Im Lebensdrang, 
Und es versagen selbst die holden Musen 
Mir den Gesang. 
Mich führt kein Weg zum heimathlichen Heerde, 
O traurig Loos! 
Nimm du mich auf, du heil'ge Mutter Erde, 
In deinen Schoos!

Das ist ehrlich, berührend, traurig, aber das ist keine großartige Dichtung. Da hat das Gedicht Lezte Gedancken von Johann Christian Günther hundert Jahre zuvor eine ganz andere Qualität. Wir haben ein Schicksal hatte Hölderlin 1801 an Boehlendorff geschrieben. Die Gedichte Ungestilltes Sehnen und Einsamkeit passen in die gleiche Schublade, aber manchmal stößt man bei Boehlendorff auch auf etwas Erstaunliches. Ein Gedicht aus dem August 1819 mit einer etwas seltsamen Orthographie, die er sich im Spätwerk angewöhnt hatte. Es ist ein sehr schönes Gedicht, ein klein wenig rätselhaft. Wir können nur hoffen, das es geholfen hat:

    Die rabenfeder mit dem schmetterlingsflügel 
     an das todkranke söhnchen eines kurischen 
                          freundes

Siehe! was sendet der freund dem kranken Adonis, 
ein briefchen, 
Eine rabenfeder dazu mit dem schmetterlingsflügel: 
Psyche! entfliehe mir nicht! 
Zum Pfande sey mir des Sylfen Bunter flügel, 
zum sinn'gen gedächtniss die feder des raben 
Von dem dichter gesendet; er selber taucht in den honig 
Diesen pfeil; von dem hauch entfaltete Psyche die Flügel 

Zwei Dichter, zwei Hofmeister, beide ohne feste Anstellung, beide dem Wahnsinn nahe. Der eine durchwandert ganz Frankreich (auf den gefürchteten überschneiten Höhen der Auvergne, in Sturm und Wildnis, in eiskalter Nacht und die geladene Pistole neben mir im rauen Bette) bis Bordeaux und wieder zurück. Der andere wird sich in Kiel einschiffen, um nach Kurland zu gelangen; und dann wird er Kurland, Livland und Lettland durchwandern, wird in Warschau und St Petersburg auftauchen. Liest für ein kleines Geld auch Gedichte vor. Der in Bordeaux war, wird unser berühmtester Dichter. Uber den anderen heißt es in Bobrowskis Erzählung: Möglich, daß er dort etwas gewesen ist, in Deutschland. Nun ist er hier, und man hat nichts von ihm. Das geht ja schon eine ganze Zeit so, die jungen Leute fliegen aus, mit den glänzendsten Gaben, wie man immer wieder hört, machen Furore, dort draußen, und kommen uns schließlich unzufrieden und ungerecht zurück, dafür läßt man nun studieren. Das Leben von Boehlendorff ist eine Geschichte des Scheiterns eines Idealisten, wir wollen mal hoffen, dass er kein Vorbild für Robert Habeck wird.