Am 4. Dezember 1801 schreibt
Friedrich Hölderlin einem Freund:
Von mir selber und wie es mir gegangen ist bisher [...] davon will ich mit nächstem Dir ... aus Bordeaux schreiben, wohin ich als Hauslehrer und Privatprediger in einem deutsch evangelischen Hauße nächste Woche abreise... Er wird nicht lange in Bordeaux bleiben, dazu gibt es hier schon mehr in dem Post
Sonnenbräune? Hölderlin ist in seinem Brief voll des Lebensmuts:
O Freund! die Welt liegt heller vor mir, als sonst, und ernster. Aber der Abschied fällt ihm schwer:
Und nun leb wohl, mein Theurer! bis auf weiteres. Ich bin jezt voll Abschieds. Ich habe lange nicht geweint. Aber es hat mich bittre Thränen gekostet, da ich mich entschloß, mein Vaterland noch jezt zu verlassen, vieleicht auf immer. Denn was hab‘ ich lieberes auf der Welt? Aber sie können mich nicht brauchen. Deutsch will und muß ich übrigens bleiben, und wenn mich die Herzens- und die Nahrungsnoth nach Otaheiti triebe,
Herzens- und die Nahrungsnot tragen ihn nicht nach Tahiti, sie tragen ihn zurück nach Nürtingen. Wir wissen nicht, weshalb er die Stelle in Bordeaux als Hauslehrer so schnell aufgibt.
Karl Friedrich Reinhard, den Talleyrand
Das Geschenk Tübingens an Frankreich genannt hatte, war auch als Hofmeister in Bordeaux. Er hat über diese Zeit gesagt:
Wir sind hier drei oder vier Hofmeister, die uns zuweilen gegenseitig unsere Noth klagen. Im Gewühl einer Stadt, wo Handlungsgeist alle Ideen und alle Gefühle absorbiert. Der Karakter von Bordeaux ist Egoismus. Das wird Hölderlin schnell gemerkt haben. Ein Jahr nach seinem Brief von 1801, auch wieder im Dezember, schreibt er seinem Freund:
Mein Theurer! Ich habe Dir lange nicht geschrieben, bin indes in Frankreich gewesen und habe die traurige einsame Erde gesehen; die Hütten des südlichen Frankreichs und einzelne Schönheiten, Männer und Frauen, die in der Angst des patriotischen Zweifels und des Hungers erwachsen sind. Das gewaltige Element, das Feuer des Himmels und die Stille der Menschen, ihr Leben in der Natur, und ihre Eingeschränktheit und Zufriedenheit, hat mich beständig ergriffen, und wie man Helden nachspricht, kann ich wohl sagen, daß mich Apollo geschlagen.
In den Gegenden, die an die Vendée grenzen, hat mich das Wilde, Kriegerische interessiert, das rein Männliche, dem das Lebenslicht unmittelbar wird in den Augen und Gliedern und das im Todesgefühle sich wie in einer Virtuosität fühlt, und seinen Durst zu wissen, erfüllt. Das Athletische der südlichen Menschen, in den Ruinen des antiken Geistes, machte mich mit dem eigentlichen Wesen der Griechen bekannter; ich lernte ihre Natur und ihre Weisheit kennen, ihren Körper, die Art, wie sie in ihrem Klima wuchsen, und die Regel, womit sie den übermütigen Genius vor des Elements Gewalt behüteten. Dies bestimmte ihre Popularität, ihre Art, fremde Naturen anzunehmen und sich ihnen mitzuteilen. Darum haben sie ihr eigentümlich Individuelles, das lebendig erscheint, sofern der höchste Verstand im griechischen Sinne Reflexionskraft ist, und dies wird uns begreiflich, wenn wir den heroischen Körper der Griechen begreifen; sie ist Zärtlichkeit, wie unsere Popularität.
Der Anblick der Antiken hat mir einen Eindruck gegeben, der mir nicht allein die Griechen verständlicher macht, sondern überhaupt das Höchste der Kunst, die auch in der höchsten Bewegung und Phänomenalisierung der Begriffe und alles ernstlich Gemeinten dennoch alles stehend und für sich selbst erhält, so daß die Sicherheit in diesem Sinne die höchste Art des Zeichens ist. Es war mir nötig, nach manchen Erschütterungen und Rührungen der Seele mich festzusetzen auf einige Zeit, und ich lebe indessen in meiner Vaterstadt.
Die heimatliche Natur ergreift mich umso mächtiger, je mehr ich sie studiere. Das Gewitter, nicht bloß in seiner höchsten Erscheinung, sondern in eben dieser Ansicht, als Macht und als Gestalt, in den übrigen Formen des Himmels, das Licht in seinem Wirken, nationell und als Prinzip und Schicksalsweise bildend, daß uns etwas heilig ist, sein Gang im Kommen und Gehen, das Charakteristische der Wälder und das Zusammentreffen in einer Gegend von verschiedenen Charakteren der Natur, daß alle heiligen Orte der Erde zusammen sind um einen Ort und das philosophische Licht um mein Fenster sind jetzt meine Freude; daß ich behalten möge, wie ich gekommen bin, bis hieherl Mein Lieber! ich denke, daß wir die Dichter bis auf unsere Zeit nicht kommentieren werden, sondern daß die Sangart überhaupt wird einen anderen Charakter nehmen, und daß wir darum nicht aufkommen, weil wir, seit den Griechen, wieder anfangen, vaterländisch und natürlich, eigentlich originell zu singen.
Schreibe doch nur mir bald. Ich brauche Deine reinen Töne. Die Psyche unter Freunden, das Entstehen des Gedankens im Gespräch und Brief ist Künstlern nötig. Sonst haben wir keinen für uns selbst, sondern er gehöret dem heiligen Bilde, das wir bilden. Lebe recht wohl!
Es ist ein berühmter Brief, weil in ihm die ganze
→ Poetik Hölderlins steckt. Walter Benjamin hat das in
→Deutsche Menschen so formuliert:
Hölderlins Brief nun ist gänzlich auf jene Worte ausgerichtet, welche die späten Hymnen beherrschen: heimatliche und griechische Art, Erde und Himmel, Popularität und Zufriedenheit. Auf schroffen Höhen, wo der nackte Fels der Sprache schon überall an Tag tritt, sind sie, trigonometrischen Signalen gleich, 'die höchste Art des Zeichens' und an ihnen vermißt der Dichter die Länder, welche 'die Herzens- und Nahrungsnot' ihm eröffnete als Provinzen des griechischen. Nicht des blühenden idealen, sondern des verödeten wirklichen, dessen Leidensgemeinschaft: mit dem abendländischen und vor allem dem deutschen Volkstum das Geheimnis der historischen Wandlung, der Transsubstantiation des Griechentums ist, das von Hölderlins letzten Hymnen den Gegenstand bildet.
Aber wer ist der
theure Freund, dem er hier schreibt? Diesen Dichter hat man völlig vergessen. Für Schiller war
Casimir Ulrich Boehlendorff einer der
hohlsten Köpfe, Goethe nannte sein Theaterstück
Ugolino Gherardesca e
in hohles Faß. Man kann, das, was er dichtet, nicht mit Hölderlins Gedichten vergleichen. Walter Benjamin hat verneint, dass
im Dichterischen zwischen beiden auch nur die geringste Analogie obwaltet, das ist sehr zurückhaltend. Es hat beinahe zweihundert Jahre gedauert, bis man Boehlendorffs ganzes Werk lesen konnte. Denn erst im Jahre 2000 erschien Casimir Ulrich Boehlendorff: Werke in drei Bänden, herausgegeben von Frieder Schellhase beim Stroemfeld Verlag.
Die mit dieser (sicherlich einmaligen!) Edition vorliegende erste Ausgabe seiner noch auffindbaren Werke macht einen Autor wieder zugänglich, von dessen Poesien nicht Weniges zum Anrührenden und zum Kühnsten aus der Zeit von früher Romantik bis zum beginnenden Realismus gehört, und der als Schriftsteller zu den eigenständigen und bemerkenswerten Stimmen im frühen 19. Jahrhundert gezählt werden darf ... Eine vergleichbare Werkausgabe zu C. U. Boehlendorff hat es vorher nie gegeben – und wird es sicher nie wieder geben! – Die Bände enthalten: Band 1: Autobiographische Aufzeichnungen. Briefwechsel. Dokumente zur Person und Biographie. Band 2: Poetische Arbeiten. Rezensionen für die Erlanger Litteratur=Zeitung. Dokumente: Kritiken, literarische Anzeigen u. ä.. Band 3: Arbeiten zur Geschichte. Dokumente: Theaterkritik aus der Vossischen Zeitung. Jeder Band mit umfangreichem Kommentarteil!
Bis diese Ausgabe erschien, musste man sich damit begnügen, was der Germanist Karl Freye, der auch Jean Pauls Werke herausgegeben hat, über Boehlendorff herausgefunden hatte. Ich habe sein Buch
→Casimir Ulrich Boehlendorff, der Freund Herbarts und Hölderlins aus dem Jahre 1913 für Sie hier im Volltext. Erwähnt werden muss noch Johannes Bobrowskis Erzählung
Boehlendorff (die es auch als
Hörspiel mit Bruno Ganz und Uwe Friedrichsen gibt), die manche Kritiker als Variation von Büchners
→Lenz gesehen haben. Und dann ist da noch eine Publikation über Boehlendorff aus dem Jahre 1997 zu nennen. Eine
→Magisterarbeit über die Gedichte von Boehlendorff, geschrieben von einem Mann, der in den letzten Tagen jeden Tag, ja beinahe jede Stunde, im Fernsehen ist. Ich meine natürlich nicht Olaf Scholz, der hat keine Philologie studiert und kennt wohl kaum einen einzigen deutschen Dichter der Romantik. Nein, es ist niemand anderer als Robert Habeck, der über den erfolglosen, umhergetriebenen Schriftsteller Boehlendorff seine Magisterarbeit geschrieben hat.
Boehlendorff, der seine Eltern früh verloren hatte, begann 1793 ein Jurastudium an der
Academia Petrina in Mitau und wechselte dann nach Jena, wo er Fichte hörte. Er schloss sich dort der literarischen
Gesellschaft der freien Männer an, zu der als Gründungsmitglied der spätere Bremer Bürgermeister
Johann Smidt gehörte. Von 1797 bis 1799 ist er Hauslehrer in Bern und Lausanne, in diese Zeit fällt seine erste seelische Krise. 1799 ist er in Homburg und lernt Hölderlin kennen. Dann verschlägt es ihn nach Bremen, wo er im Freundeskreis von Johann Smidt private Vorlesungen hält. Trotz der Unterstützung durch seinen Studienfreund Smidt kann er sich in der Stadt, wo auch sein Theaterstück
Fernando; oder Kunstweihe gedruckt wird, nicht halten. Er kann sich nirgends lange halten. Den
→Fernando hatte er Hölderlin geschickt, in der Hoffnung, dass der das Stück weiterempfiehlt. Aber Hölderlin nimmt in seinem Brief von 1801 das Stück nur, um eine eigene Kunsttheorie zu entwickeln. Boehlendorff geht nach Berlin und wird Journalist bei der
Vossischen Zeitung, dann hat er einen Nervenzusammenbruch.
Er geht zurück in die Heimat Kurland, bettelt sich von Pfarrhaus zu Pfarrhaus,
in elendem Aufzuge, oft kaum notdürftig bekleidet, allen lästig, die er aufsuchte. Arbeitet wieder als Hofmeister. Irrt von Gut zu Gut,
baltische Gastfreundschaft als 'Krippenreiter' weit über Gebühr ausnutzend, schreibt Gero von Wilpert in seiner
Deutschbaltischen Literaturgeschichte. Das Wandern wird bei ihm zum Thema von Gedichten wie in
Ungestilltes Sehnen, aber das hier ist ein anderer Wanderer als der romantische Müllerbursche in Schuberts
Schöner Müllerin:
Soll ich immer weiter wandern,
Selten rasten, nimmer ruhn?
Ach! Da komm ich nur zu Andern,
Aber nimmer zu den Meinen;
Weiß von Keinen
Die mit Lust mir Liebes tun.
Heimat ist mir längst entschwunden.
Lieb' und Frieden sucht mein Herz, —
Hat sie nimmer doch gefunden;
Ach! Es sucht bis zum Ermüden
Lieb und Frieden! —
Werd' nicht müd', mein armes Herz!
Es ist ein trauriges Leben, das er 1825 in Markgrafen (dem heutigen Mērsrags) mit der Pistole beendete. In einer lettischen Zeitung wird stehen: Gott hatte ihm eine besonders gute Begabung mitgegeben. Aber er wurde geisteskrank, und da er überall fürchtete, daß die Menschen ihm seine Freiheit nehmen wollten, wanderte er mehr als zwanzig Jahre umher, viele Mal ganz Kurland und einige Mal auch Livland zu Fuß durchquerend. Der verehrte Leser wird ihn, mit dem Bündel mit Büchern auf der Landstraße wandernd, gesehen haben. Zuletzt ist er anscheinend gesund geworden und übernahm das Amt eines Lehrers bei den Kindern des Marggrafenschen Arrendators, welche er beinahe zehn Monate unterrichtet hat. Mag er nun im Grabe den Frieden finden, welchen er hier auf Erden wohl überall suchte, aber nirgends fand.
In seinem Gedicht Einsamkeit hatte Boehlendorff eine Kurzfassung seines traurigen Lebens gegeben:
Mich treibt ein unerklärlich tiefes Sehnen
Durch's Leben hin; Ich suche Frieden, ach! und finde Thränen,
Wo ich auch bin.
Kein Weib, kein Kind beschwichtigt meinen Busen
Im Lebensdrang,
Und es versagen selbst die holden Musen
Mir den Gesang.
Mich führt kein Weg zum heimathlichen Heerde,
O traurig Loos!
Nimm du mich auf, du heil'ge Mutter Erde,
In deinen Schoos!
Das ist ehrlich, berührend, traurig, aber das ist keine großartige Dichtung. Da hat das Gedicht
Lezte Gedancken von
Johann Christian Günther hundert Jahre zuvor eine ganz andere Qualität.
Wir haben ein Schicksal hatte Hölderlin 1801 an Boehlendorff geschrieben. Die Gedichte
Ungestilltes Sehnen und
Einsamkeit passen in die gleiche Schublade, aber manchmal stößt man bei Boehlendorff auch auf etwas Erstaunliches. Ein Gedicht aus dem August 1819 mit einer etwas seltsamen Orthographie, die er sich im Spätwerk angewöhnt hatte. Es ist ein sehr schönes Gedicht, ein klein wenig rätselhaft. Wir können nur hoffen, das es geholfen hat:
Die rabenfeder mit dem schmetterlingsflügel
an das todkranke söhnchen eines kurischen
freundes
Siehe! was sendet der freund dem kranken Adonis, ein briefchen, Eine rabenfeder dazu mit dem schmetterlingsflügel:
Psyche! entfliehe mir nicht!
Zum Pfande sey mir des Sylfen Bunter flügel,
zum sinn'gen gedächtniss die feder des raben
Von dem dichter gesendet; er selber taucht in den honig
Diesen pfeil; von dem hauch entfaltete Psyche die Flügel
Zwei Dichter, zwei Hofmeister, beide ohne feste Anstellung, beide dem Wahnsinn nahe. Der eine durchwandert ganz Frankreich (auf den gefürchteten überschneiten Höhen der Auvergne, in Sturm und Wildnis, in eiskalter Nacht und die geladene Pistole neben mir im rauen Bette) bis Bordeaux und wieder zurück. Der andere wird sich in Kiel einschiffen, um nach Kurland zu gelangen; und dann wird er Kurland, Livland und Lettland durchwandern, wird in Warschau und St Petersburg auftauchen. Liest für ein kleines Geld auch Gedichte vor. Der in Bordeaux war, wird unser berühmtester Dichter. Uber den anderen heißt es in Bobrowskis Erzählung: Möglich, daß er dort etwas gewesen ist, in Deutschland. Nun ist er hier, und man hat nichts von ihm. Das geht ja schon eine ganze Zeit so, die jungen Leute fliegen aus, mit den glänzendsten Gaben, wie man immer wieder hört, machen Furore, dort draußen, und kommen uns schließlich unzufrieden und ungerecht zurück, dafür läßt man nun studieren. Das Leben von Boehlendorff ist eine Geschichte des Scheiterns eines Idealisten, wir wollen mal hoffen, dass er kein Vorbild für Robert Habeck wird.