Montag, 29. Juni 2015

Bayreuth


Am 29. Juni 1951 wurden die ersten Richard Wagner Festspiele nach dem Krieg in Bayreuth feierlich eröffnet. Das musste offensichtlich sein. 1945 hätte man das wahrscheinlich nicht gewagt. Der Bundespräsident ➱Theodor Heuss, der nicht unbedingt zu den Wagner Freunden zählte, hatte irgendeinen Grund gefunden, um nicht zu kommen. Ich weiß, das Bild mit diesem Österreicher in Uniform passt jetzt nicht so richtig zu der festlichen Stimmung, aber welches Bild passt schon zu Bayreuth? Merkel mit großem Ausschnitt? Den lila Seidenzweiteiler (ohne großen Ausschnitt), den sie beim Besuch der ➱Queen trug, hat sie übrigens 2007 in Bayreuth (und 2010 noch mal in Salzburg) getragen. An dieser Sparsamkeit können sich die ➱Griechen mal ein Beispiel nehmen.

Die englische Königin hat offensichtlich keine so große Lust, den Maulwurfshügel in Bayreuth zu besuchen. Als sie vor fünfzig Jahren in Deutschland war, hat sie in München Richard Strauß' Oper Der Rosenkavalier gesehen. Fritz Wunderlich sang damals die Arie des italienischen Sängers Di Rigori Armato Il Seno (klicken Sie einmal ➱hier). Die Gesamtaufnahme der Oper gibt es bei Orfeo, der Kauf lohnt sich unbedingt. Es wird übrigens während der ganzen Oper so gut wie gar nicht geklatscht. Nur bei Wunderlichs Auftritt. Sie könnten sich natürlich auch ➱Anton Dermota anhören, der das auch sehr schön singt. Aber ➱Jonas Kaufmann lieber nicht.

Das typische Publikum in Bayreuth sieht nun mal so aus wie der Österreicher oben, wie Frau Merkel, wie Herr von und zu Guttenberg (der aus Bayreuth sogar einen Doktortitel bekam) oder wie dieses junge Paar - da kann man nichts machen. In Glyndebourne, wo sehr selten Wagner gespielt wird, sieht das Publikum etwas anders aus.

Erstaunlicherweise liebte John Christie, der Glyndebourne gründete, den Komponisten Richard Wagner. Sein Dirigent Fritz Busch, den die Nazis vertrieben, eigentlich auch. Der berichtet über ein Gespräch mit Göring: Ich sagte, dass ich keinem jüdischen Kollegen den Platz wegnehmen würde. – Göring: „Na, lieber Freund, wir haben ja auch Mittel in der Hand, Sie dazu zu zwingen!“ - „Versuchen Sie das nur“, platzte ich heraus. „An einem erzwungenen ‚Tannhäuser‘ unter meiner Leitung werden Sie keine Freude haben. So etwas Stinklangweiliges haben Sie in Ihrem Leben noch nicht gehört“.

Chiefinspector ➱Morse liebt auch Wagner. Und auch sein ehemaliger Sergeant, ➱Inspector Lewis, hat zur Musik gefunden. Will sogar einmal mit der schnuckeligen Dr Laura Hobson nach Glyndebourne. Aber da kommt ihm ein Mord dazwischen, ist wahrscheinlich besser so. Eigentlich ist das nicht seine Welt. Wer zur Welt von Bayreuth gehört, das wissen wir aus den bunten Klatschpostillen, die jedes Jahr von dem Promiauftrieb berichten. Wenn es nicht schon vorher etwas aus Bayreuth zu berichten gab. Bayreuth ohne Klatsch geht nicht. Ohne Skandale auch nicht. Noch vor Wochen hieß es, dass Eva Wagner-Pasquiers angeblich Hausverbot auf dem Hügel habe.

Ich bin übrigens nicht der einzige, der bei dem Namen Bayreuth die Assoziation Adolf Hitler hat. Ich las letztens in Perlen &Trüffel: Eine kleine Reise durch 25 Jahre Verlagsgeschichte (einem Sammelband über den Tiamat Verlag) etwas sehr Schönes von dem Holländer Harry Mulisch. Hat den Titel Faschistisches Kabuki in BayreuthIm August 1971 kam ich in Gesellschaft einiger Freunde zu den Festspielen. Ich fühlte mich wie ein Ethnologe, der ins Inland von Neuguinea gereist ist, um die letzten Überreste kannibalischer Rituale zu studieren. (…) Die achtzehnhundert Zuschauer wurden so still wie bei einer Totenfeier – mit dem Unterschied, daß es hier die Totschläger waren, die verstummten. Ich hätte gern gewußt, ob das Theater auch ausgereicht hätte, die Menschen zu fassen, die von den Anwesenden umgebracht worden waren. (…) Wenn Deutschland den Krieg gewonnen hätte, wäre es dort genauso gewesen, wie es jetzt ist – nur ohne mich und noch ein paar andere Menschen. Vielleicht sollte man dazu noch den Roman Das Attentat von Harry Mulisch lesen.

Aber hinweg mit diesen bösen Assoziationen, wo bleibt das Positive? Also so etwas Schönes wie dieses?

Heiajaheia! Heiajaheia!
Wallalallalala leiajahei!
Rheingold! Rheingold!
Leuchtende Lust, wie lachst du so hell und hehr!
Glühender Glanz entgleisset dir weihlich im Wag!
Heiajahei, Heiajaheia!
Wache, Freund, wache froh!
Wonnige Spiele spenden wir dir:
flimmert der Fluss, flammet die Flut,
umfliessen wir tauchend, tanzend und singend,
im seligen Bade dein Bett.
Rheingold! Rheingold!
Heiajaheia! Wallalaleia heiajahei!


Haben Sie schon einmal Das Rheingold gelesen? Sie hätten ➱hier die Chance dazu. Nackte glitschige Rheintöchter geben mir die Gelegenheit, das Bild von ➱Albert Pinkham Ryder mit dem Titel Siegfried and the Rhine Maidens abzubilden. Ryder hatte zwei Tage nicht geschlafen und nichts gegessen (I had been to hear the opera and went home about twelve o’clock and began this picture. I worked for forty-eight hours without sleep or food), als er dieses Bild malte. Das Bild findet sich auch - und das glaubt mir jetzt wohl niemand - auf der ➱Website von Rickie Lee Jones. Die Sängerin, die ➱hier einen Post hat, singt aber glücklicherweise keine Wagner Arien. Eigentlich hätte ich ein Bild von Parzival brauchen können, aber ich will mir ➱Wolfram von Eschenbachs Epos nicht mit den grauenhaft kitschigen Gemälden des 19. Jahrhunderts versauen. Wagners Parzifal ist ein sogenanntes Bühnenweihfestspiel, das nach Wagners Willen nur im Bayreuther Festspielhaus aufgeführt werden soll. Auf Parzifal komme ich, weil ich mal eben das Bayreuth Erlebnis eines Zeitgenossen von Richard Wagner zitieren möchte, der am Abend des 28. Juli 1889 an seine Gattin in Berlin schreibt:

Es ist jetzt 9 Uhr, und wenn ich bedenke, daß frühestens nach abermals einer Stunde »Parsifal« zu Ende ist, so weiß ich nicht, wie ich diese Äonen innerhalb des Theaters hätte erleben wollen. Die Ouverture habe ich gehört und im Hinausgehen noch einen glimpse von der ersten Szene gehabt; dann bin ich langsam nach Hause geschlendert (ziemlich weit) und habe gelesen, dann bin ich in die Stadt gegangen und habe erst bei einem Konditor in der Nähe der großen Brücke (gegenüber der Kaserne) und dann bei dem vielgenannten Sammet zum zweiten Male Kaffee getrunken, weil ich doch ‘was tun mußte. Dann wieder nach Hause, wo ich zwei Briefe schrieb. Diese Briefe brachte ich zur Post und ging wieder eine halbe Stunde spazieren. Dann las ich, wieder zu Hause angekommen, eine ganze Stunde und habe eben auf meinem Zimmer mein Abendbrot und meinen Tee zu mir genommen und – Parsifal ist trotzdem noch lange nicht aus. Die 1.500, die heute drin waren, müssen wundervoll gesund sein, oder 750 davon haben nach drei Tagen – denn es regnet und ist hundekalt – Katarrh, Brechdurchfall, Magenerkältung und Rheumatismus. Der passionierte Mensch hält alles aus; ich meinerseits bin doch fast traurig, auf Reisen (und vielleicht auch sonst) immer ein Schwächling gewesen zu sein. [ . . . ] Jetzt ist es 9 Uhr 20, aber Parsifal spielt noch immer. Die Eßzelte sind im Freien; es muß einige Erfrorene geben, sonst ist keine Raison mehr in der Welt.

Aus Theodor Fontane wird nie ein richtiger Wagnerianer. Ich habe zum Schluss noch ein kleines Gedicht. Es stand ➱hier schon einmal, als ich über Erwin Rennert schrieb. Aber das macht nichts, das Gedicht Fafnir folgt dem Ruf nach Bayreuth ist immer noch gut:

Ich legendäres altes Biest
hiermit nun dem bekunde,
der diese Zeilen freundlich liest:
Mich juckt meine alte Wunde.
Sie stammt von Siegfrieds Ungebühr
(tat mich mein Leben kosten) -
nun winkt in Bayreuth mir dafür
ein krisenfester Posten.

Als ich Richard Wagner in das Suchfeld eingab, war ich überrascht, wie häufig er in diesem Blog erwähnt wird. Lesen Sie auch: ➱Richard Wagner, ➱bêtes noires, ➱Jacques Offenbach, ➱Liszt Ferencz, ➱Hochzeitsmarsch, ➱Hochzeitsvorbereitungen, ➱Stars and Stripes Forever, ➱Loreley, ➱Vincenzo Bellini, ➱Bulwer-Lytton, ➱Wolfsschlucht, ➱Catch-22

Ich lege heute natürlich keinen Wagner auf. Sondern ➱Mozarts Cosi fan Tutte, dirigiert von ➱Fritz Busch 1934 in Glyndebourne.

Sonntag, 28. Juni 2015

Wiener Leisten


Feinere Sorten kommen aus Wien, Paris und Großbritannien, schreibt das Deutsche Handels-Archiv im Jahre 1891. Die Rede ist von nach Deutschland importierten Schuhen. Der Satz ist vielleicht heute noch wahr. Eine Bedrohung für die feinen Schuhmacher sind am Ende der Belle Époque die großen Schuhfabriken wie Bally in der Schweiz oder Baťa im k.u.k. Österreich, die inzwischen schon alle ihre Produktion auf die amerikanischen ➱Goodyear Maschinen umgestellt haben. Ich schreibe heute wieder einmal über Schuhe, diesmal über die chaussures, die aus Budapest und Wien kommen. Die braucht ein Wiener unbedingt. Andere Herren von Welt vielleicht auch.

Das Plakat im oberen Absatz preist amerikanische Schuhe an. Waren die je eine Bedrohung für die europäischen? 1919 antwortet der Wiener ➱Adolf Loos auf die Frage Was halten sie von amerikanischen Schuhen? ganz entschieden: Nicht viel. "Amerikanische" schuhe werden nur im wilden westen und im wilden osten getragen. In New York tragen sie nur die dicken polizisten. (Ein amerikanischer policeman ist immer dick.) Östliche amerikaner und westliche europäer tragen dieselben schuhe; jene form, die ja auch von unseren besten schustern in Wien gearbeitet wird und die man seit jahren in den auslagen studieren kann. Seit vierzig jahren hat sich in der form nichts geändert. Und sie meinen doch die form. Sollten sie aber die amerikanische fabrikationsart meinen, dann kann ich nur antworten, daß unsere industrie derzeit nicht imstande ist, schuhe zu liefern, die so gut und bequem passen wie die amerikanischen. Dazu wäre zuerst die gleichförmige numerierung nach zahlen (länge) und buchstaben (breite) erforderlich. Englische Qualitätshersteller bieten heute noch verschiedene Leistenformen und verschiedene Breiten an (Amerikaner wie Alden auch), wo findet man das heute noch in Deutschland?

Bitte schreib mir, was Schuhe, — Herrenschuhe — jetzt in Wien kosten, schreibt der Schriftsteller Richard Beer-Hoffmann 1922 an seine Frau Paula. In Berlin findet er offensichtlich nicht, was er sucht. Der einst wohlhabende Autor ist durch Weltkrieg und Inflation verarmt, aber Wiener Schuhe müssen es sein. Ich habe vor Jahren mit Schmunzeln gelesen, dass ein Leser in seinem Blog gestand, alles von mir zu lesen - mit Ausnahme der Posts über Schuhe und Hemden. Aber seit ➱Roland Barthes gezeigt hat, dass man aus den kleinen Dingen des Alltags auch eine Kulturgeschichte herauslesen kann, finde ich es durchaus legitim, über Schuhe und Hemden zu schreiben. Was ist unserem Körper näher als Hemden und Schuhe?

Ein Budapester ist ein Schuh, der aus Budapest kommt. Viele assoziieren den Budapester mit diesem Lochmuster auf der Schuhoberseite, aber Fachleute meinen eher die Leistenform, wenn sie vom Budapester reden. Also zum Beispiel diesen kleinen Hubbel vorne, mit dem die Schuhspitze in einem rechten Winkel zur Sohle steht. Gibt dem Träger Platz, damit er mit den Zehen wackeln kann. Mehr über den Budapester können Sie in dem Wikipedia Artikel lesen. Ich glaube, Helge Sternke (der Verfasser von Alles über Herrenschuhe) hat den geschrieben. Der hat beinahe alle Wiki Artikel zum Thema Schuh verfasst. Ich habe ihn einmal getroffen, darüber können Sie mehr in dem Post ➱Schuhcreme lesen. Ein Wiener Leisten hat im Prinzip die gleiche Form wie ein Budapester, er hat bloß nicht diese aufgeworfene Spitze (man kann den Unterschied an dem Schuh von Laszlo Vass im unteren Absatz sehen). Liebhaber von schlanken englischen Schuhen mögen die Schuhe, die aus Budapest und Wien kommen, nicht besonders. Sind ihnen zu klobig.

Das für den Budapester typische Lochmuster ist auch nicht jedermanns Sache. So schreibt ➱Adolf Loos 1908 in seiner ästhetischen Kampfschrift Ornament und Verbrechen: meine schuhe sind über und über mit ornamenten bedeckt, die von zacken und löchern herrühren. arbeit, die der schuster geleistet hat, die ihm nicht bezahlt wurde. ich gehe zum schuster und sage: „sie verlangen für ein paar schuhe dreißig kronen. ich werde ihnen vierzig kronen zahlen.“ damit habe ich diesen mann auf eine selige höhe gehoben, die er mir danken wird durch arbeit und material, die an güte in gar keinem verhältnis zum mehrbetrag stehen. er ist glücklich. selten kommt das glück in sein haus. hier steht ein mann vor ihm, der ihn versteht, der seine arbeit würdigt und nicht an seiner ehrlichkeit zweifelt. in gedanken sieht er schon die fertigen schuhe vor sich. er weiß, wo gegenwärtig das beste leder zu finden ist, er weiß, welchem arbeiter er die schuhe anvertrauen wird, und die schuhe werden zacken und punkte aufweisen, so viele, als nur auf einem eleganten schuh platz haben. Und nun sage ich: „aber eine bedingung stelle ich. der schuh muß ganz glatt sein.“ da habe ich ihn aus den seligsten höhen in den tartarus gestürzt. er hat weniger arbeit, aber ich habe ihm alle freude genommen.

Was man bei Wiener oder Budapester Schuhen auch häufig findet, ist diese asymmetrische Form des Absatzes. Das hier ist ein Schuh von Ludwig Reiter, einem alten Wiener Unternehmen, das nach 130 Jahren immer noch im Familienbesitz ist (und deren Schuhe inzwischen schon bei Amazon bestellt werden können). Die Firma hat in der Vergangenheit auch Schuhe für Firmen mit großen Namen hergestellt, die keine eigene Produktion besaßen. An Namen werden immer wieder genannt: Paul Smith (der seine Schuhe auch einmal von Crockett & Jones bezog), Helmut Lang, Wolfgang Joop, Werner Baldessarini (den C & J auch einmal belieferte) und Windsor. Diese Firma scheint aber inzwischen bei Prime Shoes gelandet zu sein, was natürlich kein Zeichen von wirklicher Qualität ist.

Die Firma Ludwig Reiter hat Konkurrenz bekommen, sie werden jetzt von der österreichischen Firma Handmacher, die ihre holzgenagelten Schuhe im tschechischen Znaim herstellen (der dortige Betriebsleiter Franz Bammer war übrigens früher bei Reiter), gejagt. Sie sind erst seit zwanzig Jahren im Geschäft, aber sie kommen zahlenmäßig immer näher an Reiter heran. Ich sage Ihnen, die sind ihr Geld nicht wert, sagt der Handmacher Chef Bernhard Kovar über Reiter Schuhe. Seine Schuhe kosten 250 bis 300 Mark, Reiter Schuhe können das Doppelte kosten.

Wir produzieren ausschließlich in Wiener Neudorf. Das kostet halt ein bissl mehr als in Niedriglohnländern, sagt eine Reiter Sprecherin dazu. Ich kann zu dem Ganzen nichts sagen, ich besitze nur ein Paar Schuhe von Reiter (solch einen Norweger in dunkelbraunem Scotchgrain). Handmacher Schuhe gibt es hier im Ort bei Kellys (und beim Schuster Höfer in der Holtenauer Straße), ich habe schon viele in der Hand gehabt, sie machen einen guten Eindruck. Glücklicherweise brauche ich keine neuen Schuhe.

Neben Ludwig Reiter und Handmacher sollte noch die Firma Alt Wien erwähnt werden, deren Schuhe in England von Crockett & Jones hergestellt werden (und qualitativ Reiter und Handmacher überlegen sind). Angeblich hat ein Wiener Schuhmacher beim Anschluss Österreichs seine Leisten genommen und ist mit ihnen im Koffer nach England emigriert. Wo die Schuhe heute in Northampton mit Wiener Leisten hergestellt werden. Die Geschichte klingt gut, aber wahrscheinlich haben irgendwelche Werbefuzzis sie sich ausgedacht.

Man hat bei Alt Wien das Beste aus zwei Welten, die österreichisch-ungarischen Leisten und die englische Qualität. Es gibt noch eine Firma, die sich Feine Wiener Schuhmanufaktur nennt, aber über die kann ich nichts sagen. Ich weiß auch nicht, ob man für 199 Euro wirklich die versprochene handwerkliche Qualität bekommt. Der Mythos von Wien und Budapest scheint heute immer noch zu ziehen. Denn ebenso wie C+J ihre Marke Alt Wien haben, hat Alfred Sargent eine ähnliche Marke (lesen Sie ➱hier mehr).

Und dann sollte da noch eine Firma namens Feinstes Schuhwerk K&K Platinum - Nach Wiener Tradition erwähnt werden, die es angeblich seit 1899 gibt. Dahinter verbirgt sich niemand anders als die Firma Salamander. Und die Schuhe werden in Italien gefertigt. Feinstes Schuhwerk wird man da wohl nicht bekommen. Die Qualität bekommt man eher bei einer Firma, die sich nach dem Schutzheiligen der Schuster St Crispin's nennt (und die hier mit einem ➱Video zeigt, wie ein rahmengenähter Schuhe ohne die Goodyear Maschine genäht wird). Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass man auch Budapester Schuhe von einer deutschen Firma kaufen kann. Aber da ➱Dinkelacker hier schon einen Post hat, braucht die Firma, die früher Apollo Schuhe machte, keine weitere Beschreibung. Dinkelacker hat auch ein Modell Wien im Angebot, das ist ihr einziger Schuh, der nicht diese schrecklich dicken Sohlen hat.

Das erste Mal, dass ich den Begriff Budapester Schuhe las, war in den fünfziger Jahren an dem gläsernen Schaukasten eines kleinen Ladens auf dem Kurfürstendamm (ich glaube, die Firma gibt es immer noch). ➱Hermann von Eelking hat in seinem Lexikon der Herrenmode keinen Eintrag unter Budapester, hat dafür aber einen für Fullbrogue und Flügelkappe. Dort wird ein Schuh, den man heute als Budapester bezeichnet, abgebildet, der aber nicht aus Budapest kommt. Es ist ein Modell von Rieker, die zu der Zeit wie viele deutsche Firmen noch rahmengenähte Schuhe anboten.

Es gab damals noch keinen Bedarf an Budapester oder Wiener Schuhen. Obgleich es schon zugezogene ungarische Schuhmacher wie Julius Harai gab, der 1947 in Neumünster seine kleine Manufaktur gründete. Bei dem ließ sich Max Schmeling (und später Walter Scheel) seine Schuhe machen - es gab aber auch bei Prange in Hamburg ungarische Harai Schuhe für jedermann. Für den deutschen Normalverbraucher reichten deutsche Schuhmarken wie Rieker, Mercedes oder Salamander (lesen Sie ➱hier mehr dazu). Eine Marke, die geschickt mit ihren Lurchi Heften schon Kinder an die Marke band. Damals konnten Eltern auch noch mit einem Apparat sehen, ob die Kinderfüße in den Schuh passten. Diese praktischen Geräte, die Fluoroskop oder Pedoskop hießen, sind heute verboten, es waren nichts anderes als immens strahlende Röntgengeräte.

Auf diesem Reiseführer von Wien finden wir im Jahre 1927 auch die Stadt Budapest im Titel, Wien und Budapest scheinen nicht nur bei Schuhen zusammen zu gehören. Das Buch des Wiener Schriftstellers Ludwig Hirschfeld (in dem die ungarische Stadt nur im Anhang Ausflug nach Budapest auftaucht) ist in der Reihe Was nicht im Baedeker steht des Münchener Piper Verlags erschienen. Begründet worden war die erfolgreiche Buchreihe von dem Mitinhaber des Verlags Dr Robert Freund, der aus Wien kam. Deshalb durfte ein Band über Wien natürlich nicht fehlen. Robert Freund musste auf Druck der Nazis seinen Anteil am Verlag verkaufen. Er gründete in Österreich noch den Bastei Verlag, aber die letzte belletristische Verlagsneugründung lebte nur bis zu dem sogenannten Anschluss. Robert Freund (dessen von Kokoschka gemaltes Portrait 1938 von der Wiener Gestapo zerschnitten wurde) ging nach New York, wo er die Twin Prints und Twin Editions gründete.

Robert Freunds Autor für den Anti-Baedeker von Wien im Jahre 1927 ist ein klein wenig schuhverrückt. Ich zitiere einmal aus dem Buch: Das ist eine Herren- und Damenangelegenheit, denn unsere guten Damenschuster sind auch für Herren erstklassig. Wer etwas auf einen distingierten Fuß hält, trägt entweder englische oder ungarische Schuhe. Die nobelsten und anspruchvollsten Füße von Wien lassen sich von zwei echt englischen Schustern bekleiden: Coyle & Earley am Karlsplatz. Die sind so vornehm, daß sie nicht einmal eine Auslage haben, aber die Stammkunden, Aristokraten, fremde Diplomaten, Gutsbesitzer finden den englischen Schuster auch so.

Ich würde mich aber gern mit ungarischen Schuhen von Gardos oder Bencze begnügen. Die schicken Luxusschuhe der Luxusdamen, die man bei Demel oder Gerstner sieht, sind meistens Gardos- oder Bencze-Schuhe oder es sind Schuhe von Dworiansky in der Weihburggasse. Die von außen unscheinbaren Laden der gediegenen, alten Wiener Schuhmacher sind in der Inneren Stadt zwischen Bräunerstraße und Habsburgergasse zu finden: Scheer, Nagy, Urbanek, Rosenzweig und wie sie alle heißen. Sie machen die herrlichsten Schuhe zum Spazierengehen, für die Jagd, für die Reise, zum Tennis, für den Abend. Früher einmal hatte jeder elegante Wiener bei seinem Schuster fünf bis zehn Paar Schuhe in der Arbeit, die er sich nach und nach liefern ließ. Das gibt's jetzt nicht mehr. Die beiden Bilder haben natürlich etwas mit Wien zu tun; oben ist ein Bild des Wiener Malers John Quincy Adams (der ➱hier einen Post hat), dies hier ist ein Entwurf der Wiener Werkstätte aus dem Jahre 1913.

Ich lasse einmal Rudolf Scheer, Materna, Maftei und Balint (um die großen Namen des Wiens von heute zu nennen) draußen vor und schreibe ein wenig über Nagy. Da ich nämlich gerade bei ebay ein Paar Nagy Schuhe ersteigert habe, einen eleganten dunkelbraunen Norweger. Wiener Leisten, holzgenagelt. Sie haben innen ein kleines Etikett, auf dem Friedrich Nagy Wien 1 Habsburgergasse 3 steht. Sonst nix. Keine mit dem Kugelschreiber hinein gemalte Größen oder Leistennummern wie bei Edward Green oder anderen Engländern.

Den Namen Friedrich Nagy hatte ich schon einmal gelesen. Nämlich in dem Katalog des Wien Museums Großer Auftritt: Mode der Ringstraßenzeit. Dort ist ganzseitig ein Damenstiefel abgebildet, dessen Etikett noch den kleinen Zusatz hat: Diplome d'honneur Paris 1889. Und im Textteil können wir lesen: Friedrich Nagy, einer der besten Schuhmachermeister, hatte sein Geschäft und seine Werkstatt in der Habsburgergasse 3. Sein Nachfolger ließ den kleinen Schuhsalon von einem Hoffmann-Schüler neu einrichten. Wer dieser Schüler von Josef Hoffmann war, weiß ich nicht, aber das 1912 von Carl Steinhofer gebaute Haus steht heute noch.

Als Friedrich Nagy seine große Zeit hat, ist die Wiener Schuhindustrie im Umbruch. Selbständige Schuhmacher werden immer weniger, stattdessen wächst die Zahl der Fabriken, die man damals etwas euphemistisch Groß-Schuhmacher nennt. Ein Buchtitel wie Untersuchungen über die Lage des Handwerks in Österreich mit besonderer Rücksicht auf seine Konkurrenzfähigkeit gegenüber der Großindustrie beschreibt die Situation sicherlich treffend. In der Publikation von 1896 findet sich auch ein Artikel Die Schuhmacherei in Wien, geschrieben von einem Dr Richard Schüller. Der Wirtschaftswissenschaftler wird einer der einflussreichsten Beamten Österreichs werden. Als die Nazis kommen, flieht er über die Götztaler Alpen nach Italien, von da nach London (wo er die Europe Study Group in Chatham House leitet) und nach New York (wo er Professor wird).
Das Haus in der Habsburgergasse hat sich natürlich in über hundert Jahren ein wenig verändert, aber die Elemente der Wiener Secession kann man an diesem späthistoristischen Wohn- und Geschäftshauses noch erkennen. Der Laden namens Gigi ist natürlich neu, der Friseur Bundy (der im ersten Stock sitzt) ist hier schon lange. Friedrich Nagy ist nicht mehr da, nur noch auf dem kleinen Etikett auf meiner Schuhsohle.

Aber Nagy hat seine Spuren hinterlassen, nicht nur in Ludwig Hirschfelds Wien Führer. Adolf Loos (der natürlich ➱hier einen Post hat) erwähnt in seinen Schriften 1897-1900 die vorzüglichen Stiefel von Friedrich Nagy, die man in den Vitrinen des Hofschneiders Szallay findet. Der große Dandy, der auch den Laden von Knize einrichtete, wusste in Bezug auf die Mode, wovon er redete, er hat auch 1898 den interessanten ➱Essay Die Fussbekleidung geschrieben. Die Schuhe von Nagy scheinen die Schriftsteller anzuziehen. So berichtet Maria Fialik in ihrem Buch Der Charismatiker: Thomas Bernhard und die Freunde von einst von einer angeblichen Tante Thomas Bernhards: Und darin hat ihn auch die »Tante« sehr unterstützt. Immer nur das Allerfeinste hat ihm Nagy-Schuhe anmessen lassen. Er hat zwei Paar Schuhe gehabt, und die waren erste Klasse. Das hat natürlich jeder gleich bemerkt. Mein Mann hat eine ganz andere Art von Ästhetik für sich selbst, die mit Geld nichts zu tun hat.

Und ist der kleine österreichische Dandy, der den monologisierenden Schmäh zur Kunstform erhob und den shabby chic perfektionierte, richtig dankbar? Lobt er Nagy Schuhe über den grünen Klee? Kann man nicht sagen, wenn in seinem Roman Beton die Rede von Nagy Schuhen ist, dann hat das einen negativen Beiklang. So sagt der Erzähler Rudolf über seine Schwester: Immer kreuzt sie mit irgendwelchen Gecken auf, die nur von Nagy geschusterte und auch noch, wie wir sagen, ge-eiselte Schuhe anhaben und allein dadurch schon einen unnatürlichen Gang haben. In ➱Bremen hat der damals mittellose Bernhard durch den Bremer Literaturpreis zum ersten Mal richtiges Geld bekommen, hat er jemals was Nettes über Bremen gesagt? Von dem Geld hat er sich als erstes in Wien bei Don Gil einen sauteuren Anzug gekauft. So ist er nun mal.

Das Wort ge-eiselte ist vielleicht erklärungsbedürftig. Ich zitiere dazu einmal den Wiener Schuhmacher F. Michael MachoWissen Sie, wenn man 1965 auf der Kärntner Straße oder am Graben gegangen ist und es hat geklappert, dann wusste man, es ist ein moderner Schuh, der qualitativ sehr hochwertig ist. 20 Jahre später hat man das Klappern zwar immer noch gehört, aber wenn man sich den Schuh, von dem das Geräusch gekommen ist, genauer angeschaut hat, konnten das plötzlich auch dünne Schlüpfer sein. Die Leute haben einfach angefangen, sich von Mr. Minute ein kleines Eiserl um zehn Schilling auf die Schuhsohle schlagen zu lassen, um den Eindruck eines teureren Schuhs zu erwecken. Das hat halt dann auch 14 Tage lang geklappert. Aber früher war das Eisen ein Qualitätskriterium, das nur die Nagy Schuhe oder artverwandte Modelle hatten. Und für ein artverwandtes Modell bilde ich doch einmal die Sohlen meines Maftei Schuhes ab, geeiselt und holzgenagelt.

Dazu passend wäre folgendes Zitat: Ich kann mir keine italienischen Schalen mehr leisten, keine Maßhemden, keine doppelt besohlten, geeiselten Schuhe, ich bin ein echter Niemand geworden! Und dazu diese vielen gemeinen Gesichter! Diese ganzen Bluthochdruckvisagen! das läßt Camillo Schaefer in Wittgensteins Größenwahn: Begegnungen mit Paul Wittgenstein seinen Paul Wittgenstein sagen. Das 96-seitige Buch ist vergriffen. Mehr über Paul Wittgenstein kann man in Thomas Bernhards Wittgensteins Neffe: Eine Freundschaft erfahren. Ich hatte mal eine schwere Thomas Bernhard Phase, aber ich bin darüber hinweggekommen. Wenn ich heute einen Literaturtip zu dem österreichischen Autor abgeben sollte, so wäre der sehr kurz: Heldenplatz, Der Untergeher und Alte Meister. Und vielleicht noch Immanuel Kant (➱hier) und das köstliche kleine Stück Claus Peymann kauft sich eine Hose und geht mit mir essen (➱hier in einer Variante mit Harald Schmidt in der Hauptrolle).

Eine ähnliche, leicht abwertende Passage über Nagy Schuhe wie bei Bernhard fand ich in der österreichischen Zeitschrift Wort in der Zeit im Jahre 1964: Einen hübschen Fuß hat die Person! Und Schuhe von Nagy. Die sieht mir nicht nach Schuhen von Nagy aus! Na, solche Leute kriegen oft auch etwas geschenkt. Sie sieht aber auch nicht nach Männern aus, die Schuhe von Nagy schenken. Es geht doch nichts über den österreichischen Schmäh. Dies Plakat ist von dem Wiener Ernst Deutsch, der im amerikanischen Exil den Namen Ernest Dryden angenommen hat.

Elfriede Jelinek liebt dagegen in Das über Lager (in Ablagerungen) ihre alten Nagy Schuhe, schwarze / Halbschuhe in Rauhleder und mit einer weißen Korkschuhsohle / und weißer Ziernaht, wo die Sohle aufs Rauhleder trifft. Und die österreichische Schriftstellerin Dorothea Zeemann  schreibt über die erste Begenung mit Heimito von Doderer (dessen Geliebte sie später wird): Die Art, wie der Maßanzug sitzt, lässt auf eine, wie man so sagt, starke Individualität schließen. Ich bin offenen Auges bei vollem Bewusstsein in den falschen verliebt: In zwei Hände, breite Schultern, Füße, die in uralten, aber sündteuren ungarischen Maßschuhen stecken (…) Ich sehe nur die Schuhe, handgearbeitet von Nagy. An dieser Stelle möchte ich mich bei dem Leser bedanken, der mich in einem Kommentar zu ➱Silvae: Wälder: Lesen auf Heimito von Doderer hinwies. Es war mir ein Anlass, mir endlich die Strudlhofstiege zu kaufen. Dies Photo von Roman Vishniac aus einem jüdischen Stadtteil in Wien1936 soll uns zeigen, dass es natürlich eine andere Welt der Schuhe jenseits der Luxusprodukte gibt. Und vielleicht passen ➱Schnitzlers Sätze aus Eine Jugend in Wien ganz schön dazu: Der Snob in mir erwacht und entwickelt sich aufs lächerlichste... Vollkommen wurde dieser Snobismus geheilt durch die Snobs, die ich im Laufe der Zeit kennenlernte.

Ich beende meine kleine Blütenlese mal eben mit dem, was die Wochenpresse über Bruno Kreisky schrieb: Legendär sind seine Vorliebe für die genagelten Nagy-Schuhe vom besten Leisten und seine Präferenz für Hantak-Anzüge. War das etwa der „Mann der Bewegung", von dem der Witz ausging, er wähle jeweils die Maßanzüge zu seiner Krawatte.

Vielleicht sollte man einmal eine ➱Literaturgeschichte des Schuhs schreiben, Jung' und Alte, groß und klein, Gräßliches Gelichter! Niemand will ein Schuster sein, Jedermann ein Dichter. Ich würde mit Sir Tom Stoppard anfangen, der als Tomáš Straussler in Zlín in der Tschechoslowakei (das war auch einmal Österreich-Ungarn) geboren wurde. Wo sein Vater Werksarzt in der Schuhfabrik Baťa war. Und Schuhe finden sich immer wieder in seinem Werk, schon in ➱Arcadia habe ich zahlreiche Zitate gefunden.

Den eleganten Damenstiefel, der in Großer Auftritt: Mode der Ringstraßenzeit abgebildet ist, hat Friedrich Nagy bestimmt selbst gemacht. Wer meinen Nagy Schuh gemacht hat, weiß ich nicht. Es scheint in Wien noch einen Andreas Nagy zu geben, und ein Tony Nagy ist gerade in Rente gegangen. Dessen Welt waren allerdings Laufschuhe und keine holzgenagelten, geeiselten Kalbslederschuhe. In den zwanziger Jahren wird in Wien ein Béla Nagy (der auch Schuhmacher des Zaren Boris von Bulgarien war) berühmt: In Vienna, in the Singerstrasse, there was Bela Nagy, known for his most elegant and chiseled toe, and wooden nailing. I have it on the generous authority of my very knowledgeable Viennese client, Dr.R.R., who patronized him until Nagy retired in the late 1960s, that Nagy’s clientele was taken over by the still thriving Georg Materna. Drei Generationen von Materna haben für den Kommerzialrat Nagy gearbeitet, heute gehört die Firma ihnen, heißt aber Materna.

Ich gebe das letzte Wort einmal dem großen Wiener Dandy Adolf Loos: Nach den englischen schustern machen gewiß unsere schuhmacher die besten schuhe der welt. Man wird zwar in den verschiedenen europäischen hauptstädten hervorragende schuster aufzählen können, aber der gleichmäßige, tüchtige durchschnitt erhebt die österreicher, was die fußbekleidung angeht, über jedes andere volk. Dem kann man hinzufügen, dass der berühmteste Schumacher Londons in den dreißiger Jahren auch keinen sehr englischen Namen trägt, die Familie von Nikolaus Tuczek kam irgendwann auch aus dem k.u.k. Österreich in die englische Metropole. Die Firma von Nikolaus Tuczek gehört heute John Lobb, einst Bootmaker of the Colony of New South Wales. Aber das ist eine andere Geschichte.


Noch mehr Schuhe in den Posts: ➱Cliff Roberts, Artisan, ➱Dinkelacker, ➱Kuckelkorn, ➱Kiton/Chiton, ➱wayward cows, ➱Lord Byrons Schuhe, ➱Militärisches Schuhwerk, ➱Wildlederschuhe, ➱Chelsea Boots, ➱Englische Herrenschuhe (Trickers), ➱Englische Herrenschuhe (London), ➱Englische Herrenschuhe (Alfred Sargent), ➱Italienische Herrenschuhe, ➱Schuhe aus Portugal, ➱Wiener Leisten, ➱Wirkungen, ➱Zeit der Unschuld, ➱Gamaschen, ➱Christian Rohlfs, ➱Laurence Harvey, ➱Blazer, ➱Morning Coat, ➱Fernandel, ➱Léo Malet, ➱Schuhcreme

Freitag, 26. Juni 2015

George IV


Jubel allerorten über die Königin. Nie wurde das Adjektiv royal, das ich am ➱Mittwoch eigentlich eher ironisch verwendete, so strapaziert. Der Anfang des Besuchs war nicht gut, die uniformierten Angestellten des Luxushotels waren nicht in der Lage, die britische Flagge richtig herum aufzuziehen. Und dann noch dieses grässliche Geschenk. Is that supposed to be my father? fragte die Königin, definitely not amused. Sie sagte dann noch: that's a funny colour for a horse. Wäre Gauck schlagfertig gewesen, hätte er der Königin gesagt, dass seit dem Blauen Reiter Pferde für Maler immer blau sind. Seien wir ehrlich, die kitschigsten Bilder in dem Post ➱Teckel & Corgwn sind schöner als das hier. Wir sollten uns aber einmal den Namen der Malerin merken: sie heißt Nicole Leidenfrost. Ich würde für keins ihrer ➱Bilder einen Euro ausgeben, doch ich nehme an, dass die Preise für ihre Bilder jetzt anziehen werden.

Bleiben wir noch einen Augenblick beim englischen Königshaus. Bei einem König namens George IV, der heute vor 185 Jahren starb. Und den die Engländer nicht so liebten, wie sie ihre jetzige Königin lieben. Die Kunstepoche des Regency (zu der es diesen schönen ➱Jane Austen Blog gibt) ist nach ihm benannt, das wird sicher bleiben. Ansonsten bleibt nicht so viel von Prinny. Außer dem Royal Pavilion in Brighton, der manche an Coleridges Xanadu erinnerte.

Er wäre so gerne ein Dandy gewesen wie sein Freund ➱Brummell, aber er kann für die Schneider ausgeben, was er will, er macht keine bella figura. Er ist zu fett, es fehlt ihm die sprezzatura, die nach Baldassare Castiglione den Dandy auszeichnet. Das Geld für die ➱Schneiderrechnungen bei seiner Krönung würde den griechischen Finanzminister heute glücklich machen. Glücklich über ihren fetten Prinny sind nur die bösen Journalisten, die the most infamous & shocking libellous production yt ever disgrac'd the pen of man liefern. Und natürlich Englands Karikaturisten. Was wären George Cruikshank und ➱James Gillray ohne ihn gewesen?

Der König liefert uns eine Vielzahl von Anekdoten, die aber meist nicht sehr schmeichelhaft sind. Meine Lieblingsgeschichte hat mit dem Besuch des Schlachtfelds von ➱Waterloo in Begleitung von Wellington zu tun. Da  erzählt er beim Abendessen, er habe - verkleidet als Generalmajor von Bock - in der King's German Legion am Krieg in Spanien teilgenommen. Was that not so? brüllt er durch den Saal. Wellington antwortet höflich: I have often heard Your Majesty say so. Macht sich aber im Stillen seine Gedanken, ob der ➱Wahnsinn von George III jetzt auch seinen Sohn befallen hat. Ich liebe dieses Bild von ➱John Singleton Copley, das unseren George in der Pose eines Feldherrn zeigt. Unnötig zu sagen, dass dieser Feldmarschall nie im Felde war.

Der englische Schriftsteller William Makepeace Thackeray, dem wir den wunderbaren ➱Roman Vanity Fair verdanken, mochte ihn gar nicht. So schreibt er in The Four Georges:

To make a portrait of him at first seemed a matter of small difficulty. There is his coat, his star, his wig, his countenance simpering under it: with a slate and a piece of chalk, I could at this very desk perform a recognizable likeness of him. And yet after reading of him in scores of volumes, hunting him through old magazines and newspapers, having him here at a ball, there at a public dinner, there at races and so forth, you find you have nothing—nothing but a coat and wig and a mask smiling below it—nothing but a great simulacrum. His sire and grandsires were men. One knows what they were like: what they would do in given circumstances: that on occasion they fought and demeaned themselves like tough good soldiers. They had friends whom they liked according to their natures; enemies whom they hated fiercely; passions, and actions, and individualities of their own. The sailor king who came after George was a man: the Duke of York was a man, big, burly, loud, jolly, cursing, courageous.

But this George, what was he? I look through all his life, and recognize but a bow and a grin. I try and take him to pieces, and find silk stockings, padding, stays, a coat with frogs and a fur collar, a star and blue ribbon, a pocket-handkerchief prodigiously scented, one of Truefitt's best nutty brown wigs reeking with oil, a set of teeth and a huge black stock, under-waistcoats, more under-waistcoats, and then nothing. I know of no sentiment that he ever distinctly uttered. Documents are published under his name, but people wrote them—private letters, but people spelt them. He put a great “George P.” or “George R.” at the bottom of the page and fancied he had written the paper: some bookseller's clerk, some poor author, some man did the work; saw to the spelling, cleaned up the slovenly sentences, and gave the lax maudlin slipslop a sort of consistency.

He must have had an individuality: the dancing-master whom he emulated, nay, surpassed—the wig-maker who curled his toupee for him—the tailor who cut his coats, had that. But, about George, one can get at nothing actual. That outside, I am certain, is pad and tailor's work; there may be something behind, but what? We cannot get at the character; no doubt never shall. Will men of the future have nothing better to do than to unswathe and interpret that royal old mummy? I own I once used to think it would be good sport to pursue him, fasten on him, and pull him down. But now I am ashamed to mount and lay good dogs on, to summon a full field, and then to hunt the poor game.

Wir müssen an dieser Stelle einmal etwas Nettes über ihn sagen. Christopher Hibbert ist in seiner beinahe neunhundertseitigen Biographie (die viel länger als die über ➱George III ist) sehr nett zu ihm. Das Times Literary Supplement hat über das Buch gesagt: This is one of the most satisfying biographies of an English king: it is ample, convincing and well written. Dagegen gibt es nichts zu sagen. George Augustus Frederick hatte große Anlagen als er jung war; er ist, wie so viele englische Königssöhne (denken wir nur an den Herzog von Windsor und seinen stotternden Bruder) auch ein Opfer einer übertrieben strengen Erziehung.

Diese Ermahnungen, die der Siebzehnjährige (hier links auf einem Bild von Benjamin West) erhält, sind da noch das Netteste: An Sonn- und Donnerstagen kannst Du in Deinem Apartment Abendessen geben, aber häufiger kann ich mir dies nicht leisten […] Teilnahme an Bällen und Gesellschaften, die in Privathäusern stattfinden, werde ich nicht gestatten […]. Was Maskeraden betrifft, ist Dir bekannt, dass ich diese für dieses Land unpassend finde […] Sollte ich morgens ausreiten, erwarte ich von Dir, dass Du mich dabei begleitest. Ich habe keine Einwände, wenn Du an den anderen Tagen alleine ausreitest, vorausgesetzt, es ist der Übung wegen und dient nicht dazu, im Hyde Park herumzulungern.

George besaß einiges schauspielerisches Talent, und er war musikalisch. Er war ganz reizend zu ➱Joseph Haydn, den er einmal auf dem Cello begleitete. Und er sang sehr gerne in seinem Musikzimmer im Royal Pavilion. Am liebsten Mighty Conqueror, das Samuel Webbe für ihn geschrieben hatte:

The mighty conqueror of hearts,
His pow’r I here deny;
With all his flames, his firs and darts
I, champion-like, defy.

I’ll offer all my sacrifice
Henceforth at Bacchus’ shrine.
The merry god ne’er tells us lies;
There’s no deceit in wine.

Die Nettigkeiten enden hier. Wollte ich all diese Verstöße gegen Benehmen, Moral und gute Sitten von Prinny aufzählen, dann schriebe ich noch im Juli an diesem Post. Nicht nur die Karikaturisten haben ihn geliebt, die Popular Culture liebt ihn heute immer noch. Ich hätte da einen kleinen ➱Film zu bieten, in dem Prinny singt. Oder einen ➱Schnipsel von der köstlichen Serie Blackadder, in der Hugh Laurie (den wir als Dr House kennen) den Prinzen von Wales spielt. Aber das letzte Wort soll die eigentlich sehr konservative Londoner Times haben. Die wenige Wochen nach dem Tod von George IV etwas wirklich Außergewöhnliches schrieb:

The truth is—and it speaks volumes about the man—that there never was an individual less regretted by his fellow-creatures than this deceased King. What eye has wept for him? What heart has heaved one throb of unmercenary sorrow? Was there at any time a gorgeous pageant on the stage more completely forgotten than he has been, even from the day on which the heralds proclaimed his successor? Has not that successor gained more upon the English tastes and prepossessions of his subjects, by the blunt and unaffected— even should it be grotesque—cordiality of his demeanour, within a few short weeks, than George the Fourth—that Leviathan of the haul ton—ever did during the sixty-eight years of his existence? If George the Fourth ever had a friend—a devoted friend—in any rank of life, we protest that the name of him or her has not yet reached us.


So oft wie kaum ein anderer ist George (der Heinrich Heines Doktorurkunde unterschrieb) in diesem Blog aufgetaucht, lesen Sie auch: ➱Regency, ➱Krönung18th century: Georgian Era, ➱Hannover, ➱Charles, ➱Kleider machen Leute, ➱Beau Brummell, ➱Tartan, ➱Bonnie Prince Charlie, ➱Walter Scott in Bildern, ➱David Wilkie, ➱Thomas Lawrences Blücher, ➱James Gillray, ➱Harry Heine

Mittwoch, 24. Juni 2015

Queen


Natürlich heißen wir sie willkommen, dieser Blog hat viel für Königinnen übrig. Viele waren schon hier in diesem Blog. Der Bestseller unter den royalen Posts heißt erstaunlicherweise ➱Anne Boleyn, ich hätte eigentlich eher auf ➱Teckel & Corgwn getippt. Mit der englischen Königin kommt jetzt auch ein Wiedergänger auf die Bildschirme zurück, ein journalistischer Schnarchsack, den man sich besser erspart hätte. Sie kennen ihn seit Jahrzehnten, er ist beinahe so alt wie die Königin.

Er heißt Rolf Seelmann-Eggebert, und die Königin hat ihn vor Jahren zum Commander des Order of the British Empire gemacht, mehr kann er als Deutscher nicht kriegen. Ich weiß nicht, wofür er den Orden bekommen hat, für seine Kommentare bei der Last Night of the Proms kann es nicht gewesen sein. Man hat ihn auch nicht gefragt, als es darum ging, die königliche Familie ein Jahr lang zu filmen. Der Film Monarchy: The Royal Family at Work (➱hier in vier Teilen) ist glücklicherweise von Engländern gedreht worden. Unser Bundespräsident bekommt von der Königin bestimmt auch einen Orden. Er selbst kann sich nicht revanchieren, seit 1992 ist die Königin Trägerin der Sonderstufe des Bundesverdienstkreuzes. Mehr haben wir nicht.

Bei ihrem ersten Besuch vor fünfzig Jahren (damals habe ich sie gesehen) fuhr sie im Mercedes durch Deutschand, jetzt ist es die Bentley Staatslimousine in der Farbe des königlichen Fuhrparks (royal claret), sechs Meter lang. Die war schon einige Tage vor der Königin in Berlin, kam per LKW Anhänger. Wahrscheinlich zu groß und zu schwer für die Straße, das Ding wiegt dreimal so viel wie mein alter Golf. Das erinnert mich an die britischen Chieftain Panzer vor fünfzig Jahren, die wurden auch immer auf einem Anhänger herumgefahren.

Vielleicht mochte Philip auch keinen Mercedes, wo ihm doch 1965 ein kleines Malheur passiert war. Das Sondermodell Mercedes 600 Landaulet, das Daimler Benz der Regierung zur Verfügung gestellt hatte, besaß elektrische Fensterheber. Heute serienmäßig, damals eine Sensation. Philip hat so lange mit dem Fensterheber gespielt, bis die Elektrik aufgab. Der Mercedes blieb in Bonn liegen, Elizabeth und Philip mussten umsteigen. Ansonsten ist gegen einen Bentley aus deutscher Sicht natürlich nichts zu sagen, da die Firma dem selben Hersteller gehört, der meinen Golf gebaut hat.

Sieben Jahre, bevor die Königin damals nach Deutschland kam, war Theodor Heuss in England gewesen. Philip hat am Abend zu seinem ➱Frack Kniebundhosen (natürlich mit dem Hosenbandorden) und Seidenstrümpfe getragen, Theodor Heuss natürlich lange Hosen. Bald nach dem Besuch sagte Philip: Mit Deutschenhaß allein können wir nicht überleben. Es ist eine öde Beschäftigung, sich über die Geschichte zu ärgern, und sie macht blind für die Aufgaben der Zukunft. Das war der Beginn eines britisch-deutschen Tauwetters. Seitdem mögen wir uns wieder. Heute fährt die Königin Volkswagen.

Der diesjährige Staatsbesuch weicht ein wenig von der üblichen Norm ab, denn die Königin wird auch Bergen-Belsen besuchen. Das habe ich schon in dem Post ➱Bergen-Belsen geschrieben. Ich las gestern in der Zeitung, dass Bergen-Belsen das einzige Lager sei, dass die Briten befreit haben. Das ist nicht richtig, es ist wohl etwas in Vergessenheit geraten, dass General Horrocks das Lager Sandbostel befreit hat. Sie können dazu mehr in den Posts ➱8. Mai 1945, ➱Léo Malet und ➱Fernandel lesen.

Ich habe heute für Sie ein kleines Gedicht (die Königin kennt das schon) mit dem Titel The Crown, das ihre Hofdichterin Carol Ann Duffy zum sechzigsten Krönungsjubiläum geschrieben hat.

The crown translates a woman to a Queen –
endless gold, circling itself, an O like a well,
fathomless, for the years to drown in – history's bride,
anointed, blessed, for a crowning. One head alone
can know its weight, on throne, in pageantry,
and feel it still, in private space, when it's lifted:
not a hollow thing, but a measuring; no halo,
treasure, but a valuing; decades and duty. Time-gifted,
the crown is old light, journeying from skulls of kings
to living Queen.

Its jewels glow, virtues; loyalty's ruby, blood-deep; sapphire's ice resilience; emerald evergreen;
the shy pearl, humility. My whole life, whether it be long
or short, devoted to your service. Not lightly worn.


Lesen Sie auch: ➱Lisbeth, ➱Teckel & Corgwn, ➱Theodor Heuss