Dienstag, 4. Februar 2025

The Gulf of Mexico


Heute heißt Country Music nicht mehr Johnny Cash, sondern Taylor Swift. Aber die muss jetzt vorsichtig sein, Donald Trump hasst sie. I hate Taylor Swift, konnte man in den asozialen Medien lesen. Es gab eine schnelle Antwort von Ana NavarroDonald Trump has lost what little sanity he had left. Taylor Swift broke him. Kaum hatte Swift sich für Kamala Harris ausgesprochen, da tauchte in den Medien dieses Bild auf. Die Lügenmaschine der Trump Fans war wieder bei der Arbeit gewesen. Für so etwas ist Künstliche Intelligenz gut, wahrscheinlich für nichts anderes. Da wir beim Thema Musik sind: Donald Trump spielt im Gegensatz zu vielen seiner Vorgänger (lesen Sie mehr in I hear America Singing) kein Instrument. Aber er liebt Country Music, vor allem, was der 82-jährige Lee Greenwood singt. Dessen Lied God Bless the USA hatte Trump ja schon in seine Bibel aufgenommen, wahrscheinlich wird es demnächst die Nationalhymne der USA. Bei Trumps Amtseinführung sang die Country Sängerin Carrie Underwood das Lied America the Beautiful, aber von beautiful konnte bei ihrem Gesang keine Rede sein. Wäre Kamala Harris Präsidentin geworden, hätte wahrscheinlich Taylor Swift im Weißen Haus gesungen. Bei der Gala für Jimmy Carter im Januar 1977 hatte Aretha Franklin God Bless America gesungen, die Crème de la Crème von Pop und Country war an diesem Abend da. Auch bei Joe Bidens Inauguration gab es viel musikalische  Exzellenz. Donald Trump hat nur diesen Greenwood und den traurigen Rest der Country Music.

Country & Western Musik war von Anfang an in diesem Blog, das begann 2010 mit dem Post Grand Ole Opry, die anderen Posts liste ich mal da unten auf. Über diese amerikanische Musik habe ich schon vor dreißig Jahren zwei Aufsätze in der Zeitschrift Studies in the Western von Peter Bischoff geschrieben. Ich hatte schon eine Menge C&W im Kopf, bevor ich zu bloggen begann. Ich bin dank AFN und BFN mit amerikanischer Musik aufgewachsen, meine Heimatstadt Bremen war amerikanisch besetzt. Die ersten Jahre im Gymnasium hatte ich dank eines Austauschprogramms einen amerikanischen Englischlehrer. Dass John und Alan Lomax Amerikas Lieder aufgezeichnet haben, das wusste ich schon früh. Dass Moses Asch das Label Folkways gegründet hatte, wusste ich auch. Freunde in Amerika schickten mir die LPs zu. Für die ich 1960 beim Hauptzollamt Bremen immer argwöhnisch angeguckt wurde: genügt Dir denn die deutsche Musik nicht, dass Du sowas importieren musst? 

Als der junge Moses Asch in den dreißiger Jahren ein Interview mit Albert Einstein mit seinem Tonbandgerät aufnehmen sollte, sagte der Mathematikstudent in der Kaffeepause des Interviews, dass er eigentlich viel lieber die Volksmusik Amerikas aufzeichnen sollte;  es wäre doch ein schönes Unternehmen, das alles mit der neuen Technik aufzuzeichnen. Und da sagt Einstein: ... mach das, das Gerät, das Du da hast, das ist die Zukunft. Arbeitslose Mathematiker gibt es schon genug. Und er fügt hinzu: You're exactly right. Americans don't appreciate their culture. It'll be a Polish Jew like you who will do the job. Nach dem Tode von Asch im Jahre 1986 wird die Smithsonian Institution das Label Folkways kaufen, so dass das nationale musikanische Erbe Amerikas gesichert ist. Heute heißt Folkways Folkways/Smithsonian. Aus dem kleinen Label von Moses Asch ist ein riesiges Museum amerikanischer Folklore geworden.

Es gibt kleinere Labels wie Rounder Records, die mal Blues, Blues-Rock, Stringbands und Bluegrass anfingen, sie haben heute tausende von Titel im Programm. Auch sie sind schon ein kleines Museum amerikanischer Folklore. Und dann gibt es solche Labels, die sich auf die Wiederveröffentlichung spezialisiert haben und sehr schöne Zusammenstellungen herausbringen. Wie Bear Family Records (die erstaunlicherweise nicht in Nashville oder Bakersfield sitzen, sondern in der Nähe von Bremen ihre Heimat haben). Heute gibt es hier bei mir Clint Black, denn der hat heute Geburtstag. Er war in den neunziger Jahren ein Star, hatte dreizehn Titel auf Platz Eins der Billboard Country Songs. Sein Lied The Gulf of Mexico war auf seiner zweiten Platte Put Yourself In My Shoes, die 111 Wochen in den Charts war.

The Gulf of Mexico

The Texas coastline hold her
Close just like a lady
And in their time they've
Weathered a storm or two.
The river feed her waters like
I feed your memory.
The deeper I go the more I'm turning blue.
The sandy beaches drift in time
And the changing tide I know
Won't bring me back to yesterday
And the Gulf of Mexico.
The sails out on the water will
Come take you away.
When your ship comes in I know its time to go
And the waves along the seawall
Tell me nothings here to stay
And no man is an island but I'm still all alone.
I'm weighing anchors from the past
As the south winds start to blow
Sailing out of yesterday
And the Gulf of Mexico.
I'll be sailing out of yesterday
And the Gulf of Mexico.

Ja, damals durfte man noch Lieder über den Golf von Mexiko singen. Rod Stewart und Bruce Springsteen haben das auch getan. Heute heißt der Golf nicht mehr so. Hat Donald Trump gesagt. All diese schönen Popsongs wird irgendwann keiner mehr verstehen, titelte die Welt zu diesem Thema. Mexikos Präsidentin Claudia Sheinbaum schlug nach Trumps Namensänderung vor, den Süden der USA América Mexicana zu benennen. So hieß er einmal auf den Weltkarten des 17. Jahrhunderts: Warum nennen wir es nicht mexikanisches Amerika? Klingt gut, nicht wahr? Wir warten mal ab, was daraus wird. Und lassen einmal Dolly Parton ein patriotisches Lied singen. Das hat nur eine Strophe, aber Donald Trump hat das noch nie hingekriegt.

Lesen Sie auch: Emmylou, Emmylou Harris, Jackson, Traumpaare, Grand Ole Opry, All I NeedTownes van Zandtein anderes Amerika, Jessi Colter, Jessi, Waylon Jennings, Country Roads, Kris Kristofferson ✝, Patsy Cline, Johnny Cash, Richard Nixon, The One on the Right Is on the Left, Volver, volver, Hank Williams, The Yellow Rose of TexasWarren Oates

Sonntag, 2. Februar 2025

Mina Loys Ulysses


Am 2. Februar 1922 erschien der Roman Ulysses von James Joyce. Wenn Sie den Romantitel mit dem Pfeil und dem irischgrünen Feld anklicken, sind Sie schon drin in Dublin, denn ich habe einen englischen Volltext für Sie. Der Penguin Verlag bietet hier auf 85 Seiten eine Leseprobe der deutschen Übersetzung von Georg Goyert aus dem Jahre 1927 an, das ist immerhin ein Zehntel des Romans. Und hier können Sie den Anfang des Romans in der Übersetzung von Hans Wollschläger aus dem Jahre 1973 lesen. Wollschlägers Übersetzung gibt es bei ebay ab 3,33€. Sie ist fehlerhaft und umstritten, aber eine korrigierte Version durfte dank einer Krimiautorin, die die Rechte an dem Text besitzt, nicht veröffentlicht werden. Sie können aber hier das Vorwort zu diesem nicht zugänglichen Text lesen. Und das erste wichtige Buch zum Ulysses von Stuart Gilbert aus dem Jahre 1930 habe ich hier auch noch im Volltext für Sie.

Den Tag des Erscheinens seines Romans hatte Joyce selbst bestimmt, es war sein vierzigster Geburtstag. Er feierte seinen Geburtstag am Abend mit Nora Barnacle (die er immer noch nicht geheiratet hatte) in dem italienischen Restaurant Ferrari's. In Richard Ellmans →Biographie (hier auch im Volltext) können wir lesen: He had brought with him a package containing his copy of 'Ulysses', and placed it under his chair. Nora remarked that he had thought about the book for sixteen years, and spent seven years writing it. Everyone asked to see it opened, but he seemed to shrink from producing it. After the dessert he at last untied the parcel and laid the book on the table. It was bound in the Greek colours - white letters on a blue field - that he considered lucky for him, and suggesting the myth of Greece and Homer, the white island raising from the sea. There was a toast to the book and its author which left Joyce deeply moved. 

Es gab an dem Abend erst zwei Exemplare des Buches, die vorab gedruckt und gebunden waren. Der Drucker Maurice Darantiere
hatte sie mit dem Schnellzug von Dijon nach Paris geschickt. Die anderen 998 Bücher waren noch nicht gedruckt. Sylvia Beach hatte die Bücher am Bahnhof abgeholt. Eins schickte sie mit dem Taxi zu James Joyce, das andere legte sie in das Schaufenster ihres Ladens. Eine Erstausgabe mit der Signatur von Joyce kostet heute 300.000 Euro. Zur Hundertjahrfeier des Ereignisses gab  es in diesem Blog am 2. Februar 2022 den Post Hundert Jahre 'Ulysses'. Auf dem Photo von Gisèle Freund im oberen Absatz trägt Joyce eine Armbanduhr, aber ich weiß nicht, von welcher Firma die Uhr ist. Angeblich soll Joyce immer mehrere Uhren bei sich gehabt haben, die alle verschiedene Zeiten anzeigten. Im Text von Ulysses findet sich der Satz: Very strange about my watch. Wristwatches are always going wrong. Wahrscheinlich trägt er deshalb eine Armbanduhr. Was bedeutet dem Genie schon Zeit? Er hätte sich für das Ereignis eine neue Uhr kaufen können, so etwas hätte ich getan. Aber er kauft sich einen neuen Ring. Auf den Photos von Gisèle Freund kann man seine Ringe sehen.

Heute habe ich zur Feier des Tages ein Gedicht von Mina Loy (hier im Bild), das den Titel James Joyce's Ulysses hat. Wenn man will, kann man den Titel auch als James Joyce is Ulysses lesen. Die Modernisten sind gut mit kleinen Wortspielen, James Joyce zeigt uns das auf jeder Seite. In einem Interview aus dem Jahre 1965 wird die 83-jährige Mina Loy sagen: I knew Joyce quite well, this was the time—I don’t know how they managed to get any printed. I’ve forgotten all that story. [Isn’t that the Sylvia Beach story? Yes, and . . . ] He had a terrible wife. Das mit dem terrible wife hat James Joyce nicht so gesehen, für ihn war Nora Barnacle seine Muse, auch wenn er siebenundzwanzig Jahre brauchte, um sie zu heiraten. Er hat sie als Molly in den Ulysses geschrieben.

Mina Loy, die Joyce auch gezeichnet hat, hat noch ein zweites Gedicht auf Joyce geschrieben, das Apology of Genius heißt. Sie und James Joyce haben sich nicht häufig getroffen. Aber sie standen sich nahe mit dem, was sie wollten und waren immer in Verbindung: What was Joyce like? He had a nice gentle smile, and I don’t know what basis our friendship was on, wird sie im Alter sagen. Sie hatte ihn 1965 beinahe vergessen. Aber dass sie das Gedicht James Joyce's Ulysses geschrieben hatte, das wusste sie noch, sie hat es in dem Interview vorgelesen (klicken Sie hier die Nummer 42 an).

Der in Paris privat gedruckte Roman Ulysses war sofort im Heimatland von Joyce (und in den USA) verboten. D.H. Lawrence wird mit seinem Roman  Lady Chatterly's Lover sechs Jahre später Ähnliches erleben. Aber es gab in England schon erste Rezensionen, so konnte man 1922 im Guardian lesen: No book has ever been more eagerly and curiously awaited by the strange little inner circle of book-lovers and littérateurs than James Joyce’s Ulysses. It is folly to be afraid of uttering big words because big words are abused and have become almost empty of meaning in many mouths; and with all my courage I will repeat what a few folk in somewhat precious cénacles have been saying – that Mr James Joyce is a man of genius. I believe the assertion to be strictly justified, though Mr Joyce must remain, for special reasons, caviar to the general. I confess that I cannot see how the work upon which Mr Joyce spent seven strenuous years, years of wrestling and of agony, can ever be given to the public. Es wird einige Zeit dauern, bis die Welt erkennt, was da am 2. Februar 1922 erschienen ist. Mina Loy hatte das sofort erkannt, James Joyce's Ulysses ist eine Buchrezension in Form eines Gedichts:

James Joyce's Ulysses

The Normal Monster
sings in the Green Sahara

The voice and offal
of the image of God

make Celtic noises
in these lyrical hells

Hurricanes
of reasoned musics
reap the uncensored earth

The loquent consciousness
of living things
pours in torrential languages

The elderly colloquists
the Spirit and the Flesh
are out of tongue

The Spirit
is impaled upon the phallus

Phoenix
of Irish fires
lighten the Occident

with Ireland’s wings
flap pandemoniums
of Olympian prose

and satinize
the imperial Rose
of Gaelic perfumes—
England
the sadistic mother
embraces Erin

Master
of meteoric idiom
present

The word made flesh
and feeding upon itself
with erudite fangs
The sanguine
introspection of the womb

Don Juan
of Judea
upon a pilgrimage
to the Libido

The press
purring
its lullabies to sanity

Christ capitalized
scourging
incontrite usurers of destiny
in hole and corner temples

And hang
The soul’s advertisements
outside the ecclesiast’s Zoo

A gravid day
spawns
gutteral gargoyles
upon the Tower of Babel

Empyrean emporium
where the
rejector-recreator
Joyce
flashes the giant reflector
on the sub-rosa



Noch mehr James Joyce in diesem Blog: Hundert Jahre 'Ulysses'Bloomsday, Abendgesellschaft, Quark, Dublin, The Lass of Aughrim, Parnell, Versäumtes, Stephen Dedalus, Molly

Freitag, 31. Januar 2025

der Januar 2025

Wird's besser? Wird’s schlimmer? fragt man alljährlich. Seien wir ehrlich: Leben ist immer lebensgefährlich! hat Erich Kästner geschrieben. Der erste Monat des Jahres ist herum. Amerika hat einen neuen Präsidenten, wir werden jetzt jeden Tag neue Nachrichten von Donald Trump und Elon Musk aus Washington bekommen. Sollen wir darauf hören? Der Januar fing für diesen Blogger gut an, 38.694 Leser haben SILVAE angeklickt. Ich gucke immer mal in die Statistik, es ist für mich interessant, was die Leser lesen. Otto & Sohn ist die Nummer Eins der letzten Woche. Aber der meistgelesene Post der letzten vier Wochen ist mein kleiner Nachruf auf meinen Studienfreund Dr Hartmut Krüger. Sein Sohn hat einen Kommentar geschrieben, in dem steht, dass dieser Text seinem Vater gefallen hätte. Das hat mich sehr gerührt.

Auch wenn es von den Leserzahlen her ein guter Monat war, es gab kleinere Zwischenfälle im Bereich der Technik. Da war der kleine Computerabsturz, ein Fachmann musste eine Viertelstunde mit Hilfe des TeamViewer in meinem Computer herumwühlen, bis er den Fehler gefunden hatte. Und ich hatte sieben Tage kein Fernsehen, aber das eine hatte mit dem anderen nichts zu tun. Inzwischen läuft alles wieder. 

Ich habe mir im Januar eine Uhr gekauft, das hätten Sie sich vielleicht schon gedacht. Es war aber doch eher ein Zufall als ein geplanter Kauf. Die Uhr wird irgendwann hier im Blog auftauchen. Es ist wieder eine Seiko, dieses Handaufzugsmodell ist wahrscheinlich die beste Uhr, die Seiko Ende der sechziger Jahre gebaut hat. Das Uhrwerk dieses King Seiko Chronometers war auch in der Grand Seiko zu finden. Und es war 1969 das einzige japanische Werk, das bei dem letzten Chronometerwettbewerb in Neuchâtel auf die vorderen Plätze kam. Das war ein ziemlicher Schock für die Schweizer Hersteller. Der noch größer wurde, als Seiko wenige Monate später die erste kommerzielle Quarzuhr auf den Markt brachte. 

Aber das lassen wir jetzt mal beiseite und kommen zu etwas Anderem. Heute ist der Geburtstag von Franz Schubert, einem Komponisten, der immer in diesem Blog war. Wahrscheinlich häufiger als die Uhren von Seiko. Zum ersten Mal wird Schuberts Name im Januar 2010 in dem Post Kurze Geschichte der amerikanischen Literatur genannt. Das mag jetzt etwas irritieren, aber es hat seinen Grund. Im November 1828 schreibt er an seinen Freund Schober: 
Ich bin krank. Ich habe schon elf Tage nichts gegessen und nichts getrunken, und wandle matt und schwankend vom Sessel zu Bett und zurück. Doktor Rinna behandelt mich. Wenn ich auch etwas genieße, so muß ich es gleich von mir geben. Sei also so gut, mir in dieser verzweiflungsvollen Lage durch Lektüre zu Hilfe zu kommen. Von Cooper habe ich gelesen: 'Den letzten der Mohikaner', den 'Spion', den 'Lotsen' und die 'Ansiedler'. Solltest Du vielleicht noch was von ihm haben, so beschwöre ich Dich, mir solches bei der Frau v. Bogner im Kaffeehaus zu depositieren. Mein Bruder, die Gewissenhaftigkeit selbst, wird solches am gewissenhaftesten mir überbringen. Oder auch etwas anderes. 
Dein Freund Schubert.
Das Krankenbett wird sein Totenbett sein, er hat die Winterreise fertig, hat den halben Cooper gelesen und verlangt nach mehr von Amerikas bekanntestem Schriftsteller.

Ich habe die Schubert Posts einmal zusammengestellt, von denen manche erstaunliche Leserzahlen erreicht haben. Der Post Tränenregen hat zum Beispiel mehr als fünftausend Leser, und Hans Peter Blochwitz kommt auf dreitausend Leser. Wenn man die Posts alle zusammenfügt, wäre das schon ein kleines Schubert Buch:


Montag, 27. Januar 2025

Otto & Sohn

Den Kalender links auf dem Bild hat mir meine Cousine Hannelore zu Weihnachten geschenkt. Er enthält Bilder aus dem Buch Vegesack - Leben am Fluss in den 50er und 60er Jahren, das der Buchhändler Martin Marder und Kai Rücker, der Sohn des Photographen Helmut Schröder zusammen gestaltet haben. Es ist exklusiv bei der Buchhandlung Otto & Sohn in Vegesack erhältlich. Dass dieses Buch im Entstehen war, weiß ich, weil mir Martin Mader (der schon mehrfach in diesem Blog erwähnt wurde) einige Photos aus den fünfziger Jahren geschickt hatte, die ich noch nie gesehen hatte. 

Das Buch mit den nostalgischen Photos wird das letzte Buch der Firma Otto & Sohn sein, die vor vier Jahre Fritz Theodor Overbecks Büchlein Vegesack Du schönes Städtchen wieder aufgelegt hatte. Im Sommer des Jahres wird Martin Mader die Buchhandlung in der Breiten Straße, die es seit achtundneunzig Jahren gibt, schließen. Als Mader die Buchhandlung 1992 übernahm, war sie schon nicht mehr im Familienbesitz der Ottos. Aber es gab damals noch eine Buchhandlung Otto im Ort, nämlich die von Conrad Claus Otto. Das Adreßbuch für den deutschsprachigen Buchhandel vermerkte 1958, dass es hier zu Verwechslungen kommen könnte. Die Buchhandlung von C.C. Otto habe ich schon in dem Post Catch-22 erwähnt. Der junge Conrad Claus Otto (1931-2007) hatte 1955 in der Bismarckstraße (die heute Sagerstraße heißt) eine ganz andere Buchhandlung aufgemacht, die beste des Ortes. 

Es war eine erstaunliche Buchhandlung für so ein kleines Nest wie Vegesack, sie lebte natürlich von der Persönlichkeit des jungen Buchhändlers. Der auch noch die schönste Frau unserer Schule geheiratet hatte, kaum dass die achtzehn war. Sie hatten sich bei den Proben zu Hindemiths Oper Die Harmonie der Welt kennengelernt, bei denen unser Schulchor mitwirkte (wie sie hier lesen können). Seine Frau Doris hat aus Liebe zu ihm in Lübeck eine Buchhändlerausbildung gemacht. Conrad Claus Otto war für Bremen-Nord so etwas wie Eckart Cordes in Kiel, obgleich der Kieler Kulturpreisträger vielleicht noch mehr berühmte Autoren in seine Buchhandlung gelockt hat als Conrad Claus Otto in seine. Aber immerhin hatte er 1980 zum 25jährigen Bestehen der Firma Walter Kempowski als Gast. Doris Otto hat nach seinem Tod den Laden, der inzwischen in die Gerhard Rohlfs Straße umgezogen war, noch fünf Jahre weitergeführt, aber dann musste sie aufgeben. 
 

Die Familie Otto war seit 1860 in Vegesack im Geschäft mit Büchern und Papier. Da hatte nämlich der Buchbinder Christoph Christian Otto (1831-1902) am Kleinen Markt in der Bahnhofstraße eine Buchbinderei, Papier- und Buchhandlung eröffnet. Die Bahnhofstraße, in der mein Opa mal wohnte, als er am Anfang des Jahrhunderts in den Ort kam, heißt heute Reeder Bischoff Straße; der Kleine Markt heißt heute Botschafter Duckwitz Platz. Benannt nach Georg Ferdinand Duckwitz, der hier schon in dem Post Arnold Duckwitz erwähnt wird. Die Postkarte ist hundert Jahre alt, Bäume gibt es da heute nicht mehr auf dem kleinen Platz, jetzt gibt es da einen Marktbrunnen. Die Buchhandlung, die noch bis Anfang der siebziger Jahre bestand, ist da irgendwo links auf dem Bild. Neben dem Uhrmacher Hugo Molgedei, bei dem meine Eltern mir meine Tissot Seastar gekauft haben. Ganz links, hier nicht mehr auf dem Bild, wohnte meine Tante Cilly.

Christoph Christian Ottos Sohn Albert (1905-1984) übernimmt von seinem Vater die Buchhandlung am Kleinen Markt, er wird sie bis in die 1970er Jahre behalten. 1960 gönnt sich die Firma zum hundertjährigen Bestehen noch eine kleine Festschrift. C.C. Ottos Sohn Theodor Otto (1867-1949) kauft 1905 die Buchhandlung von Carl Eduard Jantzen in der Breiten Straße. Die hatte es dort als Buchhandlung, Kunst- und Musikhandlung nebst Leihbücherei seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gegeben. Unter der Leitung von Theodors Sohn Christel Otto (1899-1966) bekommt die Jantzensche Buchhandlung in den 1920er Jahren den Namen Th. Otto & Sohn. Christel Ottos Ehefrau arbeitete in der Buchhandlung mit, sie hatte sogar Prokura. Sie kam aus der Familie von F. W. L. Borowsky, die unten neben der Post eine Druckerei hatte. Es ist eine praktische Sache, wenn Buchbinder und Drucker zusammenkommen.

Ich ging auf dem Schulweg jeden Tag an der Buchhandlung vorbei. Ich guckte selten in die Schaufenster. Viel interessanter war die Eisdiele von Chiamulera genau gegenüber. Die einzelnen Läden ds Ortes, bei denen es sich lohnte, in die Schaufenster zu gucken, waren Harjes und Karl Kass. Und Erich Maack, nicht wegen seiner Tochter Annegret. Wegen der Photoapparate. In meinen Träumen geh ich manchmal wieder die Breite Straße entlang. Wenn meine Eltern mich in den Laden schickten, weil sie dort etwas bestellt hatten, bekam ich immer eine Quittung mit, auf der Praxisbedarf stand. So etwas erkennt heute kein Finanzamt mehr an, aber damals ging das. Die Bücher, die ich da gekauft habe, unter anderem zwei Bände von Proust Recherche, haben alle noch dieses kleine grüne Etikett, auf dem Th. Otto  & Sohn steht. Als ich begann, englische Bücher bei ihnen zu bestellen, guckten sie mich in der Buchhandlung etwas missmutig an. Englische Bücher gab es vor über sechzig Jahren kaum in deutschen Buchhandlungen, auch nicht im amerikanisch besetzten Bremen. Die einzige Ausnahme war Marga Schoeller in Berlin, die eine große Abteilung für englische Bücher hatte. Aber Otto & Sohn bestellte mir knurrend die Bücher. Mein Exemplar von Walt Whitmans Leaves of Grass hat auch noch das kleine grüne Otto & Sohn Etikett eingeklebt.

Das hier war der Kommentar von Til Mette auf die Prämierung der Hansestadt als Literaturstadt Bremen. Das Sterben der Buchhandlungen hört nicht auf. Vor Jahren hat die traditionsreiche Buchhandlung Leuwer in Bremen zugemacht, jetzt schließt Otto & Sohn. Da bleibt im Ort nur noch Thalia, nicht die Muse der komischen Dichtung und der Unterhaltung, die Ladenkette. Aber wozu braucht man Buchhandlungen? Lesen tut der Bremer ja nicht so gerne, Klaus Groth wird das erfahren, wenn er eine Bremerin heiratet. Und schon vorher hat Friedrich Engels, Volontär in der Bremer Leinenhandlung H. Leupold, konstatiert: Eine Teilnahme an der fortlaufenden Literatur des Gesamtvaterlandes findet hier nicht statt: Man ist so ziemlich der Ansicht, dass mit Goethe und Schiller die Schlusssteine in das Gewölbe der deutschen Literatur gelegt seien, und lässt allenfalls die Romantiker noch für später angebrachte Verzierungen gelten. Und im gleichen Jahr 1840 sagte Arnold Duckwitz: Ein Lesen, Studieren und Forschen ohne praktischen Zweck ist hier nicht zu Hause und muss da gesucht werden, wo man die Zeit hat.

Die Nachricht von der drohenden Schließung der Buchhandlung hat Aufsehen erregt, auch über Bremen hinaus. Jan Böhmermann hat in seinem Podcast  geschrieben: Otto & Sohn ist eine Institution. Wenn wir solche Buchhandlungen verlieren, verlieren wir ein Stück unserer Kultur und Gemeinschaft. Vielleicht gibt es noch eine klitzekleine Chance, dass Martin Mader das Geschäft nicht im August schließen muss.

Wenn das mit dem Sterben der Buchhandlungen so weitergeht, dann wird sich meine schöne Buchhändlerin nach einem neuen Beruf umsehen müssen.

Die Buchhandlung Otto & Sohn war schon häufiger in diesem Blog, so in den Posts die örtlichen Buchhandlungen, Nobelpreisträger, Literaturstadt Bremen, silvae: Wälder: Lesen, Eine Liebe von Swann, Geistiges Bremen und Buchhändler


Donnerstag, 23. Januar 2025

weiße Reiher

Derek Walcott wurde am 23. Januar 1930 in der Karibik geboren. Er hat alle Orden bekommen, die man da bekommen kann: den Order of the Caribbean Community, das Trinity Cross und den Order of St. Lucia. Die letzten beiden Orden hatte Queen Elizabeth, die auch Queen of St Lucia war, in den 1980er Jahren gestiftet. Die Insel ist zwar seit 1979 unabhängig, ist aber im englischen Commonwealth geblieben. Wir sind in einer Gegend der Welt, wo wir mit den Posts Vaterlandsverräter? und Dido schon einmal waren. Die Gegend, aus der die beste Baumwolle der Welt für Oberhemden kommt. Und einer Gegend, aus der viele Nobelpreisträger kommen. Nicht nur Derek Walcott, sondern auch V.S. Naipaul, den die Königin ebenso wie Walcott zum Ritter des Trinity Cross geschlagen hat. Derek Walcott hat in Oxford studiert, und Dichter wie T.S. Eliot und Ezra Pound waren seine Vorbilder. Dass er Dichter werden wollte, das wusste er schon früh: 

Forty years gone, in my island childhood, 
I felt that the gift of poetry had made me one of the chosen,
that all experience was kindling to the fire of the Muse













Sir Derek Walcott (den Sie hier in einem langen Interview kennenlernen können) war erstaunlicherweise noch nie in diesem Blog, deshalb soll es heute an seinem Geburtstag zwei Gedichte von ihm geben. Das erste stammt aus seinem Gedichtband White Egrets, für den er 2010 den T. S. Eliot Prize bekam:

White Egrets VI

I hadn’t seen them for half of the Christmas week,
the egrets, and no one told me why they had gone,
but they are back with the rain now, orange beak,
pink shanks and stabbing head, back on the lawn
where they used to be in the clear, limitless rain
of the Santa Cruz valley, which, when it rains, falls
steadily against the cedars till it mists the plain.
The egrets are the colour of waterfalls,
and of clouds. Some friends, the few I have left,
are dying, but the egrets stalk through the rain
as if nothing mortal can affect them, or they lift
like abrupt angels, sail, then settle again.
Sometimes the hills themselves disappear
like friends, slowly, but I’m happier
that they have come back, like memory, like prayer.

Sie können hier Derek Walcott hören, wie er das Gedicht vorliest (ab 7:44). Und ich habe auf dieser Seite eine Übersetzung des Gedichts von Werner von Koppenfels, der für seine Übersetzung Weiße Reiher verdientermaßen 2011 den Preis der Stadt Münster für Internationale Poesie bekommen hat. Und wenn Sie die Gedichte im Original lesen wollen, habe ich dafür hier auch eine.Seite. Die Gedichte handeln von der Schönheit der Natur, von Liebe und Kunst. Die weißen Reiher können für alles stehen. Auch für das weiße Papier, auf dem der Dichter schreibt:  

Wir teilen einen Trieb, suchen heißhungrig Futter 
für meinen Feder Schnabel, spießen Insekten zuckend 
wie Hauptwörter und schlingen sie, die Spitze liest 
im Schreiben, schüttelt ärgerlich ab, was der Schnabel verwirft. 
Auswahl ist, was die Reiher lehren 
auf der weit offenen Wiese, kopfnickend, während sie, 
zielstrebig stumm, sprachlose Botschaft lesen.

Walcott ist achtzig Jahre alt, als seine Gedichtsammlung White Egrets erscheint, sein Älterwerden und der Gedanke an den Tod sind immer in den Gedichten:

be grateful that you wrote well in this place
let the torn poems sail from you like a flock
of white egrets in a long last sigh of relief .

Lassen wir die weißen Reiher einmal beiseite, ich habe noch ein Gedicht von Walcott für Sie. Es ist wahrscheinlich sein bekanntestes Gedicht, es findet sich hundertfach im Internet. Es ist ein Gedicht, das vielen Menschen den Mut gegeben hat, sich in einer Lebenskrise wiederzufinden:

Love after Love

The time will come
when, with elation
you will greet yourself arriving
at your own door, in your own mirror
and each will smile at the other’s welcome,
and say, sit here. Eat.

You will love again the stranger who was your self.
Give wine. Give bread. Give back your heart to itself,
to the stranger who has loved you all your life,
whom you ignored for another,
who knows you by heart.

Take down the love letters from the bookshelf,
the photographs, the desperate notes,
peel your own image from the mirror.
Sit. Feast on your life.


Ich weiß nicht, von wem diese deutsche Übersetzung ist, sie steht anonym im Internet, aber es ist besser als gar nichts:

Die Zeit wird kommen,
da du voller Freude dich selbst 
an deiner eigenen Tür begrüßen wirst, 
in deinem eigenen Spiegel,
und lächelnd sagst,
setz dich hier hin. Iss.

Du wirst den Fremden wieder lieben, der du einmal warst.
Gib Wein. Gib Brot. Gib dein Herz zurück, 
dem Fremden, der dich dein Leben lang geliebt hat,
den du wegen eines anderen ignoriert hast, 
der dich in- und auswendig kennt.

Nimm sie herunter vom Bücherregal,
die Liebesbriefe, die Fotos, die verzweifelten Notizen.
Erkenne Dich selbst wieder in deinem Spiegelbild.
Lass Dich nieder. Feiere Dein Leben.

Dienstag, 21. Januar 2025

American Gothic


Der amerikanische Maler Grant Wood, der hier einen ausführlichen Post hat, hat mit American Gothic ein Bild gemalt, das immer wieder persifliert und parodiert worden ist. Das Bild ist in unserem Bildergedächtnis, da wo wir unseren Bilderspeicher haben, der nicht auf eine Festplatte angewiesen ist. Es heißt American Gothic und zeigt die Schwester des Malers und seinen Zahnarzt vor einem Holzhaus im einem Stil, den man in Amerika Carpenter Gothic nennt. Das Haus sieht ein wenig so aus wie das Haus, in dem Grant Wood aufwuchs, aber es ist ein anderes Haus, das Wood durch Zufall entdeckte. Es steht noch, und man kann sich davor photographieren lassen.

Der englische Zeichner und Buchillustrator Christopher Barry Riddell, der als Cartoonist für den Observer arbeitet, hat vor wenigen Tagen im Observer eine neue Variante von American Gothic veröffentlicht. Auf dem Bild sehen wir Donald Trump und Elon Musk, die ein neues Amerika schaffen wollen. Beachten Sie bitte das obere Fenster des Hauses.Cartoons werden Trumps Amtszeit begleiten. Der Observer versah den Cartoon mit der Frage: What will become of liberty when these two take control of the United States of America? Diese Frage wird bleiben.

Vor vier Jahren hat Amanda Gorman bei der Amtseinführung von Joe Biden ihr Gedicht The Hill We Climb vorgelesen, in dem sie auch den Sturm auf das Kapitol nicht ausgelassen hat. Was in diesen Versen steht, hat immer noch Bedeutung:

We’ve seen a force that would shatter our nation rather than share it,
Would destroy our country if it meant delaying democracy.
And this effort very nearly succeeded.
But while democracy can be periodically delayed,
It can never be permanently defeated.
In this truth, in this faith we trust.
For while we have our eyes on the future,
History has its eyes on us.

Sonntag, 19. Januar 2025

Cronos



Das sind zwei Uhrwerke der japanischen Firma Seiko, sie sehen sich ziemlich ähnlich. Das linke Werk ist das 54A in einer Seiko Cronos, das rechte ist eine Fortentwicklung des Cronos Werks, es findet sich in der King Seiko 44. Weshalb Seiko den Namen Cronos so geschrieben hat, weiß ich nicht, sie hatten später auch mal ein Modell namens Chronos. Das ist allerdings kein Modell, das von Sammlern gesucht wird, eine alte Seiko Cronos schon.

Man weiß nicht so ganz genau, wer dieser griechische Chronos war, den Goethe als Schwager Kronos bedichtete, aber er hat irgendetwas mit der Zeit zu tun. Weshalb wir seinen Namen in Chronometern, Chronographen und einem Uhrenmagazin namens Chronos wiederfinden. Dieser Chronos wird häufig mit dem Titanen Cronus verwechselt, der der Vater von Zeus war. Der hatte als Attribut, wie Kunsthistoriker diese Beigaben nennen, die Sense. Welches Instrument er auch immer verwendete, er ist derjenige, der seinen Vater Uranos kastrierte. 

Mit all dem hat der Vater der Zeit, der Flügel hat und den Zodiac Bogen dreht, nichts zu tun. Aber irgendwann (nicht in griechischer Zeit) bekam er auf Bildern, Deckengemälden  und Statuen, bei denen er eine Allegorie der Zeit ist, auch diese mörderische Sense in die Hand. Falls Sie ihre Kenntnis von griechischen Göttern, Halbgöttern und Helden auffrischen wollen, kann ich die Lektüre des Posts Heldensagen empfehlen. Das ist ein Post, der schon siebeneinhalbtausend Leser hat (genau zwanzigtausend Leser weniger als der Post Morning Coat).

Die sehr flache 36 mm große Cronos kam 1958 auf den Markt. Es war eine Uhr, mit der die Firma Daini Seikosha dem Modell Seiko Marvel von Suwa Seikosha Konkurrenz machen wollte. In der Geschichte von Seiko hat die Marvel mit 23 Steinen eine besondere Bedeutung, weil man sie als eine Vorstufe der Grand Seiko ansehen kann. Dazu habe ich  hier eine sehr interessante Seite mit dem Titel The birth of Grand seiko or how the Marvel changed Seiko's history. Wir sind jetzt zehn Jahre vor der Zeit, da Seiko die erste Quarzuhr auf den Markt bringt. Die beiden Abteilungen von Seiko (Suwa und Daini) kämpfen darum, wer die flachste Uhr mit einen Qualitätswerk auf den Markt bringt. Sie werden in dem Jahrzehnt, bevor sie die Welt mit der Quarzuhr Seiko Astron überraschen, erstaunliche Uhren bauen. Alle diese Uhren waren JDM Uhren (Japanese Domestic Market), viele hatten ein Chronometerzertifikat.

Man kann das bei dieser Seiko Goldfeather aus dem Jahre 1960 sehen, dass sie ein ganz flaches Uhrwerk hat. Nur drei Millimeter war es hoch, das flachste Werk der damaligen Zeit. Und es waren zum ersten Mal Werke, die Seiko vollständig selbst konzipiert und gebaut hatte. Vorher hatten sie noch Werke aus der Schweiz bezogen (zum Beispiel von Moeris) und Schweizer Werke kopiert. Jetzt sind sie wirklich eine Manufaktur. Man bezeichnet im Englischen diese eleganten Uhren als dress watch, also Uhren, die man bei besonderen Gelegenheiten trägt. Wenn Daini die Goldfeather hatte, dann hatte Suwa 1960 die → Liner, eine flache dress watch (die es auch als Chronometer gab), die allerdings nur vier Jahre gebaut wurde,

Man trägt damals eine dress watch zu eleganten Anzügen und zum Smoking. Was dieser Herr hier trägt ist definitiv keine dress watch, das ist eigentlich nur geschmacklos. Zurückhaltung ist bei Uhren in den sechziger Jahren noch angesagt. Die Mark Zuckerbergs, die Uhren für 900.000 Dollar tragen, gibt es noch nicht. Im ersten James Bond Film hält man sich noch an die Konventionen, da trägt James Bond auch nicht die fette Rolex, die ihm der Produzent Cubby Broccoli für die Dreharbeiten geliehen hatte; nein, er trägt eine goldene Gruen mit dem Kaliber 510. Sean Connery hat die goldene Gruen übrigens in mehreren Filmen getragen, wir können sie auch in Goldfinger sehen, wenn er mit Oddjob kämpft und die Welt rettet. Kann man alles mit einer Gruen machen, dafür braucht man keine Omega oder Rolex.

Die erste Cronos sah aus wie eine Golduhr, das Gehäuse war allerdings nicht reines Gold, sondern 14K Gold Filled. Das ist aber schon beinahe richtiges Gold. Das Gold Filled Verfahren wurde früher von den amerikanischen Herstellern von Taschenuhren verwendet, die auf ihre Produkte bis zu siebzig Jahren Garantie gaben. Meine Cronos aus den sechziger Jahren sieht immer noch wie neu aus. Seiko brachte 1959 die Cronos auch mit einem Edelstahlgehäuse heraus, das allerdings nicht mehr acht Millimeter flach war wie die goldene Cronos. 

Es war keine dress watch mehr, es war eine Sportuhr, auf deren Boden → WaterProof stand. Fünfzig Meter sollten es sein. Den Gehäuseboden zierte das kleine Seepferdchen, das sich auch auf meiner alten Seiko Champion 850 Sea Horse (und meiner Skyliner) findet. Seiko verwendete das Seepferdchen als Symbol für wasserdichte Uhren nur bei den Handaufzugsuhren. Wasserdichte Automatikuhren bekamen einen Delphin auf den Gehäuseboden. Auf dem Zifferblatt stand entweder Water50Proof oder Sea Horse und wenn Sie diese Uhr, die Seiko auch als die erste Taucheruhr bewarb (wie man hier sehen kann), mal in voller Arbeit sehen wollen, dann klicken Sie dieses Video an.

Diese beiden Cronos Modelle, die verschieden sind wie Tag und Nacht, haben eins gemeinsam: das Uhrwerk 54. Es hat 21 Rubine und eine ziemlich große (11,5 mm) Unruhe. Die Unruhe wird nicht, wie das bei Armbanduhren sonst üblich ist, von einem Kloben gehalten. Sie ist stabil unter einer Brücke angebracht. Rolex hat sein Kaliber 3135 seit 1988 auch unter einer Brücke. Die Konstrukteure von Uhrwerken wussten immer um diese leichte Schwäche der Stabilität der Antriebseinheit. Deshalb verschraubte Dr Kurtz bei seinen in Westdeutschland hergestellten Glashütter Uhren (die zum ersten Mal in Deutschland eine Breguetspirale hatten) den Kloben ziemlich massiv doppelt. Aber auch bei Seiko war man bei der Lord Marvel und der ersten Grand Seiko mit einem breiten Kloben, doppelter Verstiftung und einer Schraube auf der sicheren Seite.

Daini Seikosha nahm 1961 das Werk der Cronos als Basis für die Kaliber 44A und 4402A der King Seiko. Das Werk bekam zwei Steine mehr und kriegte eine Feinregulierung (manche Modelle hatten auch einen Sekundenstopp). Es war die beste Uhr, die Daini Seikosha bisher gebaut hatte. Sie konnte durchaus mit der Grand Seiko (die auch eine Brücke für die Unruhe hatte) konkurrieren, die später auf den Markt kam. Und wie die Grand Seiko hatte die 44KS auch ein Goldmedaillon auf dem Gehäuseboden. Die Grand Seiko 45GS war 1968 die Antwort von Suwa Seikosha auf die 44KS von Daini. Der Wettbewerb der beiden Seiko Töchter brachte die besten japanischen Uhren der sechziger Jahre hervor.

Eine alte Cronos im guten Zustand zu finden, ist schwierig geworden. Ein Händler bei kleinanzeigen schreibt: In letzter Zeit sind selbst gewöhnliche Cronos in gutem Zustand auf dem japanischen Markt nicht mehr aufgetaucht. Dies ist ein Zeitmesser, der für Vintage-Seiko-Sammler gedacht ist. Meine Cronos hatte ich Weihnachten von einem netten Typ aus Dresden zu einem günstigen Preis bekommen. Er versicherte mir, dass die goldenen Indizes auf dem Zifferblatt aus echtem Gold seien. Die kleine achteckige Sonne bei der sechs weist auf ein Special Dial mit Indizes aus 14 oder 18 Karat Gold hin. Die Uhr kam sogar mit einem unbenutzten originalen Seiko Lederband. Das musste aber weichen, sie hat jetzt ein dunkelgrünes Krokoband, das eine andere Uhr für diesen kleinen Schatz hergeben musste. Es war der letzte Uhrenkauf des Jahre 2024. 

Obgleich der Uhrenmarkt eigentlich ziemlich tot ist und die Preise exorbitant geworden sind, ist mir doch in diesem Jahr mit viel Suchen und diplomatischen Verhandlungen gelungen, einige Uhren verhältnismäßig preiswert zu bekommen, die auf jeder Sammlerliste eines Uhrenfreundes stehen. Das war der Eterna Chronometer, die Zenith Defy und die Zenith Captain Chronometer. Und dann kam dank meiner Freunde bei Tokei Japan noch die Seiko Superior hinzu. Die killer watch, die nicht von meinem Arm weicht. Nichts davon war vierstellig. Bei ebay und Chrono24 hätten die Uhren das Drei- und Vierfache gekostet. Ich habe zum Abschluss noch ein Bild von meiner goldenen Cronos (noch mit dem orginalen blauen Seiko Lederband). Sie können hierbei schön sehen, wie flach diese Uhr ist.

Montag, 13. Januar 2025

Gandamak


Ich war 2010 zwei Tage im Netz, als ich den Post Afghanistan schrieb. Der unter anderem davon handelt, dass die Schlacht, in der die Engländer 1842 eine ganze Armee in Afghanistan verloren, schon in Herman Melvilles Roman Moby-Dick erwähnt wird. Und natürlich wird aus Theodor Fontanes Gedicht Das Trauerspiel von Afghanistan die letzte Strophe zitiert:

Die hören sollen, sie hören nicht mehr,
Vernichtet ist das ganze Heer,
Mit dreizehntausend der Zug begann,
Einer kam heim aus Afghanistan.

Nur ein einziger, schwer verwundeter Brite von Stand erreichte die Festung, wo Trompeter Tage und Nächte lang die ergreifenden Nationalmelodien des schottischen Hochgebirges bliesen, ein Zeichen für die im Schnee verloren Herumirrenden, daß sie dem Schalle entgegeneilen und zu den befreundeten Landsleuten sich retten möchten, können wir 1848 in dem Buch Das Trauerspiel in Afghanistan des Orientalisten Karl-Friedrich Neumann lesen. Theodor Fontane hat seinen Gedichttitel von diesem Buch genommen, das ich hier im Volltext habe.

Der schwer verwundeter Brite von Stand ist der Militärarzt William Brydon, der am Nachmittag des 13. Januar 1842 das belagerte Fort Dschalalabad erreicht. Das Pony, das er von einem tödlich verwundeten Soldaten bekommen hatte, soll unter ihm tot zusammengebrochen sein, als er das Fort erreichte. Man hatte ihn vom Lager aus kommen sehen, war ihm entgegen geritten. Auf die Frage eines Offiziers: Where is the army? sagte er: I am the army. Das Bild The Remnants of an Army von Elizabeth Thompson Butler ist erst fünfunddreißig Jahre später gemalt worden. Es ist historisch nicht so ganz korrekt. In Fontanes Gedicht fällt Schnee vom Himmel, und auch der einzige Bericht, den wir von dem Ereignis haben, spricht von snow, which was about 6. Inches deep. Der Dr Brydon wird lange Zeit als der einzige Überlebende des Massakers von Gandamak gelten. Aber einige auf dem Bild im ersten Absatz, das William Barnes Wollen 1898 malte, haben auch überlebt.

Der Captain Thomas Alexander Souter, der sich die Regimentsflagge um die Brust gewickelt hatte (hier ist er als Zinnsoldat zu sehen), wird überleben, weil ihn die Afghanen für einen englischen General hielten: In the conflict my posteen flew open and exposed the colour: thinking I was some great man from looking so flash, I was seized by two fellows. Seit 1838 führen die Engländer Krieg in Afghanistan, sie werden diesen Krieg verlieren. Der Militärgeistliche George Robert Gleig, der als junger Mann Offizier in Wellingtons Armee gewesen war, wird 1843 über den Krieg schreiben: a war begun for no wise purpose, carried on with a strange mixture of rashness and timidity, brought to a close after suffering and disaster, without much glory attached either to the government which directed, or the great body of troops which waged it. Not one benefit, political or military, was acquired with this war. Our eventual evacuation of the country resembled the retreat of an army defeated.

Man kann in Afghanistan nur verlieren, das mussten auch die Russen in dem Krieg von 1979-1989 feststellen. Im Januar 2010 habe ich in dem Post Heeresreform geschrieben: Bei der Gründung der Verteidigungsarmee hätte niemand geahnt, dass eines Tages ein deutscher Verteidigungsminister sagen würde: Unsere Spur wird die Transformation der Truppe sein. Dafür stehen zwei Sätze. Erstens: Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt. Er ist akzeptiert, auch wenn mir zu wenig darüber diskutiert wird. Der zweite Satz lautet: Einsatzgebiet der Bundeswehr ist die ganze Welt. ... Grundsätzlich müssen deutsche Soldaten bereit sein, an Orten Verantwortung zu übernehmen, an die wir heute noch nicht denken. Ist das, was der ehemalige Stadtdirektor von Uelzen äußert, jetzt das, was die Engländer im Krieg mit German, German overalls verspotteten? Deutscher Größenwahn? Was Struck vor fünf Jahren sagte, scheint heute ja schon stillschweigend akzeptiert

In ihrer Neujahrspredigt 2010 hatte die damalige EKD Ratsvorsitzende Margot Käßmann den Satz Nichts ist gut in Afghanistan gebraucht, was ihr viel öffentliche Kritik einbrachte. Vielleicht hätte man genauer hinhören sollen, was sie damals in der Dresdner Frauenkirche sagte: Nichts ist gut in Afghanistan. All diese Strategien, sie haben uns lange darüber hinweggetäuscht, dass Soldaten nun einmal Waffen benutzen und eben auch Zivilisten getötet werden. Das wissen die Menschen in Dresden besonders gut! Wir brauchen Menschen, die nicht erschrecken vor der Logik des Krieges, sondern ein klares Friedenszeugnis in der Welt abgeben, gegen Gewalt und Krieg aufbegehren und sagen: Die Hoffnung auf Gottes Zukunft gibt mir schon hier und jetzt den Mut von Alternativen zu reden und mich dafür einzusetzen. Manche finden das naiv. Ein Bundeswehroffizier schrieb mir, etwas zynisch, ich meine wohl, ich könnte mit weiblichem Charme Taliban vom Frieden überzeugen. Ich bin nicht naiv. Aber Waffen schaffen offensichtlich auch keinen Frieden in Afghanistan. Wir brauchen mehr Fantasie für den Frieden, für ganz andere Formen, Konflikte zu bewältigen. Das kann manchmal mehr bewirken als alles abgeklärte Einstimmen in den vermeintlich so pragmatischen Ruf zu den Waffen. Vor gut zwanzig Jahren haben viele Menschen die Kerzen und Gebete auch hier in Dresden belächelt. 

2010 ist auch das Jahr in dem der Herr von und zu Guttenberg einräumt, man könne umgangssprachlich von Krieg in Afghanistan reden. Das Wort Krieg hatte der Verteidigungsminister bisher vermieden, auch bei seinem Ausflug nach Afghanistan mit seiner Gattin, den die Süddeutsche als Ego-Feldzug am Hindukusch bezeichnete, war nicht die Rede davon. Der Satz von George Robert Gleigaus dem Jahre 1843 Our eventual evacuation of the country resembled the retreat of an army defeated wurde 2021 wieder einmal aktuell, als die Taliban Kabul eroberten. Lesen Sie mehr dazu in dem Post Kabul-Wunstorf. Im letzten Jahr wusste Angela Merkel vor dem Afghanistan Ausschuss sehr wenig über das katastrophale Agieren der Bundesregierung zu sagen. Von Sätzen wie Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt war da nicht mehr die Rede.

Der englische Schriftsteller George MacDonald Fraser hat sich aus dem Roman Tom Brown's Schooldays von Thomas Hughes eine Romanfigur ausgeborgt. Harry Flashman ist da der Bösewicht an der Public School Rugby, alle anderen sind kleine viktorianische Gentlemen. Fraser, der ein Dutzend Flashman Romane schreiben wird, schickt den charakterlosen und bösartigen Leutnant Harry Paget Flashman im ersten Roman gleich nach Afghanistan. Am Ende des Romans ist er der einzige Überlebende, bekommt die Ritterwürde und das Victoria Cross von der Königin und den Händedruck vom Premierminister, dem Herzog von Wellington. Der ihm sagt: I wish you every good fortune, Flashman. You should go far. Das wird er. Am Ende der dutzend Flashman Romane ist der amoralische, verlogene Weiberheld in allen Kriegen gewesen, die England im 19. Jahrhundert geführt hat. Den Leser beschleicht bei der Lektüre das ungute Gefühl, dass die Flashman Saga vielleicht die realistischste Beschreibung des englischen Kolonialismus im 19. Jahrhundert ist. Und Flashman hat uns in dem Roman auch etwas zu Afghanistan zu sagen: Possibly there has been a greater shambles in the history of warfare than our withdrawal from Kabul probably there has not. Even now, after a lifetime of consideration, I am at a loss for words to describe the superhuman stupidity, the truly monumental incompetence, and the bland blindness to reason of the leader and his advisors. If you had taken the greatest military geniuses of the ages, placed them in command of our army, and asked them to ruin it utterly as speedily as possible, they could not—I mean it seriously—have done it as surely and swiftly as they did.