Ein Tag der ewigen Schande für Deutschland. Der Begriff der Reichskristallnacht ist wahrscheinlich zuerst eher ein ironischer Ausdruck des Zorns gegen den barbarischen Terror gewesen, bevor die Nazis diesen Euphemismus zynisch für sich vereinnahmten. Mit dem Zerwerfen der Schaufensterscheiben kam die sogenannte Arisierung der Geschäfte, Enteignung, Vertreibung, Ermordung der Geschäftsinhaber.
Ich möchte heute eine kleine, leider wahre Geschichte erzählen, die mich seit Jahrzehnten verfolgt. In Bremen lebt man ja gerne mit der Vorstellung, dass wir Bremer alle immer vornehm und hanseatisch gewesen seien. Und wer hanseatisch ist, ist natürlich immun gegen den Nationalsozialismus. Es ist leider keineswegs so gewesen. Die Zahlen und Statistiken in dem hervorragenden Buch von Inge Marssolek und René Ott Bremen im Dritten Reich sprechen da eine ganz andere Sprache. Nein, die Bremer können nicht sagen, sie seien nicht dabei gewesen.

Und die Flaggen auf der Obernstraße auf diesem Photo aus dem Jahre 1938 sind auch nicht wegzuleugnen. In meinem Heimatort Vegesack erhielt die NSDAP bei der Reichstagswahl vom 6. November 1932 30,8 Prozent der Stimmen. In keinem Bremer Wahlbezirk hat sie mehr Prozente erreicht. Im feinen Schwachhausen sind es immerhin 21,7 Prozent, das zweithöchste Ergebnis. Nur die Arbeiterstadtteile haben die Nazis nicht gewählt. Doch es sind diese Stadtteile, die im Krieg von den
Alliierten bombardiert werden. Sie werden die schlimmsten Verluste haben, darin liegt die Tragik.
Meine Geschichte heute kommt wieder einmal, wie die Geschichte über meinen Freund
Peter Gutkind oder die über die
Bremer Revolution 1968, aus meinen unfertigen
Bremensien. Und sie beginnt mit meinem Schulweg. Springen Sie mit mir für einen Augenblick zurück in die Kindheit. Aber wir werden in dieser Zeit der Unschuld nicht verweilen können.

Wenn ich die Weserstraße mit meinem Ranzen entlanggehe, treffe ich morgens Mitschüler wie Roder oder Gabi, und wir gehen gemeinsam zur Schule. Zwischen der Kimmstraße und der Breiten Straße kennen wir jede Gehwegplatte, weil wir hier Hüpfspiele wie
Himmel und Hölle spielen oder die Platten einmal im Jahr hochnehmen, um nach Maikäfern zu suchen. In der Breiten Straße begegnen uns einmal in der Woche Kälber und quiekende Schweine, die zur Schlachterei Pohl in der Bahnhofstraße getrieben werden. Danach gehen wir bei Többens über den Zebrastreifen. Es ist der einzige Zebrastreifen über die
Bundestraße 75, den wir im Ort haben. Deshalb soll ich diesen Weg nehmen, sonst könnte ich auch die Kimmstraße entlang gehen und dann bei Viole durch den Gang flitzen. Aber bei Viole, wo immer ein Fass mit
Heringen vor der Ladentür steht, ist leider kein Zebrastreifen, und so muss ich bei Többens vorbei.

Neben Többens ist früher ein Schuhgeschäft gewesen. Da hat ein Verwandter meiner Großeltern in der sogenannten Reichskristallnacht ein Paar Schuhe geklaut. Um dann morgens festzustellen, dass er zwei linke Schuhe erwischt hatte. Die Familie lacht immer noch über diese Geschichte, obgleich der Verwandte ansonsten ungern erwähnt wird. Der hatte nämlich in Osnabrück eine kriminelle Pleite hingelegt und war im Gefängnis gewesen, danach war er bei den Bremer Verwandten abgetaucht. Im
Osnabrücker Land wollte er sich erstmal nicht mehr sehen lassen. Unter diesen Herren auf dem Photo sind auch welche, die am 10. November die
→Aumunder Synagoge angezündet haben. Keiner von ihnen wurde wegen Brandstiftung verurteilt.

Über die Aumunder Juden hat
Ingbert Lindemann, der ein Vierteljahrhundert Pastor der Christophorus Gemeinde Aumund-Fähr war, das Buch
→„Die H. ist Jüdin!“ Aus dem Leben von Aumunder Juden nach 1933 geschrieben, das 2008 im Donat Verlag in Bremen erschien. Der ehemalige Bürgermeister Hans Koschnick hat das Vorwort zu dem Buch geschrieben, über etwas,
was lange verschwiegen und verdrängt war ... Ein eindrücklicher Appell für ein ‚Nie wieder!’ Ich habe dem Buch von Ingbert Lindemann, mit dem ich zusammen in der Evangelischen Jugend war, entnommen, dass der Judenreferent der Bremer Gestapo
→Bruno Nette von 1935 bis 1940 bei uns um die Ecke gewohnt hat. Das hatte ich nicht gewusst. Dass unser Nachbar, der SA-Sturmführer Lothar Westphal, 1933
Bürgermeister von Vegesack wurde und den von den Nazis geschassten
Dr Werner Wittgenstein ablöste, das wusste ich. Mein Schulweg, zu dem ich Sie mitgenommen hatte, wird immer wieder durch die Vergangenheit unterbrochen.
Wenn wir beim Zebrastreifen sind, macht Herr Többens seinen Laden gerade auf. Das ist ein Herrenmodegeschäft der armseligen Sorte. Ich grüße den Herrn Többens nie. Meine Eltern auch nicht. Wir kaufen da auch nicht, ich war nie in meinem Leben in dem Laden.
→Walter Caspar Többens ist ein Nazi gewesen und ein Kriegsverbrecher. Das mit dem Kriegsverbrecher habe ich lange nicht gewusst. Dass beinahe alle Vegesacker Geschäftsleute Nazis waren und viele in der SS oder Waffen SS waren, kommt eines Tages dank unserer Schulzeitung
Das Echo heraus, die zum Entsetzen der Schulleitung einen gut recherchierten Artikel aus dem
Neuen Deutschland über die Nazis in Vegesack nachdruckt. Dass die Ausgabe des
Echo überhaupt erschien, war damals in der Adenauerrepublik immerhin ein kleiner Sieg der Pressefreiheit. Die Abonnementszahlen der Schulzeitung fielen nach diesem Artikel aber rapide. Keiner der in dem Artikel genannten Kaufleute wollte das
Echo weiter unterstützen.
Dass Többens ein Kriegsverbrecher war, erfahre ich erst durch einen photokopierten Artikel, den mir mein Freund
Gert Börnsen Jahrzehnte nach Többens’ Tod gegeben hat. Ich hatte den Artikel einer Freundin geliehen, die auch aus dem Ort kommt, habe ihn aber nie wiederbekommen. Manche Leute sind ein Bermuda Dreieck für Leihgaben. Aber ich bekomme eines Tages, wenn es das Internet gibt, heraus, wer den Artikel geschrieben hat, auch wenn ich Gerts Photokopie niemals wiedersehe.
Der Verfasser heißt
Günther Schwarberg, er schreibt für den
Stern. Er ist in Vegesack geboren. Sein Vater war Lehrer an Opas
Volksschule. Opa und Schwarberg Senior haben sich nicht ausstehen können, denn Schwarbergs Vater war ein Sozialdemokrat. Das ist für meinen kaisertreuen Opa ja das Schlimmste auf der Welt. Über die Többens dieser Welt macht Opa sich weniger Gedanken. Walter Caspar Többens ist 1954 gestorben, mit seiner Geliebten in seinem Mercedes verunglückt. Zu dem Zeitpunkt ermittelt die Staatsanwaltschaft nicht mehr gegen das CDU-Miglied, den gläubigen Katholiken und erfolgreichen Geschäftsmann. Aber 1949, da war er von einer Bremer Spruchkammer als Kriegsverbrecher verurteilt worden, zehn Jahre Arbeitslager, Einziehung des Vermögens, Verlust aller bürgerlichen Rechte und jedes Anspruchs auf Rente und Unterstützung. In Polen gab es ein Todesurteil gegen ihn, aber er ist der Auslieferung durch die Amerikaner zweimal durch Flucht entkommen. Und auch das Bremer Urteil wird nicht vollstreckt, nach 1950 wird in Bremen niemand mehr verfolgt. Das Vermögen bleibt nicht eingezogen. Többens wird 1952 als Mitläufer eingestuft und wohnt dann im feinen Schwachhausen. Vom Kriegsverbrecher zum Mitläufer in drei Jahren, auch das ist Bremer Wirklichkeit. Auf die wir nicht stolz sein können.

Günther Schwarberg, der auch die Geschichte der
Kinder vom Bullenhuser Damm öffentlich gemacht hat, hat Walter Caspar Többens’ Geschichte in seinem Buch
Das Getto: Spaziergang in die Hölle aufgeschrieben. Eine Musterkarriere im Dritten Reich: Arisierung der Firma von Adolf Herz in Vegesack, die fortan Többens heißt, dann Großunternehmer und Wehrmachtslieferant für Uniformen in Warschau. Millionengewinne. In Warschau kann man viel Geld machen, auch Oskar Schindler war ja ursprünglich nicht dahin gegangen, um gute Werke zu tun.
Die Deutschen haben sich nach dem Überfall auf Polen hier sozusagen wohnlich eingerichtet. Das kleine, sorgfältig gedruckte Büchlein
Soldatenführer durch Warschau, das ich unter Vatis Unterlagen gefunden habe, vermittelt einem den Eindruck einer deutschen Mustersiedlung. Die Soldatengaststätte am Adolf Hitler Platz ist täglich von 7 bis 22 Uhr geöffnet, Uniformen (wahrscheinlich bei Többens genäht) kann man im Deutschen Uniformhaus im Hotel Bristol (Bild) kaufen. Das Heft ist voller Anzeigen deutscher Firmen, von Thonet Möbeln (Slotnastraße 9) bis Telefunken Radios. In dem Soldatenführer liegt auch eine Quittung des Geschäftes von Julius Meinl, wonach Vati (der damals als junger Leutnant durch einen Irrtum einen halben Tag vor der offiziellen Einnahme Warschaus als erster deutscher Soldat mit dem Jeep durch die menschenleere Stadt gefahren ist) für sechzig Gramm Butter und ein Pfund Keks eine Mark dreiundzwanzig bezahlt hat. Die Firma Julius Meinl hat nach 1939 über tausend Filialen in Europa, jetzt auch in Warschau. Der
Soldatenführer durch Warschau (gekauft bei der Deutschen Buchhandlung, der
Heim- und Pflegestätte deutschen Schrifttums) weist, ähnlich wie ein Baedeker, auch auf die architektonischen und landschaftlichen Schönheiten hin.

Die interessieren Walter Többens weniger. Er wäre ja aus dem Getto davongelaufen, wenn er nicht so gut verdient hätte, sagt er im Prozess. Und gut verdienen tut er. Für
1,4 Millionen Reichsmark kann er plötzlich das
Bambergerhaus in Bremen kaufen. In den zwanziger Jahren im expressionistischen Backsteinstil erbaut, war es das erste Hochhaus in Bremen, hatte die ersten Rolltreppen. Und im Erdgeschoss kann man von einem
Photomaton in acht Minuten acht Portraitphotos bekommen. Von den Bremern wurde das Kaufhaus liebevoll
→Bambüddel genannt. Es besaß sogar eine Armenküche.
Julius Bamberger tat nicht nur gute Werke, er kämpfte auch zusammen mit dem Bremer Pastor
Emil Felden gegen den grassierenden Antisemitismus. 1933 wird Bamberger vorübergehend verhaftet, flieht 1937 in die Schweiz. Baut sich in Paris eine neue Existenz auf. Als die Deutschen kommen, landet er im KZ. Kann wieder fliehen, diesmal in die USA. Er bekommt nach dem Kriege gerade mal 50.000 Mark für das, was man ihm weggenommen hat.
Walter Többens, der ehemalige mittellose Angestellte bei der Firma Leffers in Vegesack, der den Nazis und seiner kriminellen Energie sein Geld verdankt, ist zu dem Zeitpunkt schon wieder im Besitz seines ganzen Vermögens. Er hat kurz vor Kriegsende dank geschmierter Helfer in Berlin auch alles aus seinen Többens-Werken von Warschau und Poniatowa nach Delmenhorst verlagern können. Zu diesem Zeitpunkt kriegen kein Soldat und kein Flüchtling mehr einen Platz in einem Zug nach Westen, Többens kriegt ganze Eisenbahnzüge von seinem Kumpel Dr Heinrich Lauts im Berliner Reichwirtschaftsministerium zur Verfügung gestellt.
Zehntausende von jüdischen Arbeitern, die für Többens in Warschau und Umgebung Uniformen nähen, wandern ins KZ. Der
Tod ist ein Meister aus Deutschland. Többens, der mit einer
Peitsche in der Hand durch seine Fabriken geht (sie aber natürlich nie benutzt hat, wie er im Prozess sagt), ist Großunternehmer, der größte Arbeitgeber im Getto. Ein
Oskar Schindler mit umgekehrten Vorzeichen. In dem Bremer Spruchkammerverfahren hatte der Verteidiger von Többens ihn in einem fünfstündigen Plädoyer als einen Wohltäter darzustellen versucht. Und sich zu der Behauptung verstiegen: Lebten die Juden aus dem Warschauer Getto noch, so stünde Többens nicht vor einem Gericht, sondern im Goldenen Buch von Palästina. 1988 legen die Nachkommen von Walter Többens eine kriminelle Millionenpleite hin.

Vor Jahrzehnten ist ein Bundestagspräsident nach dem 9. November zurückgetreten, weil er ein schlechter Redner war. Denn wäre der
Philipp Jenninger am fünfzigsten Jahrestag des 9. Novemer 1938 rhetorisch versierter gewesen, und wären die Zuhörer bereit gewesen, ein rhetorisches Mittel wie das der erlebten Rede als ein rhetorische Mittel zu erkennen und nicht als eine Meinung des Redners, nichts wäre geschehen. Vielleicht wäre Jenninger besser beraten gewesen, wenn er einen kurzen Text von Erich Kästner vorgelesen hätte:
In jener Nacht fuhr ich, im Taxi auf dem Heimweg, den Tauentzien und den Kurfürstendamm entlang. Auf beiden Straßenseiten standen Männer und schlugen mit Eisenstangen Schaufenster ein. Überall krachte und splitterte Glas. Es waren SS-Leute, in schwarzen Breeches und hohen Stiefeln, aber in Ziviljacken und mit Hüten. Sie gingen gelassen und systematisch zu Werke. Jedem schienen vier, fünf Häuserfronten zugeteilt. Sie hoben die Stangen, schlugen mehrmals zu und rückten dann zum nächsten Schaufenster vor. Passanten waren nicht zu sehen. (Erst später, hörte ich am folgenden Tag, seien Barfrauen, Nachtkellner und Straßenmädchen aufgetaucht und hätten die Auslagen geplündert). Dreimal ließ ich das Taxi anhalten. Dreimal wollte ich aussteigen. Dreimal trat ein Kriminalbeamter hinter einem der Bäume hervor und forderte mich energisch auf, im Auto zu bleiben und weiterzufahren. [. . .] In der gleichen Nacht wurden von den gleichen Verbrechern, von der gleichen Polizei beschützt, die Synagogen in Brand gesteckt. Und am nächsten Morgen meldete die gesamte deutsche Presse, die Bevölkerung sei es gewesen, die ihrem Unmut spontan Luft gemacht habe. Zur selben Stunde in ganz Deutschland - das nannte man Spontaneität. Ignatz Bubis hat übrigens ein Jahr nach Jenninger Teile aus Jennigers Rede vorgetragen. Es gab keine nationale Entrüstung.
Das Buch von Günther Schwarberg
Das Getto: Spaziergang in die Hölle ist noch antiquarisch zu bekommen. Das Buch von Inge Marssolek und René Ott
Bremen im Dritten Reich ist nach beinahe vierzig Jahren leider vergriffen (lässt sich aber noch finden). Man sollte sich bei Carl Schünemann und beim Senator für Kultur wirklich mal überlegen, ob man das nicht wieder auflegt oder
online stellt. Wo man doch jetzt die
Stadt des Buches ist. Der Kriegsverbrecher
Walter Többens, den die historische Forschung jahrzehntelang unbeachtet gelassen hat, besitzt inzwischen einen Wikipedia Artikel und hier beim
→Weser Kurier eine informative Seite.
Dieser Text stand hier, seit ich 2010 zu schreiben begann, schon mehrfach in diesem Blog. Ich stelle ihn an diesem 9. November noch einmal hier hin, genügend Brandstifter haben wir in Deutschland ja wieder. Der Antisemitismus ist auch wieder da, nicht nur die Hetze im Netz, auch die Gewalttaten nehmen zu. Werfen Sie doch mal einen Blick in den
Lagebericht des Bundesamts für Verfassungsschutz. Es ist schrecklich, aber es hört nie auf. Ich wollte in diesem Jahr diesen Text zur
Reichskristallnacht einmal weglassen und stattdessen ein Gedicht hier einstellen. Ich dachte zuerst an
→Mörderrevier von Durs Grünbein, kam dann aber auf Erich Frieds Gedicht
Diese Toten, das ich heute hier einstelle.

→Erich Fried lag mir näher als Durs Grünbein, weil er auch schon in einem Kapitel meiner
Bremensien vorkommt. Nicht, weil er ein hübsches Gedicht mit dem Titel
Rückfahrt nach Bremen geschrieben hat. Sondern weil sich mein Mitschüler
Bernd Neumann 1977 in seinem Hass auf den jüdischen Emigranten in London zu der Forderung nach einer neuen
Bücherverbrennung hat hinreißen lassen.
Ja, so etwas würde ich lieber verbrannt sehen, das will ich Ihnen ganz eindeutig sagen! hat der damalige Bremer CDU-Vorsitzende über Frieds Gedicht
Die Anfrage im Bremer Parlament gesagt. Als
Horst Werner Franke Neumann aufforderte, den Satz zurückzunehmen, weil das ein ganz schlimmer Satz sei, stellt sich Neuman erst einmal dumm und fragt
Welcher denn? Da sagt
→Franke;
Herr Neumann, Sie haben den einen Satz gesagt, Sie hätten dieses Gedicht am liebsten verbrannt. Herr Neumann, Literatur, und das ist auch Literatur – ja, das ist auch Literatur, es gibt eine abscheuliche Literatur, und sie bleibt trotzdem Literatur –, Literatur, Herr Neumann, soll in diesem Land nie wieder verbrannt werden! Bernd Neumann nimmt seinen
→Satz nicht zurück. Er versucht sogar noch zu erreichen, dass die Lehrerin, die das Gedicht von Fried im Unterricht behandelt hat, disziplinar gemaßregelt wird. Dass man das vierundvierzig Jahre nach den Bücherverbrennungen von 1933 in Deutschland sagen kann, ohne dass man sofort aus dem Parlament fliegt, fasziniert mich heute noch.
Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen. Heinrich Heines Satz hat Bernd Neumann sicher nicht gekannt, er war nicht sehr gebildet. Eher ein bisschen doof. Für ihn haben wir uns in unserem Gymnasium damals schon ein bisschen geschämt. Hatte kaum das Abitur, da war er schon in der CDU. Ich schäme mich noch immer für ihn. Ein schwedischer Literaturkritiker hat beim Bergedorfer Gesprächskreis der Körber Stiftung 1978 gesagt:
In einem Land mit e
iner starken demokratischen Tradition müsste ein Mann wie Herr Neumann nach einer solchen Aussage moralisch tot sein. Er sollte als ein viel gefährlicherer Förderer des Terrorismus angesehen werden, als alle seine intellektuellen Gegner. Ich würde das ja sofort unterschreiben, aber wie wir alle wissen, wurde er 2005
→Staatsminister für Kultur. Als ihn Journalisten mit dieser
Geschichte konfrontieren, ist der Satz von damals für ihn
aus dem Zusammenhang gerissen. Wir tun uns in Deutschland schwer mit unserer Geschichte.
Ich habe die ganze Diskussion von damals, Zeitungsausschnitte, Flugblätter und offene Briefe, gesammelt und aufbewahrt, weil mir das so ungeheuerlich erschien. Ich glaube, ich werfe das jetzt mal weg. Oder vielleicht doch nicht, ich habe manchmal das Gefühl, es kommt alles wieder. Sechs Jahre nach dem politischen Skandal hat Erich Fried den Bremer Literaturpreis erhalten. Der Laudator war
Herbert Heckmann, der vier Jahre später wieder als Laudator eine sehr schöne
→Rede für Erich Fried bei der Verleihung des Büchner Preises gehalten hat.
Erich Fried:
Diese Toten
Hört auf, sie immer Miriam
und Rachel und Sulamith
und Aron und David zu nennen
in eueren Trauerworten!
Sie haben auch Anna geheißen
und Maria und Margarete
und Helmut und Siegfried:
Sie haben geheißen wie ihr heißt
Ihr sollt sie euch nicht
so anders denken, wenn ihr
von ihrem Andenken redet,
als sähet ihr sie
alle mit schwarzem Kraushaar
und mit gebogenen Nasen:
Sie waren manchmal auch blond
und sie hatten auch blaue Augen
Sie waren wie ihr seid.
Der einzige Unterschied
war Stern den sie tragen mußten
und was man ihnen getan hat:
Sie starben wie alle Menschen sterben
wenn man sie tötet
nur sind nicht alle Menschen
in Gaskammern gestorben
Hört auf, aus ihnen
ein fremdes Zeichen zu machen!
Sie waren nicht nur wie ihr
sie waren ein Teil von euch:
wer Menschen tötet
tötet immer seinesgleichen.
Jeder der sie ermordet
tötet sich selbst
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