Sonntag, 29. November 2015

Tatorte


Heute vor fünfundvierzig Jahren wurde die erste Folge einer neuen Krimireihe ausgestrahlt, die Tatort hieß. Damals war das eine aufregende Sache, es gab noch nicht diese Schwemme von Krimis im Fernsehen wie heute. Wo man jeden Tag mindestens ein halbes Dutzend Krimis sehen kann. Von der Sendung Stahlnetz (Drehbücher von Wolfgang Menge, Regie Jürgen Roland) gab es 22 Folgen in zehn Jahren. Langsam und betulich. Keine Schießereien, keine Blutbäder. Alles in schwarz-weiß. Mit dem ersten Tatort kam Farbe in das deutsche Krimileben.

Und es kam ein wiedererkennbarer Vorspann, der bis heute nicht geändert wurde. Lediglich ein gewisser Til Schweiger, gerade als Hauptkommissar bei der Hamburger Mordkommission eingestellt, ließ über den Vorspann verlauten: Den würde ich gerne ändern. Also das finde ich irgendwie dämlich. Den Vorspann, der ist jetzt wirklich outdated. Und da werde ich für kämpfen, dass bei meinem ersten "Tatort" ein anderer Vorspann läuft. Die Betonung liegt auf dem Wort kämpfen, Til Schweiger kämpft immer.

Das vierzigste Jubiläum des Tatorts ist mir nicht entgangen, ich schrieb heute vor fünf Jahren den Post ➱Tatort. In einem Jahr wird es wieder einen Tatort geben (den tausendsten), der Taxi nach Leipzig heißt, aber ich glaube nicht, dass ich darüber schreiben werde. Heute vor einer Woche wurde der Tatort Der große Schmerz von der ARD abgesetzt. Es war ein Tatort mit Til Schweiger (und Helene Fischer), der der erste Teil eines Dreiteilers war. Auch wenn Walter Richter, der den Hamburger Hauptkommissar Trimmel in dem Tatort Taxi nach Leipzig (➱hier ganz zu sehen) spielt, hier mit einer Pistole bedroht wird, spielen Waffen in diesem Tatort eigentlich keine Rolle.

Das ist in Der große Schmerz etwas anders. Auch hier sehen wir einen Hamburger Hauptkommissar, aber wie hat er sich verändert. ➱Lederjacke statt Anzug. Und Pistole statt Zigarre. Von der Pistole wird Nick Tschiller alias Til Schweiger auch Gebrauch machen. Da können wir sicher sein. Man kann kein Gewehr auf die Bühne stellen, wenn niemand die Absicht hat, einen Schuss daraus abzugeben, hat Tschechow gesagt. In seinem ersten Tatort Willkommen in Hamburg (damals der teuerste Tatort aller Zeiten) gab es sieben Leichen, ein Jahr später in Kopfgeld schon neunzehn Leichen. Und teurer war der Tatort auch. Wahrscheinlich werden hier die Gagen nach dem Bodycount Prinzip gezahlt.

Das war aber noch nicht genug, in dem wegen der Ereignisse in Paris nicht gesendeten Tatort Der große Schmerz gab es siebenundvierzig Tote. Helene Fischer spielt darin eine Killerin - uns bleibt nichts erspart. Die Produzenten waren wahrscheinlich traurig, dass der Filmtitel Leichen pflastern seinen Weg schon vergeben war. Siebenundvierzig (oder waren es fünfzig) Tote gab es auch schon in dem Tatort Im Schmerz geboren mit Ulrich Tukur. Dafür gab es den Grimme Preis. Weshalb man für so etwas den Grimme Preis bekommt, weiß ich wirklich nicht. Vielleicht ist es doch keine so dolle Sache, auf der ➱Vorschlagsliste für den Grimme Preis zu stehen.

Nach Willkommen in Hamburg sagte der NDR Intendant Lutz Marmor (der jetzt auch der Vorsitzende der ARD ist) auf die Frage des Hamburger Abendblatts, ob ihm der Til Schweiger Tatort gefallen hätte: Ich fand ihn gelungen. Dass so viele Menschen zugesehen haben, insbesondere auch Jüngere, hat mich sehr gefreut. Auch ein Erfolgsformat wie der 'Tatort' braucht mal einen neuen Impuls. Deshalb haben wir bei diesem "Tatort" bewusst auf Action und einen Star wie Til Schweiger gesetzt, der sonst nicht in TV-Produktionen zu sehen ist. Lutz Marmor verdient 291.000 Euro. Er beweist damit wieder einmal, dass die Gehälter der Intendanten heutzutage in einem umgekehrten Verhältnis zur Qualität des Senders stehen. Die Formel stimmt nicht immer, zwar bekommt Tom Buhrow als Intendant des Westdeutschen Rundfunks 367.232 Euro im Jahr, aber das Programm des WDR ist auch besser.

Wenn man sich über diese Gehälter aufregt, dann sollte man einmal einen Blick auf die Gehälter der Kommissare im Fernsehen werfen. Die werden nämlich von den Sendeanstalten nicht wie bei der Polizei nach A12 besoldet (eine Besoldungsgruppe unter dem Studienrat), sondern bekommen, wenn sie einen großen Namen haben, so etwas wie 100.000 bis 120.000 Euro pro Folge. Til Schweiger bekommt mehr, man nimmt an, dass er 300.000 Euro pro Tatort erhält. Und bekommt vom NDR noch einen Rentenvertrag. Auf die Frage von Spiegel Online: Um noch mal auf Til Schweiger zurückzukommen: Es soll ja nur eine 'Tatort'-Folge pro Jahr mit ihm geben. Hat man sein Engagement eigentlich auf eine bestimmte Zeit begrenzt? antwortete Christian Granderath: Einen Gehirntumor, wie ihn Ulrich Tukur für seine Rolle im hessischen "Tatort" als Ausstiegsmöglichkeit mit sich herumträgt, werden wir Schweiger ganz bestimmt nicht andichten. Falls er ein biblisches Alter wie Jopie Heesters erreicht, kann er gerne auch noch im Jahr 2068 in Hamburg ermitteln.

Für den Drehbuchautor Christoph Darnstädt, dessen Mutter Kinderbücher schrieb, ist Til Schweiger ein Held. Der Mediendienst Teleschau urteilte über Der große SchmerzFür Männer mit überdurchschnittlich hohem Testosteronspiegel und postpubertären Gewaltfantasien ist das alles ganz fraglos ein Fest. Alle anderen schalten besser beizeiten das Hirn aus. Und das Fernsehen gar nicht erst an. Allerdings ist das alles mit dem Geld der Hörer bezahlt worden, und man wagt es überhaupt nicht, das Wort vom Bildungsauftrag der öffentlich-rechtlichen Sender auszusprechen. Vom Volk bezahlte Verblödung betitelte vor Jahren Jens Jessen seinen ➱Artikel in der Zeit.

Aus Respekt vor den Opfern der grausamen Anschläge von Paris haben wir die Premiere der 'Tatorte' mit Til Schweiger auf das kommende Jahr geschoben, sagte der NDR Programmdirektor Fernsehen Frank Beckmann. Es passt einfach nicht in diese Wochen, eine Krimireihe zu zeigen, in der es auch um einen terroristischen Angriff geht. Und statt jetzt einfach mal sein großes Maul zu halten, musste Til Schweiger wenig später dem Stern sagen: Die Terror-Anschläge in Paris haben mich unglaublich wütend, traurig und fassungslos gemacht. Ich finde aber, wir sollten uns nicht von Terroristen diktieren lassen, wie wir leben sollen, uns nicht unsere Freiheit rauben lassen, und dazu gehört auch die, was wir im Fernsehen zeigen.

In Taxi nach Leipzig gab es keine Schießereien, es gab nur die traurige Geschichte von einem toten Kind. Die Vorlage von Taxi nach Leipzig war ein Roman von Friedhelm Werremeier, der zuerst in der Krimireihe von Richard K. Flesch bei Rowohlt erschienen war (zuerst noch unter Werremeiers Pseudonym Jacob Wittenburg). Den Hauptkommissar Trimmel hatte der NDR schon einmal auf den Bildschirm gebracht, der ➱Fernsehfilm hieß Exklusiv! (nach dem Roman Ich verkaufe mich exklusiv von Friedhelm Werremeier aus dem Jahr 1968).  Die Erstausstrahlung des Films fand am 26. Oktober 1969 in der ARD statt. Exklusiv! wurde nachträglich in die Tatort Serie eingereiht und als Folge 9 der Reihe im Juli 1971 ausgestrahlt. In Exklusiv! trägt Kommissar Trimmel schon sein blaues Hemd, das ihn mit diesem Gangsterlook ein wenig wie Jean Gabin in Pépé le Moko aussehen lässt.

Taxi nach Leipzig war eine Romanverfilmung. Das ist außer Mode gekommen (die Kluftinger Krimis haben keinen Platz im Tatort bekommen), heute hat man Drehbuchautoren. Einen habe ich mal kennengelernt. Ich sah den weißen TR4, den mein Bruder gerade verkauft hatte, immer bei meinem Bierhändler stehen. Als ich das meinem Bruder sagte, brachte er mit einen großen Karton mit Ersatzteilen und das Owner's Manual und sagte mir, ich solle das mal dem neuen Besitzer bringen. Der Bierhändler wusste, wo der Mann wohnte. Leider wohnte der im vierten Stock, der Karton mit den Ersatzteilen war sehr schwer. Wir hatten dann aber einen netten Nachmittag. Er hatte gerade sein zweites Tatort Drehbuch an die ARD verkauft und hatte sich diesen TR4 gegönnt, den auch Catherine Deneuve in Polanskis Ekel fährt (und den auch die englische Polizei einmal als Dienstwagen einsetzte). Damals kannte ihn noch niemand, heute ist er groß im Geschäft.

Und da wir gerade bei Automobilen sind: in den deutschen Tatorten gibt es wenig Exotisches. Trimmel fährt einen Ford Taunus, das passt zu ihm. Exotischer ist da schon der weiße Porsche 356 C, den der Zollfahnder Kressin fährt. Aber der ist wahrscheinlich nur ausgeliehen. Ulrich Tukur fährt mal einen ➱Ro80, doch da hört es auch schon auf.

So schöne Autos wie Columbo (Peugeot 403 Cabriolet) oder ➱Morse (Jaguar) haben sie alle nicht, nur wenn sie sich mal was aus der Asservatenkammer leihen. Es wäre schön wenn man Til Schweiger einen Opel Manta als Dienstwagen gegeben hätte, denn in dem Film Manta, Manta, da war er ganz er selbst. In der Fernsehwerbung macht Schweiger ➱Autos kaputt. Er ist der Nachfolger von Dieter Bohlen als Gesicht der VHV Versicherung.

Alle Schauspieler in Taxi nach Leipzig kamen vom Theater (auch Günther Lamprecht, der in einer Nebenrolle als Vopo gleich am Anfang des Films zu sehen ist). Walter Richter war Staatsschauspieler und Kammerschauspieler in München. Hans Peter Hallwachs kannte ich noch von der Bühne in Bremen zu Zadeks Zeiten, mein witziges Erlebnis mit Hallwachs und Bruno Ganz bei der Hamlet Aufführung habe ich schon in den Post ➱Richard Lester hineingeschrieben.

Und dann war da noch Renate Schroeter, für die schwärmte ich damals sowieso. Es ist sicher etwas anderes, wenn richtige Schauspieler von der Bühne in einem Fernsehfilm auftreten, statt der üblichen bekannten Seriendarsteller, die nur im Fernsehen groß geworden sind. Taxi nach Leipzig war der erste Film des studierten Juristen Peter Schulze-Rohr, der zuvor Chefdramaturg beim Südwestfunk und Redakteur und Regisseur beim NDR gewesen war. Dies war solides deutsches Handwerk, ohne Blutbad und Leichen. Aber so sind die Filme der Serie Tatort leider nicht geblieben.

Ist der Krimi ein Psychogramm der Gesellschaft? Siegfried Kracauer hat es mit seinem Buch From Caligari to Hitler: A Psychological History of the German Film vorgemacht, dass man Filme so lesen kann. Es wäre eine interessante Sache, einmal die Tatort Folgen aus den letzten 45 Jahre auf ihre transportierte Ideologie, ihre Darstellung der Gesellschaft und ihre Helden zu untersuchen. In Taxi nach Leizig konnte man ein Deutschland von 1970 durchaus wieder erkennen, wenn man so will, sogar zwei Deutschlands.

Nicht jedes Drehbuch, jede Geschichte, jedes Thema ist gleich gut oder reizt einen. Aber wenn man den Tatort mit anderen Serien vergleicht, ist er immer noch deutlich realistischer, vielfältiger und politischer. Ob Kindesmissbrauch, Asylrecht, Kriegseinsatz in Afghanistan, der Umgang mit Neuen Medien, die alternde Gesellschaft oder Fußball – was politisch relevant ist, kommt auch vor. Und zwar nicht nur in den schicken Münchener Gegenden, die man von Derrick kennt sondern in Ludwigshafen am Rhein, in Münster, Kiel, Berlin oder München. Das ist schon ziemlich konkurrenzlos. Der Mann, der hier über die Sendung Tatort redet, ist kein Intendant oder Programmdirektor. Er ist Politiker und ist sehr, sehr stolz auf seine Sammlung von Tatort Sendungen, er hat sie alle. Ansonsten sind seine intellektuellen Interessen eher gering. Er ist einer von uns.

Tatort Sendungen sind natürlich nicht die Realität, die Reihe ist ein Kunstprodukt mit eigenen Regeln. Wie Detektivromane. In ihrem Buch The Long Week-End haben Robert Graves und Alan Hodge (der Ghostwriter von Winston Churchill) den wunderbaren Satz Detective novels, however, were no more intended to be judged by realistic standards than one would judge Watteau's shepherds and shepherdesses in terms of contemporary sheep-farming mit leichter Hand dahingeworfen. Auch der Tatort hat nicht mit der wirklichen Polizeiarbeit und dem wirklichen Verbrechen zu tun, wenn Sie den ➱Artikel Der Fall 'Tatort' von Sabine Rückert lesen, wissen Sie alles darüber.

Tatort: ein Kunstprodukt mit eigenen Regeln. Wir können auch den Begriff des Genres ins Spiel bringen. Und den schönen Satz von Raymond Chandler zitieren: To accept a mediocre form and make something like literature out of it is in itself rather an accomplishment. Das wäre es doch - den Tatort als Form akzeptieren wie er ist und ihn filmisch und schauspielerisch besser zu machen. Denn das Genre hat sich totgelaufen. Oder wie Gustl Bayrhammer (der den Hauptkommissar Veigl spielte) bei seinem Abgang so treffend sagte: Des Krimifach, des is doch scho lang a abg’mahte Wies’n. Doa passiert nix mehr. Doch Qualität wollen die Intendanten und Programmdirektoren nicht, sie setzen lieber auf den Genremix (ich habe darüber schon böse Worte in dem Post ➱Inspector Gently gesagt), die ➱Hybridisierung des Genres.

Das Fernsehen mit seinen zu hoch bezahlten Intendanten setzt auf Quote, und Quote macht man nicht, wenn man Qualitätsfernsehen macht. Es ist zwar unwahrscheinlich, dass der Bruce Willis Verschnitt Til Schweiger noch 2068 ermittelt, aber vorerst bringt er Quote. Wegen der vielen Leichen. Da greift ein Kommissar schon mal zur Panzerfaust, der typischen Dienstwaffe von Hamburger Hauptkommissaren, damit das mit dem Bodycount in den Programmzeitschriften auch stimmt.

Die Rachetragödien des elisabethanischen und jakobäischen Zeitalters brachten sicher auch Zuschauer. Sie kommen in den letzten Jahren vermehrt auf englische Bühnen (Although it is four centuries since revenge tragedies like this first appeared on stage, they have lost little of their charge. And it seems we can't get enough of them, schrieb der Guardian). Und kommen im Film besonders gut rüber, wenn man sie noch mit einer nackten ➱Charlotte Rampling (in Addio, fratello crudele, einer italienischen Verstümmelung von 'Tis Pity She's a Whore) garnieren kann. Der englische Regisseur Declan Donnellan, der zahlreiche dieser Stücke inzeniert hat (auch 'Tis Pity She's a Whore), sagte dazu: A really good horror reminds you that you're not just the victim; you're also the monster. Psycho is a great film because of the very subtle shifts of identification. You're not just the woman who is murdered in the shower, you're also the murderer. It's entertainment at the deepest level.

Die Schamfrist der ARD, der Respekt vor den Opfern der grausamen Anschläge von Paris, geht im Januar zu Ende. Dann kann man die ersten beiden Teile von Til Schweigers Gemetzel sehen. Und wer es bis dahin nicht aushält, der kann sich ja all die Snuff, Gore und Slasher Filme ansehen, die das Internet zu bieten hat. Wir sollten uns nicht von Terroristen diktieren lassen, wie wir leben sollen, uns nicht unsere Freiheit rauben lassen, und dazu gehört auch die, was wir im Fernsehen zeigen. ➱Goya hat gesagt El sueño de la razón produce monstruos, der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer.


Lesen Sie auch: Tatort, Derrick, Inspector Gently. Die Sendung Tatort wird auch noch erwähnt in den Posts: Inspector Lewis, Endeavour, Maj Sjöwall, Sjöwall Wahlöö, Henning Mankell, Nicolas Freeling, Wankelmotor, Anatomie, August von Platen, Ludwigslust, 25 Jahre, Heinrich Vogeler, Ingeburg Thomsen, Tulpen

Freitag, 27. November 2015

Liebster Award


Ich habe letztens einen Preis bekommen, er heißt Liebster Award. Ich musste erst einmal in das Internet gucken, um zu sehen, was das ist. Fand dort die Sätze: Für alle, die den Begriff zum ersten Mal lesen: Der Liebster Award ist dazu gedacht, weniger bekannte Blogs bekannter zu machen. Dann muss er ja an mich gehen, wo meine Leserzahl die Grenze von zwei Millionen schon überschritten hat. Nominiert hat mich Giorgione, der einen Blog namens ➱Gehölzbalkon schreibt. Und der in seiner Selbstvorstellung sagt: Außer sehr vielen zur Gartenpflege und Pflanzen lese ich sehr gerne welche zu Mode, Schuhe, Kulturtheorie. Zur Kulturanalyse lese ich gerne auf dem Blog von Silvae, obwohl der mir etwas zu unstrukturiert geschrieben ist, ist das eine Richtung, die ich selbst als Blogger gerne ginge: Diverseste Informationen zu verbinden und so faktisch interdisziplinär zu einer fundierten Meinung zu kommen.

Giorgione, bei dem ich mich für den Preis bedanke (das mit dem etwas zu unstrukturiert lassen wir heute mal durchgehen), wurde wiederum von Katrin Zinoun (die noch hier bloggt) für den Liebster Award nominiert: Katrin Zinoun von Mein Balkongarten hat mich, wenn auch nicht ganz ungefragt, für den Liebster Award nominiert nachdem sie wiederum von Fiona von Wo Blumenbilder wachsen nominiert wurde. Ich fand das cool, und ich danke insbesondere Katrin, aber auch Fiona. Es geht hier ja offenbar darum, so eine Art Kettenbrief zu installieren, um diverse Blogs kennenzulernen, und andere auf den eigenen Blog zu lenken. Klare Worte, das Spiel geht immer weiter, ad infinitum. Manche finden das toll. Vielleicht hilft es kleinen Blogs ja wirklich, bekannt zu werden. Für andere ist der Liebster Award einfach nur die Pest. Oder um in der Sprache der Gartenfreunde zu bleiben: der Riesenbärenklau (Heracleum giganteum).

Und dann hing da noch ein Fragebogen an der Nominierung, zehn Fragen, die den Blogger vorstellen sollten. So eine Art von Proust Fragebogen für Blogger. Das lasse ich mal weg, ich fülle in meinem Leben keine Fragebögen mehr aus. Wer mich ständig liest, weiß, wer ich bin: hemmungslos subjektiv. Und unstrukturiert. Und für alle Fragen gibt ja noch diese Seite, die ➱Mein Blog, meine Leser heißt. Oder den Post ➱Anfänge. Mehr braucht man über mich doch gar nicht zu wissen.

Ich selber, Leser, bin also der Inhalt meines Buchs: Es gibt keinen vernünftigen Grund, daß du deine Muße auf einen so unbedeutenden, so nichtigten Gegenstand verwendest, hat Montaigne gesagt. Wenn wir anstelle des Wortes Buch jetzt Blog setzen, dann stimmt das für mich auch. Viele meiner Leser haben einen Blog, ich will jetzt nicht sagen, dass ich alle regelmäßig lese, aber ich gucke in die Blogs meiner eingetragenen Leser doch schon von Zeit zu Zeit hinein. Und weise auch gerne jederzeit auf interessante Blogs hin. Dafür brauche ich niemandem einen Liebster Award zu verleihen.

Vor Wochen habe ich durch Zufall erfahren, dass ich auf der Vorschlagsliste für den Grimme Online Award 2015 stand. Hätte ich den Grimme Preis bekommen, hätten Sie das bestimmt in der Zeitung gelesen. Muss man als Preisträger eine Rede halten? Oder kann man wie der Bischof aus Osttimor Carlos Filipe Ximenes Belo einfach trocken sagen: Ich hätte es vorgezogen, den Preis nicht zu bekommen, damit ich hier weiter in Ruhe arbeiten kann?

Aber immerhin, ich stand auf der Liste für den Grimme Online Award 2015. Das ist doch schon mal ein Anfang. Ich vermute, dass mich ein Leser, der selbst Grimme Preisträger ist, auf die Liste gesetzt hat. Dafür bedanke ich mich natürlich sehr. Ich lesen immer seinen Blog, aber ich käme nie auf die Idee, ihn mit dem Liebster Award auszuzeichnen. Und ansonsten bescheiden wir uns mit dem Satz: Verlange nicht, daß alles so geschieht, wie du es wünschest, sondern sei zufrieden, daß es so geschieht, wie es geschieht, und du wirst in Ruhe leben aus Epiktets ➱Handbüchlein der Moral. Ein Stoiker wie Epiktet ist immer gut. Ein Blog mag für manche Leser in bestimmten Situationen auch gut sein, das gilt aber für viele Blogger. Auch Giorgiones Gehölzbalkon kann uns Dinge lehren, il faut cultiver notre jardin. Und falls Ihnen jetzt der Sinn nach größeren Gärten als dem Balkongarten geht, kann ich den Post ➱Landschaftsgärten empfehlen.

Dienstag, 24. November 2015

Nachtfahrt


Ich hatte den Namen dieses kleinen Kaffs am Deich über die Jahre beinahe vergessen, da hörte ich ihn morgens im Verkehrsfunk. Ich hatte den Namen natürlich nicht wirklich vergessen, weil da diese Freitagnacht im November vor fünfzig Jahren war. Ich dachte mir, ich schreibe mal drüber. Ich hatte auch sofort einen Titel: Nachtfahrt.

Der Titel kam mir schnell, weil die Musik von der neuen CD Nachtfahrten von dem Jazzpianisten Michael Wollny in diesen Wochen immer wieder durch meine Wohnzimmer schwappt. Ich kannte Wollny bisher immer nur zusammen mit Heinz Sauer (den ich schon in dem Post Don Byas erwähnt habe), von den beiden habe ich auch mehrere CDs. Ich wusste nicht, dass Nachtfahrten eine Themen CD ist, aber das weiß die Welt ganz genau: In Frankreich und England ist er der Jazzmusiker der Stunde. Mit seiner neuen CD 'Nachtfahrten' tut der Pianist Michael Wollny das, was die Deutschen besonders gut können: Der Welt das Gruseln lehren. Wir lassen mal den Dativ durchgehen, es ist halt die Welt. Die uns versichert, dass 'Nachtfahrten' das reifste Werk von Deutschlands unheimlichstem zeitgenössischen Musiker ist.

Wir sind angeblich in der Welt der Gothic Novel (zu der es hier einen langen Post gibt), ich habe das leider beim bisherigen Hören nicht gemerkt. Michael Wollny soll seinem Produzenten das Buch Nachtmeerfahrten: Die dunkle Seite der Romantik von Simone Stölzel geschenkt haben, und als die neue CD einen Titel brauchte, hat der sofort gesagt: Nachtfahrten. Das Buch Nachtmeerfahrten von Simone Stölzel ist ganz nett, es ist sozusagen Mario Praz' Buch Liebe, Tod und Teufel (The Romantic Agony) in einer light Version. Ich kann nichts gegen das Buch sagen, das auch schön bibliophil (Die Andere Bibliothek Band 338) aufgemacht ist. Und mich einen Euro beim Hinterhofhöker gekostet hat. Gegen solche Bücher sage ich überhaupt nichts. Und den Roman von Brigitte Kronauer für einen Euro habe ich nach meinem endgültig letzten Leseversuch wieder zurückgebracht und wieder dort ins Regal gestellt. Eschi wollte ihn nicht haben.

Aber ich wollte eigentlich über etwas anderes schreiben, über diese Fahrt in der Nacht, die nichts mit Michael Wollnys CD und literarischen Nachtfahrten zu tun hat. Wenn man zu viele Bücher von Henry Fielding und Laurence Sterne gelesen hat, färbt das irgendwann auf den Stil ab: man neigt zu Digressionen. Ich tue das immer. Und da ich Sterne erwähne: Es ist mir nicht so ganz klar, weshalb seit Wochen der Post Trismegistus so häufig gelesen wird (der Post Laurence Sterne dagegen gar nicht). Laurence Sterne hat erst heute Geburtstag. Ich könnte jetzt diese Abschweifung - die als Geburtstagsgruß gedacht ist - noch abschweifender ausgestalten, doch ich muss diese andere Geschichte erzählen. Nicht vom Onkel Toby und dem Festungsbau, sondern die Geschichte dieser Freitagnacht in einem November vor fünfzig Jahren. Ganz ohne Abschweifungen. Und ohne Gothic Novel. Dunkelheit, Nebel und Blut hätte ich allerdings zu bieten:

       Der Anruf kam um kurz nach zehn. Von irgendeiner kleinen Kneipe weit draußen. Die hätten da einen randalierenden betrunkenen Soldaten von uns, wir sollten den bitte schön abholen. Ich hasste das, wenn es einen am Wochenende mit dem Job des Offiziers vom Dienst erwischte, aber das half nun mal nichts. Ich packte mir den Jeep voll mit halbwegs zuverlässigen Soldaten und fuhr los. Es war zappenduster, und es regnete. Die Scheibenwischer von dem Bundeswehr Jeep kann man vergessen. Als wir aus der Stadt heraus waren, hörte der Regen auf, doch als wir den Deich erreichten, kamen Nebelschwaden auf.

Wir fahren quälend lange auf dem schmalen Deich, der nie aufzuhören schien. Dann sehen wir die kleine Kneipe im Kegel der Scheinwerfer, alle Lichter sind an. Alle Scheiben der Fenster und der Tür sind zerschlagen. Es riecht nach Blut. Ich weiß mittlerweile aus vielen Manöverunfällen, wie Blut riecht. Den Geruch vergisst man nie wieder. An der Theke hängt ein völlig besoffener Soldat, die Ärmel seiner Uniform sind zerfetzt. Hier war eine Hochzeit, aber die Hochzeitsgesellschaft ist verschwunden. Die Braut war mal seine Freundin. Auf die Idee ihn zu verbinden und einen Krankenwagen zu rufen, seid ihr wohl nicht gekommen, was? herrsche ich den Wirt an. Und dann zwinge ich ihn, seine besten Tischdecken herauszugeben. Das Leinen ist halbwegs steril, damit verbinden wir ihm die Arme, die er sich an den Glasscheiben aufgeschnitten hat. Die Hände verbinden wir mit dem Verbandszeug aus dem Jeep. An den Armen suppt das Blut zwar noch durch, aber es ist erstmal besser als nichts.

Der betrunkene Soldat will mir die ganze Geschichte seiner Liebe erzählen, sie seien doch schon beinahe verlobt gewesen, dann hätte sie diesen anderen aus dem Nachbardorf genommen. Ich will das jetzt nicht hören, ich will ihn nur schnell ins Krankenhaus bekommen. Ich lasse zwei Mann von der Wache zurück, wir passen nicht mehr alle in den Jeep, weil der Verletzte die Rückbank bekommt. Kriegt vom Fahrer noch etwas übergeworfen, wofür Pferdedecke ein höflicher Ausdruck wäre. Ich sage dem Wirt, dass er den Soldaten, die ich zurückließe, ein Taxi rufen solle. Das er dann bezahlen würde. Warum sollte ich das tun? fragt er. Weil ich Sie sonst wegen unterlassener Hilfeleistung rankriege, sagte ich. Das sind diese dumm-bräsigen Bauern hier, die brauchen diese Sprache. Ich kenne die Gegend. Zu meinem Fahrer sage ich: Tritt drauf! Und dann drehe ich mich um und sage zu dem Soldaten, der auf dem Rücksitz liegt: Und jetzt erzähl mir Deine Geschichte. Ich will nicht, dass er einschläft oder ohnmächtig wird. Solange er die traurige Geschichte einer verlorenen Liebe erzählt, hat er einen Grund, wach zu bleiben. Das ist die Magie von Geschichten, in dieser kalten Nebelnacht oder in tausendundeiner Nacht. Plaisir d'amour ne dure qu'un moment, chagrin d'amour dure toute la vie.

Sie werden ihn in der Chirurgie zwei Stunden lang operieren, das warte ich aber nicht ab. Wenn ich zur Wache zurückkomme, sind die beiden Soldaten dank des Taxis längst da, sie bewundern die Art, wie ich mit dem Wirt umgesprungen bin. Sie riechen nach Alkohol, haben natürlich ein Bier getrunken, obgleich das bei Wachsoldaten ein Dienstvergehen ist. Hat’s geschmeckt? frage ich sie, sie kriegen einen roten Kopf. Bei der Aufnahme im Krankenhaus wurde festgestellt, dass der Soldat überhaupt nicht zu unserer Kaserne gehört. Für den wäre ein ganz anderer OvD in einer ganz anderen Kaserne der Stadt zuständig gewesen. Ich rufe am nächsten Morgen das Krankenhaus an. Er wird überleben, aber es sei sehr knapp gewesen, sagt mir der Chirurg.

Was mag aus ihm geworden sein? Das Leben besteht aus Geschichten, von denen man manchmal nur einen Schnipsel kennt. Manchmal schreibt man sie im Kopf weiter. Wie Träume. War die Braut so schön, dass einer in einem Verzweiflungsakt beinahe sein Leben aufs Spiel setzt? Oder war sie nur eins von den Bauerntrampeln, die er beim nächsten Schützenfest wieder aufreißen kann? Voi che sapete che cosa e amor, Donne, vedete s'io l'ho nel cor.

Samstag, 21. November 2015

Italienische Herrenschuhe


Von Zeit zu Zeit juckt es mich doch, über Schuhe zu schreiben. Sie kennen das schon. Nicht, dass ich im Nebenberuf Schuhe testen würde, wie der Held von Wilhelm Genazinos Roman Ein Regenschirm für diesen Tag. Aber ich mag schöne Schuhe. Nachdem ich mehrere Posts zu englischen Schuhen im Blog stehen hatte, schrieb ich über Schuhe aus Portugal und dachte mir: irgendwann wirst du auch noch über spanische, französische und italienische Schuhe schreiben müssen.

Ich fange mal mit den italienischen Schuhen an, da kenne ich mich besser aus als mit den spanischen und französischen (obgleich ich zwei Paar Schuhe aus Frankreich besitze). Ich habe auch eine Vielzahl von dicken, fetten Büchern und Katalogen über die italienische Mode, wobei man leider sagen muss, dass der Katalog des ➱Victoria & Albert Museums vom letzten Jahr eine ziemliche Enttäuschung ist. Es war zwar eine gigantische Show (die immer noch tourt), aber die Artikel des Katalogs sind doch ziemlich oberflächlich.

Was ich leider - trotz der schnuckeligen ➱Audrey Hepburn - nicht behandeln kann, sind italienische Damenschuhe. Was simpel daran liegt, dass ich von Damenschuhen überhaupt nichts verstehe. Von der ➱Damenmode schon eher etwas. Zur Zeit von Audrey Hepburn waren die Schuhe des Florentiners Salvatore Ferragamo einmal die ganz große Sache, ich weiß nicht, wie das heute mit der Qualität ist.

Salvatore Ferragamo ist tot, der kontrolliert nicht mehr penibel das Endprodukt. Wenn man unbedingt einen Ferragamo Schuh haben will, weil man immer noch von Audrey Hepburn träumt, dann sollte man unbedingt einen Schuh aus der Linie Tramezza nehmen. Ich habe ein Modell davon (Bild), das über die Jahre eine wunderbare Patina bekommen hat. Und wie ein alter Edward Green Schuh aussieht.

Während in der Luxuskonfektion das Label Made in Italy ein Qualitätszeichen ist, besagen diese Worte auf einem italienischen Schuh gar nichts. Das kann etwas Unbezahlbares sein, wie ein solches Paar Schuhe von Silvano Lattanzi für siebeneinhalb Tausend Dollar, es kann aber auch auf dem billigsten Schrott stehen. Zwischen Lattanzi, Bontoni oder einer Firma wie Borelli (die es bei Deichmann zu kaufen gibt) liegen Welten. Um das Made in Italy ist in Italien in den letzten Jahren ein Kampf entbrannt.

Niemand scheint mehr zu wissen, was es bedeutet. Es kann heute auch schlicht bedeuten, dass ein Produkt in Italien von Chinesen hergestellt wurde. Die übrigens auch in China italienische Schuhe fälschen, im letzten Jahr deckte die Polizei einen kriminellen Handel mit chinesischen Schuhen auf, die alle als Zenobi 1946 Firenze Made in Italy gekennzeichnet waren. Das sieht man bei Zenobi nicht so gerne. Man kann auch nicht verheimlichen, dass die italienische Schuhindustrie schon seit einigen Jahren Produktionen ins Ausland verlagert hat, die Löhne in Italien - vor allem im Norden - sind gestiegen. Wenn man Dinge billig anbieten will, braucht man niedrige Personalkosten. Der John Ruskin zugeschrieben Satz: There is hardly anything in the world that someone cannot make a little worse and sell a little cheaper, and the people who consider price alone are that person's lawful prey, besitzt eine zeitlose Gültigkeit, auch wenn er wahrscheinlich nicht von Ruskin ist.

Die italienische Schuhindustrie fährt in den letzten Jahren Verluste ein. Wahrscheinlich nicht in dem Bereich des Marktes, in dem Lattanzi, Stefano Bemer (der schon erwähnt wurde, weil er mal einen englischen ➱Filmschauspieler als Lehrling hatte) oder Paolo Scafora (der neuerdings durch Borghetti & Bülow, die Agentur von ➱Raffaele Caruso, vertreten wird) sich bewegen. Und wenn Annarita Piloti, die gerade neu gewählte Chefin des italienischen Schuhverbands Assocalzaturifici, die jährlichen Verluste beklagt, dann wird das eine Firma wie Stefanobi (die einmal zu Stefano Branchini gehörte) kaum berühren. Die ist nämlich unter dem Dach von ➱Louis Vuitton und macht die Schuhe für ➱Berluti.

Ein großer Teil der italienischen Schuhe geht nach Amerika. Vor allem die Luxusprodukte, die man in Deutschland vergeblich suchen wird. Dies scheint ein Markt zu sein, der nicht gefährdet ist, aber andere Länder brechen Italien als Importeure weg. Russland zum Beispiel, die Wirtschaftssanktionen machen sich bemerkbar. Man fragt sich natürlich, was die Amerikaner mit den Luxusschuhen wollen. Den durchschnittlichen Amerikaner stellen wir uns doch eher so vor wie hier ➱Adlai Stevenson im Jahre 1952 mit dem Loch in der Sohle. Aber es gibt da natürlich auch genügend Millionäre (und Freunde der italienischen Oper), die sich Schuhe von Silvano Lattanzi leisten können.

Ganz oben im Olymp der italienischen Schuhmacherei ist wohl der römische Schuhmacher Gatto, über den der König Alfonso XIII von Spanien gesagt haben soll, dass es in Rom zwei Wunder gebe: die Sixtinische Kapelle und den Schuhmacher Gatto. Bei Gatto (hier ein Blick auf die Produktion) hat mal ein Schuhmacher namens Giaconeli Mateotti gearbeitet, den der alte Angelo Gatto noch angelernt hat. Giaconeli Mateotti gibt es nicht wirklich, er ist eine Romanfigur in ➱Henning Mankels Roman Die italienischen Schuhe. Das dritte Kapitel ist ganz rührend (Sie können es ➱hier lesen).

Wenn Alfonso XIII Gatto über den grünen Klee lobt, hat er natürlich Daniele Marini vergessen, bei dem sich ➱Marcello Maistroianni und Fellini die Schuhe machen ließen. Es ist bei italienischen Schuhmachern (ebenso wie bei den Engländern) immer gut, wenn man Könige, Herzöge und Filmschauspieler zu seinen Kunden zählen kann. Das hier ist ein Schuh von Marini, wir wollen mal hoffen, dass es ein CITES Zertifikat dazu gibt. Die Italiener lieben so etwas ja, aber für norddeutsches Schmuddelwetter ist das sicher nichts.

Nicht für jedermann ist Rom der Olymp der Schuhmacherei. Brioni schrieb einst Roman Style auf seine Etiketten, und wir wissen, dass der neapolische Stil von Kiton ein Jackett ganz anders aussehen lässt. So gibt es auch regionale Stilunterschiede bei den Schuhen, und für manche liegt der Olymp nicht in Rom, sondern in Florenz (hier ein Blick auf die Produkte von Roberto Ugolini). Also da, wo Stefano Bemer wirkte, wo Calogero Mannina seine Werkstatt hat und wo die Fabrik von Sutor Mantellassi ist.

Das ist ein Hersteller, der vor fünf Jahren in die Schlagzeilen geriet, weil die Lario Gruppe (zu der Sutor Mantellassi und Lorenzo Banfi gehörten) von der koreanischen Investoren Gruppe E. Land gekauft wurde. Wie sich das auf die Qualität der Schuhe von Sutor Mantellassi auswirkt, weiß ich nicht. Dr Sevan Minasian hat auf seiner wirklich schönen ➱Seite eine Menge über die Qualität dieser Firma zu sagen, allerdings sind das wohl ältere Modelle einer besseren Qualitätsstufe. Viele italienische Firmen (die auch die Schuhe für andere machen, wie zum Beispiel Campanile für Canali) bieten sehr unterschiedliche Qualitäten an, von einer Wald- und Wiesenqualität bis zur erstklassigen Handarbeit. Bei Gatto, Lattanzi und Daniele Marini würde man nicht auf diese Idee kommen.

Sutor Mantellassi hat sich für das relaunch der Dienste von Scott Schuman versichert. Den kennt man von dem Blog ➱The Sartorialist, aber er hat natürlich wenig Ahnung von der Schuhherstellung. Man kann das aber sicher werbemäßig gut verkaufen, da der größte Teil der Produktion von Sutor Mantellassi in die USA geht. Diese junge Frau braucht keine Werbemaßnahmen und keinen koreanischen Investor, sie ist wahrscheinlich im Augenblick die berühmteste ➱Schuhmacherin von Florenz. Sie heißt Saskia Wittmer und kommt aus Deutschland.

Man hat das Gefühl, dass alle italienischen Schuhfirmen auf i enden, und die Italiener vermitteln einem seit jeher den Glauben, dass sie modisch die Nase vorn haben. Im Augenblick scheint diese Art Schuh in Italien ganz aktuell zu sein. Den wholecut rechts würde ich ja noch nehmen, wenn diese eckige Sohlenform nicht wäre, die nichts von dem suspicious square toe von ➱George Cleverleys chisel toe Leisten hat.

Und dann noch diese Zopfnaht, die hat mich schon vor vierzig Jahren bei meinen ➱Dinkelacker Schuhen gestört. Die Italiener nennen das Ganze norvegese, und dahinter verbirgt sich meist nichts als der zwiegenähte Schuh (häufig sind diese Nähte aber auch nur Zierstepperei). Wenn man so etwa haben will, dann sollte man sich bei Schuh Bertl einen Haferlschuh kaufen, das ist ehrlicher.

Der Prototyp des italienischen Schuhs sieht ungefähr so aus wie dieser hier, für so etwas sind die Südländer berühmt. Es ist dieser typische Zuhälter Schuh, der der italienischen Schuhmode ihren leicht anrüchigen Beigeschmack gibt. Man assoziiert den Schuh mit Leuten wie Willy de Ville, der 1985 ➱Italian Shoes sang. Trägt man einen englischen Schuh, wird man für einen Gentleman gehalten, mit diesem Schuh kann einem das nicht passieren. Eine Firma namens Chelsy stellt sie her, man kann sie bei Amazon und ebay kaufen. Chelsy soll ein wenig nach Chelsea klingen, und es gibt es Vielzahl von italienischen Firmen, die so tun, als seien sie Engländer: W. Gibbs, Hobson's, Lobb's. Und dann gibt es noch Hersteller, die mit ihren Marken das KuK Reich assoziieren möchten, doch Lendvay & Schwarcz (seit 1878 Wien-Budapest-Triest) sind ebenso wenig Wiener wie Feinstes Schuhwerk K&K Platinum - Nach Wiener Tradition. Ein Markenname der ➱Salamander gehört, die Schuhe werden in Italien gefertigt.

Bei Michael Rieckhof gibt es keine Italiener. Da gibt es Crockett & Jones, ➱Kuckelkorn, Ambiorix, Greve und Handmacher. Aber bei Kelly, der den Laden ➱Kelly's in den siebziger Jahren gründete, gab es massenhaft Italiener. Magli, Moreschi, Gravati, Fratelli Rossetti und wie sie alle hießen, das war ja durchaus Qualität, und dafür stehen diese Firmennamen heute immer noch. Manche Marken sind offensichtlich verschwunden, wie Verbano (Calzature di Lusso), von denen ich einige sehr schöne Schuhe hatte.

Kelly fand immer neue Marken und interessante Sachen. Er hieß natürlich nicht Kelly, das war nur sein Spitzname. Weil er so gut tanzen konnte wie Gene Kelly. Seine Tochter hat ihn mal in London ins Annabel's geschleppt, da hat er den ganzen Abend mit Prinzessin Diana getanzt. Die war ja sowas von glücklich, dass da mal jemand war, der richtig tanzen konnte und ihr nicht immer auf die Füße trat. Hat er mir erzählt, er war ein großer Geschichtenerzähler. Nicht alle seine Geschichten waren wahr, aber ich glaube, dass diese stimmt. Dies ist natürlich nicht Kelly, das ist ➱Michael Caine mit seiner Gattin im Annabel's.

In den siebziger Jahren eroberten die Italiener auch London. Man sollte meinen, Schuhe nach London zu bringen, sei so etwas, wie Eulen nach Athen zu tragen. Aber dies waren andere Schuhe als die, die man bei den altehrwürdigen Londoner Schuhmachern kaufen konnte. Zum Beispiel nahm ein bürgerlich-seriöser, aber ein wenig schlafmütziger Laden wie Russell & Bromley Italiener wie Bruno Magli und Moreschi (oder deren Zweitmarke Stemar) ins Angebot und war plötzlich angesagt. Die Vorhut ist wahrscheinlich Kurt Geiger gewesen (der den größten Teil seiner Schuhe aus Italien bezog), der in den ➱Swinging Sixties nach London gekommen war. Und der 2013 mit diesem Modell Belgravia sein fünfzigjähriges Jubiläum feierte (jetzt gibt es hier doch noch einige Damenschuhe zu sehen).

Im stilbildenden Sloane Ranger Handbook wird Russell & Bromley auch erwähnt. Und vor allem Gucci: Guccis. Eternal because perfect. How clever of Mr. Gucci to provide decorated shoes for gentlemen. The ones with the red and green stripe look regimental, and they all look equine because of the snaffle. Henry [der typische Sloane Ranger] would also accept reasonable look-alikes from Russell & Bromley. (Low-profile Sloanes wear black mocassins with some discreet metal across the instep.) Sie können auf diesem Bild den typischen Sloane Ranger mit Gucci loafers sehen.

Ein Problem, das man mit italienischen Schuhen haben kann, sind die Größen. Man hat sich daran gewöhnt, dass amerikanische Größen nicht europäischen Größen entsprechen und auch zwischen Engländern und Kontinentaleuropäern gibt es leichte Unterschiede. Bei manchen Italienern sind Größen Glückssache (man kennt das aus der Herrenkonfektion). Kaufen Sie sich nie ein Paar Santoni (die in den letzten Jahren angesagt sind), wenn Sie sie nicht vorher anprobiert haben! Dieser hier ist eine Nummer kleiner als die Schuhe, die ich sonst trage, passt aber perfekt. Er ist auch der Linie fatto a mano, die richtig gut ist, aber bei Santoni nur zwanzig Prozent der Produktion ausmacht.

Mein Flirt mit italienischen Schuhen datiert aus den siebziger Jahren. Ich hatte mal ein Paar toller schwarzer Chelsea Boots von Lario. Aus der Zeit der ➱Chelsea Boots ist noch einer von Dario Dodoni übriggeblieben. Der mal einen italienischen Mode Oscar bekommen hat, steht auf jeden Fall auf dem Etikett. Mein einziger italienischer Schuh (neben dem Ferragamo Tramezza) ist jetzt ein brauner Derby von Stefano Branchini, wunderbares Leder, das mit jedem Putzen sein Aussehen verändert. Patina und Antik Finish sind im Augenblick ein Hit. Da werden aus Schuhen kleine ➱Kunstwerke. Wenn Sie sich nicht selbst mit unterschiedlichen ➱Schuhcremes an die Sache trauen (oder ihren Diener wie ➱Beau Brummell die Schuhe mit Champagner putzen lassen), dann sollten Sie einmal Paulus Bolten kontaktieren. Oder sich dieses Do it Yourself ➱Video anschauen.

Der Stefano Branchini Schuh hat einen schönen, schmalen Leisten (das kann man hier sehen). Der Leisten ist allerdings ein Problem, nicht nur bei Branchini: vielen Käufern werden italienische Schuhe mit solchem Leisten (mit einem extrem schmalen fiddleback) nicht passen. Man kann versuchen, das passend zu machen, aber Sie wollen ja nicht, dass die Tauben Rucke di guh, Blut ist im Schuh rufen.

Und da wir bei Problemen sind, möchte ich doch mal eben zwei Sätze aus dem Buch Eisenherzbriefe des Dichters Gerhard Falkner zitieren. Der schrieb 1986: Neue deutsche Literatur zu lesen ist der gleiche Unfug, wie italienische Schuhe zu kaufen. Das hält ja alles bloß ein paar Monate. Den Ruf haben sie nun mal. Weil viel geklebt ist, bestenfalls im Blake Rapid Verfahren genäht. Meine Stefano Branchini wohl nicht, da schwört mir die Firma, dass das Handarbeit ist. Das handmade oder fatte a mano schreiben sie ja alle drauf.

So sehr mir das manchmal gefällt, solch einen scharfen Hecht (wie mein Schuhmacher sich ausdrückte) zu tragen, manchmal komme ich mir damit ein wenig unseriös vor. Und dann sind wieder mal für ein paar Tage die Engländer, Wiener oder Budapester dran. Ich hatte, als ich diesen Post schrieb, keinerlei Bedenken, nebenbei mal eben bei ebay auf einen Schuh zu bieten. Keinen Italiener. Eine Marke, von der ich noch nie gehört hatte. Vintage, aber im erstklassigen Zustand (im oberen Absatz). Und englisch! Hat 27 Euro gekostet, dagegen war der handgenähte Haderer mit 29 Euro vor Wochen richtig teuer. Sieht gegenüber den rattenscharfen Italienern ein wenig rustikal aus, ist aber von traumhafter Qualität. Wenn ich mal einen Silvano Lattanzi für 27 oder 29 Euro sehe, würde ich den auch kaufen.

Vielleicht kann man diesen Schuh auch zu den Italienern zählen, obgleich er aus Budapest kommt. Dann besäße ich noch einen dritten  Italiener. Sieht sehr nach dem chisel toe von Roberto Ugolini aus, und dieser Eindruck trügt nicht. Denn den U-Leisten von Laszlo Vass hat Ugolini entworfen (das U steht deshalb auch für Ugolini). Die Zusammenarbeit mit Ugolini war etwas schwierig, der Florentiner war der Meinung, dass die Schuster von Vass nicht das Niveau seiner Schuhmacher erreichten. Das hörte man in Budapest nicht so gerne.

Laszlo Vass war nicht ganz allein auf diese Idee gekommen, seine gemütlichen Peter-Leisten gegen diesen Leisten zu tauschen, für den man beinahe einen Waffenschein braucht. Dahinter standen die Japaner. Mit viel japanischem Geld: As a result of our cooperation with Roberto Ugolini, a shoe craftsman from Florence, and based on new designer impulses and on demands of our customers, we have created a new, Italian style range of lasts and model collection within our existing classic models and last types. The foundation of the cooperation was provided by an order received from the Isetan company in Tokyo, which intended to expand its shoe collection with a high-quality product that combines the shoe craftsman tradition – which is gradually fading away all over the world – with a dynamic Italian design. To their honour, we have named our new ‘Japanese’ lasts ‘U – Ugolini’ for square toe shoes, and ‘F – Firenze’ for round toe shoes. Ich nehme mal an, dass die Japaner diese in der Zusammenarbeit als Roberto Ugolini (made by Vass) verticken. Es ist viel Hype im Internet um dieses neue Modell. Mein ältester Schuh von Mack James hat übrigens genau den gleichen Leisten, und die brauchten damals dafür keinen Roberto Ugolini.


Es gibt ➱hier eine Liste, die einen recht guten Überblick über die italienischen Firmen bietet. Urban Buchmann stellt auf seiner ➱Liste auch zahlreiche Italiener vor. Und der Blog ➱Gentleman's Gazette hat viele italienische Schuhmacher an ihrem Arbeitsplatz besucht. Die schöne Seite ➱Parisian Gentleman weiß auch schon, was im nächsten Jahr auf die Herren zukommt. In diesem Blog steht eine ganze Menge zum Thema Schuhe, wenn Sie zu dem Post ➱Schuhe aus Portugal gehen, finden Sie da Links zu all den Posts. Und natürlich ist das hier nicht vollständig. Giorgione (vom Blog gehölzbalkon) bemängelt, dass hier Bontoni fehlt. Stimmt nicht ganz, weil die Firma im fünften Absatz mit Link erwähnt wird. Wenn Sie einen Blick auf deren Schuhe werfen wollen, dann gehen Sie doch einmal auf diese Seite.


Noch mehr Schuhe in den Posts: ➱Cliff Roberts, Artisan, ➱Wiener Leisten, ➱Englische Herrenschuhe (Trickers), ➱Englische Herrenschuhe (London)Englische Herrenschuhe (Alfred Sargent), ➱Wedding Night, ➱Schuhe aus Portugal, ➱Italienische Herrenschuhe, ➱Dinkelacker, ➱Kuckelkorn, ➱Kiton/Chiton, ➱wayward cows, ➱Lord Byrons Schuhe, ➱Militärisches Schuhwerk, ➱Wildlederschuhe, ➱Chelsea Boots, ➱Wirkungen, ➱Zeit der Unschuld, ➱Gamaschen, ➱Christian Rohlfs, ➱Laurence Harvey, ➱Blazer, ➱Morning Coat, ➱Fernandel, ➱Léo Malet, ➱Schuhcreme