Sonntag, 30. September 2018

Sommerende


Wir haben den Monat September mit etwas Lyrischem begonnen, und ich möchte ihn auch mit einem Gedicht schließen. Mir ist ein wenig nach Sommerende, da brauche ich nur aus dem Fenster zu schauen. Ich könnte jetzt Rilkes Gedicht Herbsttag zitieren, aber das steht mit anderen Herbstgedichten in dem Post Herbst. Da findet sich auch Wilhelm Lehmanns schönes Gedicht Fahrt über den Plöner See. Das Bild hier aus dem Jahre 1907 ist von dem interessanten Maler Gustav Kampmann, der am 30. September 1859 geboren wurde.

Er hat wunderbare plakativ großflächige Landschaftsbilder gemalt, die nach hundert Jahren noch modern wirken. Der junge Theodor Heuss schreibt 1909 über Kampmann: daß eben diese Intensität, mit der er das Momentane, das rasch Vorübergehende oder den schwer sagbaren feinen “Stimmungsgehalt“ der Atmosphäre ergreift und zu einer runden, bildhaften Darstellung bringt, in der modernen deutschen Landschaftskunst ihm dauernd einen hervorragenden Platz sichern wird. Ich habe hier zu dem Maler noch eine sehr interessante Seite.

Wenn ich nicht unbedingt ein Gedicht hätte präsentieren wollen, hätte ich heute über ihn schreiben können. Vielleicht kommt das noch einmal.

Heute möchte ich ein Gedicht bringen, das noch nicht in diesem Blog stand. Es ist Erich Kästners Gedicht Der September:

Das ist ein Abschied mit Standarten
aus Pflaumenblau und Apfelgrün.
Goldlack und Astern flaggt der Garten,
und tausend Königskerzen glühn.

Das ist ein Abschied mit Posaunen,
mit Erntedank und Bauernball.
Kuhglockenläutend ziehn die braunen
und bunten Herden in den Stall.

Das ist ein Abschied mit Gerüchen
aus einer fast vergessenen Welt.
Mus und Gelee kocht in den Küchen.
Kartoffelfeuer qualmt im Feld.

Das ist ein Abschied mit Getümmel,
mit Huhn am Spieß und Bier im Krug.
Luftschaukeln möchten in den Himmel.
Doch sind sie wohl nicht fromm genug.

Die Stare gehen auf die Reise.
Altweibersommer weht im Wind.
Das ist ein Abschied laut und leise.
Die Karussells drehn sich im Kreise.
Und was vorüber schien, beginnt.

Freitag, 28. September 2018

eifohn


Ich besitze zum ersten Mal in meinem Leben ein Mobiltelephon. Brauche ich nicht wirklich, möchte ich auch nur für Notfälle haben, falls Vodafone mal wieder spinnt. Kam letztens häufiger vor. Ich wollte irgendetwas Preiswertes haben, etwas, mit dem man nur telephonieren kann. Ich fragte Matthias, der mir damals meine Vodafone Easy Box eingerichtet hatte. Er empfahl mir, bei ebay ein altes Nokia zu kaufen. Die waren ja mal Marktführer, heute wird der Markt von anderen beherrscht. Volker bot mir sein altes Nokia an, musste aber feststellen, das das schon richtig tot war. Ich erkundigte mich bei Omnicron, wo ich meinen großen Bildschirm gekauft habe und alle zwei Jahre eine neue Maus kaufe, nach einfachen Telephonen. Erfuhr, dass es Rentnertelephone gab. Große Tasten, nur telephonieren, sonst nix. Das wäre eine Möglichkeit.

Aber dann bekam ich von einer ehemaligen Nachbarin den Namen von Arne Herbst, der einen Service für alle Apfelsorten anbietet. Sie hatte bei ihm preisgünstig ein gebrauchtes IPhone gekauft und war sehr damit zufrieden. Der Service für alle Apfelsorten ist bei mir um die Ecke, ich rief da an und erkundigte mich nach dem billigsten Iphone. Wenn schon, denn schon. Warum nicht gleich ein Statussymbol? Dieser Arne Herbst ist riesig nett und brachte mir wenige Tage später ein schmales schwarzes Apple Produkt ins Haus, ein Jahr Garantie. Mit Sim Card und Vertrag. Ein Billigvertrag: 100 Minuten im Monat für zwei Euro. Mehr brauche nicht. Die schwarze Schönheit erwies sich kapazitätsmässig als etwa schwach auf der Brust, Arne Herbst brachte mir ein anderes, ein verbessertes Modell.

Mit dem kam ich gut zurecht, ein Kapazitätswunder ist das Ding aber auch nicht. Herr Herbst kommt nächste Woche vorbei und guckt sich das mal an. Tauscht den Akku aus oder so etwas. Service wird bei ihm groß geschrieben. Ich wäre wahrscheinlich mit einem alten Nokia oder einem Rentnertelephon auch glücklich gewesen, aber jetzt habe ich dieses kleine schwarze Teil, das nach Statistiken das Auto als Statussymbol längst überholt hat. Es ist ja eigentlich kein Telephon, es ist ein Computer, mit dem man zufälligerweise auch telephonieren kann. Und das seine Besitzer abhängig macht, dass sie nichts mehr von der wirklichen Welt sehen, sondern immer auf das Display glotzen müssen. Und wischen und tippen, wischen und tippen.

Mehrere Stunden am Tag verbringt ein Smartphone Nutzer vor seinem Handy. Man hat für die neue Gattung Mensch schon ein neues Wort erfunden: Smombies. Das ist ein sogenanntes Portmanteau Wort (so wie Wort Brexit, das aus Britain und Exit zusammengesetzt wird.) Das Sm kommt vom Smartphone, das ombies von den Zombies. Das ist es, dahin wird die Menschheit kommen, Smartphone Zombies.

Das Telephon kann süchtig machen: Please, God, let him telephone me now. Dear God, let him call me now. I won't ask anything else of You, truly I won't. It isn't very much to ask. It would be so little to You, God, such a little, little thing. Only let him telephone now. Please, God. Please, please, please. Das ist der Anfang von Dorothy Parkers klassischer Geschichte A Telephone Call. Ich habe die deshalb zitiert, damit dieser Post auf ein etwas höheres Niveau kommt. Literatur und Telephone wären auch ein schönes Thema. In Japan hat man schon den Telephonromane erfunden, dem Unsinn sind keine Grenzen gesetzt.

Natürlich kann man auch positive Dinge über Telephone sagen, ich hätte da zum Schluß eine kleine lyrische Lobeshymne auf das Telephon von Edward Field:

My happiness depends on an electric appliance
And I do not mind giving it so much credit
With life in this city being what it is
Each person separated from friends
By a tangle of subways and buses
Yes my telephone is my joy
It tells me that I am in the world and wanted
It rings and I am alerted to love or gossip
I go comb my hair which begins to sparkle
Without it I was like a bear in a cave
Drowsing through a shadowy winter
It rings and spring has come
I stretch and amble out into the sunshine
Hungry again as I pick up the receiver
For the human voice and the good news of friends

Dienstag, 25. September 2018

Lügenpresse


Nachdem der englische General Robert Napier die Bergfestung von Magdala erobert hatte, setzt eine beispiellose Plünderung ein. Gerhard Rohlfs, der als Beobachter bei den Truppen Napiers ist, hat das alles beschrieben. Er hat auch einem betrunkenen englischen Soldaten die goldene Kaiserkrone für zwei Buddeln Rum abgekauft. Er war sich nicht so sicher, ob dies wirklich die Krone des Kaisers Theodor von Abessinien war, schickt das Beutestück aber an den preußischen König. Der sie den Engländern zurückgibt. So korrekt sind die Deutschen. Das ist der Tenor eines Presseberichts über den Verbleib der Krone, mit dem ausländische Unterstellungen von Unterschlagung zurückgewiesen werden. Die vor allem  aus Frankreich kommen. An dieser Stelle gebraucht die Zeitung das Wort Lügenpresse. Gemeint sind damit die Franzosen. Wir sind im Jahre 1868, und mich erstaunte dieser frühe Gebrauch des Wortes, das 2014 das Unwort des Jahres war.

Ich hatte nie über die Geschichte des heute inflationär gebrauchten Wortes nachgedacht, musste aber nach der Lektüre des recht guten Wikipedia Artikels feststellen, dass das Wort schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Gebrauch ist, und vor allem während der 1848er Revolution (als auch die Zensur aufgehoben wird) Konjunktur hat. Nun begann ich zu suchen: wann fängt das Ganze an? Ich fand in einem katholischen Blatt namens Herold des Glaubens aus dem Jahre 1839 den vielleicht frühesten Beleg, allerdings wird die Lügenpresse hier noch in Anführungszeichen gesetzt. 180 Jahre Lügenpresse, 180 Jahre Verteufelung des politischen Gegners. Wir lügen alle betitelte Margret Boveri ihr Buch über den Journalismus im Dritten Reich. Damals hatte das Wort Lügenpresse seine zweite Konjunktur, heute dank AfD und Pegida wieder. Wer heute Lügenpresse brüllt, hatte früher wahrscheinlich ein Abo des Neuen Deutschland. Die Verluderung der Sitten nimmt zu. Können wir stolz darauf sein?

Gerhard Rohlfs war sich 1868 darüber im klaren, dass er wohl nicht die echte goldene Krone an sich genommen hatte. Er spricht davon, dass die wirkliche goldene Königskrone, Säbel, Schwert von Sir Robert Napier fürs englische Gouvernement und mit vollstem Rechte in Beschlag genommen wurde. England hat eine Krone im 20. Jahrhundert Haile Selassie bei einem Staatsbesuch zurückgegeben. Allerdings nur eine silberne, die goldene ist weiterhin im Victoria und Albert Museum. Den Rest der Beutekunst von der Plünderung von Magdala hat man nicht zurückerstattet. Dafür kämpft heute die Organisation Afromet. Nichts auf der Welt kommt wirklich in Ordnung.

Samstag, 22. September 2018

Gerhard Rohlfs


Drei der deutschen Afrikareisenden des 19. Jahrhunderts, Gerhard Rohlfs, Heinrich Vogelsang und Adolf Lüderitz, kamen aus der Hansestadt Bremen. Und wir haben da ein Kolonialdenkmal, das jetzt Antikolonialdenkmal heißt (lesen Sie mehr in dem Post Afrika). Das Bremer Kolonialdenkmal ist ein stilisierter Elefant aus Klinkern. Wunderbar, um in der Nacht da drauf zu klettern, die Klinker geben einen guten Griff für die Schuhe. Man verbindet einen Bummel über den Bremer Freimarkt immer mit der Mutprobe, dem nächtlichen Erklettern des Elefanten, wofür ist der sonst da? Die Polizei guckt da schon gar nicht mehr hin. Mit dem Bau des Elefanten, dem sogenannten Reichskolonialehrendenkmal, wollte man 1931 symbolisch an den Handel mit Afrika im 19. Jahrhundert anknüpfen, in der Hoffnung, dass die alten Verbindungen in den 1920er Jahren neu belebt werden könnten. 1989 hat man das steinerne Tier zum Antikolonialdenkmal umgewidmet. So einfach trennt man sich von der Vergangenheit. Beim Bremer Kultursenator gibt es jetzt eine etwas magere Seite, die Materialien zu Bremens Rolle im Kolonialismus anbietet. Man geht vorsichtig mit der dunken Vergangenheit um, die Aufschrift Colonialwaren an Lebensmittelgeschäften gibt es auch nicht mehr.

Mit dem Kolonialismus hat Gerhard Rohlfs, ebenso wie Gustav Nachtigal, eigentlich nicht so viel am Hut, er gründet keine Kolonie wie Lüderitz, mordet sich nicht durch Afrika wie Dr Carl Peters, den man auch blutige Hand und Hänge-Peters nennt. Dass Hans Albers in einem Nazi Propagandafilm den Dr Peters verkörperte, gereicht ihm nicht zur Ehre. Rohlfs ist, dass muss man betonen, entschieden gegen Sklaverei und Sklavenhandel, obwohl ihn ein geschenkter Sklave, den er Henry Noël tauft, ständig begleitet.

Rohlfs wird sich für die Afrikapolitik des Bismarckschen Reiches instrumentalisieren lassen, vor allem, wenn er deutscher Generalkonsul in Sansibar ist. Dort steht er aber im ständigen Gegensatz zu Bismarck, der lange an ihm festhält, als andere seine Abberufung forden. Das Amt in Sansibar gibt Rohlfs (hier bei seinem Antrittsbesuch beim Sultan) nach einem halben Jahr auf. Nicht von Haus aus Beamter und von daher mit jenem allen amtlichen Organisationsstrukturen gemäßen Schematismus nicht vertraut, der auch seiner Aufgabe zugrunde lag, nicht dazu zu bewegen, sich den Gepflogenheiten seines - und ebenso des Auswärtigen - Amtes anzupassen, etwa die regelmäßige Berichterstattung strikt einzuhalten, kein geschulter Diplomat und damit innerhalb des exklusiven Diplomatischen Dienstes ein Fremdkörper. Das schreibt ein gewisser Graf von Pfeil, der im übrigen mit einem Mörder wie Dr Carl Peters paktiert.

Bremen wollte für Gerhard Rohlfs ein Denkmal bauen lassen, das ihn auf einem riesigen Kamel zeigen sollte, aber daraus ist, wie aus anderen Plänen, nichts geworden. Erst 1961 haben wir in Vegesack eine moderne Plastik bekommen, eine Kreuzung zwischen Stele und Wegweiser, die im Fährgrund steht. Kann man aber nicht raufklettern. An seinem Geburtshaus ist eine Plakette, eine Gerhard Rohlfs Straße haben wir seit 1910 auch. Ein Gerhard Rohlfs Gymnasium sowieso.

Er wird als Sohn eines Arztes 1831 in Vegesack geboren, und im Gegensatz zu seinen beiden älteren Brüdern, die beide ordentliche Ärzte werden, ist er ein missratenes Kind. Ständige Schulwechsel, keine Matura. Büxt aus in die Armee, um Schleswig-Holstein vor Dänemark zu retten. In der schleswig-holsteinischen Frage, die wir alle nicht verstehen, über die Lord Palmerston gesagt hatte: Only three people... have ever really understood the Schleswig-Holstein business—the Prince Consort, who is dead—a German professor, who has gone mad—and I, who have forgotten all about it.

Rohlfs wird in der Schlacht von Idstedt zum Secondelieutenant befördert, wegen Tapferkeit. Danach ist der Krieg zu Ende, Rohlfs studiert Medizin, wechselt ständig die Universitäten, Heidelberg, Würzburg, Göttingen. Ein lustiges Leben im studentischen Corps der Hannoverana, Alkohol, Spielschulden. Eine Wiederholung, ein Jahrhundert weiter, von A Rake’s Progress. In den Semesterferien scheitert ein Versuch, in der österreichischen Armee unterzukommen. Er desertiert nach kurzer Zeit und geht nach Frankreich. Er wird seine Schwester von Nîmes aus bitten, ihm Geld zu senden. Da bereitet er sich auf ein Examen vor, den Concours für eine militärärztliche Tätigkeit in der Légion êtrangère. Er besteht 1855 den Kurs (der in Deutschland nicht für eine Zulassung als Arzt ausgereicht hätte), wahrscheinlich ist von den wenigen Semestern bei Rudolf Virchow in Würzburg doch etwas hängen geblieben. Er ist jetzt Feldscher in der Armee einer Kolonialmacht in Algerien. Sechs Jahre (oder vielleicht nur drei, die Quellen sind da widersprüchlich) in einer Besatzungsarmee, über diese Zeit wird der spätere Reiseschriftsteller wenig schreiben.

Bis jetzt ist das die Karriere eines Verlierers, in manchem der Karriere des jungen Joseph Conrad ähnlich. Nur bringt der mehr an Intelligenz und Sprachbegabung mit. Niemand würde in der Phase von Conrads Leben, als er Spielschulden hat und einen Selbstmordversuch unternimmt, darauf wetten, dass er Kapitän in der englischen Marine und einer der bedeutendsten englischen Romanciers werden wird. Niemand wird 1861 darauf wetten, dass aus dem gescheiterten stud. med. Gerhard Rohlfs der meistgelesene deutsche Afrikaschriftsteller des 19. Jahrhunderts werden wird.

Wenn wir Rohlfs mit seinem Zeitgenossen Sir Richard Francis Burton vergleichen, werden die intellektuellen Defizite von Rohlfs nur noch deutlicher. Nach der Zeit in der französischen Armee geht er nach Marokko, wird Leibarzt eines Sultans und hätte jetzt eigentlich ein Auskommen. Sein Bruder reist ihm nach und versucht, ihn zur Heimkehr zu überreden. Vergeblich, Rohlfs will weiter in das Herz des dunklen Kontinents. Seine erste Reise (die sein älterer Bruder Hermann finanziert hat) endet in einem Desaster, er entkommt nur knapp dem Tod. Sein zerschossener und zerhackter Arm wird von einheimischen Naturheilkundlern in weichen Ton gelegt und heilt wieder aus (die linke Hand wird gelähmt bleiben). Diese medizinische Wundertat machte den Hauptteil des Gerhard Rohlfs Vortrags in der siebten Klasse meines Gymnasiums aus. Wenn man vierzehn ist, wird man von solchen Geschichten beeindruckt.

Der Reiz des Neuen, das Lockende, völlig unbekannte Gegenden durchziehen zu können, fremde Völker und Sitten, ihre Sprache und Gebräuche kennen zu lernen, ein Trieb zu Abenteuern, ein Hang, Gefahren zu trotzen: Alles dies bewog mich, das Wagnis auszuführen, schrieb Rohlfs. Jeder andere würde nach diesen Erlebnissen nach Vegesack zurückkehren. Aber nicht Gerhard Rohlfs, achtzehn Jahre seines Lebens wird er in Afrika verbringen, und diese Jahre zählen doppelt, wird er sagen. Er wird der erste sein, der die Sahara durchquert, von Tripolis bis Lagos, von Tanger bis Assuan. Er wird der erste und letzte sein, der ein Afrika kennen lernt, das vor ihm noch kein Europäer gesehen hat, das noch nicht von den Kolonialmächten aufgeteilt ist. Seine Expeditionen werden im Laufe der Zeit immer besser ausgestattet sein, werden durch das Mitnehmen von hochkarätigen Wissenschaftlern auch wissenschaftlichen Ansprüchen genügen. Am Anfang hat er nur sein in der Legion geschultes Gespür für Macht- und Sozialstrukturen, seine Beobachtungsgabe (die noch nicht die geschulte Beobachtung, die thick descripion, eines Clifford Geertz ist) und seinen Bleistift, mit dem er alles aufschreibt.

Sein Bruder wird seine ersten Berichte und Tagebücher nach Deutschland bringen und für die Veröffentlichung sorgen. Glücklicherweise gerät alles in die Hände von August Petermann in Gotha, Deutschlands berühmtestem Kartographen. Der wird aus Rohlfs kryptischen Aufzeichnungen ein neues Bild der Sahara konstruieren, eines, in dem weniger weiße Flecken auf der Karte sind. Er wird auch behutsam alle Texte edieren, ergänzen, interpolieren, ihnen einen wissenschaftlichen Touch geben. Gerhard Rohlfs wäre nichts, hätte es August Petermann nicht gegeben. Wenn Rohlfs nach Jahren in Afrika zum ersten Mal wieder nach Vegesack zurückkehrt, wird er nicht mehr ein Aussteiger, ein Herumtreiber, das Sorgenkind der Familie sein, er ist jetzt berühmt. Man wird seinen Namen in einem Atemzug mit Hornemann und Heinrich Barth (den er inzwischen gelesen und kennen gelernt hat) nennen. In einem Atemzug mit solchen Namen wie Mungo Park und David Livingstone. Beinahe alle seine Schriften sind heute noch erhältlich. Von seinem Hauptwerk Quer durch Afrika 1865-1867 gibt es sogar ein Audiobook, gelesen von Hans-Peter Hallwachs (der seine Karriere einst als Schauspieler bei Zadek in Bremen begann).

Quer durch Afrika liest sich noch heute gut. Es hat nicht die literarische und moralische Dimension von Joseph Conrads Heart of Darkness, aber es zeigt einen wachen Geist, einen neugierigen und erstaunlicherweise in dieser Zeit unvoreingenommenen Beobachter. Von Kiplings white man’s burden und von Carl Peters’ Rassenideologiewahn ist hier wenig zu spüren. Es ist auch ein Zeugnis einer gewissen Arglosigkeit und Naivität, die ihn am Ende seines Lebens den Massenmörder Leopold II von Belgien als einen hochherzigen Menschenfreund sehen lässt. Conrad hat in Heart of Darkness über den Genozid in Belgisch-Kongo anders geurteilt, die letzten Worte von Kurtz sind: the horror, the horror. Mark Twain wird in King Leopold’s Soliloquy schärfere, bösere Worte finden. Die zweite Auflage (price 25 cents) ziert ein Kreuz und ein Schlachtermesser

Wenn man Rainer-K. Langners etwas verworrene Mixtur aus fabulierendem Roman und Rohlfschen Zitaten, Das Geheimnis der großen Wüste, außer acht lässt, dann bleibt das wohl beste Werk über den Afrikareisenden das kleine Buch von Wolfgang Genschorek, Im Alleingang durch die Wüste: Das Forscherleben des Gerhard Rohlfs ist 1982 bei Brockhaus in Leipzig in der Reihe Pioniere der Menschheit erschienen. Es setzt Rohlfs in die politischen Verhältnisse seiner Zeit, spart nicht mit Kritik. Denkt aber nicht daran, wie Genschoreks DDR-Historikerkollegen das mit Gustav Nachtigal tun, ihn in die Nähe zu Carl Peters zu rücken.

Dies alles hört man im Vegesacker Heimatmuseum damals nicht, hier liegen der Nachlass von Gerhard Rohlfs und alles, was er an Denkwürdigem aus Afrika mitgebracht hat. Eine Flagge, die die Kaiserin von Äthiopien für ihn bestickt hat (ich weiß nicht, ob diese Geschichte wahr ist). Von dem ersten äthiopischen Abenteuer, als Rohlfs Beobachter in der englischen Armee von Sir Robert Cornelis Napier ist, ist nicht die Rede. General Napier wird nach der blutigen Erstürmung von Magdala zum Baron of Magdala ernannt, der Kaiser Theodor II begeht Selbstmord. Rohlfs kauft einem betrunkenen englischen Soldaten die goldene Kaiserkrone für zwei Buddeln Rum ab. Zwischen Vegesack und dem dunkelsten Afrika liegt die halbe Welt, aber Rohlfs wird seinem Heimatort immer verbunden bleiben. Vegesack ihm auch, der Marschendichter Hermann Allmers wird dafür sorgen, dass er ein Paar Walkiefer erhält, die er vor seinem Haus in Weimar aufstellt. Das Grab des doctor honoris causae, Hofrats und ehemaligen Generalkonsuls von Sansibar Gerhard Rohlfs ist auf dem Vegesacker Friedhof.

Lesen Sie auch: Emily RueteAfrika, Ein Platz an der Sonne

Dienstag, 18. September 2018

Theater


Michael Caine hat in seiner Autobiographie What’s it all About? gesagt, dass man das wird, wovor man am meisten Angst hat. Er ist Schauspieler geworden. Ich habe keine Angst vor der Bühne, ich werde auch kein Schauspieler. Ich habe keine theatralische Sendung wie Wilhelm Meister oder Anton Reiser. Meine Bühne als Schauspieler werden für mehrere Jahrzehnte die Quadratmeter vor der Wandtafel in den Hörsälen der Universität sein. Da bin ich eine kleine Rampensau, die Studenten lieben das.

Und doch habe ich ein wenig Erfahrung auf den Brettern, die angeblich die Welt bedeuten. Ich sage nur: Schultheater. Hieß damals noch Laienspiel oder Spielschar, diese Namen sagen schon alles. Hätte ich gar nicht mehr als Kurs nehmen dürfen, weil ich mein Wahlfachkontingent mit Kunsterziehung und Französisch schon voll habe, aber man macht für mich eine Ausnahme. Ich wollte ja auch nur zum Theater, weil ich Bühnenbilder gestalten wollte. Hätte man mich gelassen, aus mir wäre Robert Wilson geworden. Oder Wilfried Minks, der jetzt am Bremer Theater revolutionäre Bühnenbilder gestaltet. So aber werde ich, da die Position des Bühnenbildners schon von einem älteren Schüler besetzt ist, Regieassistent und Souffleur.

Bei Was ihr Wollt habe ich noch die Kulissen unter der Anleitung von Rolf B. ausgemalt, aber das ist frustrierend unter meinen Fähigkeiten. Ich übernehme kleine Nebenrollen: ein Ritter in Der junge Parzival, ein Staatsrat in Leonce und Lena, den Butler Lane in Bunbury or, The Importance of Being Earnest. Henry von Heiselers Stück über den jungen Parzival ist ein ziemlicher Fehlgriff des Leiters der Spielschar, das sage ich ihm auch, so was sollte man nicht aufführen. Poetische Stücke wie Leonce und Lena und Eichendorffs selten gespieltes Stück Die Freier (wo ich der Souffleur bin) sind O.K., von Heiselers Parzival nicht.

Wolframs Parzival lese ich damals zweisprachig, Wolfram von Eschenbachs Original und die neuhochdeutsche Übersetzung. Es steht ja damals noch (heute in den Zeiten von G-8 und Turboabitur undenkbar) Mittelhochdeutsch auf dem Unterrichtsplan. Die poetische Sprache fasziniert mich immer wieder:

Do er die bluotes zäher sach
ûf dem sné (der was al wîz),
dô dâhter ‘wer hât sînen vlîz
gewant an diese varwe clâr?
Cundwier âmûrs, sich mac für wâr
Disiu varwe dir gelîchen.

Blutstropfenszene, werden die Germanisten ungerührt sagen. Für mich ist das einer der Höhepunkte der deutschen Dichtung, Goethe hin oder her. Goethe und ich werden nie Freunde. Jimmy kann einen großen Teil seines Werkes auswendig, da ähnelt er Erich Trunz. Ich mache einen Bogen um Goethe, leider steht er im Lehrplan. Ich muss in der 13. Klasse einen Aufsatz mit dem Thema Deuten Sie die Erscheinungen des Weiblichen in Faust als Symbol! schreiben. Ich würde jetzt ja gerne wissen, was ich damals dazu geschrieben habe. Mich interessieren in dieser Zeit ganz andere Formen des Weiblichen, wie zum Beispiel die mit der Stupsnase und den Sommersprossen.

Aber Wolfram von Eschenbach, das ist wirkliche Literatur. Ich schreibe viele seiner Zeilen in meine eigenen Gedichte hinein (wenn man mit achtzehn nicht dichtet, hat man im Leben etwas falsch gemacht), diese Montagemethode habe ich von Ezra Pound. Karl Lachmanns Wolfram von Eschenbach habe ich immer noch. Vielleicht sollte man an den Gymnasien mal Dieter Kühns Der Parzival des Wolfram von Eschenbach zur Pflichtlektüre machen.

Die Inszenierung von Henry von Heiseler ist auch deshalb ein Flop, weil eine der Hauptrollen an einen Schüler gegangen ist, der furchtbar doof ist und nicht das geringste schauspielerische Talent hat. Er fuchtelt mit seinem Holzschwert herum und sagt seine Verse auf, Know your lines and don't bump into the furniture. Wir haben uns immer ein bisschen für ihn geschämt. Später wird er Staatsminister für Kultur der Bundesrepublik Deutschland. Edu Schaefer, der Spielleiter, heißt gar nicht Eduard, aber in der ganzen Schule heißt er so. Vielleicht hat er mal versucht, die Wahlverwandtschaften im Unterricht lesen zu lassen. Er nimmt die literaturkritischen Anmerkungen seines neuen Regieassistenten durchaus ernst und macht mir eine erstaunliche Offerte.

Ich darf mir jede Woche ein Buch aus der Lehrerbibliothek entleihen. Dafür muss ich jede Woche durch das ganze Lehrerzimmer, zuerst mit klopfendem Herzen, in die Lehrerbibliothek. Hier steht die gesamte deutsche Literatur, Joseph Kürschners Deutsche National-Litteratur. So etwas kaufen Germanistikinstitute und Universitätsbibliotheken. Abschreckend. Eigentlich lese ich jetzt ja Prousts À la recherche du temps perdu, aber daneben arbeite ich mich nun in den nächsten Jahren von Regal zu Regal. Mein Germanistikstudium wird mir nicht mehr viel bieten können. Wer außer mir hat freiwillig Achim von Arnims Die Kronenwächter gelesen? Dr Hans Ludwig Schaefer bin ich heute noch dankbar, das habe ich ihm vor zehn Jahren auch gesagt.

Das Schultheater wird sich entwickeln, „Laienspiel“ wird Jahrzehnte später ein Begriff sein, den man nur noch in Oberammergau gelten lässt, das Schultheater wird professionell werden, ich merke das in den achtziger Jahren, wenn ich anstelle meiner erkrankten Frau die Theater AG eines Kieler Gymnasiums leite. Gerade wurde übrigens in Kiel das 34. Schultheaterfestival (das größte Schultheaterfestival Europas) eröffnet, das zeigt, dass das Schultheater einen ganz anderen Stellenwert bekommen hat. Die Langeweile, die das Schultheater in den 60er Jahren verbreitete, lag damals nicht an unserer Schule, die anderen Schulen machten auch kein anderes Theater. Die stinklangweilige Inszenierung von Aucassin und Nicolette in der PH Bremen habe ich nur deshalb ertragen, weil Ingrid darin mitspielt. Aber sie rettet das Stück auch nicht. Dabei wäre das so einfach, im Theater mit hübschen Frauen hübsche Dinge zu machen. Um Truffaut etwas abzuwandeln. Wir tapsen auf den Bühnen der Aulen vor dem Hintergrund der Orgeln mit schweren Fußfesseln. Die deutsche Bildung und die tiefere Bedeutung machen uns das Gehen schwer. Wenn wir Eichendorffs Die Freier oder Büchnes Leonce und Lena ein wenig gegen den Strich gebürstet hätten, was hätte aus uns werden können?

In Bremen zeigt man uns unter der Ägide von Kurt Hübner, der seinen jungen Wilden wie Zadek und Peter Stein freie Hand lässt, wie Theater aussehen könnte. Meine Eltern mögen diese Sorte Theater nicht, und so komme ich in den Genuss ihrer Abo Karten, von Torquato Tasso bis Hamlet. Man muss ehrlicherweise sagen, dass nicht alles, was Zadek auf die Bühne bringt, großes Theater ist. Manches ist schlicht nur Klamauk. Ein Theatererlebnis sollte ich noch erwähnen, den Besuch einer amerikanischen Aufführung von Arthur Millers Death of a Salesman in einer Kaserne in Bremerhaven. Die Bühne gehört zum Freizeitzentrum der amerikanischen Truppen, und dieses Gebäude bietet neben der Bühne alles, etwas der GI für die Zeit nach dem Dienst braucht. Säle voller Tischtennisplatten und hunderte von fetten, großen Ledersesseln. Die Bühne verzichtet angenehmerweise auf ein Bühnenbild, das ist schon mal nicht schlecht, der Regisseur macht alles mit Licht und Scheinwerfern. Bleibt einem bei Willy Lomans Erinnerungsszenen auch keine andere Wahl. Und dann der ganze Text im Original.

Das Schönste aber ist die Fahrt zurück. Wir sind mit riesigen grünen Armeebussen gekommen, wir werden mit den gleichen Bussen zurückgebracht. Die haben keine Fenster, lediglich oben im Dach gekurvte Glasluken. Es ist schon nach Mitternacht, wir sind voll von Arthur Miller und dem gescheiterten American Dream, und wir sind müde. Aber wenn man sich im Sitz zurücklehnt, dann kann man da oben in den gebogenen Fenstern den blauen Nachthimmel, Wolken, einzelne Sterne, Zweige von großen Bäumen und Telegraphenleitungen sehen. Das ist auch ein schönes Schauspiel. Jetzt ist schon Montagmorgen, in der ersten Stunde wird es französische Grammatik geben, in der zweiten die Declaration of Independence. Die Phrase the pursuit of happiness passt prima zu Willy Loman. Jefferson hat das in letzter Minute geändert, eigentlich war nicht von happiness die Rede, sondern von property. Daran denken Amerikaner ja als erstes. Hätte auch zu Willy Loman gepasst.

Samstag, 15. September 2018

deutscher Gruß


Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs sieht den deutschen Studenten Alwin Belger in Oxford. Da ist er zu einem Ferienkurs an der Universität, er könnte da bleiben, aber er flieht nach Deutschland zurück. Seine abenteuerlichen Erlebnisse auf dieser Flucht lässt er in einer kleinen Schrift drucken. Danach zieht er freiwillig in den Krieg. 1915 schickt man ihn nach Hause, weil er ein Bein verloren hat. Er setzt sein Studium fort, promoviert und wird 1919 Lehrer in meinem Heimatort. Meine Mutter hat ihn noch als Lehrer am Lyceum gehabt, mein Opa kannte ihn als Kollegen.

Neben seiner pädagogischen Tätigkeit macht Belger sich an eine Mammutaufgabe. Er ordnet er die Korrespondenz (ca. 4.500 Briefe) und die Schriften des berühmtesten Sohns der Stadt, Gerhard Rohlfs. Der ist mittlerweile längst vergessen, Belger macht ihn zu einem Vorkämpfer... für das Verständnis des deutschen Volkes für unsere Überseeischen Besitzungen. Schreibt ein Buch nach dem anderen über den Afrikaforscher und leitet das kleine Heimatmuseum. Das wurde in den dreißiger Jahren in dem Gebäude eingerichtet, aus dem man gerade die Freimaurer vertrieben hatte. Sein Hauptwerk Die große Zeit deutscher Afrikaforschung und deutscher Kolonialarbeit wird nicht mehr erscheinen, da er in den letzten Kriegstagen von einem englischen Tiefflieger getroffen wurde. Heute heißt eine Straße in Bremen Nord nach Dr Alwin Belger.

Ein vorbildliches Gelehrtenleben? Oder vielleicht doch nicht? Es gibt da eine Geschichte, die ein ganz anderes Licht auf das Vorstandsmitglied der Deutschen Geographischen Gesellschaft wirft. Ich las letztens in der gerade erschienen Autobiographie einer Frau, die in den dreißiger Jahren das Lyceum in Vegesack besuchte: Immerhin ist Frau Nöll, so ungerecht und machtbewusst sie agiert, keine ausgeprägte Nationalsozialistin. Die Schüler bleiben von wuchtiger Propaganda und extremer Indoktrination halbwegs verschont. Aber diese glühenden Nazis gibt es natürlich auch. Den Erdkundelehrer etwa, einen Dr. Belger, der im Ersten Weltkrieg bei Verdun ein Bein im verloren hat ... Wir Mädchen hatten die Angewohnheit, den Hitlergruß mit einer lässigen Handbewegung zu machen. Als wir Dr. Belger eines Tages in der Einkaufsstraße von Bremen-Vegesack trafen, grüßten wir ihn auf diese Weise. Am nächsten Tag wurden wir auf den Schulhof kommandiert. Zehn Minuten mussten wir vorschriftsmäßig an ihm vorbeimarschieren und immer wieder den Hitlergruß auf korrekte Weise rufen und ausführen.

Man schämt sich für den Dr Belger, einen Mann, der eine gewisse Reputation als Gelehrter hat. Und dann so etwas: Strafexerzieren mit Hitlergruß für junge Mädchen. Es gibt keinen Grund, die Darstellung von Ruth Rupp anzuzweifeln, die sie mit der Hilfe ihres Ghostwriters Sven Rohde verfasst hat. Die 91-jährige Autorin ist in Der Traum von Leben in dir hemmungslos ehrlich. Mit 77 Jahren hat Ruth Rupp ihre Bühnenkarriere begonnen, da hatte Ulrich Tukur (der auch das Vorwort zu ihrer Autobiographie schrieb) sie für seine Inszenierung der Dreigroschenoper auf die Bühne geholt. Die 1,43 große Frau singt heute immer noch in dem Chor Heaven Can Wait auf der Reeperbahn, es ist eine erstaunliche Geschichte. Sie hat eine innere Stärke, die überhaupt nicht laut ist, etwas Kreatürlich-Kraftvolles, ganz einfach das Herz am rechten Fleck. Diese Lebensbildung kannst du auf keiner Universität lernen. Sie hat ein Element von liebenswürdigem anarchistischem Aufbegehren, geistiger Unabhängigkeit und Nonchalance, um dem die Stirn zu bieten, was Konvention ist. Im Alter verhält man sich eigentlich nicht so – andererseits: Warum nicht?! Und sie macht das mit Stil. Diese bewundernswerte Stärke, die haben in ihrem Alter nicht viele Menschen, hat Ulrich Tukur über sie gesagt.

Und im Vorwort zu Der Traum von Leben in dir schreibt Tukur: Dass all das, was sonst unerhört verklingt und verloren geht, nun in eine Form gebracht und erhalten wird, ist ein großes Glück. So erfährt der Leser in den hier vorliegenden Lebenserinnerungen, dass Humor, Herzensbildung und Bescheidenheit die wesentlichen Voraussetzungen sind für ein glückliches, gelungenes, erfülltes Leben. Dem kann man nur zustimmen.

Donnerstag, 13. September 2018

Happy Birthday


Shall I compare thee to a summer’s day?  Thou art more lovely and more temperate.  Rough winds do shake the darling buds of May,  And summer’s lease hath all too short a date.  Sometime too hot the eye of heaven shines,  And often is his gold complexion dimmed;  And every fair from fair sometime declines,  By chance, or nature’s changing course, untrimmed;  But thy eternal summer shall not fade,  Nor lose possession of that fair thou ow’st,  Nor shall death brag thou wand’rest in his shade,  When in eternal lines to Time thou grow’st.  So long as men can breathe, or eyes can see,  So long lives this, and this gives life to thee.

Dienstag, 11. September 2018

Ziggis


Die Zigarette ist hier eine Beigabe, aber das ikonische Photo, das Henri Cartier-Bresson von Albert Camus gemacht hat, wäre nichts ohne die Zigarette. Die Gauloises (oder Gitanes) sind bei Camus, wie bei anderen französischen Intellektuellen, längst zu einem Markenzeichen geworden. André Malraux hat sie auf dem Photo von Gisèle Freund genauso im Mund wie Sartre (wenn der nicht gerade Pfeife raucht) oder andere.

Doch wenn es darum geht, Malraux nach seinem Tode auf einer Briefmarke zu plazieren, dann ist die Zigarette plötzlich verschwunden. Schuld ist hier das Loi Évin von 1991, aber schon vor diesem Gesetz wurde Lucky Luke seiner Ziggi beraubt (der Marlboro Man raucht aber noch). Man muss allerdings sagen, dass die französische Post zuvor Gisèle Freund um Erlaubnis gefragt hat, um die Zigarette aus dem Portrait von Malraux zu entfernen. Denn schließlich handelt es sich hier um ein Bild, das längst zu einem Kunstwerk geworden ist.

Als Gisèle Freund den von ihr bewunderten Malraux 1935 auf ihrem Balkon mit ihrer Leica ratzfatz photographiert hat, hat er gesagt: Es gibt zwei Möglichkeiten, einen Gegenstand zu betrachten. Ein Fotograf kann ein guter Handwerker oder ein guter Künstler sein. Ein Handwerker ist, wer seine Arbeit ordentlich und korrekt ausführt. Wenn er aber mit seinen Fotos Gedanken vermittelt und neue Sehweisen, dann ist er ein Künstler: Das Werk entsteht in seiner Zeit und aus seiner Zeit, aber es wird zum Kunstwerk, wenn es ihr entkommt. Französische Intellektuelle müssen immer, selbst zu einfachen Dingen, etwas sagen.

Wortgewaltig sind die französischen Intellektuellen sowieso. Dieser Herr, der seine Zigarette nicht einmal während der Vorlesung ausmachen kann, hat eine ganz Theorie der Photographie geschrieben. Sie heißt Die helle Kammer und ist sehr, sehr subjektiv. Roland Barthes unterscheidet bei der Bildbetrachtung zwischen punctum und studium. Studium ist der Gesamteindruck, Punctum ist das Detail, an dem wir uns festbeißen. Wie die Zigarette hier, Lucky Luke könnte das nicht besser.

Nicht unter französische Loi Évin Gesetze fällt dieses Photo von Ihrem Lieblingsblogger, das im Sommer vor fünfzig Jahren in Dänemark aufgenommen wurde. Das war dieser Sommer mit Nordsee, Sonne, heißem Dünensand und hübschen Frauen im Bikini, die ständig eingeölt werden mussten. Ich rauche normalerweise keine Zigaretten, aber die Photographin Mone (die auch schöne Photos von Gudrun gemacht hat) hat gesagt, dass ich mir eine Ziggi anstecken soll. Und dann hat sie gewartet, bis ich so cool gucke. Das ist der Augenblick, den Cartier-Bresson den moment décisif genannt hat: Pour moi, la photographie est la reconnaissance simultanée, dans une fraction de seconde, de l'importance d'un événement.

Sonntag, 9. September 2018

Reeperbahn


Ich sah das Photo bei meinem Hinterhof Höker liegen, fragte, ob es noch ein zweites oder drittes gäbe. War aber nicht. Ich zahlte einen Euro und nahm das Photo mit. Es hatte einen Stempel auf der Rückseite: Horst G. Lehmann, Reeperbahn 1. Dieser Horst G. Lehmann ist als Photograph kein Unbekannter, hier hat er 1935 die berühmte Henny Porten abgelichtet. Er hat viel für den Reichs-Rundfunk gearbeitet. Und auch viel für die Eisenbahn. Bei Google Bilder kann man einiges davon sehen. Alle Bilder im Internet tragen den Stempel Getty Images, da weiß ich nicht, ob man die kopieren darf.

Ich mache das mal eben mit einem Photo aus seiner Eisenbahn Serie von 1938. Schöne Schwarz-Weiß Töne, sorgfältig ausgeleuchtet. Lehmann (der manchmal auch als Lehmann-Lomont bezeichnet wird) ist das, was wir einen Bildreporter nennen würden, aber er braucht seine Kunden nicht zu suchen, er hat feste Auftraggeber: Radio (das Deutsche Rundfunk Archiv hat dankenswerterweise alles archiviert), Reichsbahn und die BASF. Nach dem Krieg sieht das etwas anders aus.

In den fünfziger Jahren macht Lehmann etwas Erstaunliches, er steuert die Photos zu zwei Kinderbüchern von Uta von Witzleben bei (Die Autojagd: Eine Geschichte, von der eigentlich keiner erfahren sollte (aus dem dieses Bild stammt) und Der Trecker und die Tiere: Eine sehr merkwürdige Geschichte, die beinahe kein Ende fand). Die beiden schmalen Bände der Uta von Witzleben (die als Huberta Sophie Viola Edelgarde von Witzleben-Normann geboren wurde) kosten heute antiquarisch richtig viel Geld.

Dagegen war das Photo bei meinem Hinterhof Höker richtig billig. Es hat inzwischen Glas und Rahmen bekommen und steht auf einem der beiden T+A Lautsprecher. Wir sind mit diesem 18x24 Zentimeter großen Schwarzweiß Photo offensichtlich in einer Hamburger Bar - wir lassen das unschöne Wort Puff mal eben weg. Eine Wirtin, ein Kellner und vier Damen der öffentlichen Hand (wie Tucholsky sie nannte). Sie gucken ein wenig verkniffen, bis auf die fröhliche dralle Blonde ganz links.

Das Bild ist in dem, was es zeigt, nicht so eindeutig wie dieses Bild von einem unbekannten Photographen. Hier preisen junge Frauen ihren Körper an, etwas anderes erwarten wir nicht von ihnen, wenn man auf der Herbertstraße ist. Straßennamen wie Herbertstraße, Große Freiheit und Reeperbahn sagen uns etwas, selbst, wenn wir noch nie dort waren. Wir kennen Hans Albers' Auf der Reeperbahn nachts um halb eins und Walter Mehrings Chanson (das der blonde Hans auch gesungen hat). Selbst wenn die Prostitution in Hamburg nach dem Zweiten Weltkrieg einen ungeahnten Aufschwung hat, es gibt sie natürlich schon länger, seit 1807 wird sie stillschweigend in Hamburg geduldet. Nicht immer war die Sünde in St Pauli beheimatet, am Gänsemarkt, wo 1912 ein dänischer König seinen Tod findet, gab es so etwas schon lange.

Horst G. Lehmann hat sein Photo auf der Rückseite mit Pressephoto gestempelt. Aber für welche Sorte Presse soll das sein? Vieles bei dem Photo bleibt ein Rätsel, man könnte ganze Romane über die abgebildeten Personen schreiben. Oder Gedichte wie Joachim Ringelnatz:

Ich sag' es ja, Mutter: du hast für dich recht,
Diese Weiber sind durch und durch schlecht
Und gänzlich verseucht und völlig verkommen.
Du hast das von deinen lieben
Eltern und aus Büchern entnommen,
Darin die Wahrheit umschrieben
Ist, weil man sie richtig und scharf
Nicht leicht einsehen kann, noch sie drucken darf.

Mittwoch, 5. September 2018

Spurensuche


Ich hatte den Namen Gustav Dähn schon einmal gelesen, damals als ich versuchte, alles über Peter Gutkinds Vater, den Berliner Architekten Erwin Gutkind, herauszufinden. Dähn wurde in dem Buch als Berliner Architekturphotograph erwähnt, der auch prominente Schauspieler photographiert hat. In dem Post Photographieren habe ich auch einen Photographen namens Gustav Dähn (1899-1963) erwähnt, der 1932 Haus, Photogeschäft und Archiv von historischen Photos an den Vater von Erich Maack verkaufte. Dieser Gustav Dähn ist mit diesem Photo des von Ernst Becker-Sassenhof erbauten Gebäudes des Vegesacker Rudervereins in einem der vier Bände der Blauen Bücher zur modernen Architektur von Walter Müller-Wulckow. Das Photo macht ihn bekannt, macht aber auch Becker-Sassenhof (zu dem es hier einen Post gibt) bekannt.

Es stellte sich jetzt die Frage, ob der Vegesacker Gustav Dähn und der Berliner Gustav Dähn dieselbe Person sind. Ich rief Dieter Maack in Vegesack an. Den habe ich seit Jahrzehnten nicht gesehen, aber als ich ihm sagte, dass ich mit seiner Schwester Annegret sechs Jahre lang in einer Volksschulklasse war, konnte er mich einordnen. Auf meine Frage nach Gustav Dähn wusste er einiges zu sagen, offensichtlich hatten ihm sein Großvater und sein Vater etwas über den Vorbesitzer ihres Geschäfts erzählt. Dähn sei ein hervorragender Photograph gewesen. Und ja, er sei nach dem Verkauf des Photogeschäfts nach Berlin gezogen. Der Historiker Thomas Begerow hat mir freundlicherweise diese Anzeige aus dem Jahre 1932 geschickt, jetzt ist uns alles klar.

Das Adressbuch der Photographie: Industrie, Handel, Gewerbe von 1929 führt Dähn mit dem Wohnsitz Vegesack b. Bremen. Das ist korrekt, Vegesack gehört noch nicht zu Bremen. Aber der junge Dähn will da weg, will nach Berlin, wo er Photos wie dieses vom Weinrestaurant Traube im Hause Gourmenia in Berlin, das im Erdgeschoss einen tropischen Garten besaß, machen kann. Es ist ein Architekturphoto aus dem Jahre 1930, das sich in vielen Büchern zu der Moderne in der Weimarer Republik findet. Der jüdische Architekt Leo Nachtlicht, der es gebaut hat, hat zwei Jahre später keine Arbeitserlaubnis mehr, ein Stolperstein in Berlin erinnert an ihn. 

Gustav Dähn zieht nach Charlottenburg. Das nächste, das wir über ihn erfahren, findet sich im Nachrichtenblatt für das Photographenhandwerk von 1937: Berlin. Photographenmeister Gustav Dähn, Bcrlin-Charlottenburg, wurde mit der Tätigkeit als Gau-Bildberichterstatter der NSDAP für den Gau Groß-Berlin beauftragt und gleichzeitig als Bildberichterstatter dem Gruppenstabe der SA zugewiesen. Muss man das kommentieren?

Dort tritt er allerdings nicht weiter hervor, zwar hat er einmal Goebbels photographiert, aber er hat ein neues Tätigkeitsfeld entdeckt: Theater und Film. Schon 1930, als er das Weinrestaurant Traube photographierte, hat er die Schauspielerin Maria Eis photograhiert (die auch von seiner Hamburger Kollegin Anny Breer portraitiert wurde). Hier hat er 1939 Heinrich George als Götz von Berlichingen im Schiller Theater (in der Inszenierung von Heinrich George) photographiert, und dort hat er auch Paul Wegener in verschiedenen Rollen abgelichtet. Heinrich George wird er noch mehrfach photographieren.

Am berühmtesten ist das Familienbild aus dem Jahre 1940 geworden. Da ist die ganze Familie zusammen. Heinrich George mit seiner Frau Berta und dem kleinen Götz, den wir eines Tages als Schimanski kennen werden. Als Götz George das Leben seines Vaters verfilmte, tauchte dieses Photo in jeder Besprechung des Filmes auf. Man könnte meinen, es sei das einzige Photo, das die Familie in dieser Eintracht zeigt.

Nach dem Krieg hat unser Photograph einen neuen Wohnsitz: Gustav Dähn, früher Berlin, jetzt Marburg, steht 1954 in einem Buch über den Schauspieler Paul Wegener. Dähn macht immer noch Architekturphotos, aber mit der Avantgarde des Bauhauses hat er nichts mehr zu tun: er photographiert das historische Marburg. Vorher lichtet er für di Amerikaner beim Central Collecting Point in Marburg (1945-1946) von den Nazis geraubte Kunstschätze ab. Seite Architekturaufnahmen sind jetzt nichts photographisch Revolutionäres mehr. Schöne Postkartenmotive, mit einer Großbildkamera gemacht. Sie können hier im Bildindex Kunst und Architektur zahlreiche Photos von ihm sehen. Dähn ist jetzt Anfang der 50er Jahre sehr aktiv. Der Katalog vom Marburger Künstlerkreis ist voll mit seinen Aufnahmen, und im Merian zu Marburg im Jahre 1955 ist er auch vertreten.

Bruchstücke eines Photographenlebens. Aus der norddeutschen Kleinstadt ins große Berlin. Ins Schiller Theater und zu den Nazis. Dann in die Universitätsstadt Marburg. Ich wüsste gern mehr über ihn, aber mehr gibt das Internet nicht her. Vielleicht gibt es ja einmal eine Neuentdeckung des Photographen, dann ist dies der Anfang.

Samstag, 1. September 2018

September Song


Der August ist zuende, die Tage werden kürzer. Es gab gestern etwas Besonderes, auf das ich nicht besonders hingewiesen habe: punktgenau zum Frühstück ist dieser Blog vier Millionen mal angeklickt worden. Da durfte ich am Nachmittag einen kleinen Whisky trinken. Lassen Sie uns den September mit Musik beginnen, da bietet sich der September Song von Kurt Weill geradezu an. Walter Huston hat ihn als erster gesungen, aber der konnte eigentlich gar nicht singen. Lotte Lenya macht natürlich mehr daraus, ihre Aufnahme ist ein Klassiker geworden. Sarah Vaughn kann man natürlich immer empfehlen. Es liegt eine gewisse Traurigkeit in den Versen von Maxwell Anderson, der Sommer ist vorbei:

Oh, it's a long, long while from May to December
But the days grow short when you reach September
When the autumn weather turns the leaves to flame
One hasn't got time for the waiting game.

Oh, the days dwindle down to a precious few
September, November
And these few precious days I'll spend with you
These precious days I'll spend with you


Das Lied von Kurt Weill mit dem Text des Dichters und Dramatikers Maxwell Anderson ist von vielen gesungen worden. Ich möchte heute die Version von Johnny Hartman vorstellen, einem Sänger, den sich sehr schätze. Er ist nie so berühmt geworden, wie er es eigentlich verdient hätte. Am berühmtesten ist sein Album John Coltrane and Johnny Hartman geworden. Ich hätte daraus den Titel Lush Life, weil ich dann noch auf den schönen Post Lush Life hinweisen kann.