Sonntag, 27. Mai 2018

Jahrmarkt


In Winsen war gerade Stadtfest, in ein paar Tagen ist in meinem Heimatort Vegesack ein Hafenfest, in vier Wochen fängt hier die →Kieler Woche an. Irgendwie sind diese vielen Feste zu einer Pest geworden. Früher gab es Jahrmärkte (und das Wort sagt schon alles) am Ende des Sommers, das reichte für den Rest des Jahres. Vor allem, wenn es nach dem Marktbesuch so aussah wie auf diesem Bild von →Anders Zorn. Ich möchte Sie in dieses früher heute einmal mitnehmen. Wir blättern im Buch der Erinnerungen mal einige Seiten zurück, bis wir zu den fünfziger Jahren kommen.

Die Bremer haben ihren Freimarkt, wo angeblich jeder in Bremen herumläuft und ischa Freimaak grölt, wie sich Journalisten das so ausdenken. Selbst der →Roland bekommt ein Lebkuchenherz mit Ischa Freimaak verpasst, wahrscheinlich auch von einem Journalisten. Aber uns in Vegesack interessiert der Bremer Freimarkt nicht so sehr, wir haben unseren eigenen Vegesacker Markt. Der ist auch schon alt, nicht so alt wie der Oldenburger Kramermarkt oder der Bremer Freimarkt, aber seit 1808 gibt es ihn doch schon. Da ist das noch, wie alle diese Märkte, ein Viehmarkt gewesen, und es wird nicht viel anders ausgesehen haben als der irische Markt im Jahre 1828, den →Humphrey O’Sullivan in seinem berühmten Tagebuch beschrieben hat. Das werde ich eines Tages für Karl August Großkreutz, den promovierten Tiermediziner, der im Alter beginnt, Bücher über das →Schwein in der Weltliteratur zu schreiben, zum Teil übersetzen.

Es scheint noch ein anderes Volksvergnügen in Vegesack gegeben zu haben, denn Marga Berck berichtet in ihrem bittersüssen Liebesroman →Sommer in Lesmona, dass sich die feine Bremer Gesellschaft einmal im Jahr zu einem Volksball im →Havenhaus in Vegesack einfindet: Also ist es eine alte Sitte, daß die Bremer Familien von den Landgütern dieser Gegend sich einmal im Sommer oder alle paar Jahre irgendwann zu einem Volksball im alten Vegesacker Havenhaus treffen. Die Alten sitzen in irgend einer Ecke, und die Jugend tanzt. Ich war noch nie dabeigewesen. Das Erlebnis im Havenhaus bedeutet der Heldin viel, und so schreibt sie später: Wir tanzten schöner denn je und immer nur wir beide, und wir dachten an den Volksball in Vegesack und an den Abend im Hotel Hillmann nach dem Rennen und an Nizza. Es war ein solcher Rausch und dabei der Abschiedsgedanke in der Kehle.

Nach dem Krieg fängt der Vegesacker Markt erst einmal wieder ganz klein an, bevor er dann den ganzen →Sedanplatz und den Aumunder Marktplatz belegt. Und alle Straßen dazwischen. Einmal ist der Markt sogar in der Weserstraße gewesen, keiner weiß mehr genau, wann das war. Aber dass ein kleines Karussell vor Giessels Kolonialwarenladen stand und Keunekes Wurstbude vor Schnatmeyer (wo ich jeden Morgen die Brötchen hole) war, daran erinnert sich jeder.

Die Märkte unserer Jugend in den fünfziger Jahren sind ein Ereignis, sie haben noch nichts von der bunten Hochtechnologie und dem Lärm der heutigen Volksvergnügen an sich. Das Hippodrom, über dem Reiten kann ein jedermann im Hippodrom von Haberjahn stand, ist leider irgendwann vom Markt verschwunden.

Hier ist →Haberjahns Hippodrom noch im Hintergrund zu sehen. Fügt sich ein in die Welt von Schießbuden, Kettenkarussells, Riesenrad und Geisterbahnen, dem eingeölten starken August, einem Hau-den-Lukas und der Dame ohne Unterleib. Das alles gibt es sicher schon seit Jahrzehnten. Und die Kuchenherzen mit Liebesbotschaften, die so grauenhaft nach Pappe schmecken, wenn man sie zu essen versucht.

Besser schmecken natürlich die Borgholzhausener Pfefferkuchen. Eine kleine Papiertüte mit Borgholzhausener Pfefferküchlein war für mich, als ich klein war, das Schönste auf der Welt. Eigentlich kommen die ja aus Dissen, sagt Opa, die Kuchenbäcker sind nur irgendwann in den Nachbarort abgewandert. Ich weiß nicht, ob das wieder so eine lokalpatriotische Geschichte ist (das weiß man bei Opas Geschichten nie), aber irgendwie besteht meine Jugend nur aus →Borgholzhausener Pfefferkuchen. Luftballons, Zuckerwatte, rot-weiße Lutschstangen, Lakritze, gebrannte Mandeln, braune Moppen und Kokoskonfekt gehören selbstverständlich zu einem Marktbesuch.

Genau wie die Bockwurst von Heinrich Keuneke. Es gibt aber auch Stände mit Roßbratwurst, soll ja toll schmecken, aber ich habe nie eine gegessen. So was könnte man hier auch jeden Tag haben, denn in Aumund gibt es in der Fährer Flur die Schlachterei von Carsten Dohrmann, die nur Fleisch vom Pferd verkauft. Doch als vorsichtiger Norddeutscher hält man sich da lieber an Keunekes Brat- oder Bockwurst, mit viel Senf und diesem labberigen kleinen Brötchen auf der weißen Pappe. Die ist viel besser als die Bockwurst bei →Aschinger in Berlin, aber da kriegt man so viele kleine Brötchen (die da Schrippen heißen), wie man haben will.

Es gibt natürlich immer wieder Neuigkeiten, davon leben Jahrmärkte ja. Autoskooter sind jetzt neu, aber leider auch teuer. Die Todeswand, jene Holztrommel, in der waghalsige Motorradfahrer Kunststücke auf einer alten amerikanischen Indian machen, ist auch neu (und auch teuer). Wenn die Indian nicht in der Trommel gebraucht wird, steht sie aufgebockt vor dem Zelt und ist in ihrer vollen Schönheit, quietscherot und chromblinkend zu bewundern. Doch von diesen Dingen abgesehen, inklusive des billigen Jakobs, der an der Rückseite von Scheffels Wurstbude auf dem Sedanplatz steht (wo ich immer für Opa seine Stumpen und seine geliebten Jerry Cotton Hefte kaufen muss), ist das hier der ganz normale Rummel. Überall gibt es handgemalte Schilder: Junger Mann zum Mitreisen gesucht. Das hat aber nichts mit Eichendorffs Ach wer da mitreisen könnte In der prächtigen Sommernacht! zu tun. Wenn man klein ist, ist das alles eine märchenhafte Welt, vor der man mit offenem Mund steht. Mach den Mund zu, das Herz wird kalt, bekomme ich in solchen Augenblicken immer zu hören. Das Herz wird nur kalt, wenn man nicht mehr staunen kann.

Wenn man über das Alter des Staunens hinaus ist, geht man nur wegen der jungen Frauen in der ersten Septemberwoche auf den Markt. Die gehen immer in Gruppen, wir auch. Wir bewegen uns auf durch ungeschriebene Gesetze des Flirtens vorgeschriebenen Bahnen über den Markt, erst zweimal über den Sedanplatz. Dann am Goldenen Stern vorbei die Georg Gleistein Straße entlang und über den Aumunder Markt. Diese Wege über die Marktplätze haben sich tief in meine Erinnerung eingegraben, sie tauchen nach einem halben Jahrhundert noch in meinen Träumen auf. Immer wieder begegnen wir, scheinbar ganz zufällig, dieser Gruppe von jungen Frauen. Wir kennen sie alle, sie waren mit uns in der Volksschule, sie sind mit uns jetzt in der →Tanzstunde, in der →Jugendgruppe, wir sehen sie ständig. 

Aber der Markt ist eine Ausnahmesituation für das Flirten, da sind junge Frauen ganz anders als sonst. Vor allem bei der Raupe (die manchmal auch Knutschtunnel genannt wird), wenn sich die Persenning über das Wagendach senkt und es diesen Augenblick der Intimität im Dunkel gibt. Wir schießen Blumen für die Frauen, manchmal auch einen Teddybär. Wenn man Glück hat und ein gutes Gewehr erwischt. Wir kaufen ihnen diese pappigen glasierten Herzen mit tief symbolischen Botschaften drauf. Dein ist mein ganzes Herz, oder so was. Und seit dem Gedicht Ischa Freimaak von →Konrad Weichberger hat sich in dreißig Jahren auch nichts geändert:

Bremer Moppen hier, da Bremer Kluten,
volles Herz und leeres Portmoneh -
säurliche Bonbons und süße Schnuten
von der Großen zu der Klein’n—Alleh!

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