Da ist er aus der Kutsche gestiegen, er hat noch nicht ganz beide Füße auf dem Trottoir. Er ist noch unsicher in seiner neuen Rolle. Wir bewundern natürlich diese scharfen Uniformhosen. Die Bärenfellmütze hat er noch in der Hand. Alles an diesem Bild ist etwas unscharf, wie eine Photographie, bei der man die Entfernung nicht richtig eingestellt hat. Aber das gehört zur Technik des Malers dazu, so will er malen. Der platte Realismus wäre seine Sache nicht, das Bild zeigt sicher noch Reste vom Impressionismus, aber irgendwie scheint der Maler den schon überwunden zu haben. Es ist das Bild eines englischen Königs. So unscharf es gemalt ist, wir erkennen Edward VIII in der Uniform der Welsh Guards sofort.
Hochformate sind in der modernen Kunst ja nicht so häufig (Sickerts Lehrer ➱Whistler hat es gerne verwendet), hier noch einmal ein Bild in diesem Format. Es ist vierzig Jahre älter als das Bild von Edward VIII, aber irgendwie wirkt es beinahe moderner. Es ist ein Portrait von Aubrey Beardsley, auf dieser erstklassigen ➱Seite der Tate Gallery können Sie alles dazu lesen. Ich liebe ja solche Seiten mit vorzüglichen Katalogtexten. Die Kunsthalle meiner Heimatstadt Bremen hat auf ihrer Seite den Satz In Kürze können Sie sich hier die Highlights der Sammlung ansehen oder im Online-Katalog der Kunsthalle forschen. Der Satz steht da schon seit Jahren. Also die Tate Gallery hat schon begriffen, dass das Internet Zeitalter angefangen hat (auch wenn sie unglücklicherweise gerade einen relaunch ihrer Seiten gemacht haben), als ich vor einem Jahr Fragen wegen eines Gainsborough Gemäldes hatte, antwortete mir der Kurator Martin Myrone innerhalb von 24 Stunden. Während sich manche Transusen in Provinzmuseen sich nicht mal dafür bedanken können, dass ich Reklame für ihre Ausstellungen mache.
Wenn man das Bild von King George und Queen Mary betrachtet - mit der etwas unvorteilhaft durch den Rahmen des Autofensters abgeschnittenen Königin - dann kommt man auf den Gedanken, dass das nach einem Photo gemalt sein könnte. Ist es auch, Sickert ist in seiner Spätphase fasziniert von der Photographie. Was Gerhard Richter eines Tages macht, ist nicht ganz neu. Manche Kunstkritiker haben in diesen Bildern, die sein Spätwerk auszeichnen, einen Vorläufer der Pop Art erkennen wollen. Auch das Bild des jungen Königs auf dem Weg zur Trauerfeier für seinen Vater ist nach einer Photographie entstanden. Der Photograph hieß Harold J. Clements, er hatte das erste Photo des jungen Königs geschossen, musste aber bald feststellen, dass niemand mehr über sein sensationelles Photo redete. Alle sprachen nur noch über das Gemälde von Walter Sickert.
Das hier ist auch ein ungewöhnliches Bildformat. Die wichtigste Person, die amerikanische Fliegerin Amelia Earhart, sitzt ganz klein rechts im Cockpit ihres Flugzeugs. Kaum dass sie den Atlantik überquert hatte, war das Bild auch schon fertig. Der Maler hatte genau so lange dafür gebraucht wie Miss Earhart für ihren Atlantikflug, nämlich vier Tage.
Wieder ist ein Photo die Anregung für den Maler gewesen. Den Regen kann man auf dem Photo nur ahnen, weil man zwei Regenschirme sehen kann. Aber Amelia Earhart steht bei Sickert nicht in der Mitte von bewundernden Menschen, auf seinem Bild ist sie nur klein und verschüchtert ein Objekt der jetzt einsetzenden Vermarktung des ersten Transatlantikflugs einer Frau.
Mit diesem Herrn hier hat er sich allerdings sehr gut verstanden. Er hat ihn auch ermuntert, wieder mit dem Malen anzufangen und hat ihm Malunterricht gegeben. He is really giving me a new lease of life as a painter, schrieb Winston Churchill seiner Frau. Sickert har beim Malen des Bildes nur zwei Farben auf der Palette, ein dunkles Blau-Grün und Pink. Erstaunlich was man damit machen kann. Bilder in zwei Farben anzulegen hatte er sich angewöhnt, als er anfangs des Jahrhunderts aus Dieppe nach England zurückgekehrt war. Nach dieser ersten Skizze füllt er das Bild mit Farbe auf, bei Churchills Portrait hat er es gelassen. Und so sieht es ein wenig wie ein 3-D Bild aus, bei dem man vergessen hat, dem Betrachter die 3-D Brille zu geben.
Das Internet ist ungerecht zu Walter Sickert, der heute vor 152 Jahren geboren wurde. Die Bilder, die man finden kann, geben keinen repräsentativen Eindruck von seinem Werk und seinen Entwicklungsphasen. Die Tate Gallery hat natürlich einen großen Teil ihrer Sickerts im Netz; das National Museum Liverpool, das dieses schöne Strandbild von Dieppe (1902) besitzt, stellt es freundlicherweise auch ins Netz. Viele Sickerts sind in Privatsammlungen, die meisten Gemälde besaß Lord Beaverbrook, sie sind heute in der Beaverbrook Art Gallery in Kanada. Und die haben nun mal nicht so einen tollen ➱Internetauftritt wie die Tate Gallery.
Wenn man heute den Namen Walter Sickert (hier bei einem Vortrag im Jahre 1939) bei Google eingibt, wird man auf eine Vielzahl von Einträgen stoßen, die einem versichern, dass Sickert Jack the Ripper ist. Das verdankt der kosmopolitische Gentleman, der in der High Society ein und ausging - und der ebenso wie Whistler ein geistvoller Kunstkritiker war - einer etwas bescheuerten Tussi aus Amerika. Sie heißt Patricia Cornwell und hat Millionen dafür ausgegeben, um zu beweisen, dass Walter Sickert Jack the Ripper war. Hat Bilder von ihm gekauft und eins geschreddert. Auf der Suche nach DNA Spuren, da versteht sie was von, weil sie mal als Bürokraft in der Leichenhalle gearbeitet hat. Ich sage dazu lieber gar nichts. Wenn die Frau keine Multimillionärin wäre, wäre sie wahrscheinlich längst in der Psychiatrie.
Es ist ja ganz klar für all die Klatschenkallis, die an jede kurante Verschwörungstherorie glauben: wer solche Bilder malt, der schlitzt auch Frauen auf. Der Guardian schrieb vor zehn Jahren süffisant: The American crime novelist Patricia Cornwell was last night accused of "monstrous stupidity" for ripping up a canvas to prove that the Victorian painter Walter Sickert was Jack the Ripper. Even in the context of the crackpot conspiracy theories, elaborate frauds and career-destroying obsessions that London's most grisly whodunnit has spawned, Cornwell's investigation is extreme.
Not only did she have one canvas cut up in the vain hope of finding a clue to link Sickert to the murder and mutilation of five prostitutes, she spent £2m buying up 31 more of his paintings, some of his letters and even his writing desk. Und dabei wollen wir es auch mal belassen, crackpot conspiracy theories und monstrous stupidity ist nicht zu überbieten. Wenn Sie Seriöses über Sickert lesen wollen, dann gibt es nur einen Namen. Und der heißt Wendy Baron, nicht Patricia Cornwell. Frau Dr Baron ist übrigens in Debrett's aufgelistet, da wird Frau Cornwell wohl nie hinkommen.