Dienstag, 30. Januar 2024

Ian Fleming und kein Ende


From the moment of their birth at the beginning of the twentieth century, Ann and Laura Charteris were raised to be wives. Their only goal would be to marry well- Which they both did. Repeatedly. Bücher, die so anfangen, gefallen mir natürlich. Die beiden Charteris Schwestern heiraten sich durch die englische Aristokratie, am Ende des Heiratsmarathons hat die eine einen Journalisten, die andere einen Herzog. Der Journalist hat ein Strandhaus auf Jamaika, der Herzog ein Schloss namens Blenheim. Auf diesem Photo sehen wir Ann Charteris mit ihrem Journalisten auf Jamaika, den Mann kennen wir alle. Der Telegraph rezensierte das Buch Never Shaken, Never Stirred, das ich zu Weihnachten geschenkt bekam, mit der Überschrift The sisters who married half the aristocracy – and slept with the other half. Da weiß man doch alles über das Buch.

Der Ehemann von Ann heißt natürlich Ian Fleming, er wird die Winter immer auf Jamaika verbringen, wird dort dreizehn Romane schreiben, die ihn zum Millionär machen. Ann hatte den Redakteur der Sunday Times dazu gebracht, einen Roman oder irgendein Buch zu schreiben. Er schreibt Casino Royale in zwei Monaten to take my mind off other matters. Diese other matters sind: Ann ist schwanger. Ihr Ehemann Viscount Rothermere überlässt ihr nach der Scheidung immerhin £ 100,000, davon kann das Paar zehn Jahre leben. Das hier sind nicht James Bond und Honeychile Rider am Strand, das ist Ian Fleming mit Blanche Blackwell, der reichsten Frau von Jamaika. Während seine Ehefrau in London große Gesellschaften gibt und eine Affäre mit Hugh Gaitskell hat, ist Blanche an seiner Seite. Seine Geliebte, seine Muse. Die Vorlage für Pussy Galore und all die anderen Bond Girls. Ann Fleming hasste die Romane, die ihr Mann schrieb, sie hielt sie für pornography for the masses and the ill-educated. 

Nicolas Freeling, den das Times Literary Supplement als the educated man's Ian Fleming bezeichnete, hatte für seinen Kollegen nur das Bonmot übrig, die James Bond Romane seien a bit of elegant masturbation. Nach anfänglich guten Kritiken ging der Ruhm des Romanautors Ian Fleming schnell zu Ende. Neue Autoren wie Len Deighton und John le Carré zeigten, dass man dem Spionageroman qualitativ ganz andere Dimensionen abgewinnen konnte. Ich habe zu den Rezensionen hier einen langen Forschungsbericht eines Krimiautors namens Jeremy Duns, für den allerdings Fleming über alles geht. Er hat das, was er The Literary Assassination of Ian Fleming nennt, auch bei YouTube eingestellt. 

Die Vorwürfe von Kritikern, die Romane seien voller Sado-Maso Szenen, haben in den letzten Jahren eine erstaunliche Bestätigung gefunden, als Flemings Liebesbriefe an Ann 2009 in bei Sotheby's verkauft wurden. High society and sadism betitelte die Times ihren Bericht. Die Briefe sind voll von BDSM Anspielungen: I love whipping you & squeezing you & pulling your black hair, and then we are happy together & stick pins into each other & like each other & don’t behave too grownup, schreibt Ian Fleming. I loved cooking for you and sleeping beside you and being whipped by you and I don’t think I have ever loved like this before [. . .] I love being hurt by you and kissed afterwards, schreibt Ann. Christopher Hitchens hat Fleming quite a heavy sadist and narcissist and all-around repressed pervert genannt, soweit war Nicolas Freeling nicht gegangen.


Alles, was Christopher Reindorp über die Charteris Schwestern zu sagen hat, ist nicht wirklich ganz neu. Die Rezensionen des Buches waren gemischt. Reindorp has done a stellar job of balancing their privilege and pathos, konnte man in The Lady lesen. Lynnn Barber hatte dagegen im Telegraph eine entschieden andere Meinung: I’m not easily shocked but this book brought me out in a frenzy of disapproval. The drinking, the drugs, the neglect of children, the constant adultery! Laura and Ann always seemed to have at least one lover on the go, or several. Neither of them comes over as particularly likable, and although Ann was reputed to be a great wit, there is little evidence of it here. But then Reindorp as a biographer is not much given to wit: his style is often reminiscent of Wikipedia and he fails to convey what attracted him to Ann and Laura in the first place. So what I expected to be a jolly romp left a sour taste in the mouth. Wie heruntergekommen die englische Aristokratie und die englische feine Gesellschaft sind, wussten wir eigentlich schon. Wir brauchen uns da nur an die Profumo Affäre zu erinnern. Dazu könnten Sie jetzt noch einmal den schönen langen Post Christine Keeler lesen.

Ian Fleming und kein Ende. Dieser Blog ist voll von Posts über Fleming und seine Phantasiefigur James Bond. Was natürlich daran liegt, dass ich dem Thema in meiner Doktorarbeit zum englischen Spionageroman vor fünfzig Jahren ein Kapitel über Fleming gegönnt habe. Auch wenn seine literarischen Verdienste in dem Genre nicht so großartig sind, eine Variation der Basisformel, mehr nicht. Nicholas Shakespeare hat Ende des letzten Jahres eine neue Biographie über Fleming herausgebracht, über die die berühmte Antonia Fraser sagte: This is a marvellous book about Ian Fleming, but it’s also one of the most engaging portraits of a particular period of British history that I have read in a long time. Gegenüber dem 2014 erschienenen Buch Never Shaken, Never Stirred von Reindorp hat Ian Fleming: The Complete Man den Vorteil, dass der Autor wirklich schreiben kann. Wenn Sie ein Fan für Hörbücher sind, können Sie hier den ersten Teil hören. Aber muss das alles, was über Fleming gesagt wird, wirklich gesagt werden? Kann man ihn sechzig Jahre nach seinem Tod noch zu einem wirklich guten Schriftsteller aufwerten? Probably the fault about my books is that I don't take them seriously enough... you after all write 'novels of suspense' - if not sociological studies - whereas my books are straight pillow fantasies of the bang-bang, kiss-kiss variety, schrieb Fleming an Raymond Chandler. Das könnte uns doch genügen. Aber ein klein wenig Größenwahn ist schon in dem Mann.

In einem Artikel mit dem Titel How to Write a Thriller sprach Fleming ein Jahr vor seinem Tod nicht mehr von pillow fantasies of the bang-bang, kiss-kiss variety. Da konnte man lesen: I also feel that, while thrillers may not be Literature with a capital L, it is possible to write what I can best describe as 'Thrillers designed to be read as literature,' the practitioners of which have included such as Edgar Allan Poe, Dashiell Hammett, Raymond Chandler, Eric Ambler and Graham Greene. I see nothing shameful in aiming as high as these. Und in einem Interview für den Playboy (Dezember 1964) sagte er: But it’s true that I write below my ultimate capacity—or at least I think I probably do. If I really settled down and decided to write a 'War and Peace' among thrillers, if I shut myself up and decided to do this and nothing else, I dare say if I tried to do it in the modern vein I might conceivably succeed. Wirklich? Die Fragen bleiben. Als das Interview gedruckt wurde, war Fleming drei Monate tot.

Für Fleming Freunde habe ich hier zum Schluss noch etwas, nämlich eine zehn Jahre alte vierteilige BBC Serie Fleming: Der Mann, der Bond wurde (Originaltitel Fleming: The Man Who Would Be Bond). Die Serie spielt in den Jahren 1938 bis 1952, Flemings Tätigkeit für den Geheimdienst und auch seine Liebesabenteuer, alles ist da mit drin. Sie können den ersten Teil hier sehen. Da hat man alles aus den Fleming Biographien von John Pearson (1966) und Andrew Lycett (2013) herausgeholt, was man kriegen konnte. Bei Pearson, Flemings erstem Biographen (der sein Assistent bei der Sunday Times gewesen war), findet sich der schöne Satz: I remember an old girlfriend of Ian’s saying: ‘The trouble is, Ian was like one of Ibsen’s characters – he was always waiting for something wunderbar to happen. I think the Bond books are his dream autobiography.' Vielleicht war das wirklich so.

Wenn Sie noch mehr zum Thema suchen, dann lesen Sie auch: Secret Agents007GoldfingerBasisformelSir Thomas Sean ConnerySpectre, Sylvia Trench, Domino, Agentenmode, Metropolis, Ian Fleming, Bachs Cellosuiten, Scotland forever, James BondCathy Gale, Bond Girl, Daliah Lavi, Britt, George Spencer Watson, Christine Keeler, Schmutzige Lyrik, John le Carré, Eric Ambler, Nicolas Freeling, Intertextualität, Kingsley Amis, Ritter, Royal Flying Corps, Kyritz an der Knatter, Laurence Harvey, Uli Becker, Haiku, Kingsman, Operation Mincemeat, Ken Adam, Siegfried Schürenberg, Film und Mode, Englische Herrenschuhe (London), Stil, Blazer, Inspector Barnaby und die Mode, Janker, Royal Flying Corps, Aufklärung, Talsperren, Playboy, Operation Mincemeat

Freitag, 26. Januar 2024

Schwedenmädel


Heute vor hundert Jahren wurde die schwedische Sängerin Alice Babs geboren. Damals hatte sie natürlich noch nicht den Künstlernamen Alice Babs, damals hieß sie Hildur Alice Nilsson. Sie war von klein auf auf der Bühne, und mit vierzehn Jahren konnte man sie zum ersten Mal im Radio hören. Mit fünfzehn hatte sie ihre erste Platte, die ✺Joddlarflickan hieß. Dem Titel sollten noch beinahe achthundert Lieder folgen. 1972 verlieh ihr der schwedische König den Titel einer Hofsängerin (hovsångerska), der bisher nur an Opernsängerinnen verliehen worden war. Jenny Lind hatte den Titel auch einmal gehabt.

1998 kam Alice Babs nach achtzehnjähriger Pause mit der CD Swingtime Again zurück ins Geschäft. Aus dieser Aufnahme können Sie hier It's Wonderful hören. 2002 bekam die Sängerin den europäischen Jazzpreis Django d'Or in der Kategorie Master of Jazz. Ein Jahr später erhielt sie die goldene Illis quorum Medaille, die schon Greta Garbo, Ingrid Bergman und Astrid Lindgren erhalten hatten. Die Jazzsängerin Monica Zetterlund bekam die posthum verliehen. 

Mit sechzehn war Alice auf der Leinwand gewesen, da konnte man sie als singende Schülerin in dem Film Swing it, magistern (Lass es swingen, Professor) sehen. Ich habe den Film hier für Sie. Es ist erstaunlich, welch harmlose Filme man 1940 in Schweden drehte, bei uns sah die Kinolandschaft damals anders aus. Alice Babs heiratete 1944 den Schauspieler Nils Ivar Sjöblom und bekam drei Kinder, ihre jüngste Tochter wurde Popsängerin. Nils Ivar Sjöblom starb 2011 im Alter von zweiundneunzig Jahren. Da hatte Alice Babs noch einige Zeit zu leben, sie wurde neunzig Jahre alt. Aber ihr Leben im Alter wurde durch Schlaganfälle und Alzheimer überschattet.

In den fünfziger Jahren war die Schwedin nach Deutschland gekommen. Sang Lieder wie Ein Mann muß nicht immer schön sein und Du, nur du du du allein. Und mit Paul Kuhn In einer kleinen Konditorei. Mit dem sang sie aber auch schon mal Jazz, das sollte man betonen. Bei Erwin Lehn & His Südfunk Tanzorchester hatte sie auch schon gezeigt, dass sie im Swing zu Hause war. Das kam jedoch in Deutschland noch nicht so gut an. Wir hatten sie lieber, wenn sie Ole Dole Dei sang. Sie war Teil dessen, was man die große skandinavische Invasion der fünfziger und sechziger Jahre nennen könnte. Als Nina van Pallandt Mandolinen und Mondschein sang, Vivi Bach ans himmelblaue Mittelmeer mitgenommen werden wollte, und Gitte 'nen Cowboy als Mann haben wollte. 

Das war die Zeit, als wir Ulla Jacobsen in Sie tanzte nur einen Sommer fünf Sekunden nackt sehen konnten. Als Ingmar Bergmans Film Das Schweigen die Nation beschäftigte, und es massenhaft Schwedinnenfilme gab. Die hießen 6 Schwedinnen von der Tankstelle6 Schwedinnen auf Ibiza6 Schwedinnen hinter Gittern und 6 Schwedinnen auf der Alm. Aber da spielten nicht Bergmanns Lieblingsschauspielerinnen wie Bibi Anderson, Harriet Anderson oder Gunnel Lindblom. Da spielten blonde Französinnen wie Marianne Aubert, Jane Baker, Karine Gambier und Brigitte Lahaie die Hauptrollen. Produziert wurden die Streifen von einem Schweizer namens Erwin C. Dittrich. Keine Filmkunstwerke, nur Softpornos. Damit hat der Film Schwedenmädel, mit dem Alice Babs in Deutschland bekannt wurde, nun überhaupt nichts zu tun. Eine Liebesromanze in einem internationalen College in Stockholm zerbricht in der Mittsommernacht zugunsten neuer Bindungen. Liebenswürdige Unterhaltung ohne tiefere Bedeutung. - Ab 14 möglich, schrieb ein Filmlexikon. Das farbige Kinoplakat täuscht ein wenig, Schwedenmädel war ein Schwarzweißfilm.

1958 trat Alice Babs als erste schwedische Kandidatin bei dem 1955 geschaffenen Grand Prix Eurovision in Hilversum an und sang in Nationaltracht ✺Lilla stjärna. Das brachte ihr den vierten Platz. Es war aber auch ein Abschied von all dem, was sie bisher gesungen hatte. Denn sie konnte mehr. Jetzt sang sie elisabethanische Liebeslieder wie zum Beispiel Woeful Heart und sang Bach Choräle. Und Mozarts Exsultate, jubilate. Das ist nun nicht so fetzig wie die Version von Marie FajtováAlice Babs ist bei Bach besser aufgehoben. Sie können auf dieser Seite alles von ihrer Platte aus dem Jahre 1966 hören.

Das waren Ausflüge in die Klassik gewesen, aber in Wirklichkeit machte sie jetzt etwas ganz anderes: sie war Jazzsängerin geworden. Zuerst an der Seite von schwedischen und dänischen Musikern, aber dann an der Seite von Duke Ellington. Der seine Sacred Concerts für sie schrieb, probably the most unique artist hat er sie genannt. Hören Sie einmal in ✺Heaven hinein. Ellington bewunderte ihre Stimme, die über drei Oktaven ging. Mit ihm hatte sie 1963 in Paris die Langspielplatte Serenade to Sweden aufgenommen, vielleicht das Beste, das sie gesungen hat. Billy Strayhorn ist da noch mit drauf, der wenige Jahre später starb.

Alice Babs hatte Ellington verehrt, seit sie zwölf war. Als er 1939 in Stockholm war, wurde sein vierzigster Geburtstag am 29. April den ganzen Tag gefeiert. Das fing schon mit einem musikalischen Ständchen zum Frühstück an, wie wir es hier auf dem Bild sehen. Irgendwann sang dann ein zehnköpfiger weiß gekleideter Mädchenchor. Eine der Sängerinnen war die fünfzehnjährige Alice Babs. Der Bericht über das Jazzkonzert am Abend von Rolf Dahlgren hatte den Titel Negerswing gör succé. So etwas dürfte heute niemand mehr schreiben.

Die Pariser Aufnahme von Serenade to Sweden hat eine seltsame Geschichte. Die Platte war im Frühjahr fertig, sie hätte im Sommer erscheinen können. Erschien aber erst drei Jahre später bei dem neuen Label Reprise. Und war schnell vom Markt verschwunden, angeblich war sie in Amerika gar nicht auf dem Markt gewesen. Serenade to Sweden wurde die seltenste und gesuchteste Duke Ellington Platte, obgleich er den Titel immer noch spielte. So schrieb die New York Times 1973: 

Duke Ellington likes to bring young women to the Newport Jazz Festival. And he knows some interesting ones. At last year's festival, the highlight of his concert at Carnegie Hall was Aura, a dazzling Rumanian beauty with a voice that was astonishing both for its range and its sustained sensuosity. On Sunday night, this time at Philharmonic Hall, Mr. Ellington's special treat, was Alice Babs, a Swedish singer who was the sensation of Mr. Ellington's Second Sacred Concert when he performed it several years ago at the Cathedral Church of St. John the Divine. Miss Babs's range is at least equal to that of Aura, but her voice has a very different quality—clear, clean and sparkling as a running mountain stream. Her superb control and the finesse with which she sustained and shaded notes were immediately apparent as she walked out of the wings vocalizing Mr. Ellington's lovely 'Serenade to Sweden.'

Die Schweden Tournee von 1973, wo Ellington zehn Jahre nach den Pariser Aufnahmen wieder Alice Babs an seiner Seite hatte, war der letzte große Auftritt von Duke Ellington. Die CD dieser Tournee ist noch leicht zu bekommen. Aber es gibt die Serenade to Sweden inzwischen auch wieder. Und seit 2017 zum ersten Mal auch als CD. Aber egal, ob Vinyl oder CD, beide Versionen sind heute noch lieferbar. Aber teuer, sehr teuer. Doch dank des ✺All That Jazz Don Kaart Channel können Sie die Aufnahme jetzt hier hören.


In diesem Blog, der jetzt ins vierzehnte Jahr geht, hat es immer Bach, Mozart und Schubert gegeben. Aver auch immer Jazz. Schon der dritte Post im Januar 2010 hieß JazzDas soll auch so bleiben. Wenn Sie wollen, können Sie dies alles lesen: the best is yet to comela first lady del jazz italianomehr Jazz?Harry Belafonte, Rickie Lee Jones, Play Bach, Birdland, Charlie Parker spielt La Paloma, Michel Legrand, Candy Dulfer, Harry Belafonte, Rickie Lee Jones, Mundharmonika, Nick Drake, Gulda, Rosemary Clooney, Sun Ra, Dexter Gordon, Don Byas, Richard Twardzik, Lena Horne, Monica Zetterlund, Cantate, Aimez-vous Brahms?, Folksongs, Teddy Boys, Mein Dänemark, Sempé, Marshall McLuhan, Arnold Duckwitz, Nico, Lou Reed, Madeleine Peyroux, Die Harmonie der Welt, Jean-Louis Trintignant, Birdland, P.J. Kavanagh, Improvisationen, Saturn, NachtfahrtThe Lady is a TrampLush Life, Fehlkäufe, Frankieboy, Jugendkultur, Paul Kuhn, Hyperlink, Ingeburg Thomsen, Kultur (neo), Chris Barber, Lonnie Donegan, Zickenjazz, Philip Larkin, exis, Melody, 'round midnight, Mademoiselle chante le blues, Ann-Margret, Amazing Grace, Nina van PallandtThe Art of Staying Young and Unhurt

Montag, 22. Januar 2024

Unsere kleine Stadt

Am 22. Januar 1938: wurde im McCarter Theatre in Princeton das Schauspiel  Our Town von Thornton Wilder zum ersten Mal aufgeführt. Der Saal war ausverkauft, es wurde ein großer Erfolg. The performance at Princeton was an undoubted success. The large theatre was sold out with standees, schrieb Wilder an einen Freund. Our Town wurde ein Klassiker des amerikanischen Theaters. Wilder erhielt den Pulitzer Preis für das Stück, das war einer seiner drei Pulitzer Preise. Das Stück wanderte sofort zum Broadway, aber die Erstaufführung, die war in Princeton. Wo der Schauspieler Frank Craven abends um acht die ersten Worte sagte: This play is called 'Our Town'. It was written by Thornton Wilder. So fangen Theaterstücke normalerweise nicht an, aber Frank Caven hatte eine spezielle Rolle: er war der stage manager des Stückes. So etwas war neu, ein klein wenig revolutionär. Craven wird diese Rolle auch in der Verfilmung von Our Town spielen, bei der auch am Drehbuch mitgearbeitet hatte. Es wird die Rolle seines Lebens. Die Musik des Filmes ist von Aaron Copland, der schon mehrmals in diesem Blog erwähnt wurde, vor allem in dem Post Dokumentarfilm

Die erste deutschsprachige Aufführung fand 1939 in Zürich statt. Es war kein Zufall, dass das Stück in Zürich seine erste Aufführung (in der Übersetzung von Gentiane Gebser) hatte, denn da wohnte Fritz Güttinger (der 1944 gerade Moby-Dick übersetzt hatte). Sieben Jahre zuvor hatte Thornton Wilder auf einem Spaziergang um den Zürichsee mit Fritz Güttinger den Einfall für Our Town gehabt. Und gleich den ersten Teil in Zürich geschrieben, Grover's Corner, die typische amerikanische Kleinstadt, ist also in der Schweiz entstanden. Das musste mal eben gesagt werden.

An die Schweiz musste sich Thornton Wilder erst gewöhnen. 1937 schreibt er an Gertrude Stein und Alice Toklas:

Dear Girls : 
It's decided at last:
I like Zürich.
Hm - hm. 
The suspense is over. 
There was some wavering. 
Zürich lost ground every time I saw a swan and there are a lot of them with red crosses on their chests and the word Helvetia.
Zürich regained it when I saw a sign that read:
Alkoholfreies Select Bar.
Zurich lost ground when I found that for American tourists they tuck the sheets into the mattress. Housekeeping should not aspire to Perfection. I like exotic inconveniences.

Die alkoholfreie Select-Bar am Limmatquai hat es wirklich gegeben. Die Schwäne mit dem roten Kreuz und dem Wort Helvetia natürlich nicht.

Lesen Sie auch: The Skin of Our Teeth


Freitag, 19. Januar 2024

Jerusalem


Ich hörte mich durch die CD, die ich gerade gekauft hatte. Ich wusste nicht, was mich erwartete. Das weiß man bei einem Titel wie Kosmos und Fragment ja wirklich nicht. Ich hatte mir die CD gekauft, weil ich von der Pianistin Marie Rosa Günter schon eine CD besaß. Ihre Aufnahme der Goldberg Variationen habe ich schon in den Posts Variationen und Kraut und Rüben erwähnt. Dies war ihre zweite CD bei dem kleinen, aber feinen, Label Genuin. Es ist viel Beethoven auf der CD, die berühmte Hammerklavier Sonate und die Bagatellen Opus 126. Ich lasse das mal für einen Augenblick weg. Ich bin ja noch beim Durchhören der CD. Was mich erstaunte, war ein Musikstück, das ich überhaupt nicht kannte, das ich aber beinahe mitsingen konnte.

Wenn Sie jedes Jahr die BBC Übertragung der Last Night of the Proms sehen, können Sie das auch mitsingen. Es war die Melodie von Sir Hubert Parrys Chorlied Jerusalem, das ähnlich wie Elgars Land of Hope and Glory eine zweite oder dritte Nationalhymne Englands geworden ist. Hier sang kein Chor, hier spielte nur Marie Rosa Günter Ulrich Kallmeyers 6 Variationen über Charles Hubert Hastings Parrys Hymne 'Jerusalem' ohne die Orchestrierung von Edward Elgar. Eine Welturaufführung.

Das Oxford Advanced Learner's Dictionary sagt uns zu Jerusalem: a famous poem (1804) by William Blake, later set to music by Hubert Parry (1848-1918). It expresses the hope for a future Christian society in ‘England's green and pleasant land’ to replace the horrors of ‘the dark Satanic mills ’ of the Industrial Revolution. It is traditionally sung at the Last Night of the Proms as well as by Women's Institutes and in churches. Wenn das Lexikon etwas genauer wäre, dann hätte da noch stehen können, dass die Church of England das Wort Jerusalem als Metapher für den Himmel, den Ort des Friedens und der Liebe gebrauchte. Das gilt natürlich nicht für die Stadt Jerusalem in diesen Tagen.

Blakes Gedicht findet sich in diesem Blog schon in dem Post Brexit?, und zu William Blake gibt es hier den Post Tyger, Tyger. Ein Post, der in den letzten dreizehn Jahren mehr als fünftausend Mal gelesen wurde. Die Deutsche Gedichtebibliothek hat eine Übersetzung des Gedichts:

Und schritten jene Füße einst
auf Englands grünen Bergeshöhn?
Und ward das heil'ge Gotteslamm
auf Englands Auen je gesehn?

Erschien das heil'ge Angesicht
im Wolkenhimmel überm Berg?
Und ward Jerusalem hier erbaut
inmitten düsterm Teufelswerk?

Bringt mir den Bogen lohen Golds:
Bringt mir die Pfeile der Begier:
Bringt mir den Speer: Gewölk, reiß auf!
Bringt meinen feurig' Wagen mir!

Ich lass' nicht ab vom geist'gen Streit,
nicht ruh' das Schwert mir in der Hand,
eh' wir Jerusalem erbaut
in Englands grünem, schönem Land

Die Übersetzung ist von Bertram Kottmann, einem sehr guten Übersetzer, der in diesem Blog shon in den Posts Narzissen und Wintersonnenwende erwähnt wird. Die aus diesem Gedicht immer wieder zitierten dark satanic mills übersetzt Kottmann mit düsterm Teufelswerk. Was hat Blake eigentlich damit gemeint? Im →Guardian findet sich eine sehr interessante Seite, die dieser Frage nachgeht. Und da gibt es neben der landläufigen Interpretation, die auf die Industrial Revolution hinweist, noch etwas ganz anders: Blake's dark satanic mills are indeed the orthodox churches of the establishment. But they were all churches, all forms of worship, all formal education, and anything that attempted to mould the mind into orthodoxy and received opinion. Blake is the radical's radical. Dies ist eine Interpretation, die neuerdings häufiger gehört wird. Der englische Wikipedia Artikel zu Blakes Jerusalem hat noch einen Link zu Romanticism and the Industrial Revolution. Da findet sich viel zur Industriellen Revolution, aber es gibt nur sechs Zeilen zur Haltung der Romantiker. Da steht in meinem Post Touristen mehr zu dem Thema.

Blake gibt uns keine Antwort auf die Frage And did those feet in ancient timeWalk upon England’s mountains green? And was the holy Lamb of God On England’s pleasant pastures seen? Die Frage, ob Jesus jemals in England gewesen ist. Angeblich soll es eine Legende geben, wonach Jesus in der Begleitung von Joseph von Arimathea in Glastonbury gewesen sei. Aber A. W. Smith sagt uns in seinem Aufsatz ‘And Did those Feet...?’: the ‘Legend’ of Christ's Visit to Britain: there was little reason to believe that an oral tradition concerning a visit made by Jesus to Britain existed before the early part of the twentieth century. Wahrscheinlich spielt Blake auf etwas an, was sich in Miltons History of Britain (hier im Volltext) findet, die Geschichte, dass Joseph von Arimathea nach dem Tod von Jesus nach England ging, um das Evangelium zu predigen. Wir müssen immer bedenken, dass Blakes Gedicht ja das Vorwort zu  Milton: A Poem gewesen ist.

Es würde jetzt nicht passen, auf die Bethoven CD von Marie Rosa Günter, auf der die Variationen zu Parrys Jerusalem ja nur acht Minuten und neunundvierzig Sekunden ausmachen, zurückzukommen. Blake und Beethoven haben wenig miteinander gemein. Oder doch ganz viel, sagt uns Maria Popova auf ihrer Seite themarginalian, so sie einen Artikel Blake, Beethoven, and the Tragic Genius of Outsiderdom hat. Die Zeitschrift hieß vorher Brain Pickings, und die konstruierte Verbindung zwischen Blake und Beethoven stammt nicht aus Popovas Feder. Das hat sie an einer anderen Stelle aufgepickt: es steht in Alfred Kazins Vorwort zu The Portable William Blake. Lesenswert ist es auf jeden Fall.

Ich komme irgendwann auf die CD Kosmos und Fragment zurück und schreibe einen Post über Beethovens Hammerklaviersonate Op. 106. Da Marie Rosa Günters Einspielung nicht im Internet ist (es gibt dazu nur einen Trailer), begnügen wir uns einmal mit der Interpretation von Igor Levit. Die zurzeit sicherlich das Beste ist, das es gibt. Auf jeden Fall mit 35 Minuten und 20 Sekunden das Schnellste. Für Puristen gibt es das auf zwei Langspielplatten. Oder hier hier zum Anklicken.

Donnerstag, 18. Januar 2024

5.950.000

Ich wollte den Computer schon ausschalten, warf aber noch mal eben einen Blick auf die Statistik. Und entdcckte, dass der Post Minden aus dem Jahre 2015 plötzlich sehr hohe Leserzahlen hatte. Ist ja auch ein interessanter Post, das halbe 18. Jahrhundert steht da drin. Ich überprüfte den Text, überprüfte, ob noch alle Links funktionierten und alle Bilder vorhanden waren. Da war es auch schon Mitternacht geworden. Und als ich jetzt den Computer ausschalten wollte, sah ich plötzlich die Zahl 5.950.000. Um Mitternacht bekommt Edgar Allan Poe Besuch von einem Raben, ich bekomme Besuch von der Zahl 5.950.000. Die sagt mir etwas: wenn ich noch fünfzigtausend Mal angeklickt werde, habe ich da unten auf der Seite sechs Millionen stehen. Dann mache ich mal die Flasche mit dem sauteuren Whisky auf, die ich Weihnachten geschenkt bekam.


Dienstag, 16. Januar 2024

both sides now


Ich war noch nicht ganz wach, aber ich wusste, dass das Both sides now, das da im Radio lief, nicht von Joni Mitchell war. Das Display sagte mir, dass hier eine Frau namens Ane Brun sang. Von der hatte ich noch nie gehört. Bei YouTube kann man dazu lesen: This is probably the worst cover I've heard of this song. There is no melody to the vocals, like the singer is getting distracted by her phone and forgets what the melody is supposed to be. The guitar suffers from the same distracted, meandering and unfocused performance issue. Not to mention the fact that you can hear from how the guitar is played the performer is applying uneven pressure after almost every new tab. It baffles me that somebody would pay money to publish a cover like this. I have more admiration for amateur vocalists in their basements, because they actually treat this song with respect. Ist irgendwie unfair. Wenn man Ane Brun mehrfach hört, dann ist diese Cover Version gar nicht so schlecht. Joni Mitchell war bisher nur einmal in diesem Blog, nämlich in dem Post Madeleine Peyroux. Ich bin kein richtiger Joni Mitchell Fan, obgleich mir Freunde damals immer Kassetten mit ihren Songs schenkten. Könnte ich heute noch spielen, ich habe immer noch einen Kassetenrecorder. Wie schnell hat man heute diese Technologie vergessen, die einmal unser Leben ausmachte.

Nicht vergessen hat man eine Engländerin namens Kate Moss, die heute fünfzig wird. Wozu ich natürlich herzlich gratuliere. Kate Moss war schon häufig in diesem Blog, der ja ein High+Low Culture Blog ist. Falls Sie sich langweilen, könnten Sie die Posts Calvin Klein['bɜ:bərᴗi]Gary Glitter und Joan Didion lesen. Und Ane Brun hören (hier zusammen mit Lisa Ekdahl). Die ist besser als die schlechte Besprechung bei YouTube. Sie könnten auch Elvis mit Bildern von Kate Moss hören. Have a nice day.

Freitag, 12. Januar 2024

Stanley Olson


Das lange vergriffene Buch, das ich suchte, hieß Pencil Me In. Es gab bei ebay ein Exemplar, das dank der total bescheuerten Computerübersetzung den Titel Bleistift mir ein hatte. Ich habe in dem Post Pfanni denglish schon einiges über die furchtbaren Computerübersetzungen gesagt, die sich nicht nur bei ebay finden. Sie sind jetzt überall. Das Buch von Phyliss Hatfield hat den Untertitel A Memoir of Stanley Olson; und genau das ist es, eine persönliche Erinnerung an einen Freund. Stanley Olson hat keinen Wikipedia Artikel, aber einen Nachruf in der New York Times, als er 1989 im Alter von zweiundvierzig Jahren starb. Phyliss Hatfield hat ihn gekannt, sie hatte bei seiner Bar Mitzwa mit ihm getanzt. Ihre Familien standen sich so nahe, dass sie ihn ihren Cousin nennt.

Stanley Olsons Großvater Frank Olshanitsky war aus dem zaristischen Russland nach Amerika emigriert, seine Söhne Sidney and Philip Olson schufen sich ein kleines Elektronikimperium, über das man hier bei YouTube einen kleinen Film sehen kannt. Ihr Bruder Irving Olson zog sich irgendwann aus dem Geschäft zurück und wurde ein bekannter Photograph. Die Universität Akron (Ohio), die er kurz besucht hatte, verlieh ihm zum hundertesten Geburtstag einen Ehrendoktor. An der väterlichen Firma hat Stanley Olson kein Interesse, er will studieren. Nicht in Akron, sondern in Boston. Die Professorin Millicent Bell wird ihn fördern und ihren graduate student einem Londoner Kollegen empfehlen. Olson bekommt einen Platz am Royal Holloway College. Man weist ihm einen Tutor zu, er braucht keine Kurse zu besuchen. Er ist einer der ersten Studenten an diesem College, das bisher Frauen vorbehalten war.

Der Sohn einer jüdischen Familie aus Ohio verwandelt sich jetzt in kürzester Zeit in einen englischen exzentrischen Gentleman. Also schneller, als anglophile Hamburger das können, die sich bei Ladage & Oelke englisch einkleiden. Howard Malchow hat in Special Relations: The Americanization of Britain? geschrieben: Stanley Olson, a Jewish American from Akron, Ohio, who arrived age twentytwo in 1969 with the intention of becoming 'Stanley Olson, Esq.,' an English gentleman. Financed by his American family made wealthy through their electronics business, he led a largely solitary and fastidious 'stylish, literary life,' and published a biography of another expatriate, the painter John Singer Sargent

Die Professorin Millicent Bell wird in den achtziger Jahren schreiben: My former student and friend had astonishingly transformed himself into an accomplished professional writer and, even more amazingly, an Anglicized gentleman-aesthete who was a favorite of the London intelligentsia. Ihr Student, der bei seiner Verwandlung zuerst den amerikanischen Akzent ablegte und ein Englisch sprach, das Professor Higgins gefallen hätte, ist berühmt geworden. Und das verdankte er seinem Buch über den Maler John Singer Sargent, das das dritte Buch war, das er in London schrieb. Da war der Exzentriker und Dandy, der mit einem Lastenfahrrad seinen Hund Wuzzo durch Marylebone radelte, schon der Liebling der Londoner Gesellschaft geworden.

Es war nicht das erste Buch über Sargent. Kurz bevor Olson sein Buch, für das er ein Gugggenheim Stipendium erhalten hatte, vollendet hatte, war Carter Ratcliffs Buch John Singer Sargent bei dem gerade gegründeten Verlag Abbeville Press erschienen. Das ist ein plüschiger Bildband, der einen schönen Eindruck von Sargents Werk vermittelt, aber es ist keine wirklich ernstzunehmende Biographie. Auf die Abbeville Press mit ihren großen bunten Büchern wäre der Ästhet Olson niemals gekommen, sein Buch erscheint bei der St. Martin's Press, hinter der der Macmillan Verlag steht. Ratcliffs Buch ist aber wegen seines Bilderreichtums (und dafür war Abbeville ja berühmt) unbedingt zu empfehlen. Dies ist das typische coffee table book. In den USA ist es preisgünstig, hierzulande leider nicht. Ich habe Ratcliffs Buch damals bei seinem Erscheinen beim Strand Book Store in New York gekauft, war ein Sonderangebot. Gab's nie wieder. Es wird nicht verwundern, dass Ratcliffs Name in Olsons Buch nur in der Bibliographie auftaucht. 

Die Rezensionen von Olsons Buch sind durchweg lobend: This exemplary biography is manifestly fascinating. (Baltimore Sun), [Olson has produced] an absorbing, detailed, comprehensive biography of this intriguing enigma of a man. (Library Journal), Olson`s prose is a rich, almost Jamesian affair, ferociously literate, archly elliptical. (The New York Times), Stanley Olson has written a superb account. (San Francisco Chronicle), John Singer Sargent is one heck of a good book. Read it. (The Washington Times Magazine), This biography conveys vividly and with considerable charm and wit a sense of the social world of the distinguished American portrait painter. (The Virginia Quarterly Review), This biography rescues Sargent.... from the shadows of his famous subjects. (United Press International). James Fenton schrieb in der Times, das Buch sei so gut, dass es einen Preis verdient hätte.

Wenn Sie den Post blaue Vasen gelesen haben, dann wissen Sie, dass ich John Singer Sargent mag. Sargent war sechsundzwanzig, als er die Töchter von Edward Boit malte. Dies soll sein bestes Bild werden, ein Vorzeigestück, über das man spricht. Er braucht als junger Maler die Kundschaft der Reichen des Gilded Age: In the years to come he worked his way through the pages of 'Who's Who,' then 'Debrett' and 'Burke's Peerage, sagt Stanley Olson in seiner Sargent Biographie, die manchmal wundervoll gehässig sein kann. James McNeill Whistler hat Sargents malerisches Werk a sepulchre of dullness and propriety genannt, er war immer bösartig und witzig. 

Die Frage bei diesen Malern der Reichen und Schönen des Gilded Age wie Sargent und seinem Konkurrenten Anders Zorn ist: was bleibt künstlerisch von ihren Portraits übrig? Zorn, hier eine Studie einer jungen Frau im Bus, ist dem Impressionismus näher als Sargent, dem man in seinen Gemälden immer wieder eine spektakuläre Malkunst der Oberflächlichkeit vorgeworfen hat. Wenn man Sargents Bild von Isabella Gardner mit Zorns Bild von Gardner vergleicht, dann muss man sagen, dass in Zorns Bild mehr Leben ist.

Aber Sargent kann auch ganz anders malen, wie wir auf diesem Bild von Monet am Waldrand sehen, das so gar nicht zu seinen swagger portraits passt. Stanley Olson war kein Kunsthistoriker, er will mit John Singer Sargent: His Portrait keinen Bildband vorlegen, der uns die beinahe siebenhundert Bilder und zweieinhalbtusend Aquarelle des Malers zeigt. Er weiß, dass andere, wie zum Beispiel Richard Ormond dabei sind, kritische Kataloge des Gesamtwerks zu erstelllen. Was das Bildmaterial betrifft, ist Olsons Buch dürftig: Too few illustrations of Sargent's paintings support the narrative, and even they are very poor monochromes. What was most important to the artist is of marginal concern to his biographer. 

Ich hatte mir Olsons Buch gekauft, als es erschien. Weil ich im Observer, den ich damals noch abonniert hatte, eine sehr schöne Rezension gelesen hatte. Nachdem ich das Buch gelesen hatte, las ich es ein zweites Mal. Weil es so aufregend, ja beinahe fetzig war. Weil es stilistisch so wunderbar war. Weil hier jemand war, der etwas über den rätselhaften Menschen John Singer Sargent zu sagen hatte. Er war dem Sargent, über den er zehn Jahre lang schrieb, immer näher gekommen. So wie Tolstoi seiner Anna Karenina, die er anfangs nicht mochte, mit der Zeit näherkommt. 

Ein Ausschnitt von diesem Bild, dem berühmten Dr Samuel Jean Pozzi war schon in dem Post Eine Liebe von Swann zu sehen, weil ich auf das Buch The Man in the Red Coat von Julian Barnes hingewiesen habe. Solche Bilder, solche swagger portraits, will Sargent irgendwann nicht mehr malen. 1907 schreibt er an seinen Freund Ralph Curtis: No more paughtraits, I abhor and abjure them and hope never to do another especially of the Upper Classes. Das klingt jetzt ein wenig wie Thomas Gainsboroughs Satz: I'm sick of portraits, and wish very much to take my viol-da-gam and walk off to some sweet village, where I can paint landskips (sic) and enjoy the fag end of life in quietness and ease.

Aber Sargent meint es ernst, einen Freund wie den Maler Ambroglio Raffaele, den malt er noch. Die Pozzis der Welt interessieren ihn nicht mehr. Was für Gainsborough seine Viola da Gamba ist, ist für Sargent sein Bechstein Klavier, das in seinem Studio neben der Staffelei steht. Das ist ein Thema, das Olson, Amateurpianist und Wagnerianer (der nach Bayreuth mit acht gestärkten Frackhemden fährt), nicht auslässt. Sargents Verhältnis zur Musik hat die Forschung neuerdings immer wieder beschäftigt. Es ist viel Musikalität in Sargents Bildern, nicht nur in dem berühmten Bild der Flamenco Tänzerin

Bevor Stanley Olson sein Buch über Sargent geschrieben hatte, war er nicht untätig gewesen. Er hatte die Diaries & Letters 1930-1964 von Sir Harold Nicolson herausgegeben und eine Biographie von Elinor Wylie geschrieben. Elinor Wylie: A Life Apart war die erste Biographie über die dichtende amerikanische femme fatale. Sie schien einmal der literarische Stern Amerikas zu sein, sie ist heute beinahe vergessen. Die beste Beschreibung ihres Schaffens im Internet findet sich auf dieser Seite.

Wir wüssten wenig über Stanley Olson, wenn Phyliss Hatfield nicht Pencil Me In: A Memoir of Stanly Olson geschrieben hätte. Sie kam wie Olson aus Akron, hat in New York studiert, hat geheiratet und ist nach Seattle gezogen. Sie war freiberufliche Lektorin für mehrere Verlage. In einem dutzend Bücher danken ihr Autoren dafür, dass sie aus einem mangelhaften Manuskript ein gutes Buch gemacht hat. In der Geschichte der Literatur des 20. Jahrhunderts sind Lektoren manchmal genauso wichtig wie die Autoren. Was wäre aus Thomas Wolfe geworden, wenn er nicht Maxwell Perkins gehabt hätte? Look Homeward, Angel wäre nie erschienen. Faulkner hat Albert R. Erskine (der auch noch Cormac McCarthy betreute) gebraucht. Und so weiter. Und wenn Alfred Andersch nicht gewesen wäre, wäre Arno Schmidts Seelandschaft mit Pocahontas nicht gedruckt worden. Als ich mich in Hamburg an der Uni immatrikulierte, musste man ein Berufsziel angeben. Ich sagte: Lektor. Die Sekretärin fragte: Was ist das? Ich sagte: Hat was mit Büchern zu tun. Sie war's zufrieden. Das Wort Lektor steht immer noch in meinem Studienbuch, ich bin aber doch etwas anderes geworden. Aber ich habe den größten Respekt vor Lektoren. Ich bin Phyliss Hatfield dankbar, dass sie dieses Buch geschrieben hat. Sie ist jetzt achtzig, es scheint ihr gutzugehen. Sie ist Mitglied im Klub der Patriotic Millionaires.

Stanley Olson hatte mit neununddreißig Jahren einen Schlaganfall, der ihn lähmte. Er hatte Schwierigkeiten, seine Sprache wiederzufinden. Sein Buch über Rebecca West wird liegenbleiben. Rebecca West hatte schriftlich verfügt, dass nur Olson ihre Biographie schreiben dürfe. Drei Jahre nach seinem Schlaganfall starb er. Kurz vor seinem Tod waren Freunde vorbeigekommen und hatten ihn gefragt, ob sie ihn auf ihren Weihnachtskarten erwähnen sollten. Er sagte: Pencil me in. Schreiben konnte er nicht mehr. Von dem Satz Pencil me in hat Phyliss Hatfield den Titel ihres Buches genommen. Auf Stanley Olsons Urne im Golders Green Columbarium steht Stanley Olson 1947- 1989 author. scholar. loved brother and son. Nach dem Gottedienst lief Wagners Isoldes Liebestod auf einem Tonbandgerät. Es lief noch, als alle Trauernden die Kapelle verlassen hatten, man hatte vergessen, es abzustellen. Das hätte ihm gefallen. Den Liebestod kann man immer hören.