Freitag, 12. Januar 2024

Stanley Olson


Das lange vergriffene Buch, das ich suchte, hieß Pencil Me In. Es gab bei ebay ein Exemplar, das dank der total bescheuerten Computerübersetzung den Titel Bleistift mir ein hatte. Ich habe in dem Post Pfanni denglish schon einiges über die furchtbaren Computerübersetzungen gesagt, die sich nicht nur bei ebay finden. Sie sind jetzt überall. Das Buch von Phyliss Hatfield hat den Untertitel A Memoir of Stanley Olson; und genau das ist es, eine persönliche Erinnerung an einen Freund. Stanley Olson hat keinen Wikipedia Artikel, aber einen Nachruf in der New York Times, als er 1989 im Alter von zweiundvierzig Jahren starb. Phyliss Hatfield hat ihn gekannt, sie hatte bei seiner Bar Mitzwa mit ihm getanzt. Ihre Familien standen sich so nahe, dass sie ihn ihren Cousin nennt.

Stanley Olsons Großvater Frank Olshanitsky war aus dem zaristischen Russland nach Amerika emigriert, seine Söhne Sidney and Philip Olson schufen sich ein kleines Elektronikimperium, über das man hier bei YouTube einen kleinen Film sehen kannt. Ihr Bruder Irving Olson zog sich irgendwann aus dem Geschäft zurück und wurde ein bekannter Photograph. Die Universität Akron (Ohio), die er kurz besucht hatte, verlieh ihm zum hundertesten Geburtstag einen Ehrendoktor. An der väterlichen Firma hat Stanley Olson kein Interesse, er will studieren. Nicht in Akron, sondern in Boston. Die Professorin Millicent Bell wird ihn fördern und ihren graduate student einem Londoner Kollegen empfehlen. Olson bekommt einen Platz am Royal Holloway College. Man weist ihm einen Tutor zu, er braucht keine Kurse zu besuchen. Er ist einer der ersten Studenten an diesem College, das bisher Frauen vorbehalten war.

Der Sohn einer jüdischen Familie aus Ohio verwandelt sich jetzt in kürzester Zeit in einen englischen exzentrischen Gentleman. Also schneller, als anglophile Hamburger das können, die sich bei Ladage & Oelke englisch einkleiden. Howard Malchow hat in Special Relations: The Americanization of Britain? geschrieben: Stanley Olson, a Jewish American from Akron, Ohio, who arrived age twentytwo in 1969 with the intention of becoming 'Stanley Olson, Esq.,' an English gentleman. Financed by his American family made wealthy through their electronics business, he led a largely solitary and fastidious 'stylish, literary life,' and published a biography of another expatriate, the painter John Singer Sargent

Die Professorin Millicent Bell wird in den achtziger Jahren schreiben: My former student and friend had astonishingly transformed himself into an accomplished professional writer and, even more amazingly, an Anglicized gentleman-aesthete who was a favorite of the London intelligentsia. Ihr Student, der bei seiner Verwandlung zuerst den amerikanischen Akzent ablegte und ein Englisch sprach, das Professor Higgins gefallen hätte, ist berühmt geworden. Und das verdankte er seinem Buch über den Maler John Singer Sargent, das das dritte Buch war, das er in London schrieb. Da war der Exzentriker und Dandy, der mit einem Lastenfahrrad seinen Hund Wuzzo durch Marylebone radelte, schon der Liebling der Londoner Gesellschaft geworden.

Es war nicht das erste Buch über Sargent. Kurz bevor Olson sein Buch, für das er ein Gugggenheim Stipendium erhalten hatte, vollendet hatte, war Carter Ratcliffs Buch John Singer Sargent bei dem gerade gegründeten Verlag Abbeville Press erschienen. Das ist ein plüschiger Bildband, der einen schönen Eindruck von Sargents Werk vermittelt, aber es ist keine wirklich ernstzunehmende Biographie. Auf die Abbeville Press mit ihren großen bunten Büchern wäre der Ästhet Olson niemals gekommen, sein Buch erscheint bei der St. Martin's Press, hinter der der Macmillan Verlag steht. Ratcliffs Buch ist aber wegen seines Bilderreichtums (und dafür war Abbeville ja berühmt) unbedingt zu empfehlen. Dies ist das typische coffee table book. In den USA ist es preisgünstig, hierzulande leider nicht. Ich habe Ratcliffs Buch damals bei seinem Erscheinen beim Strand Book Store in New York gekauft, war ein Sonderangebot. Gab's nie wieder. Es wird nicht verwundern, dass Ratcliffs Name in Olsons Buch nur in der Bibliographie auftaucht. 

Die Rezensionen von Olsons Buch sind durchweg lobend: This exemplary biography is manifestly fascinating. (Baltimore Sun), [Olson has produced] an absorbing, detailed, comprehensive biography of this intriguing enigma of a man. (Library Journal), Olson`s prose is a rich, almost Jamesian affair, ferociously literate, archly elliptical. (The New York Times), Stanley Olson has written a superb account. (San Francisco Chronicle), John Singer Sargent is one heck of a good book. Read it. (The Washington Times Magazine), This biography conveys vividly and with considerable charm and wit a sense of the social world of the distinguished American portrait painter. (The Virginia Quarterly Review), This biography rescues Sargent.... from the shadows of his famous subjects. (United Press International). James Fenton schrieb in der Times, das Buch sei so gut, dass es einen Preis verdient hätte.

Wenn Sie den Post blaue Vasen gelesen haben, dann wissen Sie, dass ich John Singer Sargent mag. Sargent war sechsundzwanzig, als er die Töchter von Edward Boit malte. Dies soll sein bestes Bild werden, ein Vorzeigestück, über das man spricht. Er braucht als junger Maler die Kundschaft der Reichen des Gilded Age: In the years to come he worked his way through the pages of 'Who's Who,' then 'Debrett' and 'Burke's Peerage, sagt Stanley Olson in seiner Sargent Biographie, die manchmal wundervoll gehässig sein kann. James McNeill Whistler hat Sargents malerisches Werk a sepulchre of dullness and propriety genannt, er war immer bösartig und witzig. 

Die Frage bei diesen Malern der Reichen und Schönen des Gilded Age wie Sargent und seinem Konkurrenten Anders Zorn ist: was bleibt künstlerisch von ihren Portraits übrig? Zorn, hier eine Studie einer jungen Frau im Bus, ist dem Impressionismus näher als Sargent, dem man in seinen Gemälden immer wieder eine spektakuläre Malkunst der Oberflächlichkeit vorgeworfen hat. Wenn man Sargents Bild von Isabella Gardner mit Zorns Bild von Gardner vergleicht, dann muss man sagen, dass in Zorns Bild mehr Leben ist.

Aber Sargent kann auch ganz anders malen, wie wir auf diesem Bild von Monet am Waldrand sehen, das so gar nicht zu seinen swagger portraits passt. Stanley Olson war kein Kunsthistoriker, er will mit John Singer Sargent: His Portrait keinen Bildband vorlegen, der uns die beinahe siebenhundert Bilder und zweieinhalbtusend Aquarelle des Malers zeigt. Er weiß, dass andere, wie zum Beispiel Richard Ormond dabei sind, kritische Kataloge des Gesamtwerks zu erstelllen. Was das Bildmaterial betrifft, ist Olsons Buch dürftig: Too few illustrations of Sargent's paintings support the narrative, and even they are very poor monochromes. What was most important to the artist is of marginal concern to his biographer. 

Ich hatte mir Olsons Buch gekauft, als es erschien. Weil ich im Observer, den ich damals noch abonniert hatte, eine sehr schöne Rezension gelesen hatte. Nachdem ich das Buch gelesen hatte, las ich es ein zweites Mal. Weil es so aufregend, ja beinahe fetzig war. Weil es stilistisch so wunderbar war. Weil hier jemand war, der etwas über den rätselhaften Menschen John Singer Sargent zu sagen hatte. Er war dem Sargent, über den er zehn Jahre lang schrieb, immer näher gekommen. So wie Tolstoi seiner Anna Karenina, die er anfangs nicht mochte, mit der Zeit näherkommt. 

Ein Ausschnitt von diesem Bild, dem berühmten Dr Samuel Jean Pozzi war schon in dem Post Eine Liebe von Swann zu sehen, weil ich auf das Buch The Man in the Red Coat von Julian Barnes hingewiesen habe. Solche Bilder, solche swagger portraits, will Sargent irgendwann nicht mehr malen. 1907 schreibt er an seinen Freund Ralph Curtis: No more paughtraits, I abhor and abjure them and hope never to do another especially of the Upper Classes. Das klingt jetzt ein wenig wie Thomas Gainsboroughs Satz: I'm sick of portraits, and wish very much to take my viol-da-gam and walk off to some sweet village, where I can paint landskips (sic) and enjoy the fag end of life in quietness and ease.

Aber Sargent meint es ernst, einen Freund wie den Maler Ambroglio Raffaele, den malt er noch. Die Pozzis der Welt interessieren ihn nicht mehr. Was für Gainsborough seine Viola da Gamba ist, ist für Sargent sein Bechstein Klavier, das in seinem Studio neben der Staffelei steht. Das ist ein Thema, das Olson, Amateurpianist und Wagnerianer (der nach Bayreuth mit acht gestärkten Frackhemden fährt), nicht auslässt. Sargents Verhältnis zur Musik hat die Forschung neuerdings immer wieder beschäftigt. Es ist viel Musikalität in Sargents Bildern, nicht nur in dem berühmten Bild der Flamenco Tänzerin

Bevor Stanley Olson sein Buch über Sargent geschrieben hatte, war er nicht untätig gewesen. Er hatte die Diaries & Letters 1930-1964 von Sir Harold Nicolson herausgegeben und eine Biographie von Elinor Wylie geschrieben. Elinor Wylie: A Life Apart war die erste Biographie über die dichtende amerikanische femme fatale. Sie schien einmal der literarische Stern Amerikas zu sein, sie ist heute beinahe vergessen. Die beste Beschreibung ihres Schaffens im Internet findet sich auf dieser Seite.

Wir wüssten wenig über Stanley Olson, wenn Phyliss Hatfield nicht Pencil Me In: A Memoir of Stanly Olson geschrieben hätte. Sie kam wie Olson aus Akron, hat in New York studiert, hat geheiratet und ist nach Seattle gezogen. Sie war freiberufliche Lektorin für mehrere Verlage. In einem dutzend Bücher danken ihr Autoren dafür, dass sie aus einem mangelhaften Manuskript ein gutes Buch gemacht hat. In der Geschichte der Literatur des 20. Jahrhunderts sind Lektoren manchmal genauso wichtig wie die Autoren. Was wäre aus Thomas Wolfe geworden, wenn er nicht Maxwell Perkins gehabt hätte? Look Homeward, Angel wäre nie erschienen. Faulkner hat Albert R. Erskine (der auch noch Cormac McCarthy betreute) gebraucht. Und so weiter. Und wenn Alfred Andersch nicht gewesen wäre, wäre Arno Schmidts Seelandschaft mit Pocahontas nicht gedruckt worden. Als ich mich in Hamburg an der Uni immatrikulierte, musste man ein Berufsziel angeben. Ich sagte: Lektor. Die Sekretärin fragte: Was ist das? Ich sagte: Hat was mit Büchern zu tun. Sie war's zufrieden. Das Wort Lektor steht immer noch in meinem Studienbuch, ich bin aber doch etwas anderes geworden. Aber ich habe den größten Respekt vor Lektoren. Ich bin Phyliss Hatfield dankbar, dass sie dieses Buch geschrieben hat. Sie ist jetzt achtzig, es scheint ihr gutzugehen. Sie ist Mitglied im Klub der Patriotic Millionaires.

Stanley Olson hatte mit neununddreißig Jahren einen Schlaganfall, der ihn lähmte. Er hatte Schwierigkeiten, seine Sprache wiederzufinden. Sein Buch über Rebecca West wird liegenbleiben. Rebecca West hatte schriftlich verfügt, dass nur Olson ihre Biographie schreiben dürfe. Drei Jahre nach seinem Schlaganfall starb er. Kurz vor seinem Tod waren Freunde vorbeigekommen und hatten ihn gefragt, ob sie ihn auf ihren Weihnachtskarten erwähnen sollten. Er sagte: Pencil me in. Schreiben konnte er nicht mehr. Von dem Satz Pencil me in hat Phyliss Hatfield den Titel ihres Buches genommen. Auf Stanley Olsons Urne im Golders Green Columbarium steht Stanley Olson 1947- 1989 author. scholar. loved brother and son. Nach dem Gottedienst lief Wagners Isoldes Liebestod auf einem Tonbandgerät. Es lief noch, als alle Trauernden die Kapelle verlassen hatten, man hatte vergessen, es abzustellen. Das hätte ihm gefallen. Den Liebestod kann man immer hören.


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