Mittwoch, 28. Juni 2017

Peter Paul Rubens


Der englische Kriminalschriftsteller Eric Ambler und Peter Paul Rubens haben heute Geburtstag. Über Rubens hätte ich auch schreiben können, doch zu dem fällt mir nichts ein. Ich mag ihn nicht, obgleich ich weiß, dass er ein großer Maler ist. Das letzte Mal, als ich etwas zu Rubens gesagt habe, hat mich eine ganze Gruppe von Touristen feindselig angestarrt. Geht ihr schon mal vor zu den fetten Weibern, ich guck mir noch mal die kleinen Affen an, habe ich zu Carola und Jimmy im Dahlemer Museum gesagt. Ich wollte mir noch einmal die wunderbaren kleinen Äffchen von ➱Brueghel anschauen und den Saal mit den voluminösen Schönheiten von Rubens vermeiden. Wenn Sie von mir etwas anderes als fette Weiber zu Rubens hören wollen, kann ich nur Simon Schamas hervorragendes Buch Rembrandt's Eyes empfehlen, das auch ein sehr gutes Kapitel über Rubens hat.

Das steht so 2011 in dem Post ➱Eric Ambler. Und damit könnte mein Post über Peter Paul Rubens schon zu Ende sein. Aber da heute der 440. Geburtstag von Rubens ist, bekommt er doch noch einige Zeilen. Zu diesem Herrn hier möchte ich allerdings auch noch etwas sagen. Es ist eine kleine Geschichte, die mit ihm zu tun hat und die nur wenige kennen. Die diese Geschichte wohl niemals erzählen werden, weil sie dann auf ewig blamiert sind. Es ist Jahre her, Barschel lag tot in der Badewanne, Engholm wurde Ministerpräsident, da erhielt ich in der Uni einen Anruf aus der Staatskanzlei. Eine nette Stimme fragte mich, ob ich Jay sei, der Guru zum Thema ➱Kriminal- und Spionageroman.

Ich bejahte vorsichtig, man sollte immer vorsichtig sein, wenn man aus dem Landeshaus angerufen wird. Das letzte Mal, dass ich in der Staatskanzlei gewesen war, wollte ich mich bei Stoltenbergs Staatssekretär beschweren, dass Stolti nur die Hälfte meiner schönen Rede zur Eröffnung der Ausstellung ➱Illustrationen zu Melville's Moby Dick gehalten hatte. Aber dieser junge Mann wollte etwas ganz anderes von mir. Er erzählte mir, dass sein Ministerpräsident (sprich Engholm) so furchtbar gerne diese Romane mit den internationalen Verschwörungen läse. Ich sagte, dass sei an sich noch nichts Böses, auch Kennedy hätte gerne die ➱James Bond Romane gelesen. Aber er hörte nicht hin und fuhr fort, dass sie sich in der Staatskanzlei gedacht hätten, dass sie ihm eine kleine Freude machen wollten.

Und da sei letztens ein Fachmann (den Namen wollte er mir nicht nennen) bei ihm gewesen, der einen dreitätigen Kongress zum Thema Thriller organisieren würde. Der verhandle noch mit ➱John le Carré, aber Eric Ambler (hier ein Photo von Lieutenant Colonel Ambler während des Krieges), den hätte der schon fest gebucht. Der käme auf jeden Fall nach Kiel. Kommt er nicht, unterbrach ich ihn. Ich hatte die ganze Zeit den Unsinn mitgeschrieben, den er mir erzählte. Jetzt war es mir zu viel, jetzt redete ich Fraktur: Eric Ambler ist schwer herzkrank, der kommt nicht mehr die Treppe vom ersten Stock seines Hause herunter. Wie soll er da nach Kiel kommen?

Es war mir klar, dass dieser Politiker einem Schwindler vom Format von Melvilles Confidence Man aufgesessen war. Ich gab ihm noch einige Bosheiten mit auf den Weg und sagte ihm, dass sein Chef durch die kriminellen Intrigen seines Vorgängers an die Macht gekommen sei. Warum jetzt selbst kriminell werden? Wie wolle er vor dem Steuerzahler rechtfertigen, dass er einen teuren Kongress zum Thriller organisiere, nur um seinem Chef eine Freude zu machen? Der Überschwang des Staatssekretärs war plötzlich nicht mehr überschwänglich. Ob ich ihm die Argumente, die gegen einen solchen Kongress sprächen, schriftlich zukommen lassen könne, fragte er. Habe ich getan, er hat sich nie bedankt. Ich habe die Geschichte niemandem erzählt, auch meinem Freund ➱Gert Börnsen nicht. Aber heute musste ich die kleine Geschichte, die uns zeigt, wie naiv und dumm Politiker sein können, einmal loswerden. Was ich dem damals Herrn verschwiegen habe, ist die Tatsache, dass einer der ersten Spionageromane, ➱The Riddle of the Sands, in Schleswig-Holstein beginnt. Aber das rechtfertigt auch noch nicht das Verschleudern von Steuergeldern für einen Kongress für Herrn Engholm.

Jetzt vergessen wir einmal den hervorragenden Krimiautor Eric Ambler und kommen zu dem anderen Geburtstagskind, nämlich Peter Paul Rubens. Zu dem habe ich gerade in der Süddeutschen einen hochinteressanten Artikel gelesen, der ➱Die Bilderärzte heißt. Es geht dabei um die hochmodernen Methoden, die zur ➱Restaurierung dieses Gemäldes aus der Zeit um 1630 angewandt wurden.

Seit Max Doerner sein Standardwerk Malmaterial und seine Verwendung im Bilde veröffentlicht hatte, hat sich auf dem Gebiet der Restaurierung von Ölgemälden einiges getan. Hier entdeckt die Restauratorin ➱Ina Slama gerade einen Nagel unter der Farbschicht. Rubens hat seine Gewitterlandschaft auf dünnem Eichenholz gemalt, das auf der Rückseite von Holzstäben (einer sogenannten Parkettierung) gestützt wurde. Die durch Nägel mit dem Holz des Gemäldes verbunden wurden. Lesen Sie doch mal eben diesen kurzen ➱Artikel und klicken Sie die Bilder an, dann wissen Sie, worum es geht.

Das Getty Institute hat für solche Dinge eine Panel Painting Initiative ins Leben gerufen. Hier können wir die Wiener Gewitterlandschaft vor ihrer Restaurierung sehen. Uns allen ist klar, dass sich die Farben der Bilder im Laufe der Jahrhunderte verändern können. Der Grünspan zum Beispiel, den die alten Niederländer zwischen zwei farblose Lackschichten, legten, ist mit der Zeit milchig geworden, sieht aber deshalb geheimnisvoll schön aus. Wenn solche Bilder restauriert werden, verlieren sie ihren Reiz. Ein großer Teil der interessanten Bilder der Ausstellung ➱Weltsichten: Landschaft in der Kunst vom 17. bis zum 21. Jahrhundert, die ich vor Jahren sah, war unfachmännisch scharf gereinigt worden. Damit macht man aus drittklassigen Bildern keine erstklassigen Bilder.

Man kann auf der unrestaurierten Fassung des Rubensbilds mit Philemon und Baucis nicht so furchtbar viel erkennen. Die Struktur des Bildes wird durch diesen seitenverkehrten Stich von Schelte Adamsz. Bolswert klarer. ➱Jacob Burckhardt hat über das Bild gesagt: Allein Rubens wurde bisweilen von seinem Geiste geführt, daß er das Meteorisch-Furchtbare darstellen mußte ... Das erstaunlichste dieser Bilder aber ist (Galerie von Wien) jene schon oben, bei Anlaß von Philemon und Baucis erwähnte »Wasserflut von Phrygien«: ein weites Hochtal, schrecklich überschwemmt von einer Flut, die schon tote Tiere mit sich dahinführt; in den Lüften eine Feuer- und Wassermasse, in allen Wolken Blitze; das Licht von allen Seiten kommend, und links unten ein Regenbogen; die Wasserniveaus sind unmöglich und widersprechen einander, und dabei ist es ein Werk hohen Ranges.

Der in Siegen geborene Peter Paul Rubens, der Maler und Diplomat werden wird und den der englische König (und andere Souveräne) adeln wird, beginnt sein Leben als Kölner Jung. Die ersten zehn Jahre seines Lebens hat er in der Domstadt gelebt. Er wird dahin nie zurückkommen, wird aber, wenn er kurz vor seinem Tod den Auftrag eines ➱Kreuzigungsbildes für St Peter annimmt, sagen, dass er eine große Liebe zu Köln habe. Dieses Bild, das Rubens und seine junge Frau Isabella Brant in der Geißblattlaube zeigt, ist sicherlich eins seiner schönsten Bilder. Nach ihrem Tod wird er klagen: Ich habe meine gute Frau verloren! Sie hatte keinen der Fehler ihres Geschlechtes, sie war ohne Launen, so gut, so treu. Und er heiratet dann die siebzehnjährige Hélène Fourment, die ihm ebenso wie Isabella Brant für viele Bilder Modell stehen wird.

Ich habe im ersten Absatz Simon Schamas Buch Rembrandt's Eyes empfohlen, weil es sehr viel über Rubens sagt. Über Rembrandt sagt es auch sehr viel, aber eher in romanhafter Form. Wenn man wirklich etwas über ➱Rembrandt wissen will, dann sollte man sich das Rembrandt-Buch von Gary Schwartz kaufen. Oder noch preisgünstiger: den Band Rembrandt von Christian Tümpel in der Reihe der ➱rowohlts monographien. So brillant ➱Schama als Kulturhistoriker ist, er ist nun mal kein professioneller Kunsthistoriker wie Gary Schwartz. Der will auch nicht den ganz großen kulturhistorischen Kontext wie Schama entwerfen, er schreibt über Rembrandts Werk. Das ist ihm genug. Simon Schama schreibt eher eine romanhafte Biographie Rembrandts und der Niederlande.

Wenn Sie sich fragen, warum Rubens in einem Rembrandt Buch die heimliche Hauptfigur ist, dann hat Schama dafür eine Erklärung, Rembrandt wollte wie Rubens sein: Rubens war cool. Rembrandt war uncool. Rembrandt wollte aber wie Rubens sein, und je mehr er das versuchte, desto gründlicher misslang es. Er war ein Messie, der sein Haus mit lauter Kram voll stopfte, ein Zwangsgestörter, der nicht mit Geld umgehen konnte und sich immer weiter verschuldete, insbesondere beim Versuch, ein so schönes Haus wie Rubens zu kaufen und zu unterhalten.  Schreibt jemand namens Nils Minkmar in der ➱Zeit, das ist stilitisch wohl für die Fack ju Göhte Generation. Aber, wie mein Freund Volker gestern sagte, als er mir die Zeit der letzten Woche brachte, die Zeit sei gleichsam die Bunte für Intellektuelle. Was kann man von diesem Italiener, der Goldkettchen trägt, als Herausgeber anderes erwarten?

Die ➱New York Times sagte zu der These, dass Rembrandt Rubens sein wollte, nur knapp: The core argument of this book, if there can be said to be one, is rather strange. It is that Rubens was the prime inspiration and psychological driving force for Rembrandt during much of his career -- he was the man who ''haunted'' Rembrandt's imagination until Rembrandt finally freed himself. It has always been clear that Rubens influenced Rembrandt to an extent, the way he influenced many artists, because he was the most famous painter of the day. This influence can be traced in a few works by Rembrandt, which Schama notes. But that sort of influence is different from being an obsession and a role model.

Rubens mochte ➱Adam Elsheimer, und er ist in diesem Blog immer wieder erwähnt worden, so ist es ja nicht. Geben Sie mal seinen Namen in eins der Suchfelder ein, Sie werden überrascht sein. Das Bild der Hélène Fourment halbnackt mit dem Pelz, das nehme ich als ➱Aktmalerei ja noch hin, aber Bilder wie die in den letzten beiden Absätzen, die kann ich kaum ertragen. Brauche ich auch nicht, die Geschmäcker sind verschieden, und De gustibus non est disputandum.

Ich sollte zum Schluss noch sagen, dass das Kunsthistorische Museum in Wien vom 17. Oktober 2017 bis zum 21. Januar 2018 eine große ➱Rubens Ausstellung zeigen wird. Dies hier bekommt man nicht zu sehen (oder höchstens auf einem Photo), das ist die Rückseite der Landschaft mit dem Gewittersturm mit der neuen Parkettierung. Nichts mehr geleimt oder genagelt, gefederte Nylonstifte lassen das Bild schweben. Hält vielleicht für die Ewigkeit.

Sonntag, 25. Juni 2017

ave atque vale


Ich begann Proust zu lesen, weil mir mein Freund Peter sagte, dass wir unbedingt Proust lesen müssten. Ich las immer, was er empfahl. Er hat mir vor einem halben Jahrhundert aus Paris den Katalog der Proust Ausstellung mitgebracht, da war ich schon lange durch Prousts gewaltiges Werk durch. Mein Freund Peter, der mich mein ganzes Leben lang mit schönen Büchern beschenkt hat, ist vor wenigen Monaten gestorben. In meinem Kopf ist er noch da, immer wenn ich stumme Selbstgespräche führe, rede ich mit ihm.

Das steht im Post zu ▹Anita Albus. Da habe ich es hier zum ersten Mal gesagt, dass der Peter tot ist. Ich hatte schon vor Monaten einen Nachruf angefangen, aber ich kam damit nicht zurecht. Über ihn zu schreiben, bedeutete, wieder einmal die Vergangenheit heraufzubeschwören. Das tue ich eigentlich gern, das wissen Sie. Allerdings ungern, wenn es mit dem Tod verbunden ist. Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Zucht, steht auf der Trauerkarte. Die neueren Bibel Versionen haben das Luthersche Zucht durch Besonnenheit ersetzt, die Strenge des Wortes Zucht passt wohl nicht mehr in unsere Zeit. Aber das Wort passt zu ihm. Er war ein sorgfältiger Philologe und ein hervorragender Kunsthistoriker. Wann immer ich wissen wollte, was mein ▹Onkel Karl auf der anderen Seite der deutsch-deutschen Grenze gerade machte, er fand es für mich heraus.

Wir legten uns die Welt zurecht, als wir jung waren, Peter und ich. Die Welt der Kunst und der Literatur. Das Leben war damals noch langsamer, und es machte in seiner Langsamkeit mehr Sinn. Wir lasen gleichzeitig Prousts Recherche. Wir lasen zur gleichen Zeit Ezra Pound und James Joyce. Wir schrieben gleichzeitig Gedichte, die viel von Ezra Pound und James Joyce hatten. Peter sah nachsichtig darüber hinweg, dass mich ▹Charlie überredet hatte, ▹Jack Kerouac zu lesen. Wir blendeten manche Dinge aus. Wir redeten nie über Frauen. Wir beklagten schon früh in unserem Leben den Verfall der Kultur. Seinen Satz Wenn man das hier so sieht, dann kann man ja nur noch im Antiquariat kaufen vor dem Schaufenster einer Bremer ▹Buchhandlung habe ich nie vergessen. Wir definierten Kultur mit ▹Matthew Arnold, wir nahmen mit jugendlicher Selbstverständlichkeit nur das Beste aus der Welt von Literatur, Kunst und Musik. Das darf man, wenn man jung ist, sagte mir ein Freund, als ich ihm vom Tod meines Freundes Peter erzählte. Wann denn sonst? Ich habe alle Briefe von Peter aufgehoben, mit denen kann ich unseren intellektuellen Lebensweg nachwandern. Und seine Resignation über den Niedergang Bremens verfolgen.

Wir sind durch die Wälder Eggestedts gewandert (bevor die Bundeswehr oder die US Army sie vereinahmte). Oder, wenn die Zeit knapp war, durch den Blumenthaler Löh, Wätjens Park eingeschlossen. Oder die Weserdeiche entlang. Zu den den kleinen halbverfallenen Kirchen hinter dem Deich, in denen immer eine Gedenktafel für einen Walfänger an der Wand war. Manchmal waren wir mit Photoapparaten unterwegs. Er hatte schon früh eine Spiegelreflex, ich war froh, dass ich meine ▹Werra hatte. Ich habe mir vor Jahren eine ▹Exakta auf dem Flohmarkt gekauft. Weil ich alte Photoapparate sammle. Und weil ich durch diesen riesigen Sucherschacht die Welt mit seinen Augen sehen wollte. Wenn wir wanderten, redeten wir. Diskutierten. Über Literatur, über französische Filme. Als ich ihm vor zwei Jahren den Post zu Renoirs ▹La règle du Jeu schickte, schrieb er: Liest sich gut. Tage später kamen zwei Pakete an, voll mit den Heften der ▹Cahiers du Cinéma und L'Avant-Scène. Ich habe jetzt wahrscheinlich die größte Sammlung französischer Filmkritik hier im Ort.

Das erste Heft von L'Avant-Scène, das er mir aus Paris mitbrachte, war das zu dem Film ▹La vie de chateau. Peter war damals häufig in Paris. Ich war bei der Bundeswehr. Will ich jetzt nichts Böses drüber sagen. Immerhin bin ich mit meiner Brigade für Monate nach ▹Frankreich gekommen, die ersten deutschen Soldaten nach dem Zweiten Weltkrieg, die in Frankreich waren. Das massif central war zwar nicht Paris, war aber Frankreich. Und in Paris war ich schon gewesen, im ▹Sommer 1959. Und dann noch zweimal kurz, um eine Freundin zu besuchen, die da als fille au pair arbeitete. Heiße Abschiede am Gare du Nord, das wäre etwas für die Kamera von Robert Doisneau gewesen. Peter war nicht bei der Bundeswehr, wir haben nie darüber geredet. Das war Privatsache. Ob man nach Berlin zog, um nicht eingezogen zu werden wie ▹Gert, ob man den Wehrdienst verweigerte oder Zeitsoldat wurde wie ich, wir redeten nicht darüber.

Wenn wir durch die Wälder streiften oder ▹Schlittschuh liefen, waren wir praktisch gekleidet. Damals gab es noch Anoraks, die scheinen aus der Mode gekommen zu sein. Wenn wir nach Bremen fuhren, was für uns Nordbremer eine kleine ▹Weltreise war, waren wir zurückhaltend elegant gekleidet: Flanellhosen, Tweedjackett und rahmengenähte Schuhe, so sind wir immer durchs Leben gegangen. Wir redeten darüber, wo man die besten Flanellhosen bekommt, das war vor über fünfzig Jahren durchaus ein Thema. Ich zitiere dazu mal eben etwas - auch als Beleg dafür, dass mein Freund Peter immer in diesem Blog war - was schon in dem Post ▹Aftershave steht:

Ich bin darauf gekommen, weil mir beim Aufräumen eine Photokopie in die Hand fiel, die mir mein Freund Peter mal vor Jahrzehnten geschickt hat. Undatiert, keine Quellenangabe. Könnte aus einer alten Nummer vom ▹Twen sein, hat ein wenig was von diesem coolen Willy Fleckhaus Design. Zeigt auf der rechten Seite einen Mann als anatomische Zeichnung, nur Muskeln und Knochen. Und auf der linken Seite dazu eine Beschreibung als free verse. Der Text beginnt mit der Aufzählung aller Muskeln und Knochen, dann folgt ein kleines Loblied auf den Architekten Wilhelm Büning, und dann endet der Textblock mit:

Doch nun zurück zu unserem model.
Der Mann lebt, und er verdient es,
wieder angezogen zu werden.
Da steht er.
Unterkleidung: Nylon, '55er Qualität,
Lobb-Schuhe, Flanellhosen,
Lacoste-Hemd - ohne Kriechtier,
weiße Socken,
eine alte Rolex in der Hosentasche,
eine Ray-Ban auf der Nase,
über der Schulter
den alten Burberry - ohne Futter,
am Arm den Brigg-Schirm,
Rosenholz, schwarze Seide,
Andron-Aftershave hängt in der Luft.
Jetzt kennen wir ihn besser.


Klingt ein wenig nach den fifties, als man noch ▹weiße Socken tragen durfte, als Lacoste Hemden noch teuer waren und ewig hielten. Zeigt auch einen gewissen Stil: eine ▹Rolex kann man ja nur in der Hosentasche tragen.

Peter hatte früh seinen eigenen Stil, er liebte Strickjacken aus Kaschmir. Auch Cordhosen und gute rahmengenähte Schuhe, er hatte immer etwas von einem bayrischen Landadligen an sich, was vielleicht daran lag, dass seine Mutter aus einer berühmten Münchener Familie kam. Understatement war Peter immer wichtig. Bei ihm zu Hause hing im Wohnzimmer ein echter ▹Corinth an der Wand, eins der vielen Walchensee Bilder. Peter hatte auch einen kleinen Wald in Rieden bei ▹Reutte geerbt, aber ich weiß nicht, was daraus geworden ist. Als ich in Reutte im ▹Skiurlaub war, habe ich seinen Wald gesucht, aber nicht gefunden. Es lag zu viel Schnee auf den Waldwegen. Ich habe das dann aufgegeben, ich wollte nicht im Schnee liegenbleiben wie ▹Robert Walser. Dass ich schon früh den ganzen Walser gelesen habe, verdanke ich nur Peter.

Unsere Bremen Ausflüge, die uns immer wieder in ▹Filmkunsttheater oder die ▹Kunsthalle führten, endeten immer im Café. Zuvor mussten wir bei ▹Hespen am Wall in die Fenster guckend, damit wir auf dem Laufenden waren, wie sich die Bremer die Engländer vorstellten (als Hespen unterging, schickte mir Peter noch die Bremer Zeitungen mit den Anzeigen für den Ausverkauf). Nicht nur englische Klamotten, England und der englische Geist bedeutete uns damals etwas, das war in Bremen eigentlich selbstverständlich. Vor vielen Jahren schrieb er mir: Dank natürlich für die Erinnerungsgaben ans alte England, wie sentimentale Gedächtnisinseln. Wir sind jetzt alle zwei Jahre dort, kariolen - bei festem Standquartier - durch die Gegend, finden noch massenhaft Schönes wie aus der Zeit gefallen, als ob auf irgendeinem Parkplatz aus einem Jaguar nebenan der James [unser ▹Englischlehrer] steigen könnte, - aber dann auch wieder Armut und Elend schlimmer als bei unseren Brüdern und Schwestern jenseits der Zonengrenze, und immer wieder der Eindruck, daß der Verlust des Empire bis heute nicht bewältigt wurde, und wohl auch nicht bewältigt werden wird.

Wenn wir alles bei Hespen gesehen hatten, mussten wir auch noch mal eben die Schuhe in den Fenstern von ▹Lattemann in der Sögestraße bewundern. ▹Stiesing sparten wie uns, war zu langweilig, später war Peter da aber Kunde. ▹Hans Kalich in der Böttcherstraße, der als erster in Bremen italienische Mode führte, war nicht Peters Sache. Wir gingen nie ins Café Jacobs, wo damals die ersten Schülerhorden aus Bremer Gymnasien auftauchten. Auch nicht zu Hillmann. Oder Knigge (da konnte man ja nur einmal in Jahr den Bremer Klaben kaufen, wenn einem der von der Bäckerei Hellweg in Vegesack nicht gefiel). Das sind Cafés für Leute, die in Flensburg Petuh Tanten heißen oder die in Lübeck beinahe berufsmäßig im Café Niederegger sitzen.

Für uns konnte es nur ▹Stecker in der Knochenhauerstraße sein. Ein Rokokohaus, klein, verwinkelt, das Café geht über mehrere Stockwerke. Intim und mit Stil. Wir tranken nie Kaffee, entweder einen Tee oder eine Schokolade. An einer Schokolade kann man die Qualität eines Cafés erkennen, sagte Peter. Das durfte natürlich nicht diese Plörre sein, die man heute bei Starbucks (oder wie diese austauschbaren Café Macdonalds heißen) bekommt. Die sieht genauso aus wie der Kakao der Schulspeisung 1949. Schmeckt auch so. Hätten wir ein halbes Jahrhundert früher gelebt, dann hätten wir vielleicht zu der Gesellschaft gehört, die in ▹Sommer in Lesmona beschrieben wird. Vielleicht waren wir kleine Snobs, aber wir waren auch dabei, mit einundzwanzig durch die Weltliteratur durch zu sein. Und wir ahnten auch, dass die ganze Welt von Sommer in Lesmona eine romantische Inszenierung war.

Wir lernten uns im Gymnasium kennen, natürlich Lateinklasse. Wir waren auch in der selben ▹Tanzschule, sind auch beide auf dem ▹Photo vom Abtanzball. Wir hatten Glück mit den Lehrern, ▹Hermann Bollenhagen, ▹Gustav Renziehausen. In der Oberstufe fing unser Unglück an. Da gingen wir noch noch zur Schule, um unter der Bank zu lesen. Wir hassten unseren Deutschlehrer. Peter schaffte es, den Ritterschlag aller heimlichen ▹Leser zu bekommen, einen Eintrag im Klassenbuch: Peter liest unter der Bank. Das ist ungefähr soviel wert wie der Titel eines doctor philosophiae. Den bekam er später. Wir hörten nie auf, unter der Bank zu lesen. Unser Deutschlehrer mochte als ▹Physiklehrer vielleicht noch angehen, als Deutschlehrer war er eine Katastrophe. Er war stolz darauf, auf einer Napola gewesen zu sein, ein Nazi wie ▹Paul Carrell hat ihm später zu dem Posten eines Direktors einer Privatschule verholfen. Ich habe diesem Mann, der als DDR Flüchtling zwar kein abgeschlossenes Germanistikstudium, aber dafür ein großes Sendungsbewusstsein besaß, immer meine Meinung gesagt. Peter verachtete ihn genau wie ich, zeigte es aber kaum. Ich hatte eine große Klappe, er war stiller, vornehmer. Ich hatte eher etwas von Tim Mälzer, oder von dem Hoppla jetzt komm ich von Hans Albers. Aber wir alle spielen Theater, das ist nur eine Rolle, natürlich kann ich auch wahnsinnig vornehm sein. Ein bisschen Tim Mälzer zu sein, ist aber eine gute Tarnung für einen Intellektuellen.

Auch wenn wir schon früh kleine Gelehrte waren, wir waren nicht weg von der wirklichen Welt. Peter hatte an der Kurzschule Weißenhaus einen Überlebenskurs gemacht, wo man Leute aus der Brandung rettete und solche Dinge. War vielleicht nützlich für den ▹Ruderverein, in dem er war. Aber ich glaube, er ist nie mit seinem Boot untergegangen, das blieb im VRV meinem Bruder vorbehalten. Peter war auch eine große Hilfe, als wir in ▹Zwischenahn unsere ▹A+R Mahagonijolle abgeschmirgelt haben. Er hat beinahe die ganze Arbeit gemacht. Dafür habe ich für den eiskalten Linie Aquavit gesorgt. In den Semesterferien haben wir beide gejobbt, er hat Öltanks auf einer Werft gereinigt, was damals irrsinnig gut bezahlt wurde. Der Sohn von Kapitän ▹Bögel, selbst schon Kapitän, ist bei einer Explosion in den Öltanks seines Schiffes ums Leben gekommen. Ich machte lieber ungefährlichere Dinge, ich fuhr ▹Bier oder machte ▹Wehrübungen. Peter hat auch ein Volontariat bei Schünemann gemacht, als das noch ein seriöser Verlag war, damals hat er mir witzige Texte mit Bleisatz gedruckt. Bleisatz gibt es heute auch kaum mehr.

Die Stadt Bremen verdankt Peter eine Menge, weil er als Denkmalschützer viele von den historischen Bauten vor dem Schlimmsten bewahrt hat. Oder das Schlimmste gerade noch verhindern konnte. Kunst- und Baugeschichte; Denkmalpflege, Kunst- und Baugeschichte Bremen und Bremerhaven steht im Vademecum deutscher Lehr- und Forschungsstätten als Tätigkeitsbeschreibung hinter seinem Namen. Häufig waren das Projekte, die über Jahre gingen und an den Nerven fraßen. Manchmal bekam ich in dieser Zeit etwas ab, eine halbzerbrochene Kachel oder ein Stück vergoldeter Tapete aus einem Haus des 18. Jahrhunderts. Das älteste Geschenk ist ein Druck aus dem Jahre 1548, der bei mir an der Wand hängt. Die geringsten Probleme hatte er als Denkmalpfleger mit unserem Haus, da hat er meine Mutter ganz charmant rumgequatscht, und dann stand das ▹Haus aus dem Jahre 1830 unter Denkmalschutz. Wenig später die halbe ▹Straße.

Es zahlte sich aus, dass er nach dem Studium der Kunstgeschichte noch ratzfatz ein Jurastudium absolviert hatte. Als der schwedische Hotelkonzern Scandic das Haus Atlantis mit dem Himmelssaal in der ▹Böttcherstraße kaufte, hatte Peter viel Arbeit, um das Wichtigste zu bewahren. Damals wurde ja die ganze Böttcherstraße heimlich ausgewaidet, nachdem ▹Ludwig Roselius junior die Firma Kaffee Hag und mit der ganzen Böttcherstraße an das amerikanische Unternehmen Kraft Foods verkauft hatte. Die Fassaden sind noch da, aber dahinter sind dann Betonklötze, die Radisson Blu Hotel Bremen oder so ähnlich heißen. Er wurde bei seiner Arbeit nicht immer von der Politik unterstützt. Dazu fällt mir wenig ein. Bremen und Kultur, das war einmal etwas zur Zeit der ▹Goldenen Wolke. Was soll man zu Leuten wie ▹Willy Dehnkamp, ▹Moritz Thape (der die Ära Hübner am Bremer Theater beendete) oder Willy Lemke (ehemals ▹Werder Bremen) als Kultursenatoren sagen?

Manches geht im Leben schief. Unser Plan, an einem Abend Lyrik und Jazz zu präsentieren, zum Beispiel. ▹Lizzie hatte ich schon an der Hand, er war ein hervorragender Jazzpianist. Dass er ein guter Pianist war, fand unser Musiklehrer, der berühmte ▹Ernst Meißner zwar nicht, aber der war mir egal. Eine schöne Frau zum Vorlesen der Gedichte hatte ich auch schon, ich hatte immer gute Beziehungen zu schönen Frauen. Aber Peter kam mit dem Eröffnungsgedicht nicht über, das Morning in Copenhagen heißen sollte. Er gestand mir dann, dass er noch nie in ▹Kopenhagen gewesen sei. Ob er über London oder Paris schreiben könnte? Die schöne Vorleserin wollte aber Kopenhagen haben, nichts anderes. Das war das Ende der Geschichte. Abende mit Jazz und Lyrik waren Jahre später die große Sache, wir hätten die ersten sein können. Peters Gedicht liegt bei mir immer noch in der Schreibtischschublade.

Ich wollte Peter mal dafür begeistern, dass wir einen Katalog der Bilder und Skizzen von ▹Fritz Overbeck machen sollten. Ich hatte Zugang zum Overbeckschen Garten, wo der Rest des Werkes in einem gläsernen Gewächshaus mit zerbrochenen Scheiben dahinrottete. Peter guckte sich das an und schüttelte dann traurig den Kopf. Das lassen wir lieber, sagte er. Wir bedankten uns bei dem Fräulein Overbeck, die einsam in ihrer Villa auf dem Bröcken hockte. Wenn Peter sagte, dass es keinen Sinn hatte, dann hatte es keinen Sinn. Die Idee war aber, wie auch bei Jazz und Lyrik, gut gewesen.

Ein größerer Flop war eine denkmalpflegerische Geschichte Jahre später. Das Landesamt für Denkmalschutz hatte das Haus bei uns um die Ecke, das der Baumeister Johann Friedrich Kimm 1840 für den ▹Kapitän Ruyter gebaut hatte, aus einem völlig versifften Zustand wieder in ein kleines klassizistisches Juwel verwandelt. Und dann brachte die Stadt Bremen straffällig gewordene Jugendliche mit einem sogenannten Erzieher in dem Haus unter. Die es in kürzester Zeit wieder in einen versifften Zustand zurückführten. So etwas muss wehtun, wenn man für das Landesdenkmalamt arbeitet.

Aber der Ensembleschutz für Weserstraße und ▹Hafenstraße sind Peters Verdienst, dass der morsche ▹Walkiefer am Utkiek durch einen Bronzeguss ersetzt wurde, auch. Gegen den widerrechtlichen Abriss des historischen Landsitzes von ▹Arnold Duckwitz durch diesen fiesen Bernd Hockemeyer, der heute in Bremen als Kulturmäzen gilt, konnte er nichts machen. In solchen Fällen zeigt sich leider, dass das Landesamt für Denkmalschutz ein zahnloser Tiger ist. Wir wanderten einmal an der Aue hinter dem Schönebecker Schloss entlang, als ich Peter sagte, dass irgendwo dahinten die Villa von Hockemeyer sei. Der hat sich gerade eine Majolika Sammlung gekauft und spielt sich jetzt als der ganz große Sammler auf, knurrte Peter verächtlich. Ein paar hundert Meter weiter zeigte ich mit dem linken Arm auf den Landsitz der Familie von der Borch (nach denen die Borchshöhe heißt), der da oben durch den Wald schimmerte, und sagte: Und der von der Borch macht gerade Schlagzeilen als der Nuttenmörder von Frankfurt. Es geht alles den Bach runter mit dem Bremer hanseatischen Gehabe.

Es hatte den Peter sehr gefreut, dass ich in dem Post ▹Vaterlandsstolz etwas über den deutschen Aufklärer Helfrich Peter Sturz geschrieben habe, der in Bremen starb. Weil Peter als eins seiner Projekte die Restaurierung des Guts Landruhe, das damals einem Freund von Helfrich Peter Sturz gehörte, geleitet hat. Er hatte damals viel Ärger mit den Auftraggebern, sprich der Bremer Landesbank. Wenn es nach denen gegangen wäre, dann wäre das Haus außen weiß angepönt und innen entkernt worden. Wenn es nach dem Landesamt für Denkmalschutz geht, dann werden die Nägel, die man braucht, von Hand angefertigt. Wie im 18. Jahrhundert. Da kenne ich mich aus. Seinetwegen. Mach' 18. Jahrhundert, hat er mir vor einem halben Jahrhundert gesagt, niemand macht 18. Jahrhundert. Wenn Sie alles in diesem Blog gelesen haben, dann wissen Sie, dass hier viel ▹18. Jahrhundert vorkommt, ▹Peter Nicolaisen hat mit seinem Seminar damals die Basis dafür gelegt.

Über die Sache mit den teuren handgeschmiedeten Nägeln hat sich die Landesbank furchtbar aufgeregt. Peter hat mir im letzten Jahr ein Buch geschenkt, dass Carl Philip Cassel und sein Landgut 'Landruhe' heißt. Das werden Sie bei Amazon vergeblich suchen, es ist ein Privatdruck, in dem mein Freund alles über das Landgut und die Restaurierungsarbeiten schriftlich und photographisch niedergelegt hat. Wir haben uns immer unsere Publikationen zugeschickt, ich weiß nicht, ob ich mal in eine Widmung für ihn il miglior fabbro hineingeschrieben habe. Hätte ich tun sollen, wenn nicht, tue ich es jetzt. Als ich ihm meinen ▹Aufsatz über Thomas Cole und William Cullen Bryant geschickt hatte, schrieb er mir, dass er gerade in den Catskills gewesen sei: schöne Natur, aber überall die scheußlichen weißen Villen von McKim, Meade und White.

Ich bin glücklich, dass ich ihm geschrieben habe - und es immer wieder in diesem Blog gesagt habe - was ich ihm alles verdanke. Einem Freund wie ▹Friedrich Hübner wird es schon peinlich, dass ich ihn immer wieder zitiere, aber wer anders als er schenkt mir einen Katalog der ▹Bremer Kunsthalle mit einem Brief von Günter Busch an ▹Wolfgang J. Müller? Ein Geschenk, das von Peter hätte sein können. Vor Jahrzehnten hatte Peter mir den Roman Der schwarze Herr Bahßetup geschenkt, was mich umgehend zu einem ▹Albert Vigoleis Thelen Fan machte. Dass ich ihm die Lektüre von ▹Le Grand Meaulnes verdanke, habe ich schon gesagt.

Zu Weihnachten bekam ich von ihm die Alfred Lichtwark Biographie von Henrike Junge-Gent, zum Geburtstag vor kurzem bekam ich nichts. Da machte ich mir Sorgen, mehr als ein halbes Jahrhundert kamen Weihnachts- und Geburtstagsgeschenke auf die Sekunde genau, alles war liebevoll verpackt. Häufig Bücher über Bremen, die er wie ein Trüffelschwein aufspürte. So Sachen wie ▹Konrad Weichberger, den Roman ▹Melchior von Josef Kastein oder Nils Aschenbecks Buch über den Architekten ▹Ernst Becker-Sassenhof. Und neben den Bremensien, die bei mir ein Regal ausmachen (auch wenn wir unsere Heimatstadt nicht mehr mögen, hängen wir doch an ihr), kamen die Kunstbücher. Bücher, die mir neue Wege wiesen. Die muss ich jetzt alleine finden.

Als ▹Ekke mich anrief, um mir zu sagen, dass Peter gestorben war, war ich für einen Augenblick stumm. Aber ich hatte so etwas geahnt. Aus irgendeinem Grund fiel mir Hölderlins Hälfte des Lebens ein: Weh mir, wo nehm ich, wenn Es Winter ist, die Blumen, und wo Den Sonnenschein, Und Schatten der Erde? Die Hälfte des Lebens ist lange vorbei. Das Weh mir bleibt.

Freitag, 23. Juni 2017

Ernst Rowohlt


Der Verleger Ernst Rowohlt wurde heute vor einhundertdreißig Jahren in Bremen geboren. Ein Genussmensch, larger than life würden die Engländer sagen. Leutnant im Ersten Weltkrieg, Hauptmann im Zweiten, Berufsverbot bei den Nazis. Ich kenne den Namen Rowohlt, seit ich lesen kann. Weil ich mit diesen Büchern aufwuchs, auf denen rororo stand. Was nichts anderes als Rowohlts Rotations Romane hieß. 1954 erschien der 10 Millionste rororo Band. 1950 waren die ersten vier rororo Taschenbücher erschienen: Hans Fallada Kleiner Mann – was nun?, Graham Greene Am Abgrund des Leben, Rudyard Kipling Das Dschungelbuch und Kurt Tucholsky Schloß Gripsholm. Die Auflage betrug je 50.000 Exemplare, der Preis je 1,50 DM. Bis Mitte Oktober folgen weitere acht Bände, die Gesamtauflage beträgt zu diesem Zeitpunkt 620.000 Exemplare. Die ersten Bücher, noch im Zeitungsformat, wurden vom Verleger so beworben:

Die Entwicklung der deutschen Literatur wurde im Jahre 1933 jäh unterbrochen. Was seitdem erschien, hat kaum Bestand. Dem Dichter und Schriftsteller, im Jahre 1945 plötzlich der Fesseln entledigt, fehlen noch neue Worte zu neuer Zeit. Es gibt eine ganze Generation von jungen Leuten, die nichts wissen von der Literatur vor 1933, auch nichts vernommen haben von den Stimmen des Auslandes, die spärlich nur - und auch nur in den ersten Jahren des nationalsozialistischen Regimes - zu uns drangen. Die Bibliotheken sind zerstört, die Bücher vernichtet oder einst auf Scheiterhaufen verbrannt. Deshalb machen wir den Versuch, einen Teil der wesentlichen Werke der in- und ausländischen Literatur, die zu kennen notwendig ist, um wieder in europäischem Zusammenhang denken zu lernen, in einer hohen Auflage und zu billigem Preis an den Leser zu bringen. Dieses Unternehmen aber kann nur Erfolg haben, wenn Sie uns helfen. Wir brauchen Ihre Wünsche, wir brauchen Ihre Anregung, wir brauchen Kritik. Was wünschen Sie zu lesen? Von welchen Büchern glauben Sie, daß es notwendig sei, sie erneut vorzulegen? Was ist Ihre Meinung zu dem vorliegenden Werk? Was halten Sie von dem Autor? - Schreiben Sie uns! Stimmen Sie unserem Plan zu? In welcher Weise, glauben Sie, ließe er sich verbessern? Wünschen Sie die Form der Rotations-Romane nur als Notlösung betrachtet zu wissen, geboren aus der Armut unserer Tage, oder sehen Sie in ihr auch Möglichkeiten für die Zukunft? - Schreiben Sie uns auch dies! Haben Sie, falls Ihnen dies Buch gefallen hat, den Wunsch, es auch für später aufzubewahren, es in haltbarerem Gewande zu besitzen? Dann sprechen Sie mit dem Buchhändler, bei dem Sie diesen Rotations-Roman erwarben! Der Plan, den wir uns vorgenommen haben, kann nur gelingen, wenn Sie uns unterstützen mit Ihrem Rat und Ihrer Kritik. Scheuen Sie nicht das offene Wort! Wir werden mit Dankbarkeit auf Sie hören!

Das stand zwar schon in dem Post ➱Alain-Fournier, aber ich glaube, man kann es immer wieder zitieren: so hat die deutsche Nachkriegsliteratur begonnen. Dass 1950 Kleiner Mann – was nun? als Taschenbuch erschien, hat seinen Grund in der Verlagsgeschichte. 1932 war der Roman ein Weltbestseller, der zur Sanierung des stark angeschlagenen Verlags beitrug und sich in zehn Jahren 188.000 mal verkaufte, die Lizenzausgaben nicht mitgezählt. Rowohlts Lektor für Falladas Romane war damals übrigens Harald Eschenburg (der ➱hier schon einen Post hat).

Und der seinen ehemaligen Chef später in seine autobiographische Romantrilogie hineinschrieb, da heißt Ernst Rowohlt dann Wasserschout und Väterchen. Und natürlich wird erwähnt, dass er alle seine Autoren unter den Tisch trank. Das Lektorat der Fallada Manuskripte hat Spuren bei Eschenburg hinterlassen: stilistisch gesehen, ist Falladas Werk 'Bauern, Bonzen und Bomben' mein Vorbild, besonders in 'Wind von vorn', hat er in einem Interview gesagt. Aber auch, dass Thomas Mann und Theodor Fontane seine Vorbilder gewesen seien. Ich sehe Eschi noch vor mir, wie er verbissen auf seiner kleinen Reiseschreibmaschine tippte. Man kann seine Kieler Familientrilogie heute noch antiquarisch finden. Sie lohnt unbedingt die Lektüre.

Mit den amerikanischen Autoren, die Rowohlt in den dreißiger Jahren gewonnen hatte (➱Faulkner, ➱Hemingway, Sinclair Lewis, Thomas Wolfe), konnte er nach dem Krieg noch immer punkten. Aber auch Wolfgang Borcherts Draußen vor der Tür wurde ein Bestseller. Und der umstrittene Fragebogen von Ernst von Salomon. Keine Bestseller waren ➱Friedo Lampe und ➱Arno Schmidt, aber immerhin brachte Rowohlt sie auf den Markt. Mein Lieblingstitel bei den rororo Büchern ist ein kleiner satirischer Spionageroman von ➱Peter Fleming (dem Bruder von Ian Fleming), The Sixth Column. Kam als Die sechste Kolonne 1953 auf den deutschen Markt, der Übersetzer war kein Geringerer als Arno Schmidt.

Wofür ich dem Rowohlt Verlag wirklich dankbar war - und immer noch bin - das waren seine Reihen: Rowohlts Klassiker der Literatur und der Wissenschaft, rowohlts deutsche enzyklopädie und Rowohlts Monographien. Die Rowohlts Klassiker (RK) halfen mir, durch die Weltliteratur zu kommen; die von Kurt Kusenberg (der auch ➱Jacques Prévert übersetzt hatte) herausgegebene Reihe der Rowohlts Monographien half mir, alles über die Autoren zu wissen. Ich habe beinahe zwei Regalmeter von der rm Reihe. In der es natürlich auch einen Band mit dem Titel Ernst Rowohlt gab. Geschrieben 1957 von seinem ehemaligen Lektor Paul Mayer, kann man heute immer noch lesen.

Aber das Sahnehäubchen bei den Reihen, das war Rowohlts Deutsche Enzyklopädie, eine Wissenschaftsreihe. Hemingway zu verkaufen, das war die eine Sache, aber eine richtige seriöse wissenschaftliche Sachbuchreihe zu haben, das war etwas ganz anderes. Hockes Die Welt als Labyrinth habe ich 1962 gelesen, das steht in dem Post ➱perlegi. Ich habe das Buch auch in dem Post ➱Aktmalerei erwähnt, das ist übrigens ein Post, der ein echter Bestseller ist. Und warum nicht? Es gibt nackte Frauen auf der Leinwand, der Post ist ganz witzig, aber auch seriös. Das ist die Zauberformel dieses Blogs.

Auch in der Reihe rde erschien dieses Buch, steht bei mir noch immer so im Regal. Manchmal ersetze ich ein Buch Jahre später durch eine Hardcover Ausgabe. Ich habe gerade ➱Andrew Delbancos schönes Melville Buch für einen Euro in der Hardcover Ausgabe gefunden, da muss die Paperback Ausgabe weichen. Aber den ➱Camus würde ich durch nichts ersetzen wollen, wie so viele andere der rde Titel. Im Antiquariat Eschenburg gibt es ein ganzes Regal nur für die rde Titel, ich gucke da jede Woche nach, ob da nicht noch etwas ist, was ich noch nicht kenne.

Kein Autor wird dich im Wesen richtig erkennen. Entweder bist du für ihn ein pfiffiger Kaufmann oder ein freundlicher Mäzen; du bist aber keins von beiden. Du hast den blödesten Beruf der Welt ergriffen, hat Rowohlt mal gesagt. Aber ich glaube, dass er glücklich in seinem Beruf war, mit vielen seiner Autoren war er befreundet. Ob er heute glücklich wäre, wo Bücher keine so große Rolle mehr zu spielen scheinen, das weiß ich nicht. Reading is a revolutionary act. The siren calls of email, Twitter, smart phones, and iPods conspire to pull us away from the long-form writing of books, las ich letztens auf dem Cover von David L. Ulins Buch The Lost Art of Reading. Da sind wir nun in einer overnetworked society, where every buzz and rumor is instantly blogged and tweeted, and it is not contemplation we desire but an odd sort of distraction. Gegen diese Form der kontinuierlichen Ablenkung und Verwirrung hilft nur eins: Bücher lesen.

Mittwoch, 21. Juni 2017

Sir Sidney Smith


Cet homme m'a fait manquer ma fortune, hat Napoleon über den englischen Admiral Sir Sidney Smith gesagt. Und das will viel heißen. Sidney Smith wurde am 21. Juni 1764 geboren, da sollte er einen kleinen Post bekommen. Er ist in diesem Blog schon in dem Post ➱Jean-Baptiste Kléber zu finden, und er wird in einer Vielzahl von Posts erwähnt. Smith, der perfekt Französisch sprach, war ein großer Dandy, was wir auf diesem Bild an seinen eleganten Stiefeln sehen können (lesen Sie mehr dazu in ➱Militärisches Schuhwerk). Er war eitel, und er war ein Großmaul, aber er hatte als Soldat auch etwas Genialisches an sich. Weil er Napoleon besiegte, so dass der eingestehen musste: Cet homme m'a incité à manquer mon destin. Vielleicht hat er auch cet homme m'a fait manquer ma fortune gesagt, man findet beide Versionen.

Drei Jahre, bevor er Napoleon bei Akkon aufhielt, saß Smith in Paris im Gefängnis. Und schrieb Napoleon einen denkwürdigen Brief, einen frechen Brief: Das Glücksrad macht seltsame Revoluzionen; um aber den Namen Revoluzion zu verdienen, muss der Unschwung vollkommen seyn. Sie stehen jetzt so hoch, als Sie stehen können. Gut; ich beneide Ihnen ihr Glück nicht, weil ich das noch größere Glück habe, auf der Laufbahn des Glücks so niedrig zu stehen, als man herabsteigen kann, so daß ich, wenn diese launische Dame ihr Rad wieder drehet, durchaus hinaufsteigen muß; aus demselben Grunde müssen Sie aber herab. 

Ich mache Ihnen diese Bemerkung nicht in der Absicht, um Ihnen wehe zu thun, sondern um Ihnen denselben Trost zu geben, den ich fühle, wenn Sie auf denselben Punkt gekommen seyn werden, auf welchem ich stehe. Ja! auf welchem ich stehe. Sie werden einst dasselbe Gefängniß bewohnen. Warum nicht eben so gut, als ich? Ich habe eben so wenig daran gedacht, als Sie vielleicht daran denken, -- ehe ich hier eingesperrt wurde. In einem Partheikriege ist es in den Augen der Gegner ein Verbrechen, sein Pflicht gehörig zu thun; Sie thun sie jetzt, und sogleich schleifen Sie die Dolche Ihrer Feinde gegen sich. Sie werden mir antworten: "Ich fürchte Ihren verschworenen Haß nicht; die Stimme des Volks hat sich für mich erklärt." -- Ich weiß es wohl; so muß man sprechen. Schlafen Sie ruhig; und bald werden Sie erfahren, was man im Dienste eines solchen Herrn gewinnet. Dieser Unbeständige wird Sie, wenn nicht sogleich, doch wenigstens bald, für alles das Gute strafen, das Sie jetzt für ihn thun. Wer -- sagt ein alter Schriftsteller -- seine Hoffnung auf die öffentliche Freundschaft setzt, lebt selten ohne Unruhe und ohne Verdruß, und hat nie ein glückliches Ende genommen.
       Zwar brauche ich Ihnen nicht zu beweisen, daß Sie hieher kommen werden, weil dieses ja geschehen muß, wenn Sie diese Zeilen lesen sollen. Ohne Zweifel werden Sie dies Zimmer erhalten, weil der Kerkermeister ein rechtschaffener Mann ist, und er Ihnen gewiß das beste Zimmer geben wird, wie er es mir gegeben hat. -- --

Smith hat in einem Recht: das Glückrad wird sich für Napoleon drehen. Er landet zwar nicht in der selben Zelle, in der Smith zwei Jahre lang sitzt, er landet auf ➱St Helena. Wenn Napoleon der Sieg von Smith, den er als einen einen braven Offizier bezeichnete, auch geschmerzt hat, hat er aber auch gesagt: Dennoch gefällt mir der Charakter dieses Mannes. Das ist wahre Größe.


Noch mehr Admiräle (ohne den Opel Admiral): Admiral John Byng, Admiral John Jervis, Invasion, Jean-Baptiste Kléber, 18th century: Fashion, Hoya, Nelsons Orden, Horatio Nelson, Eisbären, William Beckford, Peter Finch, George Romney, Joseph Nollekens, Inigo Jones, Larcum Kendalls K2, Bounty, St Helena, Stephen Decatur, St Helena, Intertextualität, Gregory Peck, Robert FitzRoy, Hellas, hélas, Admiral Brommy, CSS Hunley, Havanna, Bunga Bunga, Schnellboote, Minen, Rum, Silvester, Unsere Marine, Schlipse, Max Oertz

Dienstag, 20. Juni 2017

Sexuelle Revolution


«Vergebens! Zu spät, liebe Frau!», murmelte der eine oder andere Reisende belustigt vor sich hin, als man eine ältliche Frauensperson zum Riddarholmufer herunterkommen sah, die sich mit Taschentuchwinken und heftigen Gebärden als Passagier zu erkennen gab, der mitgenommen werden wollte. An Land lag keine Schaluppe bereit, und der Dampfer war schon bei Owens angelangt, ja, er schoss pfeilschnell am Garnisonskrankenhaus vorbei.
       Als man jedoch von einer jungen Reisenden auf dem Vorderdeck ein paar halblaute Rufe «Tante! Tante!» hörte – sie schien sich zu genieren, laut zu rufen, war jedoch offenbar bedauerlicherweise von einer Verwandten getrennt worden, wahrscheinlich einer Reisebegleiterin, mit der sie gerechnet hatte und die ihr wichtig war –, da entstand unter den Passagieren eine gewisse, wenn auch rasch vorübergehende Bewegung.
       Aber man ist oft so egoistisch, dass man seinen Nächsten vergisst, und Leute, die Billetts für Salon und Achterdeck gekauft haben, fragen nicht sonderlich danach, was dem Pöbel dort vorn auf dem Vorderdeck und an der Back widerfährt. Die «besseren» Reisenden waren diesmal ältere Herren, die fast alle verdrossene Gesichter machten. Sie wurden von Frauen begleitet – und von Kindern, nicht gerade vom jüngsten Jahrgang, aber in dem unreifen Alter, in dem die Naivität verschwunden und noch nicht durch Gefühl und Vernunft ersetzt ist. Solche Menschen sind höchst egoistisch, und das aus verständlichen Gründen. Diese wohlerzogenen Kinder sind für gewöhnlich außerstande, sich selbst zu helfen, sodass sie jeden Augenblick Hilfe verlangen: Einmal ist der Schnürsenkel aufgegangen, dann ein Handschuh ins Wasser gefallen; einmal sind sie hungrig, dann durstig, und die ganze Welt ist für sie aus den Fugen. Das macht die Reise sehr beschwerlich für ihre Mütter, die genug Mühe mit sich selbst haben, um die schmalen Schiffstreppen hinauf und hinunter zu gelangen. Und die Familienväter? Sie versuchen sich zwar mit Tabakschnupfen und Zeitunglesen aufzumuntern, aber auch das scheint nicht zu helfen. Sie können anderen Leuten nicht viel Aufmerksamkeit widmen, da sie genug mit ihrer Selbsterhaltung zu tun haben, mit ihren Frauen, ihren Kindern. 

Drei Absätze und wir kennen die Gesellschaft an Bord des schwedischen Dampfers Yngve Frey. Die junge Frau, die von ihrer Tante getrennt wird, ist die Heldin des Romans, das wird uns später klar werden. Unser Romanautor hat Zeit, auch wenn er nur einen kleinen Roman schreibt. Er hat auch noch für seine Kapitel so nette kleine Zusammenfassungen, wie sie: Ein ansprechendes und merkwürdiges Zwischending! Kein Mädchen vom Lande, erst recht keine Bauerndirne – doch auch nicht richtig von besserem Stand. Es ist eine ständische Gesellschaft, in der jeder einen Platz hat. Wir vermuten zu Recht, dass wir im neunzehtnen Jahrhundert sind. Ein ansprechendes und merkwürdiges Zwischending! die Hauptpersonen sind irgendwo Zwischendinge. Auch unser Held, wenn wir ihn überhaupt einen Helden nennen können, ist irgendwo zwischen den sozialen Schichten. Er ist Sergeant, kein einfacher Soldat, aber auch kein Offizier.

Richtig gedacht oder nicht – den Sergeanten beschäftigte der kleine Auftritt. Aber ob das Mädchen nun von besserem oder niederem Stand war, verblieb für ihn unklar; jedenfalls war sie recht nett und hübsch in ihrem dunkelblauen Mantel. Das große Seidentuch aus feinem zartrosa, fast weißem Stoff mit schmalen grünen Streifen hier und da, das sie unter dem Kinn gebunden und über dem Kamm im Nacken geschmackvoll zu einem Kopftuch – oder Häubchen, wie es früher geheißen haben mag – drapiert hatte, gefiel dem Sergeanten und ließ ihn den Kambrikhut nicht vermissen. Er ging hinunter zum Kapitän, um Auskunft über sie einzuholen. Nach einigem Suchen in der Passagierliste stellte er fest, dass sie Sara Videbeck hieß und Glasermeisterstochter aus Lidköping war.

Das Zusammentreffen der Glasermeistertochter und dem Sergeanten wird zu einer Liebesgeschichte werden, aber zu einer Liebesgeschichte, wie sie die Literatur in dieser Zeit kaum hergibt. Wir sind im Jahre 1839, die großen Romanciers des Jahrhunderts wie Melville und Fontane sind da gerade zwanzig, Flaubert ist zwei Jahre jünger. Überall ist noch Romantik, Eichendorff hat gerade seine Mondnacht geschrieben. Aber diesem kleinen Roman, in dem der Autor uns auch penibel genau die Damenmode schildert, können wir getrost das Etikett Realismus ankleben. Aber wer schreibt da? Die Antwort ist: Schwedens modernster Dichter. Und er ist so gut wie unbekannt. Er gehört heute immer noch zu den modernsten Dichtern Schwedens, ist aber eben so gut wie unbekannt.

Sein erster deutscher Übersetzer schrieb 1846: Unter allen neueren Erzeugnissen der schwedischen Literatur hat vielleicht keines ein so großes Aufsehen erregt, als der hier in deutscher Uebersetzung mitgetheilte, im Herbst 1839 erschienene kleine Roman. Und stellte dem Roman ein zehnseitiges Vorwort voraus, dies war Gift, das konnte man nur in ganz kleinen Dosen geniessen. Auf einer schwedischen Seite kann man samhällsomstörtande kärleksromanen lesen, ein kärleksroman ist ein Liebesroman. Das samhällsomstörtande passt nicht so ganz dazu, weil es so etwas wie subversiv, revolutionär oder anarchistisch heißt. Und das ist dieser Roman alles. Denn er handelt von der freien Liebe.

Das ist etwas, womit wir Schweden häufig verbinden, vor allem, wenn blonde nackte Schwedinnen auf der Leinwand zu sehen sind. Das beginnt mit Sie tanzte nur einen Sommer und hörte mit Ingmar Bergman und seinem Film Das Schweigen nicht auf. Diese skandalträchtigen Filme verstören die Gesellschaft der fünfziger Jahre, der kleine kärleksroman mit Sara und Albert schafft das über hundert Jahre zuvor. Eine erotische Utopie, eine Geschichte der Emanzipation im Schweden des Jahres 1839. Ein Skandal. Einen Hurenpriester hat man den Autor genannt, einen Sittenverderber, einen Verführer der Jugend. Der Autor selbst nannte seinen Roman ein unbedeutendes kleines Stück. So unbedeutend war das kleine Stück nun doch nicht: der Autor verlor seine Stellung als Leiter einer Reformschule. Und dass der ordinierte Pastor jemals auf eine Kanzel kommen würde, war auch nur ein Traum.

Der Roman heißt Det går an: En tavla ur livet, wir könnten das mit So könnte es sein, ein Bild aus dem Leben übersetzen, wenn wir frech wären, würden wir Geht doch schreiben. Anne Storm, die das Buch neu übersetzt hat, hat es Die Woche mit Sara genannt. Elke Heidenreich war begeistert: Ein energischeres Buch über Männer und Frauen, über frei sein und trotzdem lieben zu können, habe ich lange nicht gelesen. Das Det går an ist nicht nur der Titel des Romans, es ist auch der letzte Satz des Romans. Wenn Sara ihrem Sergeanten ihr Haus zeigt, fragt sie ihn Går allt detta an, Albert? und er antwortet: Det går an. Zusammenleben ohne den Segen des Pastors, wir wollen mal hoffen, dass es gut geht.

Ich fand den Roman vor Wochen antiquarisch für einen Euro. Während ich mich noch mit der netten Kunsthistorikerin unterhielt, hatte ich mir mit einer schnellen Bewegung der linken Hand das Buch gesichert. Der Titel sagte mir zuerst nichts, aber ich kannte den Autor Carl Jonas Love Almqvist. Weil ich schon einen Roman des Autors gelesen hatte: Das Geschmeide der Königin: Romaunt in zwölf Büchernein Schmuckstück der europäischen Romantik hat man den Roman genannt. Und der Autor, der in meiner Heimatstadt Bremen gestorben ist, ist auch längst in diesem Blog. In einem Post, der Giuseppe Verdi heißt, klingt jetzt ein wenig verblüffend, macht aber Sinn. Natürlich werden Sie diesen Post jetzt lesen wollen.

Det går an ist verfilmt worden, eine Oper gibt es inzwischen auch schon. Man kann das schwedische Original hier im Volltext lesen. Es war das erste Werk des Autors, das ins Englische übersetzt wurde (als Sara Videbeck and the Chapel). Der Rowohlt Verlag bietet hier eine Leseprobe an, aber man sollte sich doch das Buch kaufen. Kann man bei Amazon Marketplace ab acht Cent bekommen, das Gute ist häufig ganz billig. Man kann den Roman als eine Propagandaschrift für die Emanzipation lesen, kann Almqvist als Feministen sehen. Doch daneben ist es ein realistischer Roman, der die großen Realisten des ausgehenden 19. Jahrhunderts vorwegnimmt. Und das ist nicht wenig für dieses Buch aus dem Jahre 1839.


Noch mehr Schweden und Schwedinnen in diesem Blog: Ingmar Bergman, Skandal, Schwedinnen, Schweigen, Désirée, Elvira Madigan, Liebestod, Nationalstolz, Monica Zetterlund, Mireille Darc, Vera Miles, Ann-Margret, Mein Dänemark, Talsperren, Nikolaus, Jugendkultur, Anders Zorn, Charles Frederick Worth, Michael Ancher, Zeitlos, John Peter Russell, Lieutenant Lindhövel, Findorff, Seeschlacht, Kieler Frieden, Giuseppe Verdi, Briefwechsel, Sjöwall Wahlöö, Maj Sjöwall, Henning Mankell, Georges Desmarées, Kieler Frieden, Die Frau ohne Gesicht, skandinavische Mode, Bibi Andersson, Sigrid Combüchen, Bo Widerberg, Niels Bohr

Samstag, 17. Juni 2017

2.000 Posts


Also dies hier heute ist der Post 2.001. Ich habe sie nicht gezählt, Googles Blogger System zählt das mit. Beinahe alles ist für diesen Blog geschrieben. Lediglich ein halbes Dutzend Posts sind zuvor in Lexika, Büchern oder Zeitschriften veröffentlicht worden. Leser haben immer wieder vermutet, dass ich hier meine Unterlagen aus der Uni noch einmal recycle. Ist aber nicht wahr, weil ich überhaupt keine Unterlagen habe. Mir genügte ein DIN A 6 Zettel, um neunzig Minuten im Hörsaal zu bestreiten. Ich kann das nicht zur Nachahmung empfehlen, es sei denn, Sie haben ein Gedächtnis, wie ich es habe.

Manche Posts sind Bestseller, fünfstellige Leserzahlen. ▹Britt Ekland zum Beispiel. Oder ▹Patti d' Arbanville, ▹Morning Coat und ▹Cricket. Was mich immer wieder erstaunt, ist die Tatsache, dass Posts zur ▹Philologie und ▹Philosophie auch sehr gut gelesen werden. ▹Mein Blog, meine Leser ist auch einige -zigtausend Mal angeklickt worden. Als ich im Januar 2010 mit dem Bloggen begann, wusste ich nicht, wo die Statistikseite ist, heute gucke ich jeden Morgen da drauf. Seit einigen Jahren offeriert Google dem Blogger auch die Statistikzahlen für die einzelnen Posts. Ein wunderbares Spielzeug, kann man viel Zeit mit vertrödeln. Mit dem Schreiben auch: Viele leiden an der unheilbaren Schreibkrankheit, und in ihrem kranken Geist wird sie chronisch. Hat Juvenal gesagt.

Während der Fußball EM im letzten Jahr wurde der Post ▹Stil sehr häufig angeklickt. Die Erklärung ist einfach: Leser gaben den Namen Jogi Löw in ein Suchfeld auf der SILVAE Seite ein und landeten bei diesem Post. Aber nicht alles in der Statistik ist so einfach zu erklären, jeden Morgen sitze ich davor und versuche, das Leserverhalten zu ergründen. Ich kann schreiben, was ich will. Über ▹Alexander Gauland, über die ▹Engländer oder ▹englische Herrenschuhe - das alles bringt viele Leser. Viele Leser machen den Blogger glücklich.

Der Post ▹Langeoog ist auch ein Renner. Nur ▹Ferdinand von Rayski nicht. Aber der Sieger in der Statistik war im letzten Jahr Monate lang der Post ▹Kapitänshunde vom 10. Juni 2013. Ich fragte mich, wie das kommt, aber jetzt bin ich dahinter gekommen. Wenn man diese possierlichen Tiere (die auch in dem Post ▹Alfred Wallis vorkommen) unter dem Begriff Kapitänshunde sucht, dann kommt der Post bei den Ergebnissen von Google auf Platz fünf. Gibt man dagegen den Begriff Puffhunde ein, dann bin ich ganz vorne. Ich hatte schon überlegt, diesen Post ganz vorn bei Puffhunden zu nennen.

Kapitänshunde wurde im August 2016 durch ▹Julie Récamier abgelöst. Das war ein Post aus dem Jahre 2012, plötzlich gab es einen run auf diesen Post. Hätte ich schon damals so viele französische Leser gehabt wie heute, dann wäre mir das klar gewesen, aber die Franzosen kamen en masse erst Weihnachten 2016. Ich bin froh, dass ich die französischen Leser habe, denn die amerikanischen Leser bleiben peu à peu weg. Vielleicht mögen sie nicht, was ich über ▹Trump sage. Man weiß es nicht. Als ich anfing, das Internet vollzuschreiben, dachte ich, ich hätte so ein kleines Eckchen im Netz, wo mich niemand bemerkt. Die Idylle ist dahin. Jetzt bin ich berühmter als Publius Papinius Statius, von dem ich den Titel meines Blogs habe. Wenn ich Silvae bei Google eingebe, komme ich auf Platz eins.

Vor fünf Jahren konnte ich im ▹Internet lesen: Gestern entdeckte ich ein zauberhaftes Blog ... Zuerst hatte ich mir für Silvae ein Lesezeichen angelegt. Dann hatte ich Silvae als Feed abonniert. Zuletzt habe ich beschlossen, alle Artikel zu lesen, vom ersten an. Überzeugen Sie sich, dass Sie es mir nachmachen müssen! Das kann ich nur empfehlen, fangen Sie mal mit dem ersten ▹Post an, und lesen Sie dann die anderen 1.999. Da machen Sie nichts falsch. Denn dieser Blog ist ein Diamant unter den unzähligen beliebigen und nichtssagenden Sandkörnern in der "blogosphere"! wie ein Leser schrieb.