Sonntag, 29. April 2012

Walter Mehring


Am 29. April 1896 wurde Walter Mehring in Berlin geboren. Er ist schon einmal in diesem Blog vorgekommen, weil ich am 3. Oktober 2011 ➱hier seine Ode an Berlin zitiert habe. Er hat wunderbare Chansons geschrieben, was auch der immer kritische ➱Kurt Tucholsky zugestehen musste. Das erste, was ich von Mehring gelesen habe, war Die verlorene Bibliothek: Autobiographie einer Kultur, ein Buch, das mich nachhaltig beeindruckt hat. Wenn man bedenkt, dass es 1952 bei Rowohlt erschienen war - warum wusste ich bis 1972, als die Paperbackausgabe erschien, nichts von diesem Buch? Warum stand dieses Buch nicht auf der Leseliste der Schulen? Immerhin sendete Radio Bremen 1955 ein ➱Interview mit dem Autor, das hätte ja mal ein Lehrer in Bremen hören können. Aber vielleicht wollte man diese Dinge, die mit dem Verlust unserer Kultur zu tun hatten, damals nicht hören.

Als ich die Verlorene Bibliothek las, wusste ich nicht, dass ich einen Text von Walter Mehring auswendig kannte, ein Chanson aus dem Jahre 1920. Ich kannte ihn nur als das Unteroffizierslied. Ich hatte es auswendig gelernt, als ich Fahnenjunker wurde und eins dieser seltsamen Aufnahmerituale bestehen musste. Zu dem auch das Austrinken eines großen Bierglases gehörte. Darin war nicht nur der durch das Reinheitsgebot geschützte Hopfensaft, das Bier war verfeinert durch einen Schuss Motoröl vom französischen Hotchkiss Getriebe unserer HS-30 Panzer. Und verschiedene andere Ingredienzien, die besser unerwähnt bleiben. Am Ende der Zeremonie wurde mit Inbrunst das Unteroffizierslied gesungen:

Wir haben die ganze Welt gesehn
— Die Welt war überall rund! -
Um alle paar Monat vor Anker zu gehn
Bei einem Mädchenmund!
Wir sahn eine Mutter in schneeigem Haar
— Die verkuppelte uns ihr Jöhr
Wir fraßen pfundweis den Kaviar
Direkt an der Quelle vom Stör!

Wir sahen Seeanemonen und Qualln,
Die schmückten Gebein und Gewand
Eines Matrosen, der war gefalln
Für irgendein Vaterland.
— Die Welt ist rund und klein!
Was kann sie dem Seemann noch sein?
In Hamburg an der Elbe
Gleich hinter dem Ozean
Ein Mädchen von Sankt Pauli
Von Sankt Pauli und von der Reeperbahn
Ein Mädchen, das bei Tag und bei Nacht
Bei jedem Kuß an uns nur gedacht
Ein Mädchen von Sankt Pauli
und von der Reeperbahn

Wir haben die ganze Welt bereist:
- La Plata - le Languedoc!
Wir haben mit Kannibalen gespeist
- Und überall gab's einen Grog!
Uns folgte der Möwen Hungergekreisch
Wie die Huren der Waterkant
- Am Meeresbusen zum drallen Fleisch,
Da gingen wir an Land!
Wir haben den »Holger Danske« gesehn
- Und einen Völkerstamm
Zu Tausenden zugrunde gehn —
Die andern standen stramm!
Die Welt hat Leid und Freud!
Was haben wir Seemannsleut?
In Hamburg an der Elbe
Gleich hinter dem Ozean
Ein Mädchen von Sankt Pauli und
von der Reeperbahn

Wir haben die ganze Welt beglotzt:
Paris und den Vogel Roch!
- Wir haben die Seele uns ausgekotzt
Bei Australien Da liegt sie noch!
Wir sahen unsern Kapitän
Verfaulen im Lazarett!
Wir sahn eine Grotte mit lauter Feen
- Und ein frisch bezogenes Bett!
Wir sahen den toten Menelik
Hoch zu Krokodil!
Wir sahen überall den Krieg
- Und Wilhelm im Exil!
Die Welt ist zum Bespein!
Was kann noch Ekleres sein?
In Hamburg an der Elbe
Gleich hinter dem Ozean
Ein Mädchen von Sankt Pauli
Nahm sich einen Spießer zum Mann...
Was kann für uns da noch sein?
Ein Mädchen, das bei Tag und bei Nacht
Bei jedem Kusse an uns nur gedacht
Unser Mädchen von Sankt Pauli
Unser Mädchen von der Reeperbahn...

Die Kölner Edelweißpiraten sollen es auch gesungen haben, allerdings haben sie die Zeile Paris und den Vogel Roch durch Paris und den Heiligen Rock ersetzt. Das wird den Papst sicher gefreut haben. Aber das ist schon eine komische Sache, da wandert ein Chanson (zuerst gedruckt in der Weltbühne als Choral für Seemansleute) von der Berliner Kabarettbühne in die Volkskultur und überlebt da das Dritte Reich. Dann wird es zur Hymne der Unteroffiziere eines Panzergrenadierbataillons, und niemand kennt seinen Autor. Den sicher auch inzwischen ganz Deutschland vergessen hatte. Was hierzulande bekannt blieb, verband sich nicht mehr mit seinem Namen; wie dieses Chanson aus dem Jahre 1920, sagt Jürken Serke in Die verbrannten Dichter. Aber das Lied, inzwischen grauenhaft verstümmelt, lebte weiter. Und im Jahre 1972, als Walter Mehrings Verlorene Bibliothek bei Heyne als Taschenbuch erschien, wurde es sogar von ➱Freddy im Blauen Bock gesungen (zehn Jahre zuvor hatte es ➱Hans Albers gesungen). Habent sua fata libelli, für Walter Mehrings Chanson gilt das auch.

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