Sonntag, 12. Februar 2017

nackte Lieder


Der englische Dichter, Komponist und Arzt ➱Thomas Campion wurde heute vor 450 Jahren geboren, das soll uns einige Zeilen wert sein. Er hat schöne Lieder (ayres) geschrieben, zumeist für eine Laute und einen Kontratenor: I have chiefly aimed to couple my words and notes lovingly together. Man kann dieses mit Liebe Verbundene auch heute noch hören, glücklicherweise gibt es genügend vom Werk Thomas Campions auf CD. Sogar das preiswerte Label Naxos bietet Thomas Campion an. Vielleicht ist er als Komponist nicht so berühmt wie sein Zeitgenosse John Dowland, der hier schon in den Posts ➱Cantate und ➱HiFi vorkam, aber als Dichter war Campion weithin geachtet. Und zu dem schönen Bild einer Lautenspielerin von Orazio Gentileschi habe ich ➱hier auch noch ein Gedicht von Campion (und ➱hier gibt es das auch gesungen).

Seine Gedichte sind durch die Ausgabe von Arthur Henry Bullen im Jahre 1897 wieder neu entdeckt wurden, vorher war der Zeitgenosse Shakespeares ein wenig vergessen (das Schicksal teilt er mit Shakespeare). T.S. Eliot hat Campion except for Shakespeare ... the most accomplished master of rhymed lyric of his time genannt. Auch Ezra Pound fand Campion interessant, in seinem Gedicht Donna mi Prega findet sich die Widmung Dedicace — To Thomas Campion his ghost, and to the ghost of Henry Lawes, as prayer for the revival of music. Und ein anderer Amerikaner, der Komponist Virgil Thompson (der ➱hier schon vorkommt), hat Gedichte von Campion neu ➱vertont (bei dem Herrn mit der Fiedel schauen Sie lieber nicht auf die Füße). Es wäre schön, wenn ich ein solch plakatives Bild wie dieses hier von unserem Dichter und Komponisten hätte. Habe ich aber nicht, und so muss der Lautenspieler von Bartolomeo Passerotti aus dem Jahre 1576 dafür herhalten.

Und da ich John Dowland schon erwähnt habe, müssen Sie mal eben sein Time stands still, gesungen von ➱Emma Kirkby, hören. Und auch von ➱Andreas Scholl. Und dann wollen wir den Kontratenor ➱Daniel Taylor natürlich nicht vergessen, Der Kanadier hat gegenüber Andreas Scholl den Vorteil, dass er in seiner Muttersprache singen kann, deshalb klingt er ungekünstelter. Schon Dowlands literarische Zeitgenossen schrieben den elisabethanischen Lautenisten in ihre Werke. So zum Beispiel Richard Barnfield:

If music and sweet poetry agree,
As they must needs, the sister and the brother,
Then must the love be great ’twixt thee and me,
Because thou lov’st the one and I the other.
Dowland to thee is dear, whose heavenly touch
Upon the lute doth ravish human sense;
Spenser to me, whose deep conceit is such,
As passing all conceit, needs no defence.
Thou lov’st to hear the sweet melodious sound
That Phœbus’ lute, the queen of music, makes;
And I in deep delight am chiefly drowned
Whenas himself to singing he betakes:
One god is god of both, as poets feign,
One knight loves both, and both in thee remain.


Vielleicht ist das Gedicht aber auch von Shakespeare, man ist sich da nicht so sicher. Man ist sich aber sicher, dass der amerikanische Romancier Richard Powers Dowlands Lied Time stands still in den Anfang seines Romans Der Klang der Zeit (The Time of Our Singing) hineingeschrieben hat, wo er Dowlands ayre eine hinreißende kleine Frechheit für die Ohren dieses verblüfften Liederpublikums nennt:

Irgendwo in einem leeren Saal singt mein Bruder noch immer. Seine Stimme ist noch nicht verhallt. Nicht ganz. Wo immer er sang ist etwas zurückgeblieben, etwas wie Vertiefungen, wie Rillen in den Wänden, die nur darauf warten, daß ein künftiger Phonograph sie wieder zum Leben erweckt.
       Mein Bruder Jonah steht reglos an den Flügel gelehnt. Er ist gerade einmal zwanzig. Die sechziger Jahre haben eben erst begonnen. Noch liegt das Land im letzten Schlaf seiner trügerischen Unschuld. Niemand hat von Jonah Strom gehört, niemand außer unserer Familie. Dem was von ihr übrig ist. Wir sind nach Durham in North Carolina gekommen, in den alten Konzertsaal der Duke-Universität. Er hat die Endrunde eines landesweiten Gesangswettbewerbs erreicht, von dem er später behaupten wird, er habe nie daran teilgenommen. Jonah ist allein auf der Bühne, ein wenig rechts von der Mitte. Zur Seite geneigt, als suche er Rückhalt in der geschwungenen Flanke des Konzertflügels, seiner einzigen Zuflucht. Er beugt sich nach vorn, schweigend, gekrümmt wie die Schnecke eines Cellos. Die linke Hand stützt sich auf die Kante des Flügels, in der rechten hält er einen Brief, den es längst nicht mehr gibt. Er grinst, kann selbst kaum glauben, daß er hier ist, dann holt er Luft – und singt.
        Eben noch hockt der Erlkönig auf meines Bruders Schulter und flüstert verführerisch vom Tod. Im nächsten Augenblick tut sich eine Falltür auf, und mein Bruder ist anderswo; ausgerechnet Dowland zaubert er hervor, eine hinreißende kleine Frechheit für die Ohren dieses verblüfften Liederpublikums, das gar nicht merkt, wie es ihm ins Netz geht:

Time stands still with gazing on her face,
Stand still and gaze for minutes, hours, and years to give her place.
All other things shall change, but she remains the same,
Till heavens changéd have their course and time hath lost his name.

Zeit steht still, schau ich in ihr Gesicht,
Steh still und schau, Minute, Stund und Jahr, sie schwindet nicht.
Wenn alles auch vergeht, bleibt sie doch ewiglich,
Bis der Planenten Lauf sich kehrt und Zeit heißt nicht mehr Zeit.

Zwei Strophen, und das Lied ist zu Ende. Stille liegt über dem Saal. Sie schwebt über den Reihen wie ein Ballon am Horizont. Zwei Taktschläge, in denen selbst Atmen ein Verbrechen wäre. Dann gibt es nur eins, was diesen Bann bricht: Applaus. Dankbare Hände setzen die Zeit wieder in Gang, der Pfeil nimmt seinen Flug wieder auf und bringt meinen Bruder auf den Weg zu seiner Bestimmung.
        So sehe ich ihn, auch wenn er danach noch ein Dritteljahrhundert zu leben hat. Das ist der Augenblick, in dem die Welt ihn entdeckt, der Abend, an dem ich höre, wohin seine Stimme unterwegs ist. Ich selbst bin auch auf der Bühne, sitze an dem zerkratzten Steinway mit den abgegriffenen Tasten. Ich begleite ihn, versuche mit ihm Schritt zu halten und nicht der Sirenenstimme zu lauschen, die mir zuflüstert Laß die Finger ruhen, dein Boot zerschellen an der Tasten Riff, und stirb in Frieden.
        Zwar mache ich keine schlimmen Patzer, aber der Abend zählt nicht zu den Höhepunkten meiner musikalischen Laufbahn. Nach dem Konzert bitte ich meinen Bruder noch einmal, er soll mich gehen lassen und sich einen ebenbürtigen Begleiter suchen. Wieder lehnt er ab. "Ich habe schon einen Begleiter, Joey".


Was Dowland und Campion vervollkommnen, ist eine neue Form der Vokalmusik, ein poetisches Lied für Stimme und Laute (oder Theorbe), das sich um 1600 auch in Italien (wo es Monodie heißt) und Frankreich (Air de Cour) findet. Thomas Campion spricht im Vorwort zu seinem immens erfolgreichen Book of Ayres von einem nackten Lied. Er schreibt in seinen Vorworten zu den beiden ➱Books of Ayres wunderbar klares Englisch (auch das oben zitierte I have chiefly aimed to couple my words and notes lovingly together stammt aus dieser Quelle). Und so definiert er das neue Lautenlied:

What epigrams are in poetry, the same are airs in music: then in their chief perfection when they are short and well seasoned. But to clog a light song with a long praeludium, is to corrupt the nature of it. Many rests in music were invented, either for necessity of the fugue, or granted as an harmonical licence in songs of many parts: but in airs I find no use they have, unless it be to make a vulgar and trivial modulation seem to the ignorant strange; and to the judicial tedious. A naked air without guide, or prop, or colour but his own, is easily censured of every ear; and requires so much the more invention to make it please.

Über das Gedicht Shall I come, sweet Love, to thee hat A.H. Bullen gesagt, dass es the melodious serenade, worthy even of Shelley sei:

Shall I come, sweet Love, to thee
When the evening beams are set?
Shall I not excluded be?
Will you find no feignèd let?
Let me not, for pity, more
Tell the long hours at your door.

Who can tell what thief or foe,
In the covert of the night,
For his prey will work my woe,
Or through wicked foul despite?
So may I die unredrest
Ere my long love be possest.

But to let such dangers pass,
Which a lover’s thoughts disdain,
’Tis enough in such a place
To attend love’s joys in vain:
Do not mock me in thy bed,
While these cold nights freeze me dead.


Da habe ich heute zum Schluss als Sänger den Engländer Alfred Deller, der den Countertenor wieder populär gemacht hat. Den lassen wir mal Shall I come, sweet Love, to thee singen. Klicken Sie ➱hier, es lohnt sich. Und eine kleine Anekdote zu Alfred Deller habe ich auch noch. Natürlich die mit der dicken deutschen Dame, die You are eunuch, Herr Deller? zu ihm sagt. Worauf er höflich entgegnet: Madame, I'm sure you mean unique.

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