Seiten

Sonntag, 28. Juli 2019

Frauenpower


Drei Frauen auf einem Bild. Das ist die Cartoonistin Franziska Becker vor einem ihrer Kunstwerke, das gleichzeitig ein Plakat für eine Franziska Becker Ausstellung ist. Das hier sind starke Frauen, vielleicht ein wenig ironisch dargestellt. Ich schätze die Künstlerin sehr, sie ist in diesem Blog auch schon in dem Post über den Strand Book Store erwähnt worden.

Noch einmal drei Frauen auf einem Bild. Dies sind auch starke Frauen, dahingehend ist das Bild interpretiert worden. Es ist viel zu dem Photo geschrieben worden. Die Bild Zeitung titelte Warum uns dieses Foto wütend macht und schrieb: Wir sehen das eiskalte Lächeln der Macht. Es ist bei Frauen nicht sympathischer als bei Macht-Männern. Es ist eiskalt. Das ist unser kleiner Selbstbetrug: Wir schätzen natürlich die Tatkraft und Durchsetzungsstärke, die unsere Probleme lösen und unsere Interessen vertreten. Nur mögen wir dieser Macht nicht so gerne ins Gesicht sehen. Irgendwie ist das Ganze ja nur piefig, ein Symbol der Peinlichkeit der deutschen politischen Klasse.

Ich möchte heute ein ganz anderes Bild der Frauenpower präsentieren, nämlich ein Selbstportrait der holländischen Malerin Judith Leyster aus dem Jahre 1632/1633. Da ist die heute vor 410 Jahren geborene Malerin erst dreiundzwanzig Jahre alt, und sie zeigt uns, dass sie schon alles kann. Wahrscheinlich hat sie das lebensgroße Selbstbildnis gemalt, um in die Haarlemer Malergilde aufgenommen zu werden, sozusagen als Meisterstück. Sie malt sich als elegante Frau, modisch im Stil der Zeit. Und für die Feinheiten der Kleidung wird sie bei ihren Gemälden immer ein Auge haben. Ein so elegantes Kleid wird sie bei der Arbeit nicht getragen haben, die modische Fraise behindert eher beim Malen.

Ob sie wirklich die erste Frau in Holland ist, die als Meisterin anerkannt wird, ist ein wenig umstritten. Judith Leyster: de eerste vrouw die meesterschilder werd war der Titel einer Ausstellung im Frans Hals Museum 2009-10. Kunsthistoriker weisen auf Sara van Baalbergen hin, die wohl schon zwei Jahre vor Leyster in der Harlemer Gilde war. Aber über die weiß man so gut wie nichts. Es entbehrt nicht einer Pikanterie, dass die Ausstellung im Frans Hals Museum stattfand, denn so bekannt sie zu ihren Lebzeiten war: man hat sie schnell vergessen und ihr Werk Frans Hals zugeordnet.

Erst als man am Ende des 19. Jahrhunderts im Louvre unter der Signatur von Frans Hals das Zeichen von Leyster entdeckt, beginnt man sich ernsthaft mit der Künstlerin zu beschäftigen. Theodorus Schrevelius hatte 1647 in seinem Buch über Haarlem geschrieben: Da gibt es auch viele Frauen, die in der Malerei erfahren und bis heute berühmt sind, die es auch mit Männern aufnehmen können, von denen wird vor allem Judith Leyster genannt, ein wirklicher Leitstern in der Kunst, von dem sie auch den Namen trägt, die Hausfrau von Molenaer, der auch ein berühmter Maler ist, in Haarlem geboren und zu Amsterdam bekannt. Mit dem Leitstern, den sie auch als Monogramm verwendet, nimmt Schrevelius die Ähnlichkeit von Leyster und Leidstar (-ster), dem Stella Polaris, auf.

Das Bild, das die Malerin gerade gemalt hat, zeigt einen fröhlichen jungen Mann mit seiner Fiedel. Keine mythologische oder biblische Figur, mit der man das Bild symbolisch überhöhen könnte. Wir finden den jungen Herrn übrigens auf einem Bild wieder, das sie wirklich gemalt hat. In der rechten Hand hält die Malerin einen Pinsel, in der linken ganz viele. Sie will damit ihre Kompetenz zeigen, einen Pinsel für eine Farbe. Und sie ist die einzige Frau, die einen lockeren Malstil beherrscht. Die auch ähnlich wie Rembrandt und Frans Hals ohne Vorzeichnung direkt auf die Leinwand malt.

Der Hintergrund des Bildes interessiert sie nicht so sehr, sie konzentriert sich auf die Wiedergabe der Personen. Beinahe alle ihre Gemälde zeigen Figuren aus dem bürgerlichen Leben, häufig mit Musikinstrumenten. Diese sogenannten fröhlichen Gesellschaften sind ein Motiv, das in den 1620er und 1630er Jahren in der niederländischen Malerei aufkam. Und Judith Leyster ist die einzige Frau, die dieses Thema beherrscht.

Zwanzig Jahre nach ihrem ersten Selbstportrait malt sich die Ehefrau von Jan Miense Molenaer so. Es sind weniger Pinsel als die achtzehn auf dem Bild von 1633 zu sehen. Die Fröhlichkeit und die Spontaneität sind auch verschwunden. Die Malerin teilt sich mit ihrem Ehemann ein Studio in Amsterdam, wahrscheinlich hat sie an vielen seiner Bilder mitgearbeitet. Über ihr eigenes Spätwerk weiß man nicht so viel. Aber ihr frühes Selbstbildnis, das wird bestehen bleiben, mit dieser Fröhlichkeit und Selbstsicherheit, die nach beinahe vierhundert Jahren immer noch ansteckend ist. Über die gekünstelte Fröhlichkeit und Selbstsicherheit der drei Damen auf dem Photo oben wollen wir lieber schweigen.

Samstag, 27. Juli 2019

schön geschrieben, selbstverliebt und larmoyant


Emmanuel Berls Buch Geisterbeschwörung hat mich mal fünf Mark gekostet. Es war ein Band aus der Reihe Die andere Bibliothek. Auf dem Pappschuber kann man Sätze wie diesen finden: Deutsche Erstausgabe und Sein umfangreiches Werk ist in Deutschland völlig unbekannt geblieben. In Frankreich gilt er heute als ein grand écrivain seiner Epoche. Wenn man so etwas im Grabbelkasten findet, muss man es mitnehmen. Und lesen. Vor allem, wenn auf dem Schuber steht: Diese Texte halten zwischen Erzählung und Autobiographie die Schwebe und verbinden die Präzision von Momentaufnahmen mit der schillernden Mehrdeutigkeit des Traums. Ich war letztens schon kurz vor dem Einschlafen, schon beinahe beim Träumen, als mir das Buch wieder einfiel. Sollte ich jetzt das Licht anmachen und mir etwas in dem kleinen Notizbuch auf dem Nachttisch notieren? Ich schlief lieber ein, der Buchtitel würde wiederkommen. Es brauchte einige Tage, bis ich mich wieder an den Buchtitel erinnerte. Ich ging zu dem Regal hinter dem Lautsprecher, wo die französische Literatur steht. Das Buch war nicht da, wo es stehen sollte.

Ich fand es Tage später, wieder als ich das Lexikon der französischen Literatur von Winfried Engler aus dem Regal nahm. Berls Geisterbeschwörung stand daneben. Das hier auf dem Bild ist nicht die Originalausgabe von Englers Lexikon, das ist die Billigversion des Komet Verlags, ich habe die schon in dem Post Literaturgeschichte erwähnt. Schlechtes Papier, billiger Einband, aber derselbe Text. Man kann dieses Lexikon, das ursprünglich beim Lexikonspezialisten Kröner erschienen war, antiquarisch noch sehr preiswert finden. Es gibt wirklich nichts Besseres. Von dem verdienstvollen Romanisten, der alle französischen und deutschen Orden bekommen hat, gab es bei Kröner auch eine schöne Geschichte des französischen Romans: Von den Anfängen bis Marcel Proust im Programm. Der schon erwähnte Komet Verlag hat nicht nur den Engler, sondern auch das Kindler Literatur Lexikon als Lizenzausgabe preiswert herausgebracht.

Und da ich gerade bei dem KLL bin, möchte ich doch etwas Gehässiges zur neuesten Ausgabe des Lexikons sagen. So sieht mein alter Kindler aus, es war die Ausgabe der WBG, die ich mir in meinem Studium vom Mund abgespart hatte. Ich verdanke, wie wohl jeder Besitzer der Bände, diesem Lexikon der Weltliteratur viel. Vor zwanzig Jahren hat mich Dr Henning Thies von der Kindler Redaktion gefragt, ob ich für die beiden geplanten Ergänzungsbände für die zweite Auflage des KLL einige Lexikoneinträge schreiben würde. Ich habe sofort zugesagt, ich kannte ihn vom Namen her, denn er hatte für Kindler die Bände Hauptwerke der amerikanischen Literatur und Hauptwerke der englischen Literatur (2 Bände) herausgegeben. Die Zusammenarbeit mit ihm war ganz wunderbar.

Das sollte sich ändern, als man darauf verfiel, das von Walter Jens in der zweiten Auflage herausgegebene KLL völlig neu zu konzipieren. 18 Bände mit insgesamt 14.760 Seiten brachte der zum Holtzbrinck Konzern gehörende Metzler Verlag auf den Markt. Kostete damals 2.400 Euro, der Preis ist gefallen. Als Herausgeber gewann man Heinz Ludwig Arnold, der als Herausgeber von Zeitschriften und Lexika einen guten Ruf gehabt hatte. Den hat der ehemalige Privatsekretär von Ernst Jünger mit diesem Machwerk aber gründlich beschädigt. Im Wikipedia Artikel kann man zu der dritten Auflage des KLL lesen: Zu manchen Werken sind die Lexikonartikel in der neuen Auflage auch erheblich kürzer ausgefallen als bisher, z. B. umfasst der Eintrag zum Gilgamesch-Epos, der in der 2. Auflage noch mehr als 9300 Wörter aufwies, in der 3. Auflage insgesamt nur mehr knapp über 800 Wörter. Die Literaturhinweise wurden durchgehend auf ein Minimum gekürzt. Und dann steht da auch noch: In der aktuellen Ausgabe sind zuweilen philologisch interessante Details gestrichen worden, so dass es sich lohnen kann, auch die vorhergehende Ausgabe zu konsultieren.

Jetzt, wo das Lexikon bei Metzler gelandet war, gab es keine Zusammenarbeit mit dem netten Herrn Dr Thies mehr, jetzt hatte ich es mit Hilfskräften an einer Uni zu tun. Die, sagen wir es zurückhaltend, ein klein wenig doof waren und schon mit einem Word Dokument überfordert waren. Natürlich wurden auch meine Lexikonartikel kastriert. Und die Literaturangaben und Hinweise auf Verfilmungen, die einst ein Highlight beim KLL waren, fielen dem Rotstift (oder sollen wir sagen dem Skalpell?) zum Opfer. Lassen Sie die Finger von diesem Werk, für einen Fuffi bekommen Sie Kindlers Neues Literaturlexikon, und die beiden Supplementbände werden sich auch finden lassen. Ich nahm das klägliche Honorar des Metzler Verlags an, überwies es an eine wohltätige Organisation und vergaß das Ganze. Bis ich wenige Jahre später das Lexikon in einem Laden namens Joker's fand, Paperback, jeder Band 1 Euro. Sic transit gloria mundi.

Den Kampf gegen das Internet werden die voluminösen Lexika verlieren, der Brockhaus hat mit seiner letzten Auflage Millionenverluste gemacht. Quantität statt Qualität scheint die Devise. Beim dritten Kindler war man stolz, einen Text von Björk, Harry PotterPippi Langstrumpf und Carl Barks im Lexikon zu haben. Warum? Mein Plädoyer für Lexika in Buchform kann nicht bedeuten, dass die Werke fehlerfrei sind. Sie enthalten nicht so viele Fehler wie ein Wikipedia Artikel, aber Fehler sind da.

Dazu ein kleines Beispiel: Der junge Arthur Conan Doyle hat in Edinburgh Medizin studiert. Laut Gero von Wilperts Lexikon der Weltliteratur bei einem Psychiater namens Bello. Das ist nun vollkommener Unsinn, ich habe Gero von Wilpert vor beinahe vierzig Jahren auf den Fehler hingewiesen. Der Doktor, bei dem Doyle gelernt hat und dessen phänomenale Beobachtungsfähigkeit er in seinen Sherlock Holmes hinein geschrieben hat, hieß Joseph Bell (Bild). Er war der berühmteste Arzt Schottlands, war der Arzt von Königin Victoria, und Scotland Yard zog ihn als Sachverständigen bei den Morden von Jack the Ripper hinzu. Professor Bell war not amused, sich in den Romanen seines Schülers wiederzufinden. Gero von Wilpert hat mir damals einen netten Brief geschrieben und gesagt, dass das in der nächsten Auflage geändert wird. Der Bello ist aber immer noch drin.

Ich hätte das Buch von Emmanuel Berl nicht zu suchen brauchen, ich hätte nur mal in meinen Blog gucken müssen. Da steht am 10. Juli 2011 in dem Post Marcel Proust: Bei den Biographien steht noch ein Buch, das da eigentlich nicht hingehört (obwohl Marcel Proust darin vorkommt), ich wusste nie, wo ich es hinstellen soll. Und so ist es bei Proust gelandet. Was auch passt, weil es viel vom Geist von Proust hat und der Verfasser ein entfernter Verwandter von Proust ist. Das Buch, das ich im Grabbelkasten fand wo man die beste Literatur entdecken kann), heißt Geisterbeschwörung und ist von Emmanuel Berl. Es ist in der Reihe Die andere Bibliothek erschienen. Emmanuel Berl ist in Deutschland kaum bekannt, das ist eigentlich schade, weil Geisterbeschwörung (frz. Sylvia und Rachel et autres grâces) ein wunderschönes Buch ist. Im ZVAB gibt es noch Reste davon.

Das Buch kam in der Schattenwelt des Halbschlafs in meine Gedanken, weil ich gerade an einem Post schreibe, der über die Erinnerung und über Frauen geht. Und über Erinnerung und Verlust schreibt Emmanuel Berl in Sylvia auch: Le domaine du souvenir est trop vaste pour que je ne m'y perde pas, fût-ce dans ses moindres parcelles, et celui de l'oubli l'est encore davantage. Sie kennen das Thema schon, ich komme häufiger darauf zurück, mögen die Posts Vergil, Sommerkino oder Wiederholungen heißen. Vielleicht würde ich das alles auch nicht schreiben, wenn ich nicht Proust und Berls Sylvia gelesen hätte: Parmi les ouvrages d'Emmanuel Berl, 'Sylvia' (1952), un récit autobiographique, occupe une place à part aux yeux des admirateurs. Quand le livre paraît, l'auteur a soixante ans et n'est plus vraiment lu. On a alors oublié cet écrivain qui a été au cœur de l'activité littéraire pendant une vingtaine d'années, mais qui depuis la fin de la guerre vit retiré dans un appartement de la rive droite parisienne. Sylvia ne fait pas l'unanimité. Jean Paulhan, l'une des éminences grises des éditions Gallimard, affirme que Sylvia est 'tellement mauvais qu'après un tel livre tout le monde devrait renoncer à écrire'. Pourtant, le livre charme dès les premières lignes, et très vite le lecteur comprend qu'il a entre les mains un récit sans concession et formellement d'une maîtrise éblouissante. En outre, avec le recul, on comprendra que Sylvia est 'un livre décisif dans l'ordre de la culture autobiographique', comme le dit Jacques Lecarme.

Emmanuel Berl war mit der Komponistin und Sängerin Mireille Hartuch verheiratet. Die einst der jungen Françoise Hardy sagte, dass sie mit Mon amie la rose großen Erfolg haben werde. Emmanuelle und Mireille Berl haben nicht immer im selben Haus wie Jean Cocteau gewohnt, als die Deutschen kamen, flüchteten die beiden nach Südfrankreich und schlossen sich der Résistance an. Nach dem Krieg zogen sie wieder in die Rue Montpensier 36, wo heute die Plakette an sie erinnert.

Man kann Emmanuel Berls Geisterbeschwörung bei Amazon Marketplace noch preiswert finden. Dort schreibt ein Rezensent: Ein 60jähriger schreibt über die Frauen in seinem Leben, über das, was er noch erinnert und das, was seine Erinnerungen überdeckt. Das ist manchmal sehr schön geschrieben, aber über weite Strecken doch sehr selbstverliebt und larmoyant. Diese Formulierung, so platt sie ist, hat mir gefallen, denn dieses sehr schön geschrieben, sehr selbstverliebt und larmoyant, das trifft auch auf vieles in meinem Blog zu.

Dienstag, 23. Juli 2019

Melodrama


Lass den Fernseher an, sagte ich zu Uwe. Trotz des Miniformats des Bildschirms hatte ich von der anderen Seite des Raumes gesehen, welcher Film gerade angelaufen war. Das Fernsehgerät war ein kleiner Portable, den Uwe sich mal für das Boot gekauft hatte. Der Bildschirm war bestimmt nicht größer als ein Blatt 18 x 24 Photopapier, aber das machte nichts, A Tale of Two Cities musste ich sehen. Schon wegen Dirk Bogarde als Sidney Carton. Es war ein Schwarzweißfilm, das wollte der Regisseur Ralph Thomas so, weil er sagte, dass der Roman von Charles Dickens was written in black and white, and it's got to be made in black and white.

Es gibt ein halbes Dutzend Verfilmungen des Romans, diese von 1958 war letztlich ein Re-Make des Filmes von 1936 mit Ronald Colman in der Rolle des Sidney Carton. Wenn Sie wollen, können Sie den Film hier sehen. Ralph Thomas wollte Hollywood übertreffen. Was in den Pinewood Studios entstand, war die teuerste englische Kinoproduktion des Jahres. Dass Ralph Thomas Dirk Bogarde für die Hauptrolle nahm, war nur logisch. Mit den Doktorfilmen der 50er Jahre (lesen Sie mehr in dem Post Doktorspiele) hatte die Karriere von Thomas begonnen. Und ebenso die von Bogarde. Der deutsche Verleihtitel des Films war Karren zum Schafott. Im Jahr 1958 gab es noch einen Film, der Schafott im Titel hatte, der hat aber nichts mit der Französischen Revolution zu tun. Der berühmte Film mit Jeanne Moreau und dem Soundtrack von Miles Davis hat hier schon einen Post. Den Soundtrack werden Sie sicher als CD haben. Sonst müssen Sie nochmal Miles Davis anklicken.

Die DVD von A Tale of Two Cities kann man bei Amazon Marketplace ab 1,46 kaufen, und die Amazon Seite versichert mir, dass ich den Film vor zehn Jahren gekauft habe. Man kauft sich immer vergangene Erinnerungen zurück, auch wenn man am Schluss des Filmes heulen muss. Halten Sie Taschentücher bereit für das Ende des Films, wenn das schnuckelige kleine Dienstmädchen (Marie Versini, auch bekannt als Nscho-tschi in Winnetou) Sidney Carton zur Guillotine begleitet.

It was the best of times, it was the worst of times, it was the age of wisdom, it was the age of foolishness, it was the epoch of belief, it was the epoch of incredulity, it was the season of Light, it was the season of Darkness, it was the spring of hope, it was the winter of despair, we had everything before us, we had nothing before us, we were all going direct to Heaven, we were all going direct the other way – in short, the period was so far like the present period, that some of its noisiest authorities insisted on its being received, for good or for evil, in the superlative degree of comparison only. Mit diesem berühmten Satz beginnt der Roman von Charles Dickens. Der Film von Ralph Thomas verzichtet auf ihn (der Film von 1936 zeigt den Satz auf einer Tafel), man kann nicht alles von einem Roman verfilmen. Sie können den Film hier ganz sehen, und die Melodrama Research Group der Universität von Kent hat hier eine schöne Interpretation des Films.

Ein Jahr bevor der Film in die Kinos kam, war A Tale of Two Cities auf der englischen Bühne zu sehen. Denn am 23. Juli 1957 gab es am Sadler’s Wells in London die Uraufführung der Oper von Arthur Benjamin. Die Oper war nicht ganz neu, 1951 hatte sie beim Festival of Britain einen Preis erhalten. Und die BBC hatte schon 1953 eine Studioaufnahme ausgestrahlt, aber jetzt war das romantische Melodrama in sechs Szenen zum ersten Mal auf der Bühne. Diese Aufführung gibt es leider nicht bei YouTube, aber bei der Firma Opera Depot ist die CD noch erhältlich. Kostet 7.48 $, das Porto nochmal das Doppelte. Es lohnt sich unbedingt, hier singt ein Staraufgebot der damaligen Zeit: Amy ShuardHeather HarperHeddle NashJohn Cameron und Alexander Young. Es war ein Riesenerfolg, sieben Mal wurden die Akteure vor den Vorhang gebeten.

Sonntag, 21. Juli 2019

Münchhausen auf dem Mond


Heute vor fünfzig Jahren hat Neil Armstrong als erster Mensch den Mond betreten. Na ja, eigentlich war der Baron Münchhausen der Erste, das belegt der Film mit Hans Albers ganz klar, der auf der Grundlage der Erzählungen des Lügenbarons gedreht wurde: Da fiel mir ein, daß die türkischen Bohnen sehr geschwind und zu einer ganz erstaunlichen Höhe emporwüchsen. Augenblicklich pflanzte ich also eine solche Bohne, welche wirklich emporwuchs und sich an eines von des Mondes Hörnern von selbst anrankte. Nun kletterte ich getrost nach dem Monde empor, wo ich auch glücklich anlangte. Richtige Besitzansprüche kann niemand auf den Mond haben, das sagt der Outer Space Vertrag von 1967. Dessen ungeachtet verkaufen in Amerika einige Immobilienhändler Grundstücke auf dem Mond. Zum Ärger eines Rentners aus Westercappeln, der besitzt nämlich eine Schenkungsurkunde vom 17.7.1756. In der Friedrich der Große einem seiner Vorfahren gesagt hat: Jetzo soll ihm der Mond gehören. Doch durfte Friedrich den überhaupt verschenken?

Es bleiben Fragen über Fragen. Vor allem die nach dem Autor des Satzes That’s one small step for a man, one giant leap for mankind. Denn wir können schon annehmen, dass der wortkarge und maulfaule Armstrong sich den Satz nicht spontan ausgedacht hat. Diese Frage kann ich heute beantworten, denn ich kannte den Autor des Satzes. Im Sommer 1969 war ich wissenschaftliche Hilfskraft bei einem Professor, den ich schon in dem Post Unser Land erwähnt habe. Ich war nicht der einzige, wir waren ein halbes Dutzend. Es war damals für einen Professor wichtig, möglichst viele Assistenten und Hilfskräfte zu haben. Wenn man viele Mitarbeiter hatte, dann war man berühmt, ob man etwas von seinem Fach verstand oder nicht. Wir tippten Texte für Seminare auf Wachsmatrizen und vervielfältigen sie auf der Umdruckmaschine. Einen Photokopierer besaß das Institut noch nicht. Wir schrieben für den Professor Reden und Aufsätze und manchmal auch die Vorlesungen. Das Wichtigste aber war, dass wir bei Tabac Trennt den Tabak TK93 kauften. In dem berühmten Laden war der Professor ein einziges Mal gewesen. Da hatte ihm der alte Trennt, ein stadtbekanntes Original, die Pfeife aus dem Mund genommen und gesagt: Sie können überhaupt nicht Pfeife rauchen, Ihnen verkaufe ich doch keinen Tabak. Der Professor hat sich nie wieder in den Laden getraut.

Der Professor kam aus dem Rheinland und liebte es, Geschichten zu erzählen. Es waren meistens Geschichten, bei denen man starke Zweifel hatte, ob sie wahr waren. Nun gehört eine gewisse Übertreibung zu den Stilmitteln eines guten Erzählers, aber was er erzählte, war mehr als die poetic licence ihm zubilligen würde. Er war im Zweiten Weltkrieg Pilot bei der Luftwaffe gewesen, und nach seinen Erzählungen war er eine Mischung zwischen dem roten Baron und Ernst Udet. Je mehr er erzählte, desto zweifelhafter wurden die Geschichten. Der Lügenbaron Münchhausen hatte in ihm einen echten Konkurrenten. Dass er mit einer Messerschmitt auf einer Donauinsel gelandet sein wollte, das mochte noch hingehen. Aber dass er mit einer Heinkel mit Zusatztanks (man nannte uns die fliegenden Feuerzeuge) Wetterflieger über der Wüste Gobi gewesen sein wollte, da hörte es denn dann doch auf.

Er hatte irgendwelche Verbindungen zur NASA, das hatte bei seiner Berufung als Professor offenbar eine Rolle gespielt. Vielleicht war das auch nur ein alter Kumpel von der Luftwaffe, der bei der NASA untergekommen war, das wusste man nicht so genau. Aber die NASA wurde ständig erwähnt. Unser Professor hatte auch ein Projekt laufen, das Sprache der Raumfahrt hieß. Ich glaube, man hat herausgefunden, dass die Männer in den Raumanzügen in Amerika Astronauten und in Russland Kosmonauten hießen. Ich kümmerte mich nicht um das Ganze, die Raumfahrt interessierte mich nicht so sehr. Der Mond in der Literatur war für mich interessanter. Aber nun kam der 21. Juli 1969, und der ganze Weltraumtrubel ging los. Ich habe das Ereignis nicht im Fernsehen gesehen, weil ich keinen Fernsehapparat besaß. Mir blieben nur die Bilder in den Zeitungen. Vielleicht hindert uns ein unbezwinglicher Widerstand, an die Vergangenheit, an die Geschichte zu glauben, es sei denn in der Form des Mythos. Die Photographie hat, zum ersten Mal, diesen Widerstand zum Schweigen gebracht: von nun an ist die Vergangenheit so gewiß wie die Gegenwart, ist das, was man auf dem Papier sieht, so gewiß wie das, was man berührt. Dieser schöne Satz von Roland Barthes ist ein klein wenig gefährlich. Was ist, wenn die Bilder auf dem Papier gefälscht sind?

Unser Professor war zwei Tage lang merkwürdig ruhig, am dritten Tag erzählte er dann so ganz beiläufig, dass die NASA ihn letztens um zwei Uhr in der Nacht angerufen hätte. Und ihn gebeten hätte, er möge doch mal einen Vorschlag machen, was der erste Mensch auf dem Mond sagen sollte. Er hätte dann einen Augenblick nachgedacht und dann gesagt: Das ist ein kleiner Schritt für den Menschen, aber ein riesiger Sprung für die Menschheit. Niemand von uns wusste, was er sagen sollte. Wir waren ganz still. Als wir am Abend im Heinrich VIII (der Studentenkneipe neben dem Lammers) beim Blaubeerpfannkuchen saßen, redeten wir natürlich über die Geschichte. Niemand glaubte an den Telephonanruf von der NASA. Wir beschlossen, nie über die Geschichte zu reden. Wir waren in Sorge, dass sie unseren Professor mit der Zwangsjacke abholten.


Noch mehr Mond in den Posts: Vollmond, Himmel, Adam Elsheimer, Observatorium, Abschiedsgeschenk, Die Harmonie der Welt, Vulkane, ZeissDunkelheit, Mondnacht, SoFi

Donnerstag, 18. Juli 2019

Der Graf von der Insel


Nein, ich schreibe nicht über den Grafen von Monte Christo, ich schreibe heute mal eben über den französischen Dichter Charles Marie René Leconte de Lisle. Eigentlich hieß er nur Leconte, aber er fügte dem Namen ein de Lisle hinzu, weil er von einer Insel kam. Leconte de Lisle ist ein Wortspiel zu le comte de l’île, dem Grafen von der Insel. Die Insel, auf der Leconte geboren wird, heißt heute La Réunion, bei seiner Geburt hieß sie Île Bourbon, wenige Jahre zuvor war es die Île Bonaparte. Die Insel wird in diesem Blog schon in den Posts Mauritius und Waltz into Darkness erwähnt. Der französische Titel des Films ist La Sirène du Mississippi, fragen Sie mich nicht, weshalb. Auf deutsch heißt Truffauts Verfilmung des Romans von Cornell Woolrich übrigens Das Geheimnis der falschen Braut. Und im Gegensatz zu dem Roman beginnt Truffauts Film auf der Insel Réunion. Wie das Leben von Leconte de Lisle. Das natürlich nichts mit Catherine Deneuve zu tun hat, ich brauchte das nur als Aufmacher.

Der Dichter war einmal sehr berühmt, heute scheint Leconte de Lisle (der am 18. Juli 1894 starb) beinahe vergessen zu sein. Er hat klassische Philologie studiert und Ilias und Odyssée übersetzt. Die klassische Bildung scheint in seiner Dichtung immer wieder durch. Man kann das an dem Gedicht Die Aeoliden sehen, das es hier in deutscher Übersetzung gibt. Der Komponist César Franck hat es vertont, und viele Komponisten - wie zum Beispiel Debussy oder Marcel Prousts Freund Reynaldo Hahn - haben die Dichtungen von Leconte als Ausgangspunkt ihrer Kompositionen genommen.

Diese Karikatur zeigt uns den Dichter, der seine Gedichte unter dem Arm trägt (sein Werk findet sich übrigens ganz bei Wikisource), mit dem linken Arm trägt er einen Stuhl. Es ist kein gewöhnlicher Stuhl, wir können die Buchstaben V und H lesen, ein Zeichen dafür, dass Leconte der Nachfolger von Victor Hugo in der Académie Française sein wird und dessen durch den Tod freigewordenen Stuhl besetzen wird. Ob er wirklich auch noch Vergil übersetzt hat, wie das Tintenfass unten links andeutet, ist fraglich. Der Romanist Pierre Flottes führt in der Bibliographie von Lecontes Übersetzungen keine Vergil Übersetzung auf. Doch dass im Theater hinten im Bild Les Érinnyes gespielt werden, das ist richtig.

Les Érinnyes ist ein Versdrama im Stil der griechischen Tragödie, das auf Aischylos' Orestie beruht. Es wurde von Jules Massenet vertont, mit dem Leconte befreundet war. Obgleich die Aufführung ein großer Erfolg war, gefiel sie Leconte überhaupt nicht: il est vrai que la musique de Massenet n’ayant aucun rapport avec mes vers, mes situations et l’époque où se passe l’action, a dû par cela même attirer un plus grand nombre d’auditeurs que de spectateurs . Ces 80 musiciens font cependant un affreux tapage couvrant la voix de mes acteurs et me donnant des accès de rage (‘ ) Ce bruit infernal ( ) me donne des envies de meurtre ( ) c’est un affreux supplice, heureux les sourds.

Der Romanist Hugo Friedrich hat gesagt: Modernes Dichten ist entromantisierte Romantik. In seiner Dichtung wollte Leconte weg von der Romantik, wollte hin zu einer objektiven Dichtung. Was immer das ist, jede Zeit erfindet für sich eine Dichtungstheorie. L’histoire de la Poésie répond à celle des phases sociales, des événements politiques et des idées religieuses ; elle en exprime le fonds mystérieux et la vie supérieure ; elle est, à vrai dire, l’histoire sacrée de la pensée humaine dans son épanouissement de lumière et d’harmonie, sagte er in seiner Antrittsrede an der Akademie, die Victor Hugo gewidmet ist.

Man könnte zu ihm viel sagen, ein Blogpost reicht für sein Werk kaum aus. Die Verbindung mit Rilke, die im Wikipedia Artikel geäußert wird (Für deutsche Leser von speziellem Interesse ist sein Gedicht 'Le Rêve du jaguar' (deutsch 'Der Traum des Jaguars'), das Rainer Maria Rilke zu seinem Panther inspiriert haben könnte), wird allerdings von den meisten Romanisten nicht geteilt. Es gibt noch mehr Tiere in den Gedichten von dem Dichter aus Réunion, zum Beispiel La panthère noire oder die Elefanten. Les Élephants aus der Sammlung Poèmes barbare ist der erste Satz von Benjamin Godards Symphonie orientale. Und auch das Gedicht Le Colibri, das ich zum Schluss präsentieren möchte ist vertont worden, mehrfach. Hier die Version von Ernest Chausson.

Le vert colibri, le roi des collines,
Voyant la rosée et le soleil clair
Luire dans son nid tissé d'herbes fines,
Comme un frais rayon s'échappe dans l'air.

Il se hâte et vole aux sources voisines
Où les bambous font le bruit de la mer,
Où l'açoka rouge, aux odeurs divines,
S'ouvre et porte au coeur un humide éclair.

Vers la fleur dorée il descend, se pose,
Et boit tant d'amour dans la coupe rose,
Qu'il meurt, ne sachant s'il l'a pu tarir.

Sur ta lèvre pure, ô ma bien-aimée,
Telle aussi mon âme eût voulu mourir
Du premier baiser qui l'a parfumée

Ich habe dazu auch eine deutsche Übersetzung:

Der grüne Kolibri, König der Berge,
Sieht den Tau und das Licht der Sonne
In sein Nest aus feinem geflochten Gras erscheinen
Und fliegt in die Luft wie der strahlende Dämmer.

Hastig fliegt er zu den nachbaren Quellen,
Wohin der Bambus den Laut des Meeres trägt,
Wo sich die roten Aschoka ihre duftenden Flügel öffnen,
Die sein Herz mit einem Blitzschlag durchdringen.

Die güldene Blume wählt er als Stange,
Wo er so viel Liebe im Rosenblatt nippt,
Daß er stirbt, unwissend, ob er den Nektar ausgetrunken habe.

Ebenso auf deinen Lippen, oh, meine Geliebte
Hatte meine Seele vom ersten Kuß sterben wollen,
Mit dem sie parfümiert wurde.

Es würde zu lang, wenn ich jetzt noch mein Lieblingsgedicht von Leconte de Lisle präsentieren würde. Es heißt Mon poète, il est vrai und Wikisource hat den Text. Der Dichter hat es mit zwanzig Jahren geschrieben, ein halbes Jahrhundert vor der Aufnahme in die Académie Française, aber das dichterische Talent ist schon zu erkennen. Man kann mit der Übersetzungsmaschine DeepL eine deutsche Version des Gedichts erstellen. Aber so gut diese Maschine ist, sie macht auch witzige Fehler. Die dritte Zeile der dritten Strophe, J’approche doucement du sopha blanc et rose, übersetzt die Maschine mit Ich nähere mich langsam der weißen und rosa Sopha.Von einem Sofa ist da nicht die Rede. Da ich schon einmal bei dem Möbelstück bin, möchte ich noch William Cowper erwähnen, der das längste Sofagedicht der Literatur geschrieben hat. Da kriegt DeepL das mit dem Sofa aber richtig hin.

Sonntag, 14. Juli 2019

Kunsterziehung


Mach da noch irgendwo Rot rein, Jay, sagt der Maler Heinz Recker, Kokoschka hat das mit seiner roten O.K. Signatur auch gemacht. Ich habe meine blaue Periode, meine Bilder sind abgestufte Blauvarianten auf weißgrundierter Leinwand. Ich füge mich, das Bild vom Hamburger Rathaus und dem regennassen Rathausplatz bekommt ein freches rotes Jay Signet. Wahrscheinlich sitze ich als Strafe für diese Kokoschka Imitation ein Semester lang in Hamburg neben seiner Signatur auf dem riesigen Bild, das in einem Hörsaal im Erdgeschoss des Philosophenturms hängt. Die blauen Türme der Kathedrale von Amiens  auf meinem Ölbild auch einen roten Fleck, da, wo die Glasrosette zwischen den Türmen ist.

Wir malen im Jugendheim Alt-Aumund, offiziell sind wir ein Volkshochschulkurs, aber der Heimleiter Hannes Meyer lässt uns viel Freiraum. Wir brauchen nicht jeden Bewerber für diesen Kurs aufzunehmen und dürfen auch noch malen, wenn er das Heim schon abgeschlossen hat. Die meisten von uns kommen vom Gerhard Rohlfs Gymnasium oder wie Renate vom Lyceum. Nur Traute kommt von der Kleinen Helle in Bremen, Recker hat sie mitgebracht. Alle außer mir werden Kunst studieren und werden Kunsterzieher. Nur ich habe den Absprung in diese Welt nicht gewagt, immerhin werde ich Kunstgeschichte studieren.

Und dabei hatte ich schon einen Fuß in der Tür, ich bin zusammen mit Uwe in LiLaLerchenfeld gewesen, um mich nach den Aufnahmebedingungen zu erkundigen. Das erste, was ich sah, war jemand auf einer langen Leiter, der eine rote Linie an die Decke malte. Als ich ihn fragte, was er da mache, hat er mir gesagt, dass das Kunst sei. Es hieße Endlose Linie. Ich denke mir, dass da kein Segen drauf liegt und lese auch wenig später in der Zeitung, dass es wegen der Endlosen Linie in der Kunsthochschule Lerchenfeld in Hamburg einen Skandal gegeben habe. Der junge Linienmaler, dessen Name mir damals nichts sagt, ist von seiner Dozentur zurückgetreten. Es ist der Beginn der Karriere von Friedensreich Hundertwasser. Es tauchen jetzt ja viele neue Künstler auf, deren 'Kunst' nicht so ganz in einer Kunsthalle in einen Goldrahmen passt. 

Uwe steht dem Ganzen aufgeschlossener gegenüber als ich, er schleppt mich auf eine documenta nach Kassel mit (wo ich mir allerdings lieber die Rembrandts angucke) und zu allen möglichen Happenings in Bremen. Komm mit, wir müssen uns Otto Muehl angucken, sagt er. Ich weiß nicht, wer Otto Muehl ist, aber er soll heute in der PH ein Huhn über einer nackten Studentin schlachten und dann das Blut auf sie tropfen lassen. Das ist jetzt Kunst. Wir sehen aber an diesem Nachmittag keine toten Hühner und leider auch keine nackten Studentinnen. Die Bremer Polizei hat den Ort des geplanten Happenings abgeriegelt. Otto Muehl wird Jahrzehnte später noch sieben Jahre in einem österreichischen Gefängnis sitzen, der Kunstvorbehalt gilt nun eben nicht für allen Quatsch. Wenn Yves Klein mit gewisser Eleganz blau angemalte Frauen aufs Papier bringt, dann ist das vielleicht noch Kunst. Muehl ist nur ein schweinigelnder Prolli.

Heinz Recker ist ein sehr guter Kunstpädagoge, er fördert behutsam die Fähigkeiten der einzelnen. Er kann das besser als viele Kunsterzieher an der Schule. Er wird auch dafür sorgen, dass seine Malgruppe zu einer richtigen Ausstellung kommt. Die Kunsthalle hat in den Wallanlagen eine kleine Ausstellungsfläche. Wenn man ehrlich ist, ist es eigentlich ein Bunkereingang zum Bunker unter dem Theaterberg gewesen, den man 1949 ohne Baugenehmigung zu einer Kunst-Krypta umfunktionierte. Die hat man nun gerade geschlossen, aber die Kunsthalle nutzt den Eingangsbereich (bis er 1968 eingeebnet wird) noch für kleinere Wechselausstellungen. Ich bin mit zwei Bildern dabei (Recker hat unsere Exponate ausgesucht), einem Portrait von Traute mit sehr blondem Blondschopf und einer Baggerseelandschaft in Eggestedt. Das Portrait von Traute schenke ich eines Tages dem Jugendheim, es wird da noch Jahre im Foyer hängen.

In der Volksschule habe ich immer eine Eins im Zeichenunterricht. Das Talent scheint in der Familie zu laufen. Onkel Karl, der Bildhauer (hier seine Statue von Maxim Gorki), besitzt es natürlich. Meine Mutter hat auch etwas davon abbekommen. Und ein Rest scheint offensichtlich auch bei mir durch. Meine Mutter wollte an die Kunstschule, aber da gab es dieses Nein des Vaters. Dafür wird sie ihn ewig hassen. Ich habe ihre Mappen aus ihrer Jugendzeit gesehen, jede Kunstschule hätte sie damit angenommen. Sie hatte Talent. Ich besitze eine Radierung von ihr aus den vierziger Jahren, wahrscheinlich ist es der Bullensee bei Rotenburg. Die würde da auch an der Wand hängen, wenn sie nicht von meiner Mutter wäre. Irgendwie kommt ihr dann auch der Krieg dazwischen. Man kann als Frau im Krieg schlecht an eine Kunstschule gehen, wenn man gerade zum Reichsarbeitsdienst muss.

Der Krieg, die Familie und das Zurechtwurschteln im Wirtschaftswunder haben die mögliche künstlerische Karriere meiner Mutter unterbrochen. Aber sie wird irgendwann wieder anfangen zu malen. Zuerst mit Kopien von Worpswedern. Da nimmt sie sich noch Zeit, und das Ergebnis ist auch gut. Erstaunlich, wie leicht doch Worpsweder zu fälschen sind. Zwischen ihren Overbecks und Modersohns und den Originalen ist kaum ein Unterschied zu erkennen. Es ist schade, dass sie sich nicht in dieser Phase an Otto Ubbelohde versucht hat. Später wird das immer kitschiger. Ich versuche, sie dazu zu kriegen, dass sie langsamer malt, Schicht für Schicht. Malen ist wie Johann Sebastian Bach spielen, nicht ein Stück von Chopin auf dem Klavier hinzukitschen. Aber sie hört leider nicht auf mich.

In den ersten Jahren am Gymnasium habe ich Werner Schnieders als Kunstlehrer. Der ist wirklich gut, handwerklich und pädagogisch. Und er wohnt in einem stilvollen kleinen Haus, das Ernst Becker-Sassenhof gebaut hat. Aber dann kommt für uns die Revolution. Sie hieß Waltraud Otto, trug einen schwarzen Pagenschnitt und war jünger als die anderen Lehrerinnen. Nicht wirklich, wie mir Kunzes Kalender beweist, aber sie sah jünger aus. Und ihr scharfes Outfit (wer außer ihr trug schon Hosen?) hatte nichts mehr mit dem BDM-Look der anderen Lehrerinnen gemein. Es wurde gemunkelt, dass sie die Assistentin von Willy Fleckhaus bei der Zeitschrift Twen gewesen sei.

Ich bin mal mit Uwe auf einer Tagung in Westerstede gewesen, Uwe wusste immer, wo Tagungen waren, bei denen man schulfrei bekommt. Da trat eine ältliche Kunstpädagogin mit Nickelbrille, Dutt und grauer Strickjacke auf, die ein Dutzend Exemplare dieser Zeitschrift als abschreckendes Beispiel für die Irrwege des Designs und die Gefahr der Verderbnis der Jugend herumreichte. Ich habe die dann alle mitgenommen. Das war eine pädagogische Maßnahme von mir, es sollte ja keiner in Gefahr geraten, solche Irrwege zu gehen. Unglücklicherweise stellte sich später heraus, dass die ältere Dame die Tante von Ute war. Damit bin ich bei Utes Familie endgültig unten durch, erst die Sache mit der Harry Belafonte Platte und nun auch noch Kunstbanause.

Nein, Fräulein Otto war definitiv die neue Zeit. Bei ihr durften wir in der Kunst AG im Zeichensaal auch herumlaufen, gucken, was die anderen machten. Zuhören, was sie den anderen sagte. Ende des Frontalunterrichts. Leider nicht, sie wird uns verlassen und zum Alten Gymnasium gehen. Die haben ja den Ruf in den schönen Künsten fortschrittlicher als wir zu sein. Und das ist auch wahr, seit der hervorragende Werner Schnieders pensioniert ist, sieht es bei uns in den Fächern Kunst und Werken kläglich aus. Das Gymnasium hat nur noch drei Kunstlehrer. Im letzten Jahr lande ich bei Frau Evers, die ich schon mal im Werkunterricht gehabt hatte (unser Werkunterricht in der Volksschule war besser). 

Die ist ein echter Flop, ich mochte sie nicht, sie mochte mich nicht. Von Kunstgeschichte, was damals ja noch unterrichtet wurde, verstand ich mehr als sie, das wusste sie auch. Ich durfte nur nichts Böses sagen, weil meine damalige Freundin Renate für sie schwärmte. Aber da ist mir die Schule längst egal, da male ich bei Recker. Lehrer für Kunst an einem Gymnasium müssen Pädagogen sein, müssen handwerklich versiert in verschiedenen Techniken sein, sollten einen Überblick über die Geschichte der Kunst haben und sollten auch etwas von Kunst verstehen. Meistens mangelt es Kunstlehrern an der einen oder anderen Fähigkeit. Recker ist Maler, er ist kein beamteter Kunstlehrer und dennoch ein vorzüglicher Pädagoge. Und er versteht etwas davon, wovon er redet. 

Aus der Gruppe unserer Secession vom gymnasialen Kunstunterricht, wird nur Uwe wirklich berühmt, er wird Kunstprofessor werden. Allerdings gibt er das Malen schnell auf, widmet sich dann der Radierung (er besitzt sogar eine eigene Presse). Ich versuche ihn noch für ein Projekt zu gewinnen, bei dem seine Radierungen meine Gedichte illustrieren sollen, aber nach sechs Radierungen geht das Projekt den Bach runter (ich hatte wesentlich mehr Gedichte). Unsere Freundschaft wird daran nicht zerbrechen. Er wird Skulpturen entwerfen, die alle etwas mit der Weser zu tun haben. Da kommen wir nun mal her. Eines Tages überrascht er mich damit, dass er sich voll auf Keramik konzentriert. Und wenn Uwe etwas macht, dann macht er das gründlich. Das rororo Sachbuch Keramik in der Reihe Deutsches Museum: Kulturgeschichte der Naturwissenschaften und der Technik im Jahre 1985 trägt seinen Namen. Es wurde in wesentlicher Neubearbeitung 2003 vom Deutschen Porzellanmuseum wieder aufgelegt. 

Ich wusste damals nicht, woran er schrieb (manchmal möchte man das ja auch niemandem sagen, man ist ja abergläubisch, solange es noch nicht fertig ist), er nervte mich mit Fragen nach einer guten englischen übergreifenden Technikgeschichte, als er beim Thema Industrial Revolution angekommen war. Entweder Du schreibst sie selbst oder Du nimmst J.D. Bernal, schreibe ich ihm. Wochen später kriege ich eine kryptische Karte, der ich entnehme, dass dieser geniale Kommunist mit seinem Buch Science in History genau das Richtige war, was jemand, der wie Uwe das Establishment hasst, in dieser Situation brauchte. Wahrscheinlich steht deshalb in dem Rowohltband vorne drin: Die Interpretation der Fakten gibt die Meinung des Autors, nicht die des Deutschen Museums wieder. Cool. Das Buch ist trotz dieser reservatio zu einem Standardwerk geworden.

Traute und ich lernen uns in Reckers Kurs kennen, sie kennt Recker privat und kommt nur seinetwegen einmal in der Woche nach Nordbremen. Zwischen Vegesack und Bremen sind Welten, trotz der 23 Minuten, die der Zug braucht (mit dem Trolleybus ist es länger). Außer Recker und der Malerei ist sie das Beste in diesem Kurs. Wir verknallen uns sofort ineinander. Sie sieht aus wie eine coole Blondine, aber sie ist kein bisschen cool und norddeutsch, eher leidenschaftlich. Wir sitzen in Bremer Bars, wir gehen zu Jazzkonzerten und gehen gemeinsam zu Partys und ihrem Abtanzball bei der Tanzschule Schipfer-Hausa. Da hat meine Mutter auch tanzen gelernt.

In Berlin, wohin wir mit unserer Malgruppe fahren (da wird gerade die Mauer gebaut), werden wir in einem Schuppen sein, der das Heißeste der Hauptstadt sein soll. Dieses oberste Stockwerk eines Hochhauses am Hohenzollerndamm, wo man nur mit einem Lastenaufzug hinkommt, ist schon etwas anderes als die Lila Eule in Bremen. Heute heißt sowas Disco, anfang der sechziger Jahre war das neu. Wir sind damals in den Umkleidekabinen des Schwimmstadions des Olympiastadions untergebracht. Da muss man abends um zehn zurück sein, sonst ist das Tor zu. Traute ist die einzige Frau, die ich kenne, die mit einem engen Rock elegant mitternachts über das Tor des Olympiastadions klettert.

Traute und ich stellen uns an der Schlange vor der Kinokasse vom Atlantis Filmkunsttheater in der Böttcherstraße an, um Ingmar Bergmans Das Schweigen zu sehen. Als wir an der Kasse sind, erfahren wir, dass der Film für die nächsten zwei Wochen ausverkauft ist. Na ja, eine filmische Unterweisung im Knutschen durch den schwedischen Meisterregisseur hätten wir eh nicht gebraucht. Wir knutschen immer leidenschaftlich auf dem Grambker Friedhof, es ist da schön ruhig und das Haus ihrer Eltern liegt in der Straße dahinter. Irgendwann lernt sie beim Studium im Hamburg einen jungen Geschichtsstudenten kennen, der schon Hilfskraft bei einem berühmten Professor ist. Sie weiß nicht, wie sie sich entscheiden soll, er scheint ihr etwas Solideres zu sein als ich. 

Zum Abschied werden wir im Nebel auf dem Deich von Lesumbrook entlanggehen, eine Inszenierung wie in Antonionis Il Grido. Wir können nicht voneinander lassen. Wir werden uns auch immer mögen, wenn sie längst ihren Historiker geheiratet hat. Der weiß das auch, und seine Eifersucht wird nie wirklich aufhören. Sie wird früh sterben. Ein halbes Jahr vor ihrem Tod ruft sie mich an, ich sitze im Obstgarten meines Bruders an einem See in Schleswig-Holstein und habe da zum ersten Mal in meinem Leben ein mobiles Telephon in der Hand. So kann ich im Garten sitzen, während wir unser Leben und unsere Liebe Revue passieren lassen.

Ich bin mit ihm seit einem Vierteljahrhundert verheiratet, aber er ist immer noch eifersüchtig auf Dich, sagt sie. Sie weiß, dass sie in wenigen Monaten sterben wird, ihre Familie hat ihr zum Abschied noch einen Flug nach Hongkong geschenkt. Ich weiß nicht, was ich tun und sagen soll. Ich nehme mir nach dem Telephongespräch das neue Rennrad meines Bruders und knalle damit nach zwanzig Metern gegen das Hoftor. Niemand hat mir gesagt, dass dieses Rad keine Rücktrittsbremse hat. Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Ich hätte jetzt gerne das Portrait von ihr im Jugendheim Alt-Aumund wieder zurück, aber in Vegesack weiß keiner, wo es geblieben ist. So bleibt mir nur das Portrait, das mein Gedächtnis aufbewahrt. Ich wage es nicht, ihr Bild noch einmal zu malen.

Die Universität Kiel hat einen Zeichenlehrer, wie ich zu meinem Erstaunen bei der Immatrikulation feststelle. Diese Position gibt es schon seit dem 18. Jahrhundert, der Maler Theodor Rebenitz hat den Posten im 19. Jahrhundert einmal gehabt. Jetzt hat ihn H.H. Jessen. Der ist eigentlich an der Muthesius Kunsthochschule, aber er gibt diesen Kurs im Rahmen des kulturellen Angebots des Studentenwerks, wo man ja auch Theater spielen oder Filmemacher werden kann. Jessen legt großen Wert darauf, dass er der Universitätszeichenlehrer ist, obgleich es diese Position eigentlich offiziell schon lange nicht mehr gibt. Bei ihm lernt man Zeichnen von der Pike auf. Im ersten Semester werden nur kleine Vierecke und Würfel gezeichnet, Perspektive geübt, Seiten zart schraffiert. Aktmodelle hätten jetzt natürlich mehr Pep, aber wir sind bei den kleinen Vierecken und Würfeln. Ich bin darüber eigentlich schon hinaus, aber meine Abstraktionen von Würfeln gefallen ihm ganz und gar nicht, also fange ich wieder ganz unten an. Zeichne blitzsaubere rechte Winkel, schraffiere parallel wie mit einem Lineal.

Detlev steigt an dieser Stelle aus dem Kurs aus, das hier ist unter seiner Würde. Detlev kann perfekt naturalistisch zeichnen. Sein Vater war Bauhausprofessor, er hat das Talent geerbt. Wir lernen alles über das Gewicht von Papierbögen, die Härte von Bleistiften, das ist schon substantiell. Allerdings wird es auch bei der langsamen Gründlichkeit Semester dauern, bis wir endlich draußen in der Natur sind. Dann ist unser Zeichensaal der alte Botanische Garten an der Kieler Förde. Inzwischen sind wir auch schon zu lavierten Federzeichnungen vorgedrungen. Ich sitze oben auf dem kleinen Pavillion und schaue über die Förde unter mir, warum das jetzt zeichnen? Mein Kopf speichert die Bilder sowieso.

Einmal wird Jesssen uns am Semesterende zu sich nach Hause einladen und wird am Ende des Abends Mappen voller Aquarelle hervorholen. Er ist im Krieg in einer Propagandakompanie gewesen und hat den ganzen Russlandfeldzug gezeichnet und mit farbiger Tusche laviert. Die Mappen sind chronologisch geordnet. Die ersten Bilder zeigen noch eine Sommerlandschaft mit Birkenwäldern. Die, von denen Hermann Bollenhagen gesprochen hat. Dann wird die Landschaft karger, die Grüntöne sind nicht mehr in der Landschaft, nur noch in den Wehrmachtsuniformen. Dann wird alles grau und weiß, der russische Winter ist da. Die Wehrmacht hat nicht so viel von Napoleons Feldzug gelernt. Auch wenn das Beresinalied der Schweizergarden damals noch in manchen Liederbüchern stand. Da, in der letzten Mappe, wo die Bilder immer weißer werden, wie das Ende von Arthur Gordon Pym, hätte auch das Bild Der Chasseur im Wald von Caspar David Friedrich eingeklebt sein können.

Mein Vater hat nicht nur ein halbes Dutzend Kapitäne zu Freunden, er kennt auch richtige Künstler. Willy Mrowetz geht bei uns ein und aus, bei seinem Bruder werde ich einmal Malunterricht haben, und beinahe immer wenn wir Oma in Blumenthal besuchen, fahren wir bei Willi Vogel vorbei, von dem dieses hübsche Bild der Vegesacker Strandstraße stammt. Willy Mrowetz ist mein Lieblingskünstler, er könnte auf dem Jahrmarkt als Schnellzeichner auftreten, er kann Zauberkunststücke, einen Salto aus dem Stand rückwärts (auch noch im hohen Alter), und gibt man ihm eine Puppe in die Hand, wird er zum Bauchredner. Seine Frau Elfriede ist ein Gesamtkunstwerk, sie muß Stunden des Tages vor dem Spiegel verbringen, um in solch abgestuften Farbtönungen von den Schuhen bis zur Spitze der beehive Frisur auftreten zu können. Und immer in anderen Farben. Ich bewundere das. 

Willy kriegt im Alter noch eine Beamtenstelle beim Bremer Bauamt und überwacht die an den Häusern Bremens angebrachte Reklame. Ich bin froh für ihn, dass er diese Stelle mit einer Rentenberechtigung noch bekommen hat, er ist sonst als kommerzieller Künstler nicht so erfolgreich. Nur vom Design für Kneipenschilder wie dem Weißen Hirschen in Walle kann man auch nicht leben. In dem Lokal gucken wir häufig bei der Rückfahrt von Bremen vorbei, mein Vater kennt den Wirt Rohlwing genauso wie die beiden Brüder Mrowetz seit den dreißiger Jahren. 

Die Zahnbehandlungen hat Willy bei meinem Vater immer umsonst. Dafür malt er auch den Partykeller mit weinflaschenschwingenden Mönchen aus und verziert das Wochenendhaus in Zwischenahn mit Darstellungen des Bremer Rolands, der Stadtmusikanten und so weiter. Willy redet kein Wort mehr mit seinem Bruder Emil, es muss da irgendwann ein Zerwürfnis gegeben haben, an dem auch die Ehefrauen nicht unbeteiligt waren. Emil ist ein ernsthafter Künstler, Manfred Hausmann wäre von ihm begeistert. Utes Tante auch. Er entwirft sakrale Skulpturen. Schon sein Vater war Bildhauer und Altarbaumeister. Er ist im gleichen Jahr geboren wie mein Vater, ist das neunzehnte von einundzwanzig Kindern. Wenn es nach mir ginge, dann hätte ich ja lieber Unterricht im Schnellzeichnen bei Willy gehabt, aber mein Vater schickt mich zu dem richtigen, großen Künstler. 

Gut, ich meine das damals ironisch, wir werden auch nicht miteinander warm. Er ist nett, keine Frage, aber er ist eben nicht Willy. Bei ihm ist alles durchgeistigt, er sieht auch so aus, wie man sich in den fünfziger Jahren einen durchgeistigten Künstler vorstellt. Er sieht ein wenig aus wie Arno Schmidt, aber vielleicht liegt das auch an der scheußlichen fünfziger Jahre Brille. Er ist auch kein Pädagoge, ich werde in seinem kalten Studio in der Neustadt nichts Substantielles lernen. Bei Recker lerne ich, wie man eine Leinwand grundiert, wie man Bleiweiß verwendet, wie man einzelne Schichten aufträgt, wie man den Spachtel einsetzt (mit dem Spachtel ist Recker gut). Das ist eigentlich das, was ich lernen will, the tricks of the trade

Emil Mrowetz' Bilder und Zeichnungen (von denen ich noch etliche besitze) sind wahrscheinlich auch nicht sein Hauptwerk, er wird für seine Reliefs und Skulpturen berühmter werden. Bis 1973 ist er Vorstandsmitglied des Bremer Künstlerbundes. Zu seinem 85. Geburtstag wird der Bremer Hauschild Verlag eine Werkschau seines Schaffens herausgeben. Manches von dem, was da abgebildet ist, steht oder hängt in den Wohnzimmern unseres Hauses. Er wird irgendwann von Bremen nach Uchte, dem Heimatort seiner Frau, ziehen. Dort wird es 2002 eine Emil Mrowetz Stiftung geben, die sein Hauptwerk ausstellt. Ich werde ihm und seiner Stiftung nach dem Tod meiner Eltern zahlreiche Werke schenken, was ihn sehr glücklich macht.

Ich hätte auch nicht gewusst, wo ich sie hätte hintun sollen. Ich bin gerade beim Umziehen und muß mich eh von vielem trennen. Gabi schickt mir eine Karte, auf der Claude Chabrol abgebildet ist. Daneben steht der Satz On ne peut pas tout avoir. Et puis d’abord où le mettrait-on? Mrowetz schenkt mir ein Aquarell aus den fünfziger Jahren im Gegenzug, wohin damit? Ich mag es nicht, aber den geschnitzten Frauenkopf von ihm aus den fünfziger Jahren habe ich immer behalten. Obgleich der als Kunstwerk nicht gegen die kleine Skulptur von Onkel Karl bestehen kann. Onkel Karl ist die internationale Moderne, der Frauenkopf von Mrowetz ist religiöses Kunstgewerbe.

Meine Karriere als Maler vertrocknet irgendwann wie die Ölfarbe. Ich verbringe mehr Zeit im Photolabor, das ich im Keller des Hauses habe (dort entwickle ich auch die Röntgenfilme für meinen Vater) als vor der Leinwand. Ich hätte ein guter Gebrauchsgraphiker werden können. Vieles, was heute als Kunst verkauft wird, hätte ich auch hingekriegt. Ich bringe gute Fälschungen von Jasper Johns American Flag zustande, die sich meine Freunde ins Wohnzimmer hängen. Meine blauen Meereslandschaften aus der Spraydose kommen auch gut an (sogar eine richtige dänische Malerin findet die gut). Ich zeichne für Heidi ein Kinderbuch Aus dem Leben eines Maulwurfs, aber das ist es dann auch. Ich kann ja nach der Pensionierung wieder damit anfangen, sage ich mir. Wie Gerhart Hauptmanns Michael Kramer weiß ich, dass mir der ganz große Wurf nie gelingen wird. Wenn ich das technische Können von Odd Nerdrum hätte, das wäre es gewesen. Nicht dass ich so gemalt hätte wie er, nur allein zu wissen, dass man so malen könnte. Wenn ich eines Tages mit dem Bloggen aufhöre und wieder einen Bleistift, eine Feder oder einen Pinsel in die Hand nehme, dann fälsche ich Aquarelle von Thomas Girtin oder John Sell Cotman, das habe ich mir schon fest vorgenommen.

Freitag, 12. Juli 2019

Hallo, hier spricht Edgar Wallace


In einem Kieler Photogeschäft konnte man vor vielen Jahren im Schaufenster einen Holzkoffer bewundern, der eine alte Leica mit viel Zubehör enthielt. Nun sind alte Leicas sicher etwas für Sammler, aber der Inhalt des Koffers war eine kleine Sensation: es war ein Geschenk von Edgar Wallace an seine Tochter Penelope. Kam mit der Rechnung eines Londoner Photohändlers und einem Brief von Wallace und war preislich mit 2.500 Mark sehr niedrig angesetzt. Ich war damals stark in Versuchung, das Konvolut zu kaufen, kaufte mir aber Jahre später eine alte Leica aus dem Jahre 1943. In deren Gehäuse witzigerweise auch der Name Wallace eingraviert war, das hatte allerdings nichts mit Edgar Wallace zu tun, viele Besitzer ließen sich damals ihren Namen in das Gehäuse der Leica eingravieren.

Bei 3sat ist mal wieder eine Wallace Woche, ich merkte das in der Statistik meines Blogs. Es waren nicht die langen Posts zu Edgar Wallace, nein, es war ein kürzerer Post, der immer wieder angeklickt wurde: Siefried Schürenberg. Der Mann scheint immer noch seine Fans zu haben. Die hat Schürenberg, der den etwas trotteligen Scotland Yard Chef Sir John spielt auch verdient. Man liebt es, wenn er immer wieder den Satz Aber das hätten sie doch berücksichtigen müssen bringt.

Lesen Sie auch: Edgar Wallace, Hexer, Zinker et. al., Siefried Schürenberg, Bond Girl, Dieter Borsche, Irritation