Vor einigen Monaten habe ich Proust an einer neue Stelle im Bücherregal gestellt. Er stand bisher etwas unglücklich hinter dem linken Lautsprecher (falls es jemanden interessiert: ein T+A Criterion), und ich merkte immer wieder, wenn ich etwas nachlesen wollte, wie beschwerlich es war, mich um die Lautsprechersäule herum zu winden. Jetzt komme ich mit einem Griff an die Suche nach der verlorenen Zeit. Das ist immer noch die alte Suhrkamp Ausgabe, die Übersetzung von Eva Rechel-Mertens. Ich habe sie mir vor einem halben Jahrhundert als Abo-Werber erarbeitet. Drehte meiner ganzen Verwandtschaft und den Freunden meiner Eltern ein Abo von der Welt an und bekam jedes Mal als Prämie einen der sieben Bände. Ich habe auch einige Bände auf Englisch in der Übersetzung von C.K. Scott Montcrieff (und natürlich auch einige in der Originalsprache). Ich weiß zwar, dass es in Frankreich eine Comics Version gibt, aber ich weiß nicht so recht, was das soll.
Neben der Werkausgabe stehen die Briefe und die kleineren Schriften. Und der Katalog der Proust Ausstellung, den Peter mir 1971 aus Paris mitgebracht hat, das Marcel Proust Lexikon von Philippe Michel-Tiret und Harold Pinters Proust Screenplay. Working on À la recherche du temps perdu was the best working year in my life, schreibt Pinter im Vorwort. Aus dem Film, den er mit Joseph Losey machen wollte, ist ja leider nichts geworden. Aber das Drehbuch hat als Lesetext sicher schon wieder einen literarischen Rang. Da ich gerade beim Thema Film bin: es gibt einiges, aber weniges auf Zelluloid (oder DVD), was ich empfehlen mag. Eine Liebe von Swann von Volker Schlöndorff gehört auf keinen Fall dazu. Aber Die wiedergefundene Zeit von Raúl Ruiz, das wäre ein Film, über den man reden könnte. Beinahe drei Stunden lang, aber man merkt es nicht. Starbesetzung, aber die Stars fallen nicht auf. Catherine Deneuve, Emmanuelle Béart, Marie-France Pisier und John Malkovich, sie alle besinnen sich darauf, dass sie zuerst einmal Schauspieler in einer Rolle sind, bevor sie Stars sind.
Und dann stehen da im Regal natürlich noch die Biographien, ich liebe Biographien, auch wenn die moderne Literaturwissenschaft sie verachtet. Sie stehen alle nebeneinander: die neue von Jean-Yves Tadie (sehr zu empfehlen, ich habe sie auf Englisch gelesen, weil ich nicht jahrelang auf die deutsche Übersetzung warten wollte), die ältere von George Painter (immer noch sehr gut) und eine von einem Amerikaner namens William C. Carter. Gab es sehr billig bei Strand Bookstore, ich weiß jetzt auch weshalb. Das ist etwas, wofür englische Rezensenten das Wort pedestrian reserviert haben. Bei den Biographien sollte ich Céleste Albarets Monsieur Proust: Souvenirs recueillis par Georges Belmont nicht vergessen.
Bei den Biographien steht noch ein Buch, das da eigentlich nicht hingehört (obwohl Marcel Proust darin vorkommt), ich wusste nie, wo ich es hinstellen soll. Und so ist es bei Proust gelandet. Was auch passt, weil es viel vom Geist von Proust hat und der Verfasser ein entfernter Verwandter von Proust ist. Das Buch, das ich im Grabbelkasten (wo die beste Literatur ist) fand, heißt Geisterbeschwörung und ist von Emmanuel Berl. Es ist in der Reihe Die andere Bibliothek erschienen. Emmanuel Berl ist in Deutschland kaum bekannt, das ist eigentlich schade, weil Geisterbeschwörung (frz. Sylvia und Rachel et autres grâces) ein wunderschönes Buch ist. Im ZVAB gibt es noch Reste davon.
Ein Buch ist ganz neu unter all den Büchern, die sich schon seit Jahrzehnten kennen. Es ist von einem amerikanischen Maler namens Eric Karpeles und heißt Paintings in Proust. Karpeles hat seinen Proust mit den Augen des Malers gelesen und präsentiert uns mit über zweihundert Bildern (natürlich mit den passenden Romanstellen) ein erstaunliches visuelles Geflecht des Romans. Ich habe letztens gelesen, dass Anita Albus gesagt haben soll, Prousts Werk gleiche einer Kathedrale. Was dann überall zitiert wurde, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit=Kathedrale. Das kann aber nicht so originell sein, weil ich das schon mal vor Jahrzehnten gelesen habe. Anita Albus ist Malerin (sie hat ein krauses, verwinkeltes, aber wirklich originelles Buch Die Kunst der Künste geschrieben), jetzt schreibt sie mit Im Licht der Finsternis über Proust. Habe ich noch nicht gelesen, weil ich etwas allergisch gegen Sekundärliteratur zu Proust bin. Die steht bei mir in der zweiten Reihe, hinter den Werken. Meistens ist es todlangweilig, was Romanistikprofessoren zu Proust zu sagen wissen. Von daher gesehen, kann es sicher nicht schlecht sein, wenn sich Maler wie Karpeles oder Albus über Proust hermachen.
Oder ein Schriftsteller wie Alain de Botton mit How Proust Can Change Your Life. Das fällt bei mir nicht unter Sekundärliteratur sondern unter Lesevergnügen, hat es in England und den USA sogar zum Bestseller gebracht. Und ich kann es jedem empfehlen, der neu in der Welt von Marcel Proust ist. Meine kleine Bibliotheksführung am 140. Geburtstag von Marcel Proust hat natürlich ein pädagogisches Ziel: ich möchte denjenigen, die sich bisher noch nicht an Proust herangewagt haben, Bücher nennen, die eine Hilfe bei der Lektüre sind. Denn bei einem Roman wie Auf der Suche nach der verlorenen Zeit ist der Vorgang des Lesens nie abgeschlossen. Wenn man einen Roman von Hemingway wie For Whom the Bell Tolls gelesen hat, stellt man ihn ins Regal. Wenn man einen Roman von Hemingway ein zweites Mal liest, ist man ein Englischlehrer und behandelt gerade For Whom the Bell Tolls im Unterricht. Proust kann man nicht einfach so wegstellen, man liest ihn immer wieder.
Ich habe vor Jahren eine französische Sendung bei ARTE gesehen, in der ganz normale Menschen wie ein Pariser Taxifahrer (und andere) über ihre Proust Lektüre berichteten. Eine der interviewten Personen sprach emphatisch von einer Romanstelle mit Bäumen. Was für Bäume? fragte ich mich. Ich hatte die Bäume in Im Schatten junger Mädchenblüte vergessen, die der Erzähler auf einer Kutschfahrt mit Madame de Villeparisis sieht. Ich musste den halben Roman noch einmal lesen (mit dem Computer könnte man eine Romanstelle heute schneller finden, hat aber bei der Suche nicht das Lesevergnügen), und da waren sie: Indessen kamen sie auf mich zu, mythische Erscheinung vielleicht, ein Reigen von Hexen, von Nornen, die mir ihr Orakel verkünden wollten. Ich neigte eher dazu, sie für Erscheinungen aus der Vergangenheit zu halten, teure Kindheitsgefährten, entschwundene Freunde, die gemeinsame Erinnerungen wachrufen wollten. Wie Schatten schienen sie mich zu bitten, ich möchte sie mit mir nehmen, dem Dasein wiedergeben. In ihren kindlichen, leidenschaftlich bewegten Gesichtern erkannte ich die ohnmächtige Trauer eines geliebten Wesens wieder, das den Gebrauch der Sprache verloren hat, das fühlt, es werde uns nicht sagen können, was es ausdrücken will und was wir nicht zu erraten vermögen. [...] Ich sah die Bäume entschwinden, sie streckten verzweifelt die Arme aus, ganz als wollten sie sagen: Was du heute von uns nicht erfährst, wirst du niemals erfahren. Wenn du uns auf den Grund dieses Weges zurücksinken läßt, aus dem wir uns bis zu dir haben heraufheben wollen, wird ein ganzer Teil deiner selbst, den wir dir bringen konnten, für immer verloren sein.
Man findet beim Lesen immer wieder Neues. Mußte ich vielleicht glauben, sie kämen aus so fernen Jahren meines Lebens herauf, daß die sie umgebende Landschaft in meiner Erinnerung schon völlig ausgelöscht war und daß, wie jene Seiten, die man mit tiefer Bewegung in einem Werk wiederfindet, von dem man meint, man habe es nie gelesen, sie allein noch von allen Dingen aus dem vergessenen Buch meiner Kindheit nicht untergegangen waren? Wenn ich auch durch die ARTE Sendung an die Bäume erinnert wurde, als ich die Romanstelle gefunden hatte, war alles schlagartig wieder da. Ich hätte gar nicht weiterzulesen brauchen. Hat man Proust vor vielen Jahren gelesen, so ist eine erneute Lektüre auch eine Wiederbegegnung mit sich selbst, mit einem Ich, das man einmal gewesen ist. Denn das Gedächtnis, indem es die Vergangenheit in unveränderter Gestalt in die Gegenwart einführt - so nämlich, wie sie sich in dem Augenblick präsentierte, als sie selber noch Gegenwart war - bringt gerade jene große Dimension der Zeit zum Verschwinden, in der das Leben sich realisiert.
Denn dank Marcel Proust wissen wir inzwischen auch: In Wirklichkeit ist jeder Leser, wenn er liest, ein Leser nur seiner selbst. Das Werk des Schriftstellers ist dabei lediglich eine Art von optischem Instrument, das der Autor dem Leser reicht, damit er erkennen möge, was er in sich selbst vielleicht sonst nicht hätte erschauen können. Dass der Leser das, was das Buch aussagt, in sich selber erkennt, ist der Beweis für die Wahrheit eben dieses Buches und umgekehrt.
Was man natürlich nie vergessen wird - und auch da geht es um die Erinnerung - ist die berühmte Stelle mit den cookies, die Madeleine heißen. Und deshalb gibt es die heute zum Schluss. Da müssen Sie durch.
Il y avait déjà bien des années que, de Combray, tout ce qui n'était pas le théâtre et le drame de mon coucher, n'existait plus pour moi, quand un jour d'hiver, comme je rentrais à la maison, ma mère, voyant que j'avais froid, me proposa de me faire prendre, contre mon habitude, un peu de thé. Je refusai d'abord et, je ne sais pourquoi, me ravisai. Elle envoya chercher un de ces gâteaux courts et dodus appelés Petites Madeleines qui semblent avoir été moulés dans la valve rainurée d'une coquille de Saint-Jacques. Et bientôt, machinalement, accablé par la morne journée et la perspective d'un triste lendemain, je portai à mes lèvres une cuillerée du thé où j'avais laissé s'amollir un morceau de madeleine. Mais à l'instant même où la gorgée mêlée des miettes du gâteau toucha mon palais, je tressaillis, attentif à ce qui se passait d'extraordinaire en moi. Un plaisir délicieux m'avait envahi, isolé, sans la notion de sa cause. Il m'avait aussitôt rendu les vicissitudes de la vie indifférentes, ses désastres inoffensifs, sa brièveté illusoire, de la même façon qu'opère l'amour, en me remplissant d'une essence précieuse: ou plutôt cette essence n'était pas en moi, elle était moi. J'avais cessé de me sentir médiocre, contingent, mortel. D'où avait pu me venir cette puissante joie? Je sentais qu'elle était liée au goût du thé et du gâteau, mais qu'elle le dépassait infiniment, ne devait pas être de même nature. D'où venait-elle? Que signifiait-elle? Où l'appréhender? Je bois une seconde gorgée où je ne trouve rien de plus que dans la première, une troisième qui m'apporte un peu moins que la seconde. Il est temps que je m'arrête, la vertu du breuvage semble diminuer. Il est clair que la vérité que je cherche n'est pas en lui, mais en moi. Il l'y a éveillée, mais ne la connaît pas, et ne peut que répéter indéfiniment, avec de moins en moins de force, ce même témoignage que je ne sais pas interpréter et que je veux au moins pouvoir lui redemander et retrouver intact, à ma disposition, tout à l'heure, pour un éclaircissement décisif. Je pose la tasse et me tourne vers mon esprit. C'est à lui de trouver la vérité. Mais comment? Grave incertitude, toutes les fois que l'esprit se sent dépassé par lui-même; quand lui, le chercheur, est tout ensemble le pays obscur où il doit chercher et où tout son bagage ne lui sera de rien. Chercher? pas seulement: créer. Il est en face de quelque chose qui n'est pas encore et que seul il peut réaliser, puis faire entrer dans sa lumière.
Alle Bilder (bis auf Jeremy Irons in Un amour de Swann) sind aus dem Film Die wiedergefundene Zeit von Raúl Ruiz. Visconti und Losey haben davon geträumt, Proust zu verfilmen. Sie wären sicherlich die richtigen dafür gewesen. Obgleich es wahrscheinlich bei Visconti ein reiner plüschiger Ausstattungsfilm geworden wäre. Als Joseph Losey The Go-Between drehte, war er ja schon halb auf dem Weg zu Proust. Als ich vor Jahren in einem amerikanischen Magazin las, dass Raúl Ruiz dabei war, den letzten Band der Suche nach der verlorenen Zeit zu verfilmen, dachte ich mir, das kann nichts werden. Ich wußte von dem Regisseur nur, dass er einmal Guillermo Cabrera Infantes Drei traurige Tiger verfilmt hat. Was eigentlich auch ein unverfilmbarer Roman ist. Aber dann kam der Film in die Kinos, und die Rezensenten waren begeistert. Fritz Göttler schrieb in der Süddeutschen Zeitung: Visconti hat es sein Leben lang versucht, Schlöndorff hat es vermurkst, Raoul Ruiz ist es nun auf magisch wundersame Weise gelungen. Was soll man da noch sagen? Die Vergangenheit entflieht nicht, sie bleibt und verharrt bewegungslos.
Ich habe eine Zeitlang den Blog "Schmidt liest Proust" verfolgt - fand ich auch spannend: http://vertr.antville.org/
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