Samstag, 1. Juli 2017

Wilde Justiz


Die Eckkneipe, die Lammers heißt, ist schon länger zu. Jetzt sind auch noch Türen und Fenster mit Brettern verrammelt worden. Ein trauriger Anblick, aber ich mochte die Kneipe nie. Zuletzt war es angeblich eine Institution der gehobenen Kieler Gastronomie. Lügen haben lange Nasen. Vor mehr als einem halben Jahrhundert war es ein Studentenlokal. Nicht meins. Ich war mit den anderen Hilfskräften zweimal die Woche zwei Häuser weiter im Heinrich VIII. Da aßen wir nachts um zehn Blaubeerpfannkuchen, wenn wir die Vorlesung für den Professor für den nächsten Tag fertig getippt hatten. Der wusste ja nicht, was er am nächsten Tag las. Einmal haben wir aus Versehen einige Seiten vertauscht. Außer uns hat das am nächsten Tag aber keiner bemerkt. Der Professor nicht, die Studenten auch nicht. Wenn wir mit unserem Professor essen gehen mussten, waren wir im ▹Oblomow. Wenn wir ganz wir selbst waren, saßen wir abends im QuamQuam und bestellten etwas, was Kairinisch Pilaw (oder so ähnlich) hieß. Im Quam war auch immer eine Ecke für die Anglisten reserviert, da verjagte die Bedienung jeden, der sich da hinsetzen wollte.

Jetzt wo das Lammers ganz zu ist, ist auch der widerliche Typ mit seinem fetten schwarzen Daimler verschwunden. Den parkte der Typ, der in jedem Mafiakrimi hätte mitspielen können, konsequent im Halteverbot an der Ecke zur Wrangelstraße. Wurde nie aufgeschrieben. So wie die Loddels von der Kieler Küste früher nie ein Ticket an den Frontscheiben ihrer exotischen Karossen hatten - dafür trugen aber auch alle Polizisten von der Falkwache eine ▹Rolex. Nein, das ist böse. Das darf man nicht schreiben. Wenn Sie wirklich wissen wollen, wie es in den Sixties an der Kieler Küste zuging, dann sollten Sie die Lebenserinnerungen von ▹Karl Koch lesen. Einem Hünen, der sein Kneipenpublikum mit Versen aus der Ilias unterhielt und besser Englisch sprach als die Englischlehrer der Gelehrtenschule.

Mein Freund ▹Keith Kernspecht, der natürlich auf der Kieler Gelehrtenschule war, hat die Erinnerungen von Karl Koch unter dem Titel Karl von der Küste: Erinnerungen an den Kieler Kiez (1960-1976) mit Hauern, Huren, Hafenloddels herausgegeben. Wer in dem Buch nicht steht, ist der wirklich berühmte Professor, der sich jede Woche einmal nachmittags in einem Amüsierbetrieb einfand. Das war kein schlimmes Lokal, eher ein Café, das im Puff lag. Es gab eine Art Varietéprogramm und manchmal hüpfen den Mädels die Möpse aus dem Oberteil, das war alles. Wenn ich jetzt seinen Namen nennen würde, würde mir niemand die Geschichte glauben. Den Namen des berühmten ▹Südstaatenautors, der hier als Gastprofessor an der Uni war, den nenne ich auch nicht. Der war so verzweifelt über die Tristesse des Ortes, dass er sich ständig im Puff besoff und dann da liegen blieb. Irgendwann sollte mal die Subgeschichte dieser Stadt geschrieben werden, mit Hauern, Huren und Hafenloddels. Professoren und Möpsen.

Lassen Sie mich zum Lammers mit seiner hochwertigen Kreativküche zurückkommen. Ich fahre da beinahe täglich dran vorbei und denke nicht groß über das Lokal nach. Vor allem, weil ich mich nicht mehr über den falsch geparkten fetten schwarzen Daimler ärgern muss. Es ist lange her, da war ich einige Male im Lammers. Weil die da eine neue Tresenschlampe hatten, die in der Dunkelheit ganz passabel aussah. Schlank, apart. Die war aber bald wieder weg, hatte angeblich eine Kneipe in Lübeck aufgemacht. Ich habe sie nie wirklich vergessen, ich sehe ihr Gesicht immer noch vor mir. Man konnte sie auch nicht vergessen, weil sie noch berühmt wurde, als sie in einem Lübecker Gerichtssaal den Mörder ihrer Tochter erschoss.

Revenge is a kind of wild justice, sagt Sir Francis Bacon in seinem Essay ▹On Revenge, aber er schränkt das gleich ein wenig ein und fügt hinzu: which the more man's nature runs to, the more ought law to weed it out. Sergeant Hathaway zitiert in einer Folge von Lewis (die dann auch ▹Wild Justice heißt) diesen Satz von Francis Bacon. Englische Krimiserien wie ▹Morse und ▹Lewis enthalten ja (wie der Detektivroman in seinem Golden Age in den zwanziger Jahren) immer viel Zitate. ▹Barnaby nicht, deshalb liebt Angela Merkel wahrscheinlich die Serie. Wenn Francis Bacon auch konzediert, dass der Wunsch nach Rache in der Natur des Menschen liege, ist er natürlich auf Seiten der Justiz: the more ought law to weed it out. 

Aber in der Mitte seines Essays findet sich der Satz: The most tolerable sort of revenge is for those wrongs which there is no law to remedy. Gilt das für Marianne Bachmeier? Ein Jurist und Essayist, der etwas älter als Francis Bacon war, sagte dazu: Denn so gut wie der Rächer sehen will, um daraus Vergnügen zu ziehen, so muß derjenige, an dem er sich rächet, auch sehen, um davon Mißvergnügen zu haben und Reue zu empfinden. Es wird ihn gereuen, pflegen wir zu sagen. Glauben wir denn, daß er Reue darüber fühlen werde, wenn wir ihm eine Kugel durch den Kopf gejagt haben? 

Hier schreibt niemand anderer als ▹Michel de Montaigne. Er kennt das Wesen des Menschen in seiner Zeit: Ich lebe in einer Zeit, in der, wie es in wilden Bürgerkriegen nun einmal ist, Beispiele kaum glaublicher Grausamkeit sich häufen. Fälle, die schlimmer sind als die furchtbarsten Berichte aus der Antike, sind heute etwas Alltägliches. Trotzdem habe ich mich durchaus nicht damit abgefunden. Ehe ich es gesehen habe, habe ich mir gar nicht denken können, daß Menschen so barbarisch sein sollten, aus bloßer Mordlust einen Mitmenschen zu töten, ihm Glieder abzuhacken, mit allem Scharfsinn unbekannte Qualen und neue Todesarten auszudenken, und zwar nicht etwa aus Haß oder Profitgier, sondern nur zu dem Zweck, sich an dem Schauspiel eines Menschen in Todesnot zu weiden, an seinen Schmerzensgesten und an seinem Stöhnen und Schreien. Das ist doch offenbar die Höhe der Grausamkeit, »daß ein Mensch seinen Mitmenschen tötet nicht aus Zorn, nicht aus Angst, nur weil er ihn sterben sehen will« Der Mensch hat, fürchte ich, von der Natur selbst etwas wie einen Instinkt zur Unmenschlichkeit mitbekommen. 

Den letzten Satz, Der Mensch hat, fürchte ich, von der Natur selbst etwas wie einen Instinkt zur Unmenschlichkeit mitbekommen, den sollten wir uns mal merken. 

Sir Francis Bacon ist Philosoph, Jurist und Essayist wie Montaigne. Seine Essays sind nett, sind aber nichts im Vergleich mit Montaigne: Suppose yourself a child, and that two old men live near you. One is Montaigne. He is delighted by your visits, stuffs you with cookies, asks after your interests, takes it graciously in stride when you tell him (being a child) that they have changed, offers up anecdotes and friendly advice that he will not be offended if you disregard. The other is Bacon. When you visit, he sits you down, offers you wine—they do that where he comes from—and takes everything you say seriously. You have opinions; he treats them like theories. You have observations; he treats them like theses. You have tastes; he treats them like positions. You finish bewildered and afraid. Montaigne makes you feel grown up; Bacon lets you know that you are not even as grown up as you thought.

Francis Bacon bemüht sich, das englische Recht zu reformieren, er wird mit On Revenge keine Apologie der Rache schreiben. Er lebt nicht mehr in der Zeit von Montaigne, aber auch in seiner Zeit hat die Rache Konjunktur. Hochkonjunktur. Es ist die Blütezeit der jakobäischen Rachetragödie. Auf der Bühne ist die Rache besser aufgehoben als im wirklichen Leben. Und sie ist aus der Literatur nicht wegzudenken, von Kriemhild in den Nibelungen (Sweet is revenge – especially to women), Kleists Michael Kohlhaas, dem Grafen von Monte Christo bis zu Effi Briest. Man kann unzählige Beispiele finden. 

Ich hätte zum Schluss noch eine kleine Geschichte, die auch von wilder Justiz und von der Kneipe Lammers handelt. Es ist Jahre her, da bretterte ein besoffener Jugendlicher mit seinem Auto nachts in die Hauswand des Lammers. Verpasste ein sechzehnjähriges Mädchen, das in der Begleitung des Vaters vom Kino heimkam, gerade mal um einen Meter. Der Vater zerrte den jungen Mann aus dem zerbeulten Auto und haute ihm eins in die Fresse. Revenge is a kind of wild justice. Der betrunkene Unglücksfahrer verlor seinen Führerschein und musste die Reparatur der Hauswand bezahlen. Hier könnte die Geschichte zu Ende sein, aber es kommt noch etwas: der junge Mann verklagte den Vater des Mädchens wegen Körperverletzung. Es kam zu keiner Verhandlung. Der Richter weigerte sich, das Verfahren zu eröffnen. Nos scimus quia lex bona est, modo quis ea utatur legitime.

2 Kommentare:

  1. "Den letzten Satz, Der Mensch hat, fürchte ich, von der Natur selbst etwas wie einen Instinkt zur Unmenschlichkeit mitbekommen, den sollten wir uns mal merken."
    Jawohl. Dem sagt man Erbsünde.
    Wer das nicht erkennt oder erkennen will, tut der Menschheit nichts Gutes an.

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  2. Toller Blog, besonders übers Lammers Eck.... Grad jetzt, wo Marianne Bachmeier aktuell ist. (Artikel Hamburger Abendblatt!) Bin Kielerin!

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