Freitag, 7. Juli 2017

Wehrpflicht


Am 7. Juli 1956 beschloss der Bundestag die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, da gab es allerdings in den Kasernen von ➱Andernach schon 1.200 Soldaten in schlecht sitzenden ➱Uniformen, alles Freiwillige. Weil es ja noch keine Wehrpflicht gab. Es waren keine einfachen Soldaten, es waren nur Offiziere und Unteroffiziere, die alle noch in der Wehrmacht gedient hatten. Diese ersten Freiwilligen der noch namenlosen deutschen Streitkräfte (der Name Bundeswehr taucht erst 1956 in der Diskussion auf) wurden am 21. November 1955 vereidigt. Das war der 200. Geburtstag von Gerhard von Scharnhorst, der in diesem Blog mit ➱Heeresreform schon einen Post hat. Man hatte solche Symbolik damals gerne. Allerdings wurde Scharnhorst damals in noch größerem Maße in der DDR, die für einen guten Westdeutschen natürlich Sowjetisch Besetzte Zone hieß, geehrt und verehrt. Mahnwachen am Scharnhorst Denkmal in Großgörschen und Gedenkmünzen. Und es gab in den siebziger Jahren sogar einen ➱Mehrteiler im Fernsehen.

Mit den Pariser Verträgen von 1955 war Westdeutschland (ohne Saarland) zu einem mehr oder weniger souveränen Staat geworden. Und zum Mitglied in der NATO. Es sollte jetzt schnell gehen mit dem Aubau der deutschen Armee, die eine Stärke von 500.000 Mann haben sollte, das wünschte sich Konrad Adenauer. Der hatte schon 1950 in einem ➱Interview mit der New York Times eine Verstärkung der Alliierten Streitkräfte in Europa gefordert. Und eine eigene Armee als Gegengewicht zur Kasernierten Volkspolizei in der Sowjetzone. Aber ein wenig Symbolik, eine Erinnerung an den deutschen Freiheitskampf gegen Napoleon, ist immer gut. Und aus dem Freiheitskampf gegen Napoleon bezog die junge Armee auch ihre Ideale: Alle Bewohner des Staates sind geborene Verteidiger desselben, hatte Scharnhorst gesagt. Das ist der Ursprung der allgemeinen Wehrpflicht aus dem Geist der Revolution und Befreiungskriege, schrieb Stephan Speicher in der Berliner Zeitung. Adenauer hat das bestimmt nicht so gesehen.

Wenn man zwanzig Jahre nach dem letzten ➱Wehrgesetz eine Wehrpflicht beschließt - für die man Teile des Grundgesetzes ändern muss - dann braucht man Behörden und Institutionen für die Verwaltung. Vom Verteidigungsministerium bis hinunter zum Kreiswehrersatzamt. Von 1957 bis 2010 wird es mehr als 20 Millionen Musterungen geben. Man brauchte neben den Erfassungsstellen eine Infrastruktur mit Kasernen und Truppenübungsplätzen. Kasernen und Truppenübungsplätze waren noch da, die konnte man wiederverwenden. Der Herrgott schuf in seinem Zorn Sennelager bei Paderborn, pflegte mein Opa zu sagen. Der Spruch war schon in der Kaiserzeit nicht ganz neu. Ebenso wie mein Opa lernte ich die rote Erde von ➱Sennelager kennen.

Vor Jahren traf ich bei einem Herrenabend bei ➱Hans Fander einen pensionierten Oberst, mit dem ich ins Gespräch kam, weil wir beiden die einzigen in der Runde waren, die alle deutschen Truppenübungsplätze kannten. Als er hörte, dass ich aus Vegesack sei, erzählte mir, dass seine militärische Karriere in Grohn begonnen hatte (wo im Zweiten Weltkrieg ➱Helmut Schmidt stationiert war). Da hätten ihn mal nachts auf dem Heimweg zur Kaserne am Vegesacker ➱Hafen zwei große kräftige sailors in die Mitte genommen, ihn hochgehoben und durchschüttelt. Und gesagt: Ihr seid die teuersten Arbeitslosen der Bundesrepublik. Nicht jeder in Deutschland mochte die Soldaten, die jetzt Bürger in Uniform sein sollten. Für eine Armee braucht man nicht nur Soldaten, man braucht natürlich auch Waffen. Die kaufte man am besten bei kriminellen Unternehmern, die einen Kumpel im Verteidigungsministerium haben. Es wäre jetzt schön, wenn Sie an dieser Stelle den Post ➱Schrott lesen würden, dann wissen Sie alles darüber.

Das Soldatenleben begann für die wehrpflichtigen Westdeutschen ab 1956 im Kreiswehrersatzamt (die DDR hatte noch keine Wehrpflicht, deren ➱Wehrpflichtgesetz kam erst 1962). Die fünfziger Jahre waren die große Zeit der Kreiswehrersatzämter und der Bürokratie. Einer häufig schleppend langsamen und unfähigen Bürokratie, da hat jeder etwas zu erzählen, der einmal mit einem KWEA zu tun hatte. Die Kreiswehrersatzämter gibt es heute nicht mehr, sie wurden mit Wirkung vom 30. November 2012 aufgelöst. Die Bürokratie gibt es heute natürlich immer noch. Als ich aufgefordert wurde, mich zur Musterung zu melden, bin ich zum Kreiswehrersatzamt nach Bremen gefahren. Dafür bekam ich schulfrei. Ich trug damals den Blazer, den ich auch in ➱Rotterdam anhatte, das geht aus dem Photo in meinem Wehrpass hervor. Das Kreiswehrersatzamt war damals noch in einem Seitenflügel vom Polizeipräsidium. Noch nicht in dem viel zu großen Hochhaus in der Falkenstraße, das später jahrelang leer stand, für ➱Tatort Dreharbeiten benutzt wurde und danach Flüchtlingen als Übergangswohnheim diente. Ich bekam am Ende der Musterung einen Wehrpass. Der allerdings ein klein wenig fehlerhaft war, das merkte ich erst, als ich wieder zu Hause war. Da hatte doch tatsächlich ein minderbemittelter Beamter statt Jay den Vornamen Jesus hineingeschrieben.

Ich schrieb einen bösen Brief (mit so etwas war ich damals gut) an den Leiter des Kreiswehrersatzamtes. Dem war die gotteslästerliche Sache furchtbar peinlich, er entschuldigte sich eine DIN A4 Seite lang. Ich musste meinen Wehrpass zurückschicken und bekam ihn dann wieder zugeschickt. Keinen neuen, man hatte das Jesus einfach wegradiert, mit dem Messer geschabt. Man kann es heute immer noch unter dem Jay lesen. Wenn die Geschichte jetzt zu Ende wäre, dann wäre sie eigentlich schon komisch. Aber sie ist noch nicht zu Ende. Plötzlich bekam ich Werbepost, die den Vornamen Jesus enthielt - das Kreiswehrersatzamt hatte offensichtlich die Namen der Wehrpflichtigen an die Bundespost verkauft. Was nach meiner Rechtsauffassung illegal war. Ich schrieb wieder böse Briefe. Die Bundespost gab mir nach mehreren Briefen eine Adresse, wo ich mich beschweren könne.

Nach meiner Beschwerde hörte ich nie wieder etwas davon und vergaß die ganze Sache. Fünfzehn Jahre später traf ich Arne Börnsen, den Bruder meines Freundes ➱Gert Börnsen in Bremen. Der war SPD Politiker wie sein Bruder, er wäre Postminister geworden, wenn man diesen Posten nicht abgeschafft hätte. Er sagte Herzlichen Glückwunsch, Jay. Ich wusste nicht, wozu er mich beglückwünschte. Da sagte er mir, dass meine Eingabe an die Post gerade im Postausschuss des Bundestages verhandelt worden sei. Und der hätte festgestellt, dass die Adressenweitergabe durch das KWEA an die Post widerrechtlich gewesen sei, und dass die Post das schon ein Jahrzehnt zuvor gewusst habe. Die Post sei übrigens verpflichtet gewesen, mir die Entscheidung des Ausschusses mitzuteilen. Was sie natürlich nie getan hat.

Meine Lamentatio über die Unfähigkeit von Kreiswehrersatzämtern ist noch nicht zu Ende. Kaum hatte ich meinen Wehrpass mit dem geänderten Vornamen zurück, da bekam mein Vater eine Aufforderung zur Musterung. Er konnte das nicht glauben, sagte zu mir: Schreib Du denen mal. Ich setzte mich vor die schwere Hermes 3000 Schreibmaschine in seiner Praxis und schrieb wieder einen bösen Brief. Muss ich das lesen? fragte er. Ich sagte: Es genügt, dass Du das unterschreibst. Mein Vater war als Leutnant der Reserve mit sieben Granatsplittern im Körper kurz vor Kriegsende aus der Wehrmacht entlassen worden, besaß einen Schwerbehindertenausweis auf dem kriegsbeschädigt stand. Er fiel ganz bestimmt nicht mehr unter das Wehrpflichtgesetz.

Nun hätte sich der Leiter des Kreiswehrersatzamtes natürlich für seinen Fehler entschuldigen müssen, wie wenige Monate zuvor für den Vornamen Jesus, aber das tat er nicht. Mein Vater erhielt eine zweite, scharf formulierte, Vorladung. Man glaubte ihm nicht. Er solle gefälligst seinen Wehrpass mitbringen, wenn er behaupte, Soldat im Zweiten Weltkrieg gewesen zu sein. Mein nächster böser Brief, den ich im Namen meines Vaters schrieb, begann mit der Frage, ob er vielleicht auch noch sein Eisernes Kreuz und seine Verwundetenabzeichen in Schwarz und in Silber mitbringen sollte? Und dann folgte für den Rest der DIN A 4 Seite eine Beleidigung nach der anderen, hochironisch und so richtig satt. Das ist die einzige Sprache, die Kreiswehrersatzämter verstehen. Mein Vater hat nie wieder etwas vom Kreiswehrersatzamt gehört.

Ich natürlich noch länger, weil ich mich freiwillig zum Bund gemeldet hatte und danach auch noch Wehrübungen gemacht habe. Genügend Gegenstand für Korrespondenzen mit dem Kreiswehrersatzamt gab es immer, schließlich unterliegt man der Wehrüberwachung. Ich lasse das lieber aus. Es ist zu armselig. In meinem Wehrpass liegt hinten ein Dutzend offizieller Schreiben, Einberufungsbescheide und so etwas. In einem von zwölf Schreiben hat man Namen, Titel und Dienstgrad richtig hinbekommen, das finde ich ein schönes Ergebnis für ein Kreiswehrersatzamt, das in einem 15-stöckigen Hochhaus sitzt. Ein steinernes Denkmal für Parkinsons Gesetz von der Vermehrung der Beamten. Es ist gut, dass es keine Kreiswehrersatzämter mehr gibt und man die Gebäude zur Unterbringung von Flüchtlingen verwenden kann. Die Bundeswehr brauchten wir eigentlich auch nicht mehr. Eine Küstenwache und die Bundespolizei reichen doch voll aus.

Die Wehrpflicht (die interessanterweise im Artikel 4 der Europäischen Menschenrechtskonvention unter Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit erwähnt wird) ist immer ➱umstritten gewesen. Ich zitiere dazu einmal den Bundespräsidenten Roman Herzog, der 1995 beim vierzigjährigen Bestehen der Bundeswehr sagte: Die Wehrpflicht ist ein so tiefer Eingriff in die individuelle Freiheit des jungen Bürgers, dass ihn der demokratische Rechtsstaat nur fordern darf, wenn es die äußere Sicherheit des Staates wirklich gebietet. Sie ist also kein allgemeingültiges ewiges Prinzip, sondern sie ist auch abhängig von der konkreten Sicherheitslage. Ihre Beibehaltung, Aussetzung oder Abschaffung und ebenso die Dauer des Grundwehrdienstes müssen sicherheitspolitisch begründet werden können. Gesellschaftspolitische, historische, finanzielle und streitkräfteinterne Argumente können dann ruhig noch als Zusätze verwendet werden. Aber sie werden im Gespräch mit dem Bürger nie die alleinige Basis für Konsens sein können. Wehrpflicht glaubwürdig zu erhalten, heißt also zu erklären, weshalb wir sie trotz des Wegfalls der unmittelbaren äußeren Bedrohung immer noch benötigen.


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