Mittwoch, 23. September 2015

Herbstgedicht


Jetzt ist es offiziell, der Herbst ist da. Heute. Gestern war noch Sommer, obgleich es wie Herbst aussah. Es wird Zeit, die Cordhosen aus dem Schrank zu holen und das festere Schuhwerk nach vorne zu stellen. Begrüßen wir die neue Jahreszeit doch eben mit einem Gedicht, das den Titel Der Herbst hat:

Das Glänzen der Natur ist höheres Erscheinen,
Wo sich der Tag mit vielen Freuden endet,
Es ist das Jahr, das sich mit Pracht vollendet,
Wo Früchte sich mit frohem Glanz vereinen.

Das Erdenrund ist so geschmückt, und selten lärmet
Der Schall durchs offne Feld, die Sonne wärmet
Den Tag des Herbstes mild, die Felder stehen
Als eine Aussicht weit, die Lüfte wehen

Die Zweig' und Äste durch mit frohem Rauschen
Wenn schon mit Leere sich die Felder dann vertauschen,
Der ganze Sinn des hellen Bildes lebt
Als wie ein Bild, das goldne Pracht umschwebet.

Unter dem Gedicht steht die handschriftliche Datierung d. 15ten Nov. 1759, doch das macht keinen Sinn, da ist der Autor noch gar nicht geboren. Der Herbst gehört nicht zu den großen Gedichten des Autors, wie zum Beispiel dieses:

Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.

Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.


Als Hölderlin 1837 sein Gedicht Herbst schreibt, ist er schon lange aus der Klinik als unheilbar entlassen. In der Gedichtsammlung von Christoph Theodor Schwab findet es sich in der Kategorie Gedichte aus der Zeit des Irrsinns. Man hat früher die Gedichte des Spätwerks, die häufig mit absurden Datierungen und dem Namen Scardanelli verziert sind, als sinnfrei oder sinnlos abgetan. Später haben sich viele berufen gefühlt, über Hölderlins Wahnsinn zu schreiben, von Norbert von Hellingrath bis Pierre Bertaux, der mit Hölderlin: Essai de biographie intérieure 1936 zum jüngsten docteur ès lettres in Frankreich promoviert wurde. Und der Jahrzehnte später die These vertrat, dass Hölderlin gar nicht wahnsinnig gewesen sei. Ich kann zu dem ganzen Thema zwei Dinge empfehlen. Zum einen den Aufsatz Die süße Ruhe im Wahnsinn: über ein spätes Gedicht von Friedrich Hölderlin von Hans Ulrich Gumbrecht und zum anderen das Kapitel Schönheit apocalyptica: Bemerkungen über Hölderlins späte Gedichte in Erwin Chargaffs Buch Zeugenschaft.

Hölderlin hielt es für angezeigt, d.h. für taktvoll im 40. Lebensjahr seinen gesunden Menschenverstand einzubüssen, wodurch er zahlreichen Menschen Anlass gab, ihn aufs Unterhaltendste, Angenehmste zu beklagen. Rührung ist ja etwas überaus Bekömmliches, mithin Willkommenes. Über einen grossen und zugleich unglücklichen Menschen weinen, wie schön ist das! Wieviel zarten Gesprächsstoff liefern solche unalltägliche Existenzen. Das schreibt ein Schriftsteller, der eines Tages auch Zuflucht vor der Welt in einer Heilanstalt suchen wird: Robert Walser. Der lebt dann nicht wie Hölderlin in einem Turm bei dem Tübinger Tischler Ernst Zimmer und seiner Frau Lotte, er faltet in der Heilanstalt Herisau Papiersäcke. Und in seinen freien Stunden beschreibt er unzählige Seiten mit ganz kleinen Buchstaben. Das Schreiben können sie nicht lassen, die aus der Welt in den Wahnsinn fliehen.

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