Samstag, 14. Juli 2018

Le jour de gloire est arrivé


Dieses schöne Bild fand sich schon vor Jahren in dem Post 14. Juli. Dies ist ein Tag, den die Franzosen jedes Jahr groß feiern, und warum sollen sie nicht? Liberté, égalité, fraternité wären ja schöne Ideale, aber sie haben im Blutrausch der Revolution einen schäbigen Beiklang bekommen. Doch das Allons, enfants de la patrie, Le jour de gloire est arrivé!, das der junge Rouget de Lisle in einer Nacht dichtet, das wird immer noch gesungen. Wenn Sie wissen wollen, wie die Nationalhymne entstanden ist, dann lesen Sie Stefan Zweigs Erzählung Das Genie einer Nacht :

1792. Zwei Monate, drei Monate schon schwankt in der französischen Nationalversammlung die Entscheidung: Krieg gegen die Koalition der Kaiser und Könige oder Frieden. Ludwig XVI. ist selbst unentschlossen; er ahnt die Gefahr eines Sieges der Revolutionäre, er ahnt die Gefahr ihrer Niederlage. Ungewiß sind auch die Parteien. Die Girondisten drängen zum Kriege, um die Macht zu behalten, Robespierre und die Jakobiner fechten für den Frieden, um inzwischen selbst die Macht an sich zu reißen. Von Tag zu Tag wird die Lage gespannter, die Journale lärmen, die Klubs diskutieren, immer wilder schwirren die Gerüchte, und immer mehr wird die öffentliche Meinung durch sie erregt. Wie immer eine Entscheidung, wird es darum eine Art von Befreiung, wie am 20. April der König von Frankreich endlich den Krieg an den Kaiser von Österreich und den König von Preußen erklärt. ....

Es ist spät nach Mitternacht. Der 25. April, der für Straßburg so erregende Tag der Kriegserklärung, ist zu Ende, eigentlich hat der 26. April schon begonnen. Nächtliches Dunkel liegt über den Häusern; aber trügerisch ist dieses Dunkel, denn noch fiebert die Stadt vor Erregung. In den Kasernen rüsten die Soldaten zum Ausmarsch und manche der Vorsichtigen hinter verschlossenen Läden vielleicht schon heimlich zur Flucht. Auf den Straßen marschieren einzelne Peletons, dazwischen jagen die klappernden Hufe der Meldereiter, dann rasselt wieder ein schwerer Zug Artillerie heran, und immer wieder hallt monoton der Ruf der Schildwache von Posten zu Posten. Zu nahe ist der Feind, zu unsicher und zu erregt die Seele der Stadt, als daß sie Schlaf fände in so entscheidendem Augenblick.

Auch Rouget, der jetzt in sein bescheidenes Zimmerchen in der Grande Rue 126 die runde Treppe hinaufgeklettert ist, fühlt sich merkwürdig erregt. Er hat sein Versprechen nicht vergessen, möglichst rasch ein Marschlied, ein Kriegslied für die Rheinarmee zu versuchen. Unruhig stapft er in seinem engen Zimmer auf und nieder. Wie beginnen? Wie beginnen? Noch schwirren ihm alle die anfeuernden Rufe der Proklamationen, der Reden, der Toaste chaotisch durch den Sinn. »Aux armes, citoyens! ... Marchons, enfants de la liberté! ... Ecrasons la tyrannie! ... L'étendard de la guerre est déployé! ...« Aber auch der andern Worte entsinnt er sich, die er im Vorübergehen gehört, die Stimmen der Frauen, die um ihre Söhne zittern, die Sorge der Bauern, Frankreichs Felder könnten zerstampft werden und mit Blut gedüngt von den fremden Kohorten. Halb unbewußt schreibt er die ersten beiden Zeilen hin, die nur Widerhall, Widerklang, Wiederholung sind jener Anrufe.

»Allons, enfants de la patrie,
Le jour de gloire est arrivé!«

Dann hält er inne und stutzt. Das sitzt. Der Ansatz ist gut. Jetzt nur gleich den rechten Rhythmus finden, die Melodie zu den Worten. Er nimmt seine Geige vom Schrank, er probiert. Und wunderbar: gleich in den ersten Takten paßt sich der Rhythmus vollkommen den Worten an. Hastig schreibt er weiter, nun schon getragen, nun schon mitgerissen von der Kraft, die in ihn gefahren ist. Und mit einemmal strömt alles zusammen: alle die Gefühle, die sich in dieser Stunde entladen, alle die Worte, die er auf der Straße, die er bei dem Bankett gehört, der Haß gegen die Tyrannen, die Angst um die Heimaterde, das Vertrauen zum Siege, die Liebe zur Freiheit. Rouget braucht gar nicht zu dichten, zu erfinden, er braucht nur in Reime zu bringen, in den hinreißenden Rhythmus seiner Melodie die Worte zu setzen, die heute, an diesem einzigen Tage, von Mund zu Mund gegangen, und er hat alles ausgesprochen, alles ausgesagt, alles ausgesungen, was die Nation in innerster Seele empfand. Und er braucht nicht zu komponieren, denn durch die verschlossenen Fensterläden dringt der Rhythmus der Straße, der Stunde herein, dieser Rhythmus des Trotzes und der Herausforderung, der in dem Marschtritt der Soldaten, dem Schmettern der Trompeten, dem Rasseln der Kanonen liegt. Vielleicht vernimmt er ihn nicht selbst, nicht sein eigenes waches Ohr, aber der Genius der Stunde, der für diese einzige Nacht Hausung genommen hat in seinem sterblichen Leibe, hat ihn vernommen. Und immer fügsamer gehorcht die Melodie dem hämmernden, dem jubelnden Takt, der Herzschlag eines ganzen Volkes ist. Wie unter fremdem Diktat schreibt hastig und immer hastiger Rouget die Worte, die Noten hin – ein Sturm ist über ihn gekommen, wie er nie seine enge bürgerliche Seele durchbrauste. Eine Exaltation, eine Begeisterung, die nicht die seine ist, sondern magische Gewalt, zusammengeballt in eine einzige explosive Sekunde, reißt den armen Dilettanten hunderttausendfach über sein eigenes Maß hinaus und schleudert ihn wie eine Rakete – eine Sekunde lang Licht und strahlende Flamme – bis zu den Sternen. Eine Nacht ist es dem Kapitänleutnant Rouget de Lisle gegönnt, Bruder der Unsterblichen zu sein: aus den übernommenen, der Straße, den Journalen abgeborgten Rufen des Anfangs formt sich ihm schöpferisches Wort und steigt empor zu einer Strophe, die in ihrer dichterischen Formulierung so unvergänglich ist wie die Melodie unsterblich.

»Amour sacré de la patrie,
Conduis, soutiens nos bras vengeurs,
Liberté, liberté chérie,
Combats avec tes défenseurs.«

Dann noch eine fünfte Strophe, die letzte, und aus einer Erregung und in einem Guß gestaltet, vollkommen das Wort der Melodie verbindend, ist noch vor dem Morgengrauen das unsterbliche Lied vollendet. Rouget löscht das Licht und wirft sich hin auf sein Bett. Irgend etwas, er weiß nicht was, hat ihn aufgehoben in eine nie gefühlte Helligkeit seiner Sinne, irgend etwas schleudert ihn jetzt nieder in eine dumpfe Erschöpfung. Er schläft einen abgründigen Schlaf, der wie ein Tod ist. Und tatsächlich ist schon wieder der Schöpfer, der Dichter, der Genius in ihm gestorben. Auf dem Tische aber liegt, losgelöst von dem Schlafenden, den dies Wunder wahrhaft im heiligen Rausch überkommen, das vollendete Werk. Kaum ein zweites Mal in der Geschichte aller Völker und Zeiten ist ein Lied so rasch und so vollkommen gleichzeitig Wort und Musik geworden.

Den ganzen Text von Stefan Zweigs Das Genie einer Nacht aus Sternstunden der Menschheit finden Sie hier. Und diese junge Frau werden wir nicht vergessen. weil sie in Casablanca nach der Marseillaise noch ein Vive la France ruft. Es ist Madeleine LeBeau, von den Nazis aus Frankreich vertrieben, sie ist vor zwei Jahren im Alter von 92 Jahren gestorben. Ich hätte da noch eine Aufnahme aus dem Jahre 1907, und einen Ausschnitt aus dem Film von Jean Renoir von 1938. Opernsängerinnen können es singen, französische Präsidenten und das ganze Parlament auch. Und dann habe ich noch ein etwas bizarres Video, das aber schön gesungen wird, ich weiß leider nicht von wem. Zum Schluss möchte ich noch Graeme Allwright mit seiner Version präsentieren.


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