Samstag, 23. Oktober 2010

Adalbert Stifter


An der Mitternachtseite des Ländchens Österreich zieht ein Wald an die dreißig Meilen lang seinen Dämmerstreifen westwärts, beginnend an den Quellen des Flusses Thaia, und fortstrebend bis zu jenem Grenzknoten, wo das böhmische Land mit Österreich und Baiern zusammenstößt. Dort, wie oft die Nadeln bei Kristallbildungen, schoß ein Gewimmel mächtiger Joche und Rücken gegen einander, und schob einen derben Gebirgsstock empor, der nun von drei Landen weithin sein Waldesblau zeigt und ihnen allerseits wogiges Hügelland und strömende Bäche absendet. Er beugt, wie seinesgleichen öfter, den Lauf der Bergeslinie ab, und sie geht dann mitternachtwärts viele Tagereisen weiter.

So fängt die Erzählung Der Hochwald an. Dass der bayrische König 1825 Baiern in Bayern umbenannt hat, hat sich noch nicht so ganz durchgesetzt. Bei Stifter ist es noch Baiern. Stifter liebt den Wald, dieses Waldesblau mit dem Dämmerstreifen. Keiner kann Wälder so schön wie Stifter beschreiben. Gut, James Fenimore Cooper kann das auch, und vielleicht hat Stifter an manchen Stellen im Hochwald von ihm abgeschrieben. Sagt auf jeden Fall Arno Schmidt. Joseph von Eichendorff kann auch schöne Wälder, aber die sind ganz anders als die von Stifter. Unterdes marschierte ich fleißig fort, denn es fing schon an zu dämmern. Die Vögel, die alle noch ein großes Geschrei gemacht hatten, als die letzten Sonnenstrahlen durch den Wald schimmerten, wurden auf einmal still, und mir fing beinah an angst zu werden in dem ewigen, einsamen Rauschen der Wälder. Endlich hörte ich von ferne Hunde bellen. Ich schritt rascher fort, der Wald wurde immer lichter und lichter... Das ist aus Eichendorffs Taugenichts, und niemand würde je einen ➱Eichendorff Wald, in dem die schöne Waldeinsamkeit rauscht, mit einem Stifter Wald verwechseln: Wie verändert war der Wald! Bis ins fernste Blau zog sich das Fahlrot und Gelb des Herbstes, wie schwache blutige Streifen durch das Dämmerdunkel der Nadelwälder gehend, und alles war ruhig, gleichsam ergeben harrend, daß es einschneie.

Stifters Wälder sind Gemälde mit Worten. In seinen Romanen und Erzählungen kann er das, was er mit Zeichenstift und Pinsel nicht kann. Denn Stifter ist auch Maler. Kein großer Maler, aber vielleicht doch besser als dieser andere Österreicher. In Der Hochwald nimmt uns Stifter gleichsam als Wanderer an die Hand, um uns an einen geheimnisvollen See im Gebirge zu führen.

Ein dichter Anflug junger Fichten nimmt uns nach einer Stunde Wanderung auf, und von dem schwarzen Samte seines Grundes herausgetreten, steht man an der noch schwärzern Seesfläche. Ein Gefühl der tiefsten Einsamkeit überkam mich jedesmal unbesieglich, so oft und gern ich zu dem märchenhaften See hinaufstieg. Ein gespanntes Tuch ohne eine einzige Falte liegt er weich zwischen dem harten Geklippe, gesäumt von einem dichten Fichtenbande, dunkel und ernst, daraus manch einzelner Urstamm den ästelosen Schaft emporstreckt, wie eine einzelne altertümliche Säule. Gegenüber diesem Waldbande steigt ein Felsentheater lotrecht auf, wie eine graue Mauer, nach jeder Richtung denselben Ernst der Farbe breitend, nur geschnitten durch zarte Streifen grünen Mooses, und sparsam bewachsen von Schwarzföhren, die aber von solcher Höhe so klein herabsehen wie Rosmarinkräutlein. Auch brechen sie häufig aus Mangel des Grundes los und stürzen in den See hinab; daher man, über ihn hinschauend, der jenseitigen Wand entlang in gräßlicher Verwirrung die alten, ausgebleichten Stämme liegen sieht, in traurigem, weiß leuchtendem Verhack die dunklen Wasser säumend. Rechts treibt die Seewand einen mächtigen Granitgiebel empor, Blockenstein geheißen; links schweift sie sich in ein sanftes Dach herum, von hohem Tannenwald bestanden und mit einem grünen Tuche des feinsten Mooses überhüllet.

Da in diesem Becken buchstäblich nie ein Wind weht, so ruht das Wasser unbeweglich, und der Wald und die grauen Felsen und der Himmel schauen aus seiner Tiefe heraus, wie aus einem ungeheuern schwarzen Glasspiegel. Über ihm steht ein Fleckchen der tiefen, eintönigen Himmelsbläue. Man kann hier tagelang weilen und sinnen, und kein Laut stört die durch das Gemüt sinkenden Gedanken, als etwa der Fall einer Tannenfrucht oder der kurze Schrei eines Geiers.

Oft entstieg mir ein und derselbe Gedanke, wenn ich an diesen Gestaden saß; – als sei es ein unheimlich Naturauge, das mich hier ansehe – tief schwarz – überragt von der Stirne und Braue der Felsen, gesäumt von der Wimper dunkler Tannen – drin das Wasser regungslos, wie eine versteinerte Träne.

Aber dann gibt er das auf, was er am besten kann, Das, was er als Maler nicht kann, diese wunderbaren Naturbeschreibungen. Detailliert von den Steinen, von Turmalin und Katzensilber bis zur Himmelsbläue. Er lässt uns noch einen Blick werfen auf das, was er malerisch vor uns ausbreitet: Dein staunender und verwirrter Blick ergeht sich über viele, viele grüne Bergesgipfel, in webendem Sonnendufte schwebend, und gerät dann hinter ihnen in einen blauen Schleierstreifen – es ist das gesegnete Land jenseits der Donau mit seinen Getreidehängen und Obstwäldern – bis der Blick endlich auf jenen ungeheuren Halbmond trifft, der den Gesichtskreis einfasset: die Norischen Alpen. Der große Briel glänzt an heitern Tagen wie eine lichte Flocke am Himmelsblaue hängend, – der Traunstein zeichnet eine blasse Wolkenkontur in den Kristall des Firmaments. – Der Hauch der ganzen Alpenkette zieht wie ein luftiger Feengürtel um den Himmel, bis er hinausgeht in zarte, kaum sichtbare Lichtschleier, drinnen weiße Punkte zittern, wahrscheinlich die Schneeberge der ferneren Züge.

Dann wende den Blick nach nordwärts; da ruhen die breiten Waldesrücken und steigen lieblich schwarzblau dämmernd ab gegen den Silberblick der Moldau; – westlich blauet Forst an Forst in angenehmer Färbung, und manche zarte, schöne, blaue Rauchsäule steigt fern aus ihm zu dem heitern Himmel auf. Es wohnet unsäglich viel Liebes und Wehmütiges in diesem Anblicke.


Dann beginnt die Handlung: Und nun, lieber Wanderer, wenn du dich satt gesehen hast, so gehe jetzt mit mir zwei Jahrhunderte zurück, denke weg aus dem Gemäuer die blauen Glocken, und die Maßlieben und den Löwenzahn, und die andern tausend Kräuter; streue dafür weißen Sand bis an die Vormauer, setze ein tüchtig Buchentor in den Eingang und ein sturmgerechtes Dach auf den Turm, spiegelnde Fenster in die Mauern, teile die Gemächer, und ziere sie mit all dem lieben Hausrat und Flitter der Wohnlichkeit dann, wenn alles ist wie in den Tagen des Glückes, blank, wie aus dem Gusse des Goldschmiedes kommend – dann geh mit mir die mittlere Treppe hinauf in das erste Stockwerk, die Türen fliegen auf – – – Gefällt dir das holde Paar? 

Nein, gefällt mir ganz und gar nicht, dieses Biedermeieridyll mit den Töchtern Heinrich des Wittinghauseners da in ihrer Burg vor Jahrhunderten, als sie noch keine Ruine ist. Und ich bin als Leser jetzt auch ein wenig beleidigt, weil all diese Landschaft nur Staffage war für Personen aus einer anderen Welt, die edle Gefühle haben und unerträgliches Deutsch reden. Und weil ich ein Literatursnob bin und Stifter nur wegen der Landschaftsbeschreibungen lese, mit denen er seine mangelnden Fähigkeiten als Landschaftsmaler kompensiert. Bücher sind wie ein großer Supermarkt, und wir als Leser schieben unseren Einkaufswagen durch ihn hindurch und packen das hinein, was uns gefällt. Im Stifter Supermarkt kommen bei mir immer nur die Landschaftsbeschreibungen in den Wagen. Der Besitzer des Adalbert Stifter Supermarkts möge mir das verzeihen.

Und die Stifter Fans unter meinen Lesern mögen mir diese häretischen Bemerkungen auch verzeihen, wenn ich närrisch wie Tiburius Kneigt durch Stifters Landschaften taumle. Stifter ist nun einmal nicht mein Lieblingsautor, er steht aber trotzdem vollständig bei mir im Regal (gleich neben ➱Arno Schmidt). Der Nachsommer sogar zweifach. Weil ich irgendwann glaubte, es läge am altertümlichen Druckbild, dass ich mit dem Roman nicht voran käme, habe ich mir eine andere Ausgabe von dem Buch (das im Untertitel etwas untertrieben Eine Erzählung heißt) gekauft. Habe es aber auch nicht geschafft, die achthundert Seiten zu Ende zu lesen. War ich durch Arno Schmidts Kritik am sanften Unmenschen für ewig für den Nachsommer verdorben? Denn einen Satz wie Arnos Schon von Knabenzeiten an hat mich – der ich ansonsten durchaus geneigt bin, Adalbert Stifter für einen großen Mann zu ästimieren! – der ‚Nachsommer‘ geärgert, den hätte ich auch hinschreiben können. Arno Schmidt ist mit seiner bösartigen (aber wunderbar zu lesenden) Kritik in Der sanfte Unmensch (Einhundert Jahre 'Nachsommer') nicht der erste, der auf Stifter einschlägt. Friedrich Hebbel, dem wir die fürchterlichsten deutschen Theaterstücke verdanken, begrüßte den Roman mit der Sottise: Drei starke Bände! Wir glauben Nichts zu riskieren, wenn wir Demjenigen, der beweisen kann, daß er sie ausgelesen hat, ohne als Kunstrichter dazu verpflichtet zu sein, die Krone von Polen versprechen. Aber der Roman hat auch immer seine Bewunderer gehabt, wie zum Beispiel Friedrich Nietzsche (bevor er Pferde umarmte).

Wenn Sie im Gebirge spazieren gehen, und sie in folgende Situation geraten sollten: Als ich von dem Hange dieser Berge herab ging und eine freiere Umsicht gewann, erblickte ich gegen Untergang hin die sanften Wolken eines Gewitters, das sich sachte zu bilden begann und den Himmel umschleierte. Ich schritt rüstig fort, und beobachtete das Zunehmen und Wachsen der Bewölkung. Als ich ziemlich weit hinaus gekommen war, und mich in einem Teile des Landes befand, wo sanfte Hügel mit mäßigen Flächen wechseln, Meierhöfe zerstreut sind, der Obstbau gleichsam in Wäldern sich durch das Land zieht, zwischen dem dunkeln Laube die Kirchtürme schimmern, in den Talfurchen die Bäche rauschen, und überall wegen der größeren Weitung, die das Land gibt, das blaue gezackte Band der Hochgebirge zu erblicken ist, mußte ich auf eine Einkehr denken; denn das Dorf, in welchem ich Rast halten wollte, war kaum mehr zu erreichen. Das Gewitter war so weit gediehen, daß es in einer Stunde und bei begünstigenden Umständen wohl noch früher ausbrechen konnte.

Vor mir hatte ich das Dorf Rohrberg, dessen Kirchturm von der Sonne scharf beschienen über Kirschen-und Weidenbäumen hervorsah. Es lag nur ganz wenig abseits von der Straße. Näher waren zwei Meierhöfe, deren jeder in einer mäßigen Entfernung von der Straße in Wiesen und Feldern prangte. Auch war ein Haus auf einem Hügel, das weder ein Bauerhaus noch irgend ein Wirtschaftsgebäude eines Bürgers zu sein schien, sondern eher dem Landhause eines Städters glich. Ich hatte schon früher wiederholt, wenn ich durch die Gegend kam, das Haus betrachtet, aber ich hatte mich nie näher um dasselbe bekümmert. Jetzt fiel es mir um so mehr auf, weil es der nächste Unterkunftsplatz von meinem Standorte aus war, und weil es mehr Bequemlichkeit als die Meierhöfe zu geben versprach. Dazu gesellte sich ein eigentümlicher Reiz. Es war, da schon ein großer Teil des Landes mit Ausnahme des Rohrberger Kirchturmes im Schatten lag, noch hell beleuchtet und sah mit einladendem, schimmerndem Weiß in das Grau und Blau der Landschaft hinaus.
 Also, wenn Sie in dieser Situation sind, gehen Sie bitte nicht zu dem Haus. Wiederholen Sie nicht den schlimmen Fehler, den Heinrich Drendorf, der Erzähler von Nachsommer, im dritten Kapitel macht. Was wäre ihm, und uns, erspart geblieben, wenn er den Freiherrn von Risach, diesen übermenschlichen Menschenerzieher, nicht kennengelernt hätte? Einfachheit Halt und Bedeutung sind die letzten Worte des Romans, das hätte Stifter auch wohl gerne für sich gewollt, denn wahrscheinlich nicht zu Unrecht vermutete Thomas Mann, daß hinter der stillen, innigen Genauigkeit gerade seiner Naturbetrachtung eine Neigung zum Exzessiven, Elementar-Katastrophalen, Pathologischen wirksam ist. Der Selbstmord mit dem Rasiermesser steht auf jeden Fall nicht im Menschheitsbildungsprogramm des Freiherrn von Risach.

Neben den Werken von Stifter steht bei mir im Regal die dritte Auflage von Fritz Novotnys Buch Adalbert Stifter als Maler von 1947. Das erste seriöse Buch über den malenden Schriftsteller. Und daneben steht ein Buch über Stifter, das ich wirklich mit Gewinn gelesen habe, und dessen Lektüre ich ohne Einschränkung für Stifter Fans und Stifter Hasser empfehlen kann. Es ist von dem Schriftsteller Anton Stadler, der den Nachsommer mit dreizehn Jahren gelesen hat. Mein Stifter: Porträt eines Selbstmörders in spe und fünf Fotografien ist eine faszinierende Mischung aus Biographie und Roman. Und aus dem Nachsommer wird soviel zitiert, dass das Buch beinahe die Lektüre des biedermeierlichen Bildungsromans überflüssig macht.

Adalbert Stifter ist heute vor 205 Jahren geboren worden. Alle Bilder im Text sind von ihm. Lesen Sie auch: ➱Mein Stifter.


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