Sonntag, 10. Oktober 2010

Maciejowice


Er war schon einmal in diesem Blog. Manche Leser werden sich an dies Bild von Benjamin West erinnern.Da ist er in London, der polnische Freiheitskämpfer, auf dem Weg nach Amerika. Kuriert seine Wunden aus, die er in der Schlacht von Maciejowice am 10. Oktober 1794 erhalten hat. Der russische Zar Paul, der ihm die Freiheit geschenkt hat, lässt ihn von seinem Botschafter, dem Grafen Semyon (Simon) Woronzow, bespitzeln. Offiziell erkundigt sich Woronzow natürlich nur nach der Gesundheit des polnischen Freiheitskämpfers. Aber man möchte in Russland schon gerne wissen, was er vorhat. Wird er die 48.000 Rubel bei der Londoner Bank abheben, die der Zar dort als Geschenk für ihn deponiert hat? Der Graf Woronzow, der eines Tages das Vertrauen seines Zaren verlieren wird, wird bis zu seinem Lebensende in England bleiben. Wir haben ein schönes Porträt von Thomas Lawrence von ihm.

Er hat in England schnell die Mentalität der Engländer begriffen und adaptiert und ist in den 47 Jahren, die er in England war, beinahe zu einem Engländer geworden. Heute heißt eine Straße in London nach ihm, nördlich vom Regent's Park (oder für Beatles Fans: in der Nähe der Abbey Road). Wahrscheinlich hat der Graf Woronzow, der einer der reichsten Familien Russlands angehört, auch nicht wirklich Lust, den polnischen General zu bespitzeln. Er hat seinen eigenen Kopf, den er auch gegen den Zaren durchsetzt. Sein Bruder ist russischer Reichskanzler, und alle in der Familie sind anglophil. Und energisch gegen Frankreich.

Woronzows Sohn Michail (Frankreichhasser wie sein Vater) wird später gegen Napoleon kämpfen. Bei der Schlacht von Borodino ist er schon General in der Armee des Fürsten Bagration. Aber vorher hat er noch eine Jugend in England, sein Vater wird ihn die gerade in England gebauten Fabriken der industrial revolution  (und auch das englische Parlament) besuchen lassen. Und, weil der Vater damit rechnet, dass der russische Adel irgendwann abgeschafft wird, erlernt Michail auch noch einen Handwerksberuf. Diese ganze englische Erziehung wird aus ihm einen der aufgeschlossensten und fortschrittlichsten russischen Adligen machen. Was er als Generalgouverneur der heutigen Ukraine leisten wird, ist für die damaligen Verhältnisse erstaunlich. Ich sage das einmal so dahin und hoffe, mir dabei nicht den Zorn jener Leser zuzuziehen, die ausgebildete Slavisten sind. Mein Russlandbild kommt aus der Lektüre von Krieg und Frieden, dem Tagebuch des Barons Uxkuell und der tausendseitigen Autobiographie von Andrej Bolotow (unbedingt zur Lektüre zu empfehlen).

Für seinen Palast auf der Krim (wo Churchill bei der Jalta Konferenz wohnen wird) holt Woronzow sich natürlich einen englischen Architekten, Edward Blore, der den Buckingham Palast zu Ende gebaut hat (nachdem man John Nash entlassen hatte). Die grosse Treppe in Odessa hat er auch bauen lassen, das ist die Treppe, die jeder durch den Film Panzerkreuzer Potemkin kennt. Und Puschkin soll in der Verbannung in Odessa mit seiner Frau geflirtet haben, aber ich glaube, das ist eher eine Geschichte, die man den Touristen erzählt. Und den Krimsekt soll er er auch erfunden haben, aber vielleicht ist das auch wieder so eine Touristengeschichte. Das da links ist Michail Woronzow, das Gemälde ist (ebenso wie das von seiner Gattin) von Sir Thomas Lawrence, der schon fünfzehn Jahre vorher seinen Vater gemalt hatte. Bei Wikipedia kennt man den Maler nicht, aber in diesem Blog schon.

Ich musste diese kleine Abschweifung mal eben machen - und meine Leser wissen, dass die Abschweifungen das einzige Prinzip dieses Blogs sind - weil ich gerade eine neuerschienene Biographie über Thaddeus Kosciuszko gelesen habe. Der Verfasser, ein amerikanischer Journalist (hier stellt er gerade sein Buch vor), hat von vielen Dingen, über die er schreibt, leider nur lückenhafte Kenntnisse. Ich vermute mal, dass er gar nicht weiß, wer dieser Woronzow ist, den er Kosciouszko besuchen lässt. Und die Schlacht von Maciejowice findet bei ihm auch in einer Art Wortnebel statt. Da hat Kosciouszko gegen die Armeen von Iwan Fersen und Alexander Suworow mit seiner kleinen polnischen Streitmacht verloren. Zwei Jahre zuvor hatte er die Russen noch in zwei Schlachten geschlagen. Aber jetzt ist alles anders. Erstens sind die Russen doppelt so viel, zweitens ist der polnische Fürst Adam Poninski mit seiner kleinen Armee nicht auf dem Schlachtfeld erschienen, und drittens hat General Suworow in seinem Leben noch keine einzige Schlacht verloren. Hurra, Warschau ist unser! lautet die Botschaft, die er nach Russland schickt, Hurra, Feldmarschall! kommt von der Zarin zurück. Da weiß Suworow, dass er mit 65 Jahren endlich diesen langersehnten Dienstgrad erreicht hat. Dass er bei der Eroberung von Warschau zigtausend Zivilisten umbringen lässt, spielt in den Tagen von Katharina der Grossen (dem Vorbild von Frau Merkel) keine Rolle.

Der Aufstand des Naczelnik Kosciuszkos  ist gescheitert. Er wird zwei Jahre lang der Gefangene von Katharina sein, zehn Tage nach ihrem Tod wird der neue Zar Paul ihn besuchen und ihm die Freiheit anbieten. Allerdings hängt daran ein Unterwerfungseid, nie wieder Revolution in Polen. Kosciuszko zögert, weil er damit seine Ideale verrät, aber er handelt die Freilassung von allen polnischen Gefangenen in russischen Gefängnissen heraus, immerhin zwanzigtausend Polen. Als er das letzte Mal vor seiner Abreise den Zaren besucht, um der Zarin die Uniform zu bringen, die er während des polnischen Aufstands getragen hat, wie sie es sich gewünscht hatte, da trägt er seine amerikanische Generalsuniform mit den weißen Epauletten aus dem Unabhängigkeitskrieg. Obgleich Kosciuszko aus dem polnischen Landadel kommt, hat er in Polen die Kleidung eines Bauern getragen (natürlich etwas eleganter). Er trägt auf diesem Bild zwei Orden, den neu gestifteten polnischen Orden virtuti militare und den der Society of the Cincinnati, den ihm Washington verliehen hat.


Es läuft in diesen Kreisen - und für die Geschichtsbücher - viel über Symbole, der polnische General schenkt der russischen Zarengattin diese symbolische polnische Uniform, und er trägt dabei seine alte amerikanische Uniform. Weil er dem Zaren auch gesagt hat, dass Polen nun nicht mehr sein Heimatland ist, sondern diese neuen Vereinigten Staaten von Amerika seine Heimat sein werden. Schließlich hat der amerikanische Kongress ihn nicht nur zum General gemacht, er ist auch amerikanischer Staatsbürger. Und da wir gerade bei Symbolen sind: man hat ihn mit dem Rollstuhl von Katharina der Grossen durch den Zarenpalast gerollt, weil er immer noch nicht wieder gehen kann.

Wenn er in London ist, wird ihm der englische König seinen Leibarzt schicken. Vorher hatte Katharina ihm ihren Arzt geschickt. Das war ein Schotte namens Dr. John Samuel Robertson, mit dem er sich angefreundet hatte. Die Zarin betrachtete Dr. Robertson eher als einen Freund, denn als einen Arzt, sie hatte keinerlei Vertrauen in seine medizinischen Fähigkeiten. Der Schotte (der 1843 im Alter von 102 Jahren stirbt), verliess Rußland nach einem halben Jahrhundert und ließ alle seine Leibeigenen frei, die ihm der Zar geschenkt hatte (das hatte Kosciuszko auch getan). Auf seltsamen, spökenkiekerischen Internetseiten wird behaupt, dass Dr. Robertson in Wirklichkeit der sagenumwobene Graf Saint Germain ist, aber das ist nun wirklich Unsinn. Der liegt da schon auf dem Friedhof von Eckernförde begraben. Und alles weitere können sie bei meinem Freund Friedhard Radam nachlesen.

Die Londoner Presse wird nicht müde, die Verletzungen Kosciusczkos aus der Schlacht von Maciejowice zu beschreiben, ein Säbelhieb über den Kopf, drei Bajonettstiche im Rücken und die Wunde von einer Kanonenkugel an der Hüfte. Es ist erstaunlich, dass er noch lebt. Er wird noch 23 Jahre lang leben. Der Landschaftsmaler Joseph Farington notierte 1796 in seinem Tagebuch: Benjamin West saw General Koscioscou [sic] yesterday. He went with Dr. Bancroft & Trumbull.--The Genl. was laid on a couch--had a black silk band round his head--& was drawing Landscapes, which is his principal amusement.--He speaks English, appears to be abt. 45 years of age; and abt. 5 feet 8 Inches high. One side of him is paralytic--the effect of a cannon shot passing over him--He had two stabbs in his back--one cut in his head....He lodges at the Hotel in Leicester Fields formerly the house of Hogarth. West shewed me a small picture which He yesterday began to paint from memory of Koscioscow [sic] on a Couch. Und ähnliche Zeugnisse finden sich bei anderen Beobachtern. Manchmal habe ich das Gefühl, dass dies alles eine Inszenierung ist, die hingestreckte Pose, das Seidentuch um die Stirn, die Krücken und die Landschaftsaquarelle.

Aus dem amerikanischen Exil ist er auch schon nach zwei Jahren zurückgekehrt. Das Geld vom Zaren in London hat er nicht angerührt, die 12.000 Rubel, die ihm der Zar für die Reise nach Amerika gegeben hat, will er dem Zaren 1798 zurückgeben. Aber der weigert sich, das Geld von dem Verräter anzunehmen, der jetzt schon wieder von Frankreich (er ist 1792 zusammen mit Schiller, Klopstock, Pestalozzi, und Washington Ehrenbürger der französischen Republik geworden) und der Schweiz aus für die Freiheit Polens, dieses Spielballs der Großmächte im 18. Jahrhundert, kämpft.

Schon in London bemerkten die Besucher, dass der General sich der Landschaftsmalerei zugewandt hat (was drawing Landscapes, which is his principal amusement). Man nimmt das nicht weiter ernst, jeder Gentleman beschäftigt sich im ausgehenden 18. Jahrhundert mit Aquarellen (in englischen Adelskreisen kann das bis heute anhalten, wie man am Beispiel von Prince Charles sieht). Aber unser polnischer Amerikaner, der auch einige Musikstücke geschrieben hat, bleibt bei seinem Hobby. Er wird ein ganz rührendes Bild von seinem Freund Thomas Jefferson malen.

Es ist ein wenig traurig, dass es über diesen Mann kaum wirklich gute Literatur gibt. Die neueste Biographie stammt von dem amerikanischen Journalisten Alex Storozynski (The Peasant Prince. New York, 2009 Paperback 2010). 370 Seiten, fakten- und detailreich, aber ein schludriger Journalistenstil. Und man merkt, dass hinter der Fassade des Textes, nichts, aber auch gar nichts mehr ist. Bei einem guten Historiker stecken da immer noch sieben Achtel Substanz hinter der Tünche des Stils. Also, man kann es lesen, es ist besser als nichts, aber man wünscht sich eigentlich, dass sich jemand wie Simon Schama oder David Hackett Fischer des Themas angenommen hätten. Der erste seriöse Biograph heißt Constantin Karl Falkenstein, und man kann sein Buch von 1827 eigentlich noch immer lesen (für solche Dinge ist Google Bücher ja gut). Falkenstein hat dem Naczelnik nach der Schlacht von Maciejowice die Worte finis poloniae in den Mund gelegt, das hat er aber nie gesagt. Es gibt in Deutschland 1843 auch einen historischen Roman von einem Heribert Rau über Kosciuszko, aber den können wir vergessen. Viel wichtiger ist eigentlich, dass der berühmte französische Historiker Michelet ein kleines Buch über den Naczelnik geschrieben hat.

In Polen kennt man den Namen des Naczelnik heute noch (da kommt er auch im Fernsehen vor), jede größere Stadt dort scheint eine Kosciuszko Straße zu haben. Der höchste Berg Australiens heißt nach ihm, und die Amerikaner polnischer Herkunft feiern jedes Jahr ihren Kosciuszko Day. Wenn nötig auch in der kommerziellen Reklameversion.



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