Dienstag, 5. Oktober 2010

Göttin


Zuerst haben sie ja zwanzig Jahre lang das da oben gebaut, den Citroen Traction Avant, hatte den schönen Beinamen Gangsterauto. Und man konnte auch aus la Traction das Wort l'attraction bilden. Aber nun kommt die neue Zeit. Als heute vor 55 Jahren der Pariser Automobilsalon öffnet, da konnte sie jeder sehen, die Göttin. Aus der internen Bezeichnung DS wurde La Déesse. Das Design stammte von Flaminio Bertoni, der zuvor auch den Traction Avant und den Deux Chevaux entworfen hatte (der natürlich mehr als zwei PS hatte, das mit den zwei Pferden bezieht sich auf die Steuerklasse).

Wir erklären, daß sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen ... ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake, hieß es ein halbes Jahrhundert zuvor in Marinettis Manifest des Futurismus. Das da links ist Marinetti mit seinem neuen Auto, das überhaupt nichts Rennwagenähnliches an sich hatte - und er konnte auch überhaupt nicht damit umgehen. Zwischen den Worten des Dichters und der automobilen Realität sind doch Welten.

Obgleich das alte schwarze Gangsterauto für alle französischen Krimis toll war, kommt jetzt im Jahre 1955 die ganz neue Zeit (passend zum nouveau roman und der nouvelle vague), keine großen Rohre mehr, wie an Marinettis Rennwagen. Stattdessen Stromlinie und Luftfederung. Und die Scheinwerfer, an die Lenkung gekoppelt, leuchten um die Ecke. Roland Barthes hat in seinen Mythologies an die Déesse eine Liebeserklärung gerichtet, wofür ihm die Firma Citroen sofort ein Exemplar hätte schenken müssen.

I think that cars today are almost the exact equivalent of the great Gothic cathedrals: I mean the supreme creation of an era, conceived with passion by unknown artists, and consumed in image if not in usage by a whole population which appropriates them as a purely magical object.
   It is obvious that the new Citroen has fallen from the sky inasmuch as it appears at first sight as a superlative object. We must not forget that an object is the best messenger of a world above that of nature: one can easily see in an object at once a perfection and an absence of origin, a closure and a brilliance, a transformation of life into matter (matter is much more magical than life), and in a word a silence which belongs to the realm of fairy-tales. The D.S. - the "Goddess" - has all the features (or at least the public is unanimous in attributing them to it at first sight) of one of those objects from another universe which have supplied fuel for the neomania of the eighteenth century and that of our own science-fiction: the Deesse is first and foremost a new Nautilus.

Bei Marinetti war es noch die Nike von Samothrake, jetzt wird das Automobil zur gotischen Kathedrale. Von den Schriftstellern können die Werbeabteilungen noch viel lernen. Aber auch ohne seinen Essay hat es funktioniert, am Abend des ersten Tages der Pariser Automobilausstellung waren 12.000 Exemplare bestellt.

Roland Barthes hat viele amüsante und kluge Dinge geschrieben, ich weiß nicht, ob ihn das schon wirklich zu einem Philosophen macht. Aber dieser ganze Strukturalismus mit signifiers und signs klingt natürlich gut. For Thursday, you should read the Roland Barthes essay, "The Death of the Author." In your comments I'd like you to tell me what Barthes meant to imply when he wrote, "The birth of the reader must be at the cost of the death of the Author." In case you're curious about how our man Roland actually died, here's a song from Colson Whitehead's 2001 book, "John Henry Days": 

"Roland Barthes got hit by a truck
That's a signifier you can't duck
Life's an open text
From cradle to death. 

Das schreibt ein Blogger (ein amerikanischer Doktorand) und gibt seinen Lesern Hausaufgaben. Wollen Sie auch mal eben bis Donnerstag den Essay The Death of the Author lesen? Als Roland Barthes das geschrieben hatte, kursierten in Paris Witze, dass er jetzt in den Metro betteln würde, weil ihm seine Verlage keine Tantiemen mehr bezahlen, weil er den Autor ja für tot erklärt habe. Aber Roland Barthes ist wirklich eines Tages gestorben, weil er von einem kleinen Wäschelaster angefahren wurde, es wäre noch tragischer gewesen, wenn es eine Citroen Déesse gewesen wäre.

Und dieses kleine Gedicht Roland Barthes got hit by a truck kommt in dem Roman John Henry Days von Colson Whitehead (übrigens ein sehr lesenswerter Roman) wirklich vor, auf der letzten Seite von Teil V. Ich weiß nicht, ob es wirklich von Colson Whitehead ist, ich kannte es schon, bevor ich den Roman gelesen hatte. Blöde Akademikerwitze kursieren immer sehr schnell, das Seminar Englische Lyrik hat noch nicht angefangen, da hat schon ein Anonymus T.S. Eliot is an anagram for toilets an die Wandtafel geschrieben.

Als die Déesse neu war, schaute man gebannt zu, wie sie sich absenkte, nachdem der Fahrer den Wagen verlassen hatte. Allein, mit der Zeit verlor diese Neuigkeit ihren Reiz, und so toll sah sie ja auch nicht aus, mit einem Facel Vega konnte die Göttin nun überhaupt nicht konkurrieren. Niemand von uns Teenies, für die Autos in den fünfziger Jahren alles bedeuteten, wäre auf die Idee gekommen, den Citroen mit einer gotischen Kathedrale zu vergleichen. Einen Facel Vega mit einer griechischen Göttin schon eher. Und in den französischen Gangsterfilmen sah ein alter Citroen Traction Avant mit der Selbstmördertür einfach besser aus als die französische Flunder.

Das Zitat über die Déesse geht folgendermaßen weiter: This is why it excites interest less by its substance than by the junction of its components. It is well known that smoothness is always an attribute of perfection because its opposite reveals a technical and typically human operation of assembling: Christ's robe was seamless, just as the airships of science-fiction are made of unbroken metal. The D.S 19 has no pretensions about being as smooth as cake-icing, although its general shape is very rounded; yet it is the dove-tailing of its sections which interest the public most: one keenly fingers the edges of the windows, one feels along the wide rubber grooves which link the back window to its metal surround. Wenn die Franzosen mal gedanklich abheben, dann aber richtig. Ich finde das mit dem Gewand Christi und den Raumschiffen der Science Fiction ein klein wenig gewagt. Und wieder einmal entfernt sich der Mann, der sechzig Jahre bei Mammi gelebt hat, in seinen Gedankenflügen ein bisschen von der Erde. Ich sage jetzt über französische Automobile der fünfziger und sechziger Jahre (und siebziger et. etc) nur ein einziges Wort: Spaltmaße!

Roland Barthes hat in den Jahren 1954 bis 1956 monatlich für die Zeitschrift Les Lettres Nouvelles geschrieben. Er hatte gerade den Sprachphilosophen de Saussure gelesen, und dekonstruiert jetzt die Mythen des Alltags mit Hilfe von de Saussure, Husserl, Freud und Marx. Die Franzosen haben es ja gerne kompliziert, William of Ockhams entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem gilt bei ihnen nichts. Und doch entgeht Barthes bei allen geistreichen Überlegungen das wahre Wesen des französischen Automobils. Dafür braucht man nicht so viele Wörter wie Barthes in The New Citroen. Da genügt wiederum eins: Rost. Heißt auf Französisch rouille, ist aber das gleiche.

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