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Sonntag, 29. August 2021

Picquigny


Das ist die Somme bei Picquigny, gemalt von Camille Corot. Irgendwann in den 1860er Jahren, es ist noch kein Krieg, die Deutschen sind noch nicht da. Die kommen erst 1871. Und 1916, dann wird es hier an der Somme die verlustreichste Schlacht des Ersten Weltkriegs geben. Davon kann man auf dem idyllischen Bild von Corot nichts sehen. Wenn man genau hinschaut, kann man in der Bildmitte im Hintergrund die Reste des Schlosses von Picquigny sehen, das hatte auch einmal eine Bedeutung in der französischen Geschichte. Weil hier in Picquigny die Könige von Frankreich und England am 29. August 1475 einen Krieg beendeten, der hundert Jahre gedauert hatte. Allerdings nicht im Schloss, das jetzt gerade zum Verkauf steht, sondern auf einer Brücke über die Somme.

Ich weiß, wo Picquigny ist, ich war da schon mal. Das war im Sommer 1959, es war ein heißer Sommer, beinahe jeden Tag dreißig Grad. Das Wasser der Somme lud zum Schwimmen ein. Ich war mit der Jugendgruppe meiner Kirchengemeinde in einem kleinen Ort namens Ailly-sur-Somme, fünf Kilometer von Picquigny entfernt. Wir räumten den deutschen Soldatenfriedhof auf, das Programm hieß Versöhnung über Gräbern. Die Franzosen mochten uns. Die hatten hier nichts gegen die Deutschen, die hassten die Amerikaner. An jeder kahlen Mauerwand, an der keine Dubonnet Reklame klebt, steht: Ami go home! Das habe ich schon in dem Post Notre Dame d'Amiens geschrieben. Unsere Gruppe wurde geleitet von unserem Diakon Klaus Nebelung und dem Gemeindehelfer Detlev Schark aus der Lesumer Nachbargemeinde. Der war im Zweiten Weltkrieg Feldwebel in Frankreich, hier in der Picardie. Er kann Französisch. Er mag die Franzosen, die Franzosen mögen ihn und uns. Ich stelle hier einmal etwas ein, was schon 2014 in dem Post Gräber stand:

Kurz vor Picquigny, in Belloy-sur-Somme, machen wir unter einem Baum vor einem kleinen Chateau Rast. Der Gemeindehelfer Schark geht zum Chateau. Er kommt nach einer halben Stunde mit einem livrierten Diener wieder, sie tragen Körbe voll Weißbrot, Schinken und Wein. Der Diener mit der rot-schwarz gestreiften Weste hat sogar an weiße Tischdecken gedacht, die er vor uns auf dem Boden ausbreitet. Es wird mir klar, warum das Organisationsgenie Schark im Zweiten Weltkrieg so gut mit den Franzosen ausgekommen ist. Das Chateau von Belloy, das wir hinter den Bäumen des Parks nur schemenhaft sehen, hat für mich etwas Unwirkliches, wie auf einem Bild von Magritte. Später wird man da einen Film mit Klaus Kinski drehen, heute ist es ein Hotel. Alle magischen Orte der Jugend bekommen mit der Zeit in der Realität etwas Profanes, in der Erinnerung bleiben sie märchenhaft....

Bei einem unserer längeren Märsche werde ich in Picquigny auf der Geestkante sitzen und in das Sommetal hinunterblicken. Vielleicht ist es die gleiche Stelle, die Laurence Sterne in Sentimental Journey beschreibt. Eine Million Soldaten sind an der Somme gestorben. Die Niederung der Somme leuchtet in sattem Grün, auf den langsam vergilbenden Photographien meines Opas ist alles chamois-bräunlich. In Deutschland ist gerade die Bundeswehr gegründet worden. 12.900 Offiziere werden im Jahre 1958 noch aus der Wehrmacht stammen. Mein Großvater war hier in Frankreich im Ersten Weltkrieg, mein Vater im Zweiten. Jetzt bin ich hier: Versöhnung über Gräbern. Ich komme nicht auf die Idee, dass ich fünf Jahre später als junger Fähnrich in Frankreich sein werde, einer der ersten deutschen Soldaten nach 1945. Das ist eine seltsame Sache. 

Der englische Soldatenfriedhof von Picquigny war sauber und gepflegt, an dem kleinen deutschen Friedhof in Ailly fünf Kilometer weiter war seit 1945 nichts getan. Die Engländer ehren ihre Toten, pflegen ihre Friedhöfe. Alle haben den schönen grünen Rasen, den gleichen weißen Stein; der Generalmajor, der hier in Picquigny liegt, ebenso wie der einfache Soldat. Die Engländer machen das wahr, was Rupert Graves gedichtet hat: If I should die, think only this of me: That there’s some corner of a foreign field That is for ever England.

Aber es hat hier an der Somme auch schon einmal einen Krieg gegeben, der kaum Menschenleben gefordert hat. Dafür müssen wir allerdings bis ins Jahr 1475 zurückgehen, als es den Frieden von Picquigny gab. Der englische König Edward IV (hier mit einem schwarzen Barett) ist mit zehntausend Soldaten nach Frankreich gekommen. Weil er auch König von Frankreich ist, so nennen sich die englischen Könige seit Edward III. Erst George III hat 1801 auf diesen obsoleten Titel verzichtet. Edward kann es sich eigentlich nicht leisten, Frankreich anzugreifen, weil zuhause der Rosenkrieg tobt, aber er hat einen Verbündeten in Frankreich. Das ist Charles de Bourgogne, den wir im Deutschen auch unter seinem Spitznamen Karl der Kühne kennen. Er ist der Schwager von Edward und er verspricht ihm im Vertrag von London, ihm mit einem Heer zur Seite zu stehen. Denn die Gegend an der Somme interessiert ihn schon, es ist der äußerste Zipfel seines Reiches, im Vertrag von Arras waren seinem Vater hier einige Orte zugesprochen worden. 

Vor fünf Jahren war er mal wieder hier und eroberte das Chateau von Picquigny, weil er Amiens in seine Gewalt bringen wollte, aber daraus ist nichts geworden. Jetzt trifft er seinen Schwager in Calais, das seit 1347 in englischer Hand ist Aber er bringt keine zehntausend Soldaten mit, die zehntausend Soldaten belagern gerade Neuss. Von Neuss bis zur Somme ist ein weiter Weg. Edward wollte diesen Krieg nicht, er soll angeblich schon im Geheimen den französischen König darüber informiert haben, dass er nur nach Frankreich gekommen sei, um seine militanten Anhänger zu befriedigen, die unbedingt einen Krieg mit Frankreich wollen. Der Burgunder überredet den englischen König, nach Reims zu ziehen, um sich dort krönen zu lassen. 

Reims ist symbolisch immer wichtig. Adenauer und De Gaulle haben hier die deutsch-französische Freundschaft, zu der das Programm Versöhnung über Gräbern auch beigetragen hat, mit einer Versöhnungsmesse besiegelt. Adenauer, der unserer Gruppe zufällig in Reims begegnete, hat damals der Ehefrau des Diakons Klaus Nebelung einen Hundertmarkschein in die Hand gedrückt, als er hörte, was wir hier in Frankreich machten. Es hält sich hartnäckig das Gerücht, dass sein Außenminister von Brentano nur ein Fünfmarkstück locker machen wollte.

Der englische König wird auf seinem Weg nach Reims in Saint-Quentin von Louis I. de Luxembourg aufgehalten, dem Connétable de France. Das ist ein ganz seltsamer Intrigant. Er wird ein Jahr später dem englischen König einen Brief schreiben, in dem er ihn anklagt, ein cowardly, dishonoured and beggarly king zu sein. Edward schickt den Brief an den französischen König, ein Jahr später wird Louis de Luxembourg auf dem Place de Grève (wo auch Cartouche der Bandit zu Tode kam, den wir aus dem  Belmondo Film kennen) geköpft. Als hier 1792 die erste Guillotine aufgestellt wurde, war das Publikum so enttäuscht von der Schnelligkeit der Prozedur, dass es am nächsten Tag einen Gassenhauer gab: Rendez-moi ma potence de bois, rendez-moi ma potence (Gebt mir meinen Galgen zurück). 

Edward IV, der durch Heirat ein Neffe von Louis de Luxembourg ist, hat keine Lust mehr auf diesen Feldzug, er schickt seine Diplomaten los, die einen Friedensvertrag mit Louis XI aushandeln. Ohne den Charles aus Burgund, ohne den Louis aus Luxemburg. Damit der Hundertjährige Krieg endlich ein Ende hat. Er kündigt sein Bündnis mit Charles von Burgund auf, verpflichtet sich, nie wieder Frankreich anzugreifen, und er bekommt viel Geld dafür. Sehr viel Geld. In allen Schriftstücken des Vertrags bezeichnet er sich als King of France, Louis XI ist für ihn our dearest relative the most illustrious prince, Louis de France. Louis lässt das durchgehen. Auch dass Edward beim Vertragsabschluss mit einer silbernen fleur de lys auf seinem schwarzen Barett erscheint, lässt man ihm durchgehen. Es ist ein kleiner modischer Versuch, noch einmal auf seinen Titel hinzuweisen.

Das Symbol der französischen Monarchie hat keinen Weg auf Edwards Barett bei dieser französischen Briefmarke gefunden. Die Herren begrüssten sich durch ein Gitter, gingen aber sehr freundschaftlich miteinander um. Die Herren sprechen Französisch, das kann der Engländer, der in Rouen geboren wurde. Es wurde in dem Gespräch auch eine Einladung für einen Parisbesuch ausgesprochen, von leichten Mädchen in Paris war die Rede. Louis weiß, dass Edward ein womanizer ist. Der französische König erlaubt den Engländern, dass sie in seiner Stadt Amiens feiern und trägt auch noch die Bewirtungskosten, many drink themselves into insensibility, heißt es in einer Historie. Das ist typisch für die Engländer. Die überdachte Brücke mit dem Gitter in der Mitte ist extra für diese Zeremonie gebaut worden. Das Dach ist wichtig, es regnet ziemlich viel im August 1475.

So, wie es sich der englische Illustrator 1864 vorstellt, kann es ausgesehen haben. Edward hat auch eine Lilie am Barett. Beide Herren tragen höfische Kleidung. Ein Jahr zuvor hatte Louis XI auf der Brücke zu Noyon eine Unterredung durch das Gitterwerk mit dem Connétable de France gehabt, da trugen beide eine Rüstung und Waffen unter ihrer Kleidung. Louis XI weiß schon, warum er ihn zwei Jahre später hinrichten lassen wird. Sich auf Brücken mit Gittern zu treffen, ist damals ein übliches Procedere: Man pflegte auf der Brücke des Grenzflusses zusammen zu kommen, oder eigentlich nur nahe zu kommen; denn es war gewöhnlich, Schranken mit tüchtigem Gitterwerk aufzurichten, dessen Stangen eben nur einen Mannesarm bequem durchliessen, und die Zugänge gegenseitig besichtigen, besetzen und bewachen zu lassen. Schreibt Karl Theodor Puetter 1843 in seinem Buch Beiträge zur Völkerrechts-Geschichte und Wissenschaft. Und der Historiker Reinhard Schneider hat einen Aufsatz mit dem Titel Mittelalterliche Verträge auf Brücken und Flüssen veröffentlicht.

Der Friedensschluss von Picquigny und die Niederlage bei Neuss sind der Anfang vom Ende der Karriere von Charles dem Allzukühnen, zwei Jahre später fällt er in der Schlacht von Nancy. Die Hälfte seines Reiches geht an die Habsburger, die andere Hälfte, Burgund und die Picardie holt sich Louis zurück. Edward hat ein halbes Dutzend Schlachten im Rosenkrieg gewonnen, darauf könnte er stolz sein, aber wirklich stolz ist er über diesen Feldzug und den Frieden von Picquigny.

Freitag, 27. August 2021

Kraut und Rüben


Auf die Gefahr hin, dass ich jetzt Ärger mit meinen Lesern bekomme, liste ich meine Top Ten der Interpreten für die Goldberg Variationen (dieser Link führt zu einer Seite, die mit großer Liebe gemacht wurde) einmal auf. Und ich lasse dabei Wanda Landowska, Rosalyn Tureck, Glenn Gould (1955 und 1981) und Alexis Weissenberg auf der Liste aus, weil die schon erwähnt wurden. Wobei natürlich Tureck und Gould auf die ersten Plätze kommen. Aber die kommen in jeder Liste immer auf die ersten Plätze, das ist nicht so originell. Mein erster Platz wird Sie jetzt überraschen. Geben Sie dieser jungen Dänin (die ich durch Zufall in einem Grabbelkasten mit CDs entdeckte) einmal eine Chance. Ist kein finanzielles Risiko.

1. Christina Bjørkøe
2. Andrei Gavrilov
3. Murray Perahia
4. Wilhelm Kempff
5. Ragna Schirmer
6. András Schiff
7. Angela Hewitt
8. Jenö Jandó
9. Maria Yudina
10. Zhu Xiao-Mei

Tut mir nun leid für Martin Stadtfeld, aber kein Platz mehr unter den ersten zehn. Und da wären auch noch Ekaterina Dershavina und Jacques Loussier davor gekommen. Sogar Bruno Canino. Ich könnte ja zu jeder Aufnahme eine ganze Menge sagen. Vielleicht ein anderes Mal, vielleicht mache ich Joachim Kaiser Konkurrenz und schreibe einen Monat lang nur über Pianisten. Christina Bjoerkoe gibt es (in dieser Schreibweise) bei Amazon für 4,99. Wanda Landowkas Aufnahme von 1933 kostet einen Euro mehr.

Das stand hier vor elf Jahren in dem Post Wanda Landowska, ich lasse die Liste mal so stehen. Sie gefällt mir noch immer. Lang Lang ist da nicht drauf, aber der kommt in diesem Blog selten vor. Woanders schon. Aber ich habe da noch eine Aufnahme, die ganz nach oben gehört. Dahin, wo Rosalyn Tureck und Glenn Gould sind. Die Pianistin heißt Tatiana Nikolayeva (1924-1993), sie hat die Goldberg Variationen mehrfach gespielt. Englische Musikkritiker sagen, dass die Aufnahme von Aarhus 1983 die beste ist, aber die ist im Handel nicht zu bekommen. Die Aufnahme, die ich jetzt besitze, ist 1970 in Moskau aufgenommen und wurde von dem russischen Label Melodiya vertrieben, dem einzigen Schallplattenproduzenten der Sowjetunion. Leider ist die Jahrezahl 1970 falsch, es muss 1979 heißen, wie man dieser hervorragenden Website (oder dieser hier) entnehmen kann.

Leicht zu finden ist auch die 1992 in London aufgenommene Hyperion Aufnahme (mit dem Bild von Albert Pinkham Ryder auf dem Cover). Der Musikkritiker Donald Satz schrieb auf der Bach Cantatas Website: 1983 vs. 1992: With the release of the 1983 live performance, the 1992 Hyperion disc can be safely retired. The fact is that Nikolayeva's technical prowess was in decline by 1992, and she definitely sounds challenged in the fastest variations. Further, she is more vibrant in the live performance, and her frequent changes in tempo and dynamics have a more natural flow than on the Hyperion where they sound slightly contrived with a choppy demeanor. Concerning sound quality, the Classico sound is more open although there is a brittle element to notes from the upper voices. So, let's just put the Hyperion to rest with a three-gun salute. Glauben Sie ihm kein Wort, diese Aufnahme ist das Beste, was die Nikoleyeva gespielt hat.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion vergab die Firma, die von dem Staatskonzern Melodiya übriggeblieben war, Lizenzen aus ihrem Klassik Katalog, der 230.000 Titel umfasste. In den neunziger Jahren brachte die Bertelsmann Music Group eine Reihe von zwanzig CDs heraus, die den Titel Russian Piano School hatte (zuvor hatte die alte Firma Melodiya schon mit Ariola-Eurodisc zusammengearbeitet). Viele der Pianisten waren in Deutschland wenig bekannt und kaum erhältlich. Die Nummer 15 war Tatiana Nikolayeva, die besitze ich leider nicht. Aber ich habe viele andere, da diese CDs nach kurzer Zeit zu Billipreisen verramscht wurden. Nummer 1 der Reihe war Alexander Goldenweiser, ich erwähne ihn, weil er der Lehrer von Tatiana Nikolayeva am Moskauer Konservatorium war.

Die Pianistin liebte ihr Publikum, und ihr Publikum liebte sie. Lord James Methuen-Campbell schrieb in seinem Nachruf im Independent: It is difficult to imagine anyone forgetting the experience of hearing Tatiana Nikolayeva play. She was one of those rare artists who had the ability to win over an audience before even reaching the keyboard. Rotund, and frequently wearing a rather startlingly bright dress, she would make her way to the front of the piano, give the audience a heartwarmingly big smile, and then settle her ample frame on to the stool. Everything radiated humility, generosity of spirit and, above all, happiness. Sie war in England bekannter als in Deutschland. 1992 konnte man sie bei der Last Night of the Proms mit dem Klavierkonzert No. 2 von Schostakowitsch sehen.

Den hat sie neben Bach immer wieder gespielt. Bei YouTube schrieb ein Hörer zu dem Video der ✺Präludien und Fugen von Schostakowitsch: In early 1990/1 I had the privilege of hearing her play the 24 Preludes and Fugues over 2 nights at the Wigmore Hall in London. At the end of the first concert people kept on calling for encores which she obliged. Then, quite suddenly, she stood up (she was not very tall), firmly closed the piano and announced ‘now the music is ended, now we will drink!’. The applause was rapturous and I have been devoted to her ever since.

Die Präludien und Fugen von Schostakowitsch hatten für die Nikolayeva eine besondere Bedeutung. Sie hatte 1950 den ersten Preis beim Klavierwettbewerb in Leipzig zu Bachs 200. Todestag gewonnen. Wir können die Preisträgerin hier ganz links auf dem Photo sehen. Schostakowitsch war einer der Preisrichter, er war von der jungen Frau so beeindruckt, dass er das Klavierwerk Opus 87 für sie schrieb. Die Nikolayeva hat das Werk, dessen Aufführung sie gegen Stalins Bürokratie durchgesetzt hatte, immer wieder gespielt. Bis zu ihrem Tod. Während eines Konzerts in San Francisco 1993 ist sie an einem Gehirnschlag gestorben.

Komponist und Pianistin blieben nach ihrem Zusammentreffen beim Leipziger Bachfest für die nächsten einundzwanzig Jahre, das heißt bis zu Schostakowitschs Tod, miteinander befreundet. In Leipzig hatte sie zusammen mit ihm und Pavel Serebryakov auch noch Bachs Konzert für mehrere Klaviere gespielt. Und als sich Schostakowitsch im Oktober 1950 in Moskau daran machte, sein Opus 87 zu schreiben, arbeitete sie beinahe täglich mit ihm zusammen, das Werk ist beinahe eine Kollaboration: The Preludes and Fugues was something very special: I was watching and listening to them being born. When he wrote the piano pieces, he would call me almost every day. I’d come and he’d play excerpts to me. I then started playing them myself and played them to him. Even now I have these memories and understand his spiritual world. I consider him a true genius, of course. I am very grateful, and thank God that I didn’t lose the freshness of that early experience. I have some freedom of interpretation, but fundamentally I play them the way Shostakovich wanted them to be played. Schostakowitsch war durch einen Zufall in das Preisrichtergremium gekommen, eigentlich war Maria Yudina dafür vorgesehen gewesen. Aber die hatte sich die Hand verletzt und konnte nicht kommen. Wäre sie im Preisgericht gewesen, hätte Dmitrij Schostakowitsch sein Opus 87 wohl nie geschrieben.

Die Goldberg Variationen von Tatiana Nikolayeva sind ungewöhnlich, außergewöhnlich. James Methuen-Campbell hat in seinem Nachruf auf die Pianistin den wunderbaren Satz gefunden: Tatiana Nikolayeva will be remembered as a Bach player who flung stylistic considerations to the winds and played the music with an irrepressible musical intelligence and knowledge of the resources of her chosen instrument. Sie können bei YouTube ihre dritte Aufnahme (London 1986) und ihre vierte Aufnahme (Stockholm 1987) hören. Ist natürlich nicht zu vergleichen mit dem Hören auf einer guten HiFi Anlage, aber es ist schon mal ein Einstieg.

Seit Claudio Arrau, der wohl als erster die Goldberg Variationen (hier ganz zu hören) gespielt hat, haben sich hunderte von Pianisten an dem Werk versucht. Bei der YouTube Aufnahme hat ein Kommentator geschrieben: This is Glenn Gould avant la lettre, but with much more delicatezza. Er liegt nicht so falsch, Glenn Gould könnte diese Aufnahme, die wirklich revolutionär ist, gekannt haben. Sein Lehrer Alberto Guerrero kam wie Arrau aus Chile und war mit Arrau befreundet. Für die RCA hat Claudio Arrau 1942 die Klavierübung Nummer IV zweihundert Jahre nach ihrem Entstehen in New York aufgenommen; aber die Aufnahme erschien erst 1988; Arrau wollte der Landowska, die das Geld nötiger brauchte als er, den Vortritt auf dem amerikanischen Markt lassen. Sie können hier alles darüber lesen.

Es gibt beinahe siebenhundert Aufnahmen der Goldberg Variationen. Eine Aria, dreißig Variationen und wieder die Aria. Fünfzig Seiten Noten bei der Edition Peters. Linkshänder wie Glenn Gould haben einen Vorteil, weil das musikalisch Wichtige nicht da oben getrillert wird, sondern unten in der Basslinie liegt. Die Klavierübung Nummer IV muss offenbar jedes Jahr in einer neuen Version erscheinen, man hält sich an den Satz von Wanda Landowska: Kein anderes Werk eröffnet seinen Interpreten einen derart großen Spielraum für ihre Phantasie, ihr Können und ihre Virtuosität. Häufig werden sie jetzt von Musikern aufgenommen, die gerade Anfang zwanzig sind. 

Wie zum Beispiel die italienische Pianistin Beatrice Rana (24) oder die Deutsche Marie Rosa Günter (25), deren Aufnahmen beinahe zeitgleich erschienen. Als die BBC die Aria von Beatrice Rana ins Netz stellte, gab es da einen Kommentar von jemandem, der sich Johnny Guitar nannte: Leave the variations to gould please....no need to ruin a classic for feminizm. Der Johnny muss noch ein wenig an der Rechtschreibung arbeiten, aber es ist ein Argument, das immer wieder kommt: nach Glenn Gould kommt nichts mehr. Wolfram Goertz war in der Zeit von Beatrice Rana begeistert: Eine Puppenstube freilich sind die Goldberg-Variationen für Beatrice Rana nicht, sondern eher ein bunter Jahrmarkt. Manche Variation befragt sie wie mit der Kristallkugel und wartet fast andächtig auf die Antwort. In anderen Passagen jazzt sie förmlich über die Klaviatur, als habe Oscar Peterson sie angespornt. Das hat Kraft, steht im Saft, ädert die Linien sehr genau und spürt Bachs subtilem Witz nach. Dabei entwickelt es stets den Sog der großen Form. Allein, was fehlt ist die Instanz, die das Holterdiepolter dieser musikalischen Nummernrevue zusammenhält. Das, was Nikolayeva in jeder Aufnahme kann, das kann Rana nicht. Der Titel dieses Posts, Kraut und Rüben, bezieht sich allerdings nicht auf die CD der Rana. Das ist der Titel eines Liedes, das Bach in das Quodlibet (Variation 30) eingearbeitet hat.

Die Aufnahme von Rana ist im Internet gefeiert worden, die von Marie Rosa Günter weniger. Vielleicht, weil sie so still ist, so gleichförmig, nichts Sensationelles an sich hat. Aber der Musikwissenschaftler Hartmut Hein hat in seiner Rezension die beeindruckende Akkuratesse gelobt. Wenn die Werbung für die CDs das jugendliche Alter der Interpretinnen betont, dann muss man sagen, dass Glenn Gould auch erst dreiundzwanzig war, als er die Goldberg Variationen einspielte. Und das in neununddreißig Minuten und elf Sekunden, schneller war niemand. Die Nikolayeva brauchte zweiundsiebzig Minuten, Sokolov eine Stunde und sechsunzwanzig Minuten. Und Arrau gönnte dem Stück zwei Stunden und neun Minuten. Marie Rosa Günter bleibt mit 77 Minuten in einer soliden Mitte. Dass sie fünf Minuten länger ist als die Nikolayeva liegt daran, dass sie die Variation 25, die Wanda Landowska als die black pearl des Ganzen bezeichnet hat, lang ausspielt (was Glenn Gould auch gemacht hat). Man kann ihre Aufnahme aus dem kleinen, aber feinen Hause Genuin gut hören. Die Aufnahme überzeugt durch ihre Geschlosenheit, man kann sie immer wieder hören, sie wird immer besser. Ich habe nur vier Euro dafür bezahlt. Dass da not for sale auf dem Booklet stand, konnte ich beim Kauf nicht sehen, aber sie ist viel mehr als diese vier Euro wert.

Den Rest des Wochenendes werde ich Tatiana Nikolayeva hören. Über sie kann man in der FemBio lesen: Tatjana Nikolajewa spielte mit Kraft und Energie in der romantischen Tradition, aber dennoch mit großer Präzision. Sie pflegte eine Kunst der unabhängigen Stimmen, wobei aber der singende Klavierton niemals zu kurz kam. Ihre expressive Kantabilität überzeugt durch den Reichtum an Kontrasten, den sie ebenso durch ihre differenzierte Anschlagtechnik wie durch die geistige Durchdringung erreicht. Jeder Satz ist wahr, es geht nicht darum, die Goldberg Variationen schnell oder langsam, laut oder leise zu spielen. Es geht nicht darum, wie man die Triller, Praller und Mordents spielt, es geht um die geistige Durchdringung. Weil dann das eintritt, was Emil Cioran in Aveux et Anathèmes beschrieben hat: Nach den Goldberg Variationen - einer 'überessentiellen' Musik, wie es im mystischen Jargon heißt - schließen wir die Augen und geben uns dem Echo hin, das sie in uns hervorgerufen haben. Es bleibt nichts anderes übrig als eine inhaltslose Fülle, die die einzige Möglichkeit ist, dem Höchsten nahe zu sein.



Samstag, 21. August 2021

die Villa Fritze


Da, wo das kleine Bäumchen ist, führt ein Weg nach links zu einem Rondell mit Balustraden, von dem aus man einen schönen Blick über den Stadtgarten und die Weser hat. Journalisten und Immobilienmakler nennen das Rondell neuerding den Vegesacker Balkon. Das Haus neben dem Bäumchen kannte im Ort jeder: das Ortsamt war da drin. Und auch die Tanzschule von Nico Arff, wo man die Standardtänze lernte, damit man für den Abtanzball und das Leben gerüstet war. Die Frauen, die man bei Nico kennengelernt hatte (und mit denen man in der Nacht unten im Park geknutscht hatte), konnte man hier auch noch heiraten, denn bis zum Juni 2012 war das Standesamt im Haus. 

Die zwei weißen Sandsteinfiguren (Zeus und Herakles) eines unbekannten Künstlers, die einst die Villa zierten, sind heute in den Stadtgarten versetzt worden. Zeus hält ein Flammenbündel in der rechten Hand, Herakles eine Keule Die Statuen sind mit einer Anti-Graffiti-Beschichtung versehen worden, die Waffen von Göttern und Helden reichen gegen Graffiti Sprayer offenbar nicht aus. Die Statuen sind keine große Kunst. Es wäre möglich, dass sie aus der Werkstatt des Bremer Bildhauers Carl Johann Steinhäuser stammen, von dem Carl Wilhelm August Fritze eine Plastik der Genoveva von Brabant besaß.  

Das riesige Haus heißt heute beim Landesamt für Denkmalschutz Villa Fritze, aber es ist nicht die originale Villa Fritze; diese Villa, zu der als Denkmalgruppe noch ein Teehaus und eine Remise für die Kutschen gehören, steht hier erst seit 1876. Man muss anmerken, dass Rudolf Stein in seinem Standardwerk über die Bremer Baukunst die Villa mit keinem Wort erwähnt. Es gibt schönere Villen in Bremen. 

Vor 1876 stand hier ein kleineres weißes klassizistisches Landhaus mit Walmdach, viersäuligem Portikus und Freitreppe, das sich der Bremer Tabakhändler und spätere Senator Carl Wilhelm August Fritze 1827 als sommerlichen Wohnsitz hatte erbauen lassen. Fritzes Kompagnon, Johann Friedrich Abegg, der 1822 aus der Firma ausschied, hatte sich 1809 in Oberneuland das klassizistische Gut Holdheim bauen lassen, so etwas wollte Fritze auch haben. Die Familie Fritze besaß in Bremen noch andere Häuser, eine Villa am Osterdeich und die Villa in Horn-Lehe, die später den Namen Borgward Villa bekommen hat.

Wenn Carl Wilhelm August Fritze von seiner Freitreppe auf die Weser schaut, dann hat er etwas, was seine Nachbarn so nicht haben, einen riesigen, parkartigen Garten. Gut, seine Nachbarn, der Bürgermeister Arnold Duckwitz und der Weinhändler Albert Diedrich Finke (dessen Tochter den Dichter Klaus Groth heiraten wird), haben auch schöne Gärten, aber was Fritze sich gekauft hat, ist das Kernstück aus dem Garten, den der Dr Albrecht Roth angelegt hat. Ich lasse Duckwitz und Finke mal aus, die haben hier schon Posts. Ihre Villen wurden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Teil widerrechtlich abgerissen. Hier vorne auf dem Bild ist ein kleines Denkmal für den Botaniker Albrecht Roth, den Goethe gerne als Professor nach Jena geholt hätte. 

Oben auf dem Berg ist die Villa Fritze, die Gottfried Johannes Carl Fritze, der Sohn von Carl Wilhelm August Fritze hatte bauen lassen. Es wäre schön, wenn das noch die kleine weiße Villa wäre, die keinen Namen hatte, sondern schlicht das Haus auf dem Berg hieß. Es findet sich (außer in diesem Post im vierten Absatz) kaum eine Abbildung der Villa im Internet, aber Sophie Hollanders hat in ihrem Buch Vegesack: Alte Bilder einer Hafenstadt ein Bild. Und ich habe hier für Sie eine vorzügliche kleine Architekturgeschichte Bremens, die Eröffnungsrede der Ausstellung Palladio und der Palladianismus in Bremen von dem Kunsthistoriker Volker Plagemann. Mit vielen Bildern. Die alte Fritze Villa ist auch dabei.

Der Park, den der Botaniker und Landmedicus Albrecht Roth anlegt, enthält die seltensten Bäume. Es sind einhundert exotische Bäume und Stauden auf zwei Hektar Grund. Das Land für den Park schenkt ihm der König von England (wir gehörten damals nicht zu Bremen, sondern zum englischen Hannover), der auf den jungen Forscher aufmerksam geworden ist. Er könne soviel Land haben, als er bebauen könne und wolle. Das Land ist nichts wert, ein ödes Sandgebiet auf dem Heide wächst. Und ein paar Bäumchen. Bei Hochwasser und Sturmflut frisst die Weser das Land weg. Wahrscheinlich glaubt George III, dieser junge Dr Roth wolle einen Landschaftsgarten anlegen, wie er jetzt in England Mode ist. Roth wird noch Land dazu kaufen, bis ihm das ganze Unterland der heutigen Weserstraße gehört, von der Strandlust bis zum Vulkan. Auf dieser Karte vom Hafen bis Fehr (das heute Fähr heißt). 

Nach Roths Tod im Jahr 1834 werden Teile des Parks an Bremer Kaufleute verkauft, an Leute wie Duckwitz, Finke und Fritze. Vorher wollte auf dem Sandstreifen der Geestkante niemand wohnen, jetzt werden dort Sommerhäuser errichtet. Heute sieht der Bebauungsplan der Weserstraße so aus, die Denkmalgruppe Fritze ist rot markiert. Hier liegen die Villen der Aristokraten, deren Anlagen das Weserufer eine kleine Strecke hin wirklich sehr verschönern, schreibt 1841 ein junger Mann, der in Bremen im Hause des Großhandelskaufmanns Heinrich Leupold seine kaufmännische Ausbildung absolvierte. Vier Jahre später wird er nicht mehr im Morgenblatt für gebildete Leser über seine Dampferfahrt auf der Weser von Bremen nach Bremerhaven schreiben, da schreibt er Die Lage der arbeitenden Klasse in England: Nach eigner Anschauung und authentischen Quellen.

Dass der Park von Albrecht Roth heute als Stadtgarten öffentlich zugänglich ist, dass es eine Strandstraße vom Utkiek bis zum Vulkan gibt, das verdankt der Ort dem Bürgermeister Dr Werner Wittgenstein, der der Witwe von Gottfried Johannes Carl Fritze 1929 den Garten für  zehntausend Mark abgekauft hatte. In der Zeitung bewarb er die Gründung eines Stadtgarten- und Verschönerungsvereins: Vegesack ist reich an schönen Privatgärten, aber arm an öffentlichen Anlagen. Es ist aber für die Stadt im Augenblick außerordentlich schwer, sich neue Zinslasten aufzuladen. Wir rufen daher zur Gründung eines Stadtgartenvereins auf und hoffen, nicht nur die nötigen Stauden unentgeltlich zu erhalten, sondern auch genügend laufende Mittel, um davon Arbeitskräfte zu beschaffen. Fräulein Borcherding, die bei der Leitung ihres Schulgartens erfreuliche Erfolge erzielt hat, wird die praktische Leitung übernehmen. Am 1. Juli 1930 wurde der Verein gegründet, der der Lehrerin und Naturkundlerin Johanna Borcherding alles verdankt, wir können sie hier bei der Arbeit sehen. 

Wittgenstein, der von 1915 bis 1933 Bürgermeister der Stadt Vegesack war, hat in diesem Blog schon seinen Platz in dem Post zu seinem Freund, dem Architekten Ernst Becker-Sassenhof. Wittgenstein wohnte bei uns um die Ecke, meine Mutter war im Lyceum mit seiner Tochter in einer Klasse. Und mein Großvater war mit ihm in der Schlaraffia, ich habe noch ein Photo, wo die beiden Herren bei einem Fest an einem Tisch sitzen. Am 29. März 1933 wurde er in den einstweiligen Ruhestand versetzt, sein Nachfolger trug Uniform. Wenige Monate nach seiner Ernennung zum kommissarischen Bürgermeister wurde der SA-Sturmführer und Ortsgruppenleiter Lothar Westphal für die Dauer von zwölf Jahren zum Bürgermeister von Vegesack gewählt. So lange wird er da nicht bleiben, weil das Tausendjährige Reich keine zwölf Jahre mehr dauern wird. 

Auf diesem Photo vom Mai 1933 ist Westphal der zweite von links, Richard Markert, der Bremer Bürgermeister, trägt eine schwarze Nazi-Uniform. Ich habe im Familienalbum noch ein anderes Photo, da steht Westphal in seiner SA-Uniform neben Opa vor dem Haus. Er war gerade in das Nachbarhaus gezogen, in dem sein Vater, der Kapitän Julius Westphal, seit 1909 gewohnt hatte. Am Rande des Photos steht in der Handschrift meiner Mutter ein widerlicher Kerl

Mein Opa, Hauptmann im Ersten Weltkrieg, trägt seine Stahlhelm Uniform mit Eisernem Kreuz und dem weinroten Hanseatenkreuz. Der SA-Sturmführer Westphal sieht furchtbar ordinär aus, mein Opa guckt eigentlich von ihm weg, diese Nachbarschaft hat er sich nicht gewünscht. Es ist das letzte Photo von Opa in Uniform, der Stahlhelm ist gerade gleichgeschaltet worden. Er wird die Uniform nie wieder anziehen. 1938 kauft die Stadt auch die Villa Fritze, der SA-Sturmführer wird da als Bürgermeister einziehen.

Das sind jetzt hundert Jahre deutscher Geschichte. Ein Tabak- und Baumwollhändler, der auch Berater des Bremer Bürgermeisters Johann Smidt ist (und dessen Neffe Richard sein Geld in Kuba in der Sklavenwirtschaft macht), lässt sich ein kleines klassizistisches Sommerhaus bauen und kauft den Park von Dr Albrecht Roth. Sein Sohn lässt das Haus abreißen und baut sich diesen protzigen Kasten. Die 1812 gegründete Reederei führt er aber fort. Ich glaube, weil er seine Schiffe auf der Weser fahren sehen wollte, hat sein Urenkel Eberhard Fritze 2012 gesagt. Dass es eines Tages die Nazis geben wird und ein SA-Mann hier residieren wird, konnten die Herren, die auf das navigare necesse est vertrauten, nicht wissen. Dieses große Bild, das Carl Justus Harmen Fedeler um 1847 gemalt hat, hing immer im Ortsamt, es hängt heute im Heimatmuseum Schönebecker Schloss. Wittgenstein hatte es einem Bremer Friseur abgekauft (das Deutsche Schiffahrtmuseum in Bremerhaven besitzt eine Kopie). Ich fand immer, das es das Beste in dem Haus war. Abgesehen von der Tanzschule von Nico Arff.

Viel besser als die riesige Villa gefällt mir dieses dreistöckige Teehaus, das zu dem Ensemble gehört und auch von Heinrich Müller, dem Bremer Stararchitekten der damaligen Zeit, gebaut wurde. Ein Mitschüler, mit dem ich befreundet war, wohnte darin, deshalb kenne ich das 1879-80 gebaute Türmchen von innen. Es ist, wie das Landesamt für Denkmalschutz schreibt: ein auf einem heute abgetrennten Grundstücksteil gelegener aufwendiger, mit Treppentürmchen versehener oktogonaler Belvedere-Pavillon in renaissancierenden Formen über bastionsartigen, mit einer balustradengesäumten Terrasse abschließenden Substruktionen, in Bremen ohne Parallele. Und man hat einen tollen Blick über die Weser. Bei gutem Wetter bis nach Oldenburg, pflegte Gert immer zu sagen.

Und das hier gehört auch noch dazu, eine Kombination von Kutscherhaus- und Remisengebäude, in einem scheußlichen Stil, den man höflicherweise als dekorativ-ländlichen Schweizerhausstil bezeichnet. Es ist heute das Haus der Freiwilligen Feuerwehr Vegesack. Das weiße Haus dahinter ist das Haus, in dem der Kapitän Julius Westphal gewohnt hatte. Und dann sein Sohn, von dem man nach 1945 nichts mehr gehört hat. Er war 1943 Amtskommissar im Kreis Kamin geworden, seit dem Februar 1945, als er in den Westen fliehen wollte, ist er verschollen. Bevor dieses Hause gebaut wurde, stand hier übrigens das Haus von Dr Albrecht Roth. Dem gehören zwar auf der anderen Straßenseite alle Gärten, aber eine Villa hat er sich da nie gebaut.

Der Architekt Heinrich Müller, der das Ensemble gebaut hat, war im 19. Jahrhundert neben Johann Georg Poppe der berühmteste Architekt Bremens. Beinahe ein halbes Jahrhundert hat er sich durch die Hansestadt gebaut. Ohne erkennbaren Stil, er nimmt alles, was gerade Mode ist. Er beginnt seine Karriere mit dem Klassizismus, dann folgte die Neugotik, dann der Tudor Stil (zum Beispiel bei Wätjens Schloss) und die Neorenaissance, das heißt die Wiederbelebung der französischen und italienischen Renaissance, die er er auch bei der Villa Fritze verwendet. Und immer wieder Neugotik. Bei der Villa Fritze kann man französische Renaissance- und Barockeinflüsse erkennen. Sagt das Landesdenkmalamt. Die Bremer Kaufleute, die altes Geld und Kultur hatten, besaßen Güter wie Heinekens Park oder Gut Landruhe, das mein Freund Peter für das Landesamt dür Denkmalschutz restauriert hat. Wer im 19. Jahrhundert sein Geld macht, geht zu Müller. Und der baut nicht so etwas, was wir in Hamburg in der Palmaille oder in neo-klassizistischen Villen wie der Henisch Villa finden.

Die Stadt Bremen hat die Villa vor Jahren an eine Investorengruppe verkauft, die sich den Namen Hansegrund zugelegt hatte. Wenn Sie den Namen anklicken, kommen Sie zu einer reichillustrierten Werbebroschüre, mit der man um Käufer wirbt. Wenn wir genau hinhören, erzählt uns die Vergangenheit Geschichten ist der Text betitelt. Aber die Herren von der Hansegrund haben offenbar nicht so genau hingehört, der Text ist schwach und voller Fehler. Die potentiellen Käufer sind offenbar nicht so leicht zu finden, denn das Angebot im Luxussegment ist in der Weserstraße groß. Da ist zum Beispiel die Villa Bischoff, die schon hier im Post Zwieback erwähnt wird. Sie ist berühmt geworden, weil Per Leo, der hier aufwuchs, sie in seinen Roman Flut und Boden hineingeschrieben hat.

Und die Villa Schröder, die sich Friedrich Lürssen 1951 gekauft hatte, wird gerade umgebaut. Aufkaufen, entkernen, Luxuswohnungen, immer die gleiche Geschichte. Die Investoren von Hansegrund haben nicht alles bekommen, was sie gerne gehabt hätten. Also die Plastiken von Zeus und Herakles waren nicht im Kaufpreis inbegriffen. Das Teehaus vom Nachbargrundstück auch nicht. Die größte Kröte, die sie schlucken mussten, war, dass sie das Rondell und den Garten hinter der Villa nicht bekommen haben. Den Brunnen mit dem Löwenkopf unter dem Rondell auch nicht. Das alles bleibt öffentlicher Grund und Boden.

Als ich im Januar 2010 erst einmal aufhörte, meine Autobiographie Bremensien zu schreiben, weil ich Blogger wurde, fehlte da ein Kapitel. Das war das Kapitel Villen. Das hatte ich mir für den Schluss aufgehoben. Kinderleicht zu schreiben, da kannte ich mich aus. Das habe ich schon in dem Post Bauarbeiten geschrieben, in dem es auch eine Skizze von dem gab, was ich vorgehabt hatte. Ich habe das Ganze nicht wirklich aufgegeben; wenn Sie Posts wie fehlende BilderKnoops ParkHohehorst und Vaterlandsstolz lesen, merken Sie, dass mich das immer noch interessiert. Es wird noch mehr zu dem Thema geben, ich glaube, ich mache irgendwann mit Wätjens Schloss weiter.

Mittwoch, 18. August 2021

Anna Ancher


Die dänische Malerein Anna Ancher wurde am 18. August 1859 in Skagen geboren, von all den Skagener Malern ist sie die einzige, die aus dem Ort kommt. Sie ist auch in Skagen gestorben. Sie ist schon häufig in diesem Blog erwähnt worden. Zum Bespiel in dem Post SkagenIn den Posts Michael Ancher, Eufemia und Dänische Kunst ist sie auch. In dem Post Nordlichter kommt sie zwar nicht vor, aber diese Malerinnen sind auch interessant. Im Gegensatz zu ihren Skagener Kollegen, die sich alle der Pleinairmalerei verschrieben haben, malt Anna Ancher selten draußen. Eher malt sie so etwas Schönes wie dies hier.

Aber den impressionistischen Østerbyvej in Skagen-Østerby hat sie 1915 draußen gemalt. Da brauchte sie nur einmal um die Ecke zu gehen. Es wäre natürlich interessant, ihr Bild mit dem Bild von der Dorfstraße bei Soest von Ida Gerhardi zu vergleichen, aber das lassen wir heute mal. Ich habe heute am Geburtstag von Anna Ancher ein wirklich schönes Gedicht von dem dänischen Dichter Klaus Rifbjerg, das Skagen heißt. Einmal im Original und einmal in der Übersetzung von Lutz Volke.

Skagen

Det er mig der har malet
billederne på Skagens museum.

Jeg sagde til mig selv
der har du dit liv og så
begyndte jeg at male.

Jeg tror det startede med frokostbilledet
jeg blev så sulten
følte mig så hjemme.

Jeg malede Krøyer og Drachmann
Tuxen, Ancher - både hun og ham
og alle andre
helt ned til Tørsleff.

Det var et mægtigt arbejde
men jeg havde det jo godt
så det var ikke noget.

Drachmann hjalp mig lidt
og Krøyer
vi talte meget

og drak en lille smule.

Vi så på Skagen
malede en masse billeder
fik lyset frem
men måske mest en livsform
vores egen
den jeg faldt for.

Jeg husker timerne
med Krøyers kone
under hyldetræerne hos Drachmanns,
bourgognen i de svære glas
og alting set
i sommerbilleder
melankolsk
som var det hele længst forbi.

Jeg husker aftnerne på Grenen
vandene der mødtes
og besværet med at få farven
til at makke ret
det var jo mig der skulle
male alting
ville male alting
før det ikke var der mere.

Der er en duft af død
idyl og linnedskuffer med lavendel

over mine Skagenslærreder,
men det var livligt nok
dengang
det var det.
Vi rejste os fra bordet
oven på den lange frokost
og stemmerne var blevet mere sagte.
Vi stod i skumringen
før hver gik hjem til sit
men det var svært at bryde op.

Så vendte Anna Ancher sig
og sagde:
Vi skal sove nu.
Hun tog sin mands arm,
gik med ham igennem lågen
og langsomt fulgte alle efter.
Skridtene forsvandt imellem
husene
værten slukkede sin lampe
det var for sent at male mere.


Skagen

Ich war es ich
habe die Bilder in Skagens Museum gemalt.

Ich hab mir gesagt
hier hast du dein Leben und
malte.

Ich glaube zuerst das Frühstücksbild
ich hatte solchen Hunger
fühlte mich so zu Hause.

Ich malte Krøyer und Drachmann
Tuxen, Ancher - sie und ihn
und alle anderen
bis hin zu Tørsleff.

Ein gewaltiges Stück Arbeit
doch ich fühlte mich wohl dabei
und so machte es mir nichts aus.

Drachmann griff mit ein
und Krøyer
wir redeten viel
schauten
und tranken ein paar Schluck.

Wir hatten Skagen vor uns liegen
malten eine Menge Bilder
kitzelten das Licht heraus jedoch
wohl vor allem die Lebensart
unsere Art zu leben
die Art die mir gefiel.

Ich denke an die Stunden
mit der Frau von Krøyer
unterm Hollerbusch bei Drachmanns
Bourgogne in schweren Gläsern
und alles gesehen
in Sommerbildern
melancholisch
als wär das Ganze längst vorbei.

Ich denke an die Abende auf Grenen
an die Wasser die sich trafen und
an die Probleme mit den Farben
daß sie stimmten
ich war es schließlich
der malen sollte alles
malen wollte
bevor es verging.

Es liegt ein Hauch von Tod
Idyll und Wäscheschränken mit Lavendel
über meinen Leinwänden aus Skagen
aber Leben gab es
damals
alles war voll Leben.

Wir erhoben uns vom Tisch
die Stimmen leicht gedämpft
am Ende eines langen Mahls.
Wir standen in der Dämmerung
bevor ein jeder Abschied nahm
doch es fiel schwer zu gehen.

Dann gab sich Anna Ancher einen Ruck
und sagte:
Es ist Zeit fürs Bett.
Nahm ihren Mann beim Arm
ging mit ihm zur Pforte
und langsam folgten alle nach.
Die Schritte verschwanden zwischen
den Häusern
der Hausherr löschte das Licht
zu spät um weiter zu malen.

Sonntag, 15. August 2021

der grüne Sonnenschirm

Der Maler Gottlieb Schick wurde heute vor 245 Jahren in Stuttgart geboren, der Internet Lexikon Wikipedia gönnt ihm einen fünfzeiligen Artikel. Das ist ein bisschen wenig für einen Maler des Klassizismus, der dieses schöne Portrait gemalt hat, das berühmteste Frauenportrait des deutschen Klassizismus. Schick hatte in Paris bei Jacques-Louis David studiert, er war nicht der einzige deutsche Schüler des Franzosen. Der Mainzer Johann Adam Ackermann war auch in Paris. Bevor Schick Paris verließ, konnte er sehen, wie David Madame Récamier portraitierte (Sie können an den fett markierten Links sehen, dass Ackermann und die Récamier hier schon einen Post haben, der zu Madame Récamier ist über fünftausend Mal angeklickt worden). Schick selbst hat die Julie Récamier in Paris in sein Skizzenbuch gezeichnet.

Wahrscheinlich hatte Schick Davids Bild der Pariser Salonière im Kopf, als er 1802 in Stuttgart den Auftrag bekam, Wilhelmine Cotta zu malen, die Gattin des Verlegers Johann Friedrich Cotta, der der Verleger von Schiller und Goethe war. Sie wird in vielen Quellen als Freifrau von Cotta bezeichnet, aber das ist sie noch nicht, ihr Gatte ist noch nicht geadelt. Dass sie aber aus ihrem Haus in Tübingen eine Art von schwäbischem Musensitz gemacht hat, das ist sicherlich wahr. Man kann Wilhelmine Cotta wie die Récamier als Salonière bezeichnen.

Es ist wohl Heinrich Rapp gewesen, der Schick den Kontakt zu Cotta vermittelt hat. Rapp ist der Schwager von Schicks erstem Lehrer Heinrich Dannecker, einem Mann, den Schick immer verehrt hat. Er hat auch im Jahre 1802 das schöne Bild von Danneckers erster Frau Heinrike gemalt. Mit dem kleinen Blumenstrauß in ihrer Hand hat er sich schwergetan: Ich erinnere mich, wie ich mich mit der Hand plagte, die die Blumen hält, und wie ich in meiner Freude krumme Gesichter geschnitten, die Ihre Frau Gemahlin und mich selbst lachen machten, wenn mir das Malen gelang […]. Wie vergnügt war ich nicht als ich ihr Portrait mahlte.

Gottlieb Schick will nicht in Stutgart bleiben, er will nach Rom. Heinrike Dannecker hat er aus Freundschaft zu seinem Lehrer gemalt, Wilhelmine Cotta malt er, weil ihr Ehemann ihm noch einen Vertrag für eine Vielzahl von Zeichnungen für die Cottaschen Taschenbücher offeriert. Diese moderne Version von Schicks Bild, die von Ekaterina Orba stammt, nimmt einiges vom Original auf, die Pose der Wilhelmine, die Pappelgruppe links, Akazie und Gummibaum (hier zu einer grünen Einheit verschmolzen) rechts. Der kleine Fluss Ammer ist hier zu einem mächtigen Strom geworden, aber das Wesentliche bleibt: Wilhelmine Cotta wird in die Natur, dem schwäbischen Arkadien, plaziert, nicht im Salon.

Frau Cotta ist plumper, mächtiger, das Übereinanderschlagen der Beine selbstbewußter. Es fehlt die feine Koketterie nicht nur in der weniger flüssigen Behandlung, sondern auch in dem den Beschauer nicht suchenden Blicke, schreibt der Kunsthistoriker Karl Simon 1914 in seinem Buch Gottlieb Schick: Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Malerei um 1800. Er ist der erste Kunsthistoriker, der Davids Madame Récamier und Schicks Wilhelmine Cotta verglichen hat. Ein Bild, das den Vergleich mit dem Franzosen nicht zu scheuen braucht. Eigentlich ist es viel schöner als das Bild von der Julie, die wie die zusätzliche Dekoration zu einem Möbelstück aussieht. 

Wilhelmine in ihrem weißen Chemisekleid (wahrscheinlich miederlos) aus Musselin bildet die Diagonale des lebensgroßen Bildes, das heute in Stuttgart hängt. Die Holzbank, auf der sie im Park sitzt, hat nichts von der Eleganz der französischen Récamiere bei Jacques-Louis David. Aber Wilhelmines Kleidung ist à la mode. Werfen Sie doch mal einen Blick auf die gestreiften Schlupfschuhe (auch Schlupfer genannt) aus Atlasseide! Diese Ballerinas sind, ebenso wie der Sonnenschirm in der neuen Modefarbe grün, der dernier cri des Klassizismus.

Es gibt zu dem Maler Gottlieb Schick doch etwas mehr zu sagen, als uns Wikipedia sagt. 1976 gab es zu seinem zweihundertsten Geburtstag in Stuttgart eine Ausstellung Gottlieb Schick: Ein Maler des Klassizismus. Den Katalog von Ulrike Gauß und Christian von Holst kann man antiquarisch noch finden. Auch das interessante Buch Kaleidoskop eines Porträts von der Staatlichen Ingenieurschule für Druck läßt sich antiquarisch noch kaufen. Und dann habe ich zum Schluß noch ein kleines Video, auf dem uns die Kunsthistorikerin Ricarda Geib das Bild erklärt.

Mittwoch, 11. August 2021

Don Giovanni in Salzburg


Das hier sind Zerlina und Don Giovanni. Gleich wird er Là ci darem la mano, Là mi dirai di sì, Vedi, non è lontano, Partiam, ben mio, da qui singen. Vom Schnürboden hat man schon eine Kutsche heruntergelassen. Dabei braucht man die doch eigentlich nicht, denn es ist ja nicht lontano. Man könnte ja auch das Luxuscoupé nehmen, das vorhin noch auf die Bühne krachte, aber das ist jetzt weg. Was das rote Seil soll, das an ein Bühnenbäumchen gebunden ist, weiß ich nicht. Wahrscheinlich hat das was mit irgendwelchen BDSM Fesselspielchen zu tun. 

Hinter der auf dem Boden sitzenden Zerlina liegt eine nackte junge Frau, die sich lasziv räkelt (auf diesem Photo kann man das noch besser sehen). Wir fragen uns, ob das dieselbe nackte junge Frau ist, die am Anfang der Oper von links nach rechts über die Bühne gerannt ist. Gleich nachdem die Ziege von links nach rechts über die Bühne gelaufen ist. Also, bevor das Luxusauto auf die Bühne gefallen ist. Es fällt viel auf die Bühne, Basketbälle, ein Rollstuhl, ein Klavier. Der italienische Regisseur Romeo Castellucci mutet dem Zuschauer einiges zu.

Man kann das nicht so genau erkennen, was das für ein Auto ist, das da aus dreißig Metern auf die Bühne kam. Vor der Bühne ist ein hauchdünner Gazevorhang, der alles etwas milchig und unscharf aussehen lässt. Ist natürlich auch gut gegen Coronaviren (für Zuschauer herrscht Maskenpflicht). Ich fragte einen Freund, der normalerweise in einem Spielfilm sofort jedes auftauchende Automobil identifizieren kann, aber der wusste es nicht. Tippte aber auf einen Bentley. Auf den Bentley Continental R hatte ich auch getippt, also schrieb ich Keith eine E-Mail, weil ich weiß, dass der mehrere Bentleys hat. Es könne ein Continental sein, antwortete er, er hätte leider keinen, aber er hätte einen Azure, der sei so ähnlich gebaut. Schön, dass wir das mal geklärt haben.

Nicht nur Zerlina hat ein nacktes Double, auch Donna Elvira bekommt eine nackte Frau zur Seite gestellt. Und dann muss sich Zerlina, gespielt von Anna Lucia Richter (die hier schon einen Post hat) auch noch ausziehen. Naja, Strumpfhose und BH darf sie anbehalten, wenn sie Vedrai carino singt. Sie strahlt dabei so viel Erotik aus wie eine ELBEO Nylonstrumpf Reklame aus den fünziger Jahren. Und dann füllt sich die Bühne mit mehr oder weniger nackten Frauen, einhundertfünzig Salzburgerinnen. Warum nicht tausendunddrei, fragt man sich. Wenn man ein bisschen bei den österreichischen Nudistenvereinen herumtelephoniert hätte, dann hätte man de mille e tre, von denen Leporello singt, bestimmt auf die Bühne bekommen. Die ist mit einer Tiefe von fünfundzwanzig Metern groß genug.

Einer der Höhepunkte der vierstündigen Materialschlacht von zweifelhaften Gags, ist der Auftritt von Don Ottovio (Michael Spyres), wenn er Dalla sua pace singt. In seltsamer Verkleidung, als norwegischer Polarforscher, mit einem Pudel an der Leine. Muss ich noch den überdimensionalen Photokopierer erwähnen, den Leporello braucht, um die Registerarie zu singen? Oder die kleine Ratte, die irgendwann auf die Bühne scheißt? Sie brauchen jetzt die Wiener Tierschutzbund nicht anzurufen, es ist eine handzahme Ratte, und sie hat eine Tierpflegerin hinter der Bühne. Die Ziege auch.

Das hier sind Donna Anna (in schwarz) und Donna Elvira. Das Rad der Kutsche, die zuvor noch über Zerlina und Giovanni schwebte, ist abgefallen, man hat es an die Wand gerollt. Weshalb auf dem Bild einer Dame von Petrus Christus eine schwarze Figur herumklettert, das weiß ich nicht. Vielleicht weiß Romeo Castellucci das. Vielleicht aber auch nicht. Jürgen Kesting schrieb in der FAZ: Ein Nachwort, aus Irritation, aus Verzweiflung, aus Zorn: Nach einem ästhetischen Terroranschlag wie dem mit dem Holzhammer inszenierten Salzburger 'Don Giovanni' ist es nicht leicht, die Gedanken zu ordnen oder zu sortieren. Ich habe die Aufführung, bei der die Einfälle und Pointen wie von Kartätschen abgeschossen wurden, in ihrem Verlauf zunehmend als Belästigung empfunden. Habe den Zwang, ein Dauer-Quiz von Bildern enträtseln oder mich über den faulen Zauber szenischer Kalauer amüsieren zu müssen, als Anmaßung verstanden. Mehr braucht man dazu kaum zu sagen. Was Castellucci anrichtet, ist nichts als die Mickymausisierung der Opernwelt.

Hier zertrümmert Don Giovanni mit einem Baseballschläger gerade eine auf dem Boden liegende Frauenfigur, das ist sicherlich auch irgendwie symbolisch. Irgendwie. Kommt auch nicht drauf an. Es hat lange gedauert, aber nun, langsam beginnt sie endlich, die öffentliche Entzauberung von Teodor Currentzis, schrieb Axel Brüggemann im Klassik Magazin Crescendo, und viele Kritiker stimmten ihm zu. Thomas Prochazka, der sogar die Namen der Tierpflegerinnen der Ziege und der Ratte kennt, schrieb in Der MerkerDiese Don Giovanni-Produktion ist nicht kontroversiell. Sondern einfach schlecht. 

Viel Lärm um nichts. Es ist vielleicht die teuerste Produktion von Mozarts Oper Don Giovanni, die es je gegeben hat. Aber Geld spielt in Salzburg keine Rolle. Die besten Karten kosten über sechshundert Euro und die Präsidentin der Salzburger Festspiele, Helga Rabl-Stadler, die jetzt nach sechundzwanzig Jahren aufhört, bekam 220.000 Euro im Jahr. Opern haben offenbar nichts mehr mit Musik zu tun, das sind Geldverbrennungsmaschinen. Thomas Prochazka fand die ganze Produktion degoutant: In der Armseligkeit seiner Bedürfnisse applaudierte ein Publikum Leistungen, die nicht einmal entfernt an die Hausmannskost des Wiener Staatsopern-Repertoires des letzten Dezenniums heranreichten. Es sei. — Doch daß kritische Beobachter solches ohne unmiß­verständ­liche Widerworte hinnahmen?

Die kleine Ziege muss ich auf diesem Bühnenbild der gewollt klassischen Architektur noch eben mal zeigen. Als Joseph Losey seinen Film Don Giovanni drehte, vertraute er auf die Wirkung der Villen von Palladio, ein bisschen Klassik möchte Romeo Castellucci auch haben. Bevor die Ouvertüre beginnt, sehen wir, dass dies einmal ein Kirchenraum war. Bauarbeiter nehmen ein Kruzifix von der Wand, das ein wenig nach Giotto aussieht und räumen den Kirchenraum für das monumentale Einheitsbühnenbild ratzekahl. Der Platz wird jetzt gebraucht, damit es Autos, Rollstühle und Basketbälle aus dem Schnürboden regnen kann.

Sie können die vierstündige Aufführung hier sehen. Wenn Sie wollen. Weil Sie die Ziege, die Ratte, die nackten Mädchen und das Auto sehen wollen. Ob es sich musikalisch lohnt, weiß ich nicht. Don Ottavio ist gut, Don Giovanni eher schwach. Man hat zwar viel Geld für die Dekoration ausgegeben, aber die großen Namen der Opernwelt, die hat man in Salzburg nicht auf der Bühne. Ich habe für Sie noch eine ganz andere Inszenierung, ist nur knapp drei Stunden lang, hier wird nichts gedehnt und zerfieselt. Man wünschte sich, es wäre länger. Es ist der Don Giovanni aus Aix-en-Provence aus dem Jahre 2017. Italienisch gesungen, französische Untertitel.

Kein Currentzis, kein Castellucci, keine großen Namen. Keine Ratten, keine Ziegen. Aber eine unglaubliche Spielfreude und Dynamik. Sie können an den Photos schon sehen, dass das Ganze ein klein wenig schräg ist, wahrscheinlich können das nur Franzosen. Mit deser frz. Flottigkeit, von der die Malerin Ida Gerhardi redete.

Meinen ersten Don Giovanni habe ich in Bremen gesehen, ist mehr als ein halbes Jahrhundert her. Damals fiel Leporello am Anfang der Oper von einer Leiter. Ich fand das einen ziemlich blöden Einfall. Ich wusste noch nicht, was das Regietheater für mich noch in petto haben würde.