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Mittwoch, 8. Mai 2024

Treptow


Heute vor fünfundsiebzig Jahren wurde in Berlin das Treptower Ehrenmal für die im Zweiten Weltkrieg gefallenen Soldaten der Roten Armee eingeweiht. Es gibt im Tiergarten noch ein anderes Ehrenmal mit zwei grünen russischen T 34 Panzern davor. Die jetzt im Ukrainekrieg eine andere symbolische Bedeutung gewonnen haben als damals, als man sie aufstellte. Viele Berliner fordern, dass man die Panzer jetzt wegräumt. Dass man das Ehrenmal im Treptower Park damals an einem 8. Mai einweihte, hatte natürlich seine Bedeutung, denn der 8. Mai gilt als der Tag der Befreiung. Die im Mai 1945 in meiner Heimatstadt Bremen anders aussah als in Berlin. Mein erster Besuch des Ehrenmals im Jahre 1960 war sehr beschwerlich. Ich hatte mir bei einem Sportunfall den linken Fuß gebrochen und humpelte mit einem Gipsverband zum Ehrenmal. Es war ein langer Weg vom Busparkplatz bis zu dem Ehrenmal, aber ich wollte unbedingt das Innere des Denkmals sehen.

Mein Onkel Karl, der Bildhauer, hat mir eine Geschichte über den Bau des Ehrenmals erzählt, die nicht in den Geschichtsbüchern steht. Er hatte, als er aus dem Krieg zurückkam, zuerst eine Ausbildung als Steinmetz erhalten und studierte jetzt Bildhauerei bei Gustav Seitz an der Hochschule für Bildende Künste in Charlottenburg. Eine junge Frau saß da vormittags als Aktmodell für die angehenden Künstler. Die junge Frau hatte noch eine zweite Beschäftigung. Nachmittags ging sie in den Osten der Stadt und saß Modell für die russischen Künstler, die den Innenraum des Denkmals gestalteten. Wahrscheinlich ist sie auf den Mosaiken der Firma Puhl & Wagner im Kuppelraum des Treptower Ehrenmals das Mütterchen Russland.

Sonntag, 5. Mai 2024

Chorprobe

Die schöne Buchhändlerin hatte, wie viele ihrer Freundinnen, den Chor nicht aufgegeben. Sie war nach dem Abitur dabeigeblieben, weil sie sich mit dem Chorleiter, der ihr Englischlehrer gewesen war, so gut verstand. Manche ihrer Freundinnen waren im Chor geblieben, weil der als ein Eheanbahnungsinstitut galt, aber das war ihre Sache nicht. Es war zwar etwas langweilig, jedes Jahr Weihnachten im Dom der Stadt Bachs Kantaten und das Weihnachtsoratorium singen zu müssen, aber es war natürlich auch eine Ehre, dort singen zu dürfen. Bach hatten sie immer im Repertoire. Andere Chöre waren glücklich, wenn sie Im schönsten Wiesengrunde, An der Saale hellem Strande oder Wer recht in Freuden wandern will hinkriegten. Sie alle hatten neben dem Englischen Fremdsprachen am Lyceum gehabt, manche Französisch, andere Latein. Das half ihnen natürlich auch, Texte aus fremden Sprachen anzugehen, zum Beispiel so etwas:

Dio del cielo,
Signore delle cime,
un nostro amico
hai chiesto alla montagna.
Ma ti preghiamo:
su nel Paradiso
lascialo andare
per le tue montagne.

Das Lied von Giuseppe De Marzi war gerade aus Italien nach Deutschland gekommen. Das konnten die Waldundwiesenchöre natürlich nicht. Es kam jetzt viel an internationaler Musik in das Repertoire der Chöre, in denen zu lange nur Deutsches gewesen war. Ihr Chorleiter hatte es immer gefördert, dass etwas Neues in das Repertoire des Chors kam. Der Chor war für seine Auftritte begehrt, aber der Chorleiter war der Meinung, dass man nicht allen Wünschen nachkommen sollte. Also, den Wunsch nach Seemannsliedern beim Hafenfest, den hatte er abgelehnt. Und dem Pastor hatte er gesagt, dass der Chor keinesfalls am Volkstrauertag Ich hatt' einen Kameraden singen würde. Geistliche Lieder in der Kirche: ja. Aber dies nicht.

Der Chorleiter Dr Friedrich Allmers war schon ein älterer Herr, er sollte eigentlich längst im Ruhestand sein. Aber die Schulleitung beließ ihn in dieser Stellung, weil niemand so gut mit dem Chor umgehen konnte wie er. Und weil er das Klavier besorgt hatte, das in der Aula stand. Das alte hätte kein Klavierstimmer der Welt mehr hingekriegt. Es war dann als Kriegsschaden ausgesondert worden, und das war es auch gewesen. Die amerikanischen Besatzer hatten es furchtbar misshandelt. Dr Friedrich Allmers wusste nicht nur, wie er preiswert an ein erstklassiges Klavier kam, er hatte auch gute Beziehungen zu der Musikwelt. Und sein Chor hatte einen guten Namen. Schließlich war man schon mehrfach im Radio gewesen und hatte bei einem Festival einen dritten Platz errungen. Und es liefen da Verhandlungen für eine Langspielplatte mit alten europäischen Volksliedern, aber die waren ins Stocken geraten. Geplante Titel wie Nimm sie bei der schneeweißen Hand und Lison dormait schienen dem Plattenverlag nicht unbedingt Publikumsrenner zu werden.

Die schöne Buchhändlerin sang gerne. Unter der Dusche und im Auto. Und natürlich im Chor. Das Schöne im Chor war das Gemeinschaftserlebnis. Sie ließ sich von der Musik treiben, war glücklich dabei zu sein. So gut sie sang, zu einer Solistin hätte es bei ihr nicht gereicht. Außer unter der Dusche oder im Auto. Das wusste sie. Es reichte ihr aber, dabei zu sein. Manche ihrer Freundinnen sangen im Chor der Oper mit, da war sie auch einmal bei der Aufführung von Bizets Carmen mit im Chor gewesen. Das Kostüm, das man ihr angedreht hatte, hatte nicht richtig gepasst, es zwickte und zwackte bei jeder Bewegung. Sie hatte es mit nach Hause nehmen und ändern wollen, sie war gut mit Nadel und Faden. Aber das durfte sie nicht. Das ist Eigentum der Oper, das geht nicht aus dem Haus, bekam sie gesagt. Sie hatte sich im Chor der Zigarettenarbeiterinnen bei den Aufführungen unwohl und unglücklich gefühlt. Vielleicht hätte sie die Zigarette, die sie nur in der Hand halten sollte, wirklich rauchen sollen. Glücklicherweise wurde die Oper nach drei Aufführungen abgesetzt, weil zwei der Solistinnen erkrankten und der Sänger des Don José einen Autounfall hatte.

Es war nicht nur die gemeinsame Chorprobe, die sie liebte. Sie gingen hinterher zusammen immer noch in den Fährkrug auf ein Glas Wein. Der Wirt hielt ihnen an den Abenden der Chorproben immer einen Tisch am Fenster frei, sodass sie auf den Fluss schauen konnten. Der Wirt mochte die Sängerinnen, weil sie ihm vor Jahren, als er das Haus gerade übernommen hatte, den ganzen Abend gerettet hatten. Da saß nämlich ein junges Brautpaar einsam im großen Saal, keiner ihrer Gäste war gekommen. Die blonde Braut heulte. Das war zu verstehen. Nach einer halben Stunde kam eine Nachricht, die das Fehlen der Hochzeitsgäste erklärte. Das Ausflugsschiff, mit dem sie kommen wollten, sei im Fluss auf eine Sandbank gelaufen. Es sei niemandem etwas passiert, aber die Hochzeitsgäste müssten noch von Bord gebracht und in einen Bus gesetzt werden. Das könne noch etwas dauern.

Nachdem der Wirt dem Brautpaar die gute Nachricht überbracht hatte, erzählte er es auch den Sängerinnen am Fenster. Und sagte dann plötzlich: Es ist alles so trist und traurig heute, könnten Sie nicht vielleicht etwas singen? Singen, dachte sich die schöne Buchhändlerin, was singt man in einem solchen Fall? Plaisir d'amour ne dure qu'un moment, Chagrin d'amour dure toute la vie? Aber da stand die rothaarige Thea auf und sagte: Mädels: Jungfernkranz. Sie standen auf, gingen durch den leeren Saal, gruppierten sich um den Tisch des Brautpaares, zählten unhörbar eins, zwei, drei und sangen:

Wir winden dir den Jungfernkranz
mit veilchenblauer Seide;
wir führen dich zu Spiel und Tanz,
zu Glück und Liebesfreude!

Sie dachte gerne an diesen Abend zurück, alle dachten gerne an diesen Abend zurück. Zwei von ihren Freundinnen hatten inzwischen geheiratet, und da war sie mit dem Chor natürlich bei den Hochzeiten gewesen. Bei der ersten Hochzeit hatten sie das alte Lied aus dem Lochamer Liederbuch gesungen:

All mein Gedanken, die ich hab', die sind bei dir.
Du auserwählter einz'ger Trost, bleib stets bei mir.
Du, du, du sollst an mich gedenken.
Hätt' ich aller Wünsch Gewalt,
von dir wollt ich nicht wenken
.

Bei der Hochzeit von Birgit wollten sie Wach auf, meins Herzens Schöne von Johann Friedrich Reichardt singen, aber die Birgit wollte lieber das ganz alte Lied wiederhaben, aber nur die zweite Strophe:

Du auserwählter einz'ger Trost, gedenk daran!
Leib und Gut, das sollst du gar zu eigen han.
Dein, dein, dein will ich immer bleiben:
Du gibst Freud und hohen Mut
und kannst mir Leid vertreiben.

Sie waren jetzt beinahe jeden Tag am Proben, es sollte natürlich wieder Bach sein. Dank der guten Beziehungen, die Dr Allmers in der Musikwelt hatte, war der Chor auserwählt, bei einem Bachfestival in Berlin zu singen. Bach hatten sie drauf, es war auch das Schwierigste, was sie konnten. Die Vier letzten Lieder von Richard Strauss hatten sie schon häufiger gesungen. Dr Allmers hatte es mal mit Schönbergs Gurre-Liedern versuchen wollen, aber das war nichts geworden. Das große Ereignis, das vor ihnen stand, hatte eine doppelte Bedeutung, Dr Allmers hatte ihnen gesagt, dass dies sein letzter Auftritt sein würde. Er wolle jetzt endgültig in den Ruhestand gehen. Zu dem Konzert in Berlin ziehe ich aber noch einmal meinen alten Frack an, sagte er. Sie hatten ihn noch nie im Frack gesehen. Die schöne Buchhändlerin dachte sich, dass sie auch ein schönes Kleid anziehen müsste. Sie würde schon etwas im Kleiderschrank finden. Die rothaarige Thea hatte auch schon eine Idee für einen Abschiedsabend für ihren Lehrer, sie würden elisabethanische Lieder von Thomas Campion und John Dowland singen. Jede von ihnen würde auch einen Solopart haben. Die schöne Buchhändlerin hatte sich schon John Dowlands Time stands still gesichert:

Time stands still with gazing on her face.
Stand still and gaze, for minutes, hours and years to her give place.
All other things shall change but she remains the same.
Till heavens changed have their course and Time hath lost his name.
Cupid doth hover up and down, blinded with her fair eyes.
And Fortune captive at her feet contemned and conquered lies.


Es wurde gemunkelt, dass für die Soloparts des Konzerts in Berlin berühmte Leute kommen sollten, das blieb aber erstmal noch geheim. Das muss doch rauszukriegen sein, dachte sie. Und rief aus der Buchhandlung die Konzertdirektion an. Fragte, ob sie vielleicht einige Plakate und Handzettel für die Buchhandlung bekommen könnte, damit man hier ein wenig Werbung machen könnte. Die Sekretärin hörte sich das an, dachte einen Augenblick nach und sagte dann: Können wir machen, schicke ich Ihnen mit der Post. Als das Päckchen in der Buchhandlung ankam, packte sie es sofort aus und hängt eins der Plakate an die Tür der Buchhandlung. Auf dem Plakat stand ganz groß der Name des Solisten, es war der Tenor Rodolpho Martini. Der war nun wirklich berühmt, beinahe weltberühmt. Sie besaß sogar zwei Langspielplatten von ihm.

Als sie am Abend des Konzerts aus dem kleinen Bus der Firma Elbach kletterten, mit dem sie immer zu den Konzerten gefahren waren, sahen sie alle festlich und präsentabel aus. Selbst die rothaarige Thea, die sonst immer in Hosen herumlief, hatte ein Kleid angezogen; hellgrün, das passte gut zu ihren roten Haaren. Dr Allmers trug, wie er es gesagt hatte, seinen alten Frack. Er hatte es sogar geschafft, die weiße Schleife richtig zu binden. Die schöne Buchhändlerin trug das Seidenkleid, helles Lavendelblau, mit den ganz schmalen Trägern, die das Kleid aussehen ließen, als sei es schulterfrei. Sie hatte es sich vor Jahren in Frankreich gekauft, als da eine kleine Boutique einen Ausverkauf machte. Sie hatte es noch nie angehabt. Nur in den letzten Tagen zu Hause zum Einsingen, sie wollte wissen, wie man sich darin fühlte und bewegte. So etwas wie damals bei der Carmen sollte ihr nicht noch einmal passieren. Sie alle ließen ihre Mäntel im Bus, es war ein schöner Sommerabend. Ihre Noten nahmen sie natürlich mit, als sie in den Konzertsaal gingen. Obgleich sie die eigentlich nicht brauchten.

Der Saal sei gut gefüllt, hatte man ihnen gesagt. Sie warteten erst einmal in dem ziemlich luxuriösen Umkleideraum, sie waren ja erst im zweiten Teil des Konzerts dran. Es gab davor eine Pause von fünfzehn Minuten. Sie dachte, sie könnte in der Pause mal eben den Renault Händler anrufen, den sie zwei Tage lang nicht gesehen hatte. Aber die Telephonzelle vor dem Konzertgebäude war besetzt. Ein großer Mann stand da drin. Und telephonierte und telephonierte. Endlich war er fertig, sie hätte fluchen können, aber er hielt ihr höflich die Tür auf. Sie huschte an dem Mann vorbei, riß den Hörer vom Haken und wählte die Nummer des Renault Händlers, doch der war offenbar nicht zu Hause. Sie hängte den Hörer wieder ein. Irgendwie hätte sie jetzt weinen können. 

Als sie aus der Telephonzelle kam, stand der Mann, der eben telephoniert hatte, immer noch da. Im Licht der Telephonzelle sah sie jetzt, dass der Mann einen Frack trug. Es war Rodolpho Martini. Sie war beinahe starr vor Schreck, was sollte sie jetzt sagen? Es tut mir leid, dass ich so lange telephoniert habe, sagte er, aber ich musste dringend mit meinem Agenten wegen eines Konzerts sprechen. Sie verzieh ihm auf der Stelle alles, was sie eben noch gegen ihn gehabt hatte. Ich muss jetzt schnell in die Konzerthalle zurück, sagte sie. Gewiss, sagt er und guckte sie lange an. Sie sind eine von den Sopranstimmen aus dem Chor von Dr Allmers, sagte er. Dass er das bemerkt hatte, dachte sie mit Erstaunen. Jetzt hatte sie es nicht mehr eilig. Er offenbar auch nicht. Das ist ein sehr schönes Kleid, das sie tragen, sagte er. Bevor sie etwas sagen konnte, nahm er ihren Arm und sagte: Kommen Sie. Ohne uns beide werden die nicht anfangen. Würden ihre Freundinnen ihr glauben, wenn sie diese Geschichte erzählte? Hätte sie ihn um ein Autogramm bitten sollen? Nein, sie wusste, ihr würde diese Erinnerung genügen.


Es gibt in diesem Blog schon vier Erzählungen mit der schönen Buchhändlerin: Sommerurlaub, RendezvousAutorenlesung und der dunkelblaue Bentley. Dies ist die fünfte Geschichte.

Freitag, 3. Mai 2024

Moeris


Manche Uhrenmarken sind völlig vom Markt verschwunden, es wird heute schwer sein, solch eine Moeris Excellence zu finden. Die Uhr hat ein vergoldetes 30 mm Werk mit 21 Steinen und einer speziellen Feinregulierung für den Rücker. Ich kenne die Uhr, weil ich sie mal besaß. Ich habe sie einer Freundin geschenkt, weil ich noch einen Zwilling von dieser Uhr besitze. Allerdings leider ohne diese aufwendige Feinregulierung. Wenn Sie das Werk einer Moeris Excellence am Laufen sehen wollen, dann klicken Sie hier

Der Uhrmacher Fritz Moeri hatte 1893 in Saint-Imier zusammen mit seinem Schwager Albert Jeanneret die Uhrenfirma Fabrique d’Horlogerie Moeri & Jeanneret gegründet. Nach dem frühen Tod seines Schwagers hieß die Firma dann Horlogerie Mécanique Fritz Moeri, ab 1918 nannte man sich Moeris. Alles, was Sie über die Firma wissen wollen, steht auf dieser Seite. Noch mehr Detailinformationen über die Fabrik in Saint-Imier finden sich hier.

Fritz Moeri setzte von Anfang an auf die Austauschbarkeit aller Teile der Uhr. Ein Prinzip, das der Amerikaner Eli Whitney erfunden hatte, als er Gewehre für den Präsidenten Thomas Jefferson herstellte. Die amerikanische Uhrenindustrie hatte das Prinzip längst übernommen, für die Schweiz war es Neuland. Als Eduard Favre-Perret 1876 im offiziellen Auftrag der Schweizer Uhrenindustrie die Ausstellung zur 100-Jahrsfeier der Declaration of Independence in Philadelphia besuchte, konnte er die Taschenuhren der Firma Waltham nur in den höchsten Tönen loben. Die preiswerteste Uhr von Waltham sei besser als alles, was die schweizer Industrie herstelle. Fritz Moeri scheint einer der wenigen gewesen zu sein, der aus dem Abschlussbericht von Favre-Perret eine Lehre gezogen hat.

Moeris war immer eine Manufaktur, das heißt, sie bauten sich ihre eigenen Werke. Rolex wurde erst vor wenigen Jahren zu einer Manufaktur, als sie für einige Milliarden schweizer Franken ihren Werkhersteller Aegler kauften. Es sind Firmen wie Moeris, die viel erfunden und bewegt haben. Rolex hat nichts erfunden und nichts bewegt. Sie haben sich die Werke von Aegler bauen lassen und alle Patente zugekauft. Moeris hatte seit 1904 eine Zweitfirma namens Civitas. Die Uhren hatten auch Moeris Werke, aber in einer etwas einfacheren Ausführung. Moeris bewarb diese Uhren in Anzeigen mit notre seconde marque

Ich habe eine Civitas aus den 1940er Jahren (zwanzig Mark auf dem Flohmarkt), die noch feste Stege und keine Stoßsicherung hat. Aber es steht antimagnetic auf dem Zifferblatt, ein Zeichen dafür, dass sie schon eine Glucydurunruhe hat. Für nicht magnetisierbare Uhren hatte Fritz Moeri schon sehr früh Patente erworben. Er experimentierte auch mit der 1896 von Charles Édouard Guillaume erfundenen Invar Legierung, für die Guillaume 1920 den Nobelpreis erhielt. Neben der Zweitlinie Civitas hatte Moeris noch eine unglaubliche Vielzahl von Markennamen angemeldet. Das Modell mit dem Markennamen The Bahadur und Tigern und Palmen auf dem Zifferblatt war wahrscheinlich nicht für den schweizer Markt bestimmt.

In den fünfziger Jahren lieferte Moeris Rohwerke an Seiko und Citizen, das war der Beginn des Aufstiegs der japanischen Hersteller. Seiko wird die Moeris Werke kopieren, das können wir an diesen beiden Werken sehen. Links ist ein Seiko Werk, rechts ein Moeris Werk. Beide haben die gleiche Bauform. Allerdings kann man auch als Nichtfachmann sehen, dass Seiko nicht annähernd an die Qualität von Moeris herankommt. Das wird sich ändern. Fünfzehn Jahre später wird Seiko mit seinen King Seiko und Grand Seiko Modellen zu einem Konkurrenten der schweizer Qualitätsuhrenhersteller. 

1970 kaufte Tisssot das, was nach der Quarzkrise von der Firma Moeris übriggeblieben war. Tissot sicherte sich den Markennamen Moeris und alle Patente, die die Firma hatte. Moeris hatte immer sehr gute Taschenuhren gebaut. Ich habe eine, die sie im Krieg an die Engländer geliefert haben. Steht die GSTP Nummer hinten drauf, innen ist ein Werk mit Genfer Streifenschliff, das adjusted ist. Tissot integrierte die Taschenuhrabteilung von Moeris als Departement Moeris in das eigene Werk, Tissot ist heute eine der wenigen schweizer Firmen, die noch Taschenuhren herstellen. 

Tissot brachte auch einmal ein Modell mit dem Namen Moeris Grands Prix heraus. Die Grands Prix Auszeichnung (man beachte den Plural bei Grand) hatte sich Moeris durch Goldmedaillen auf zahlreichen Ausstellungen verdient. Das Grands Prix steht auf meiner Armbanduhr auch drauf. Moeris war eine der wenigen schweizer Firmen, die eigene Chronographen und Stoppuhren baute (auf der Seite von Hans Weil finden sich viele Abbildungen). Omega und Tissot hatten sich für Chronographen die Firma Lemania gekauft, und Rolex baute in seine Daytona Modelle Werke von Zenith ein. 

Kurz bevor die Firma Moeris unterging, brachte sie noch ein Modell auf den Markt, das einige Sammler heute suchen. Es war eine Armbanduhr auf deren Zifferblatt James Bond 007 stand. Auf dem Gehäuseboden war eine Gravur von Sean Connery mit Pistole. Steht schon mit Abbildung in dem Post 007. Das Werk da drin war kein Moeris Manufakturwerk mehr, aber darauf kam es gar nicht an. Man konnte nach dem Erfolg der ersten Filme ja alles verkaufen, wo James Bond drauf stand. Mein Bruder hatte sogar einen James Bond Anzug. Mit Geheimtaschen.

Von diesen schönen Curvex Uhren aus den 1930er Jahren habe ich zwei, sie sind beide aus Edelstahl. Nicht aus verchromten Blech, wie man es damals häufig findet. Die eine hat ein schönes Zifferblatt, die andere hat schon eine Incabloc Stoßsicherung. Beide haben eine Glucydur Unruhe. Moeris bezog diese von Reinhard Straumann erfundenen hochwertigen Unruhen von derselben Firma, von der Eterna die Unruhen bekam. Es gab Mitte der dreißiger Jahre in der Schweiz ja nicht so viele Firmen, die eine Stoßsicherung einbauten. Helvetia und Eterna verwendeten eigene Stoßsicherungen, Moeris setzte seit 1936 auf die Firma Incabloc.

Ein italienischer Händler bei ebay will für die rechteckige Moeris mit dem Formwerk 20/26T eintausendzweihundert Euro haben. Das Werk ist in keinem schönen Zustand. Es steht zwar Shock Absorber auf dem Werk, aber diese seltsame Stoßsicherung kenne ich nicht. Ich habe für meine Uhren siebzig und achtzig DM bezahlt. Sie gehen nach beinahe neunzig Jahren immer noch hervorragend. Auch wenn bei der einen das Zifferblatt so schwarz ist, dass man die Zeit raten muss. Aber ich mag sie trotzdem.


Mittwoch, 1. Mai 2024

Maifeiertag

Am ersten Mai, da hat man frei. Blogger auch. Der April bedeutete viel Arbeit. Aber auch beinahe vierzigtausend Leser. Ich mache erst einmal Pause. Bleiben Sie mir gewogen. Nach der Pause wird hier wieder mal etwas über Uhren erscheinen, ich schreibe gerade an einem Post über meine Lieblingsfirma Moeris. Und natürlich wird die schöne Buchhändlerin irgendwann auftauchen, das hatte ich ja schon versprochen.

Dienstag, 30. April 2024

Ukraine


Da ich in dem Post Robert Desnos die Firma Messerschmitt in Regensburg erwähnt habe, muss ich eine kleine Geschichte erzählen, die ich von meiner Freundin Nina habe. Nina ist in Regensburg geboren, wo ihr Vater für die Messerschmitt Werke gearbeitet hat. Aber nicht freiwillig. Ihr Vater kam aus der Ukraine und wurde im Krieg von den Deutschen aufgegriffen und als Zwangsarbeiter nach Regensburg verschleppt. Musste in den Messerschmitt Werken arbeiten. Er sah die Donau und dachte sich, wenn er lange genug an der Donau entlang gehen würde, dann käme er irgendwann wieder nach Hause. Es ist ein langer Weg von Regensburg bis zur ukrainischen Donaumündung. Er wurde nach wenigen hundert Kilometern wieder von den Deutschen ergriffen und kam in das KZ Flossenbürg. Wo die Firma Messerschmitt auch Flugzeuge bauen lässt. Aber kurz danach war der Krieg zu Ende und die Amerikaner nahmen das Lager ein. Er ging nach Regensburg zurück, weil er da eine Frau kennengelernt hatte, die Ninas Mutter werden würde. Nina spricht neben anderen Fremdsprachen ukrainisch und russisch, damit ist sie aufgewachsen. Sie hat in den letzten Jahren viel Zeit damit verbracht, ukrainischen Flüchtlingen zu helfen. Bei Behördengängen und Arztbesuchen. So ist die Ukraine ihres Vaters ein bisschen zu ihr zurückgekommen.

Der Dichter Reiner Kunze hat 2016 eine Lesereise in die Ukraine gemacht, er las in Kiew und Czernowitz. Dem Ort, in dem Rose Ausländer und Paul Celan geboren wurden. Seine Erfahrungen in der Ukraine wanderten in Gedichte, die sich in dem Band die stunde mit dir selbst finden. Ich nehme daraus einmal das Gedicht Ukrainische Nacht, dem Kunze ein Zitat von Rose Ausländer vorangestellt hat: Der Karpatenrücken… lädt dich ein dich zu tragen:

Ukrainische nacht

Das land,
verstümmelt,
veruntreut,
verraten,
hob mich auf den rücken der Karpaten,
und im wachtraum hörte ich
die dichterin die mutter fragen,
was diese gern geworden wäre, und die mutter sagen:
eine nachtigall

Da begannen alle nachtigallen
in den hainen, die ich in mir trug, zu schlagen,
und ich hörte schüsse fallen
und den namen widerhallen:
Maidan, Maidan

Und in des namens klang
klang der name an
des dichters, dessen wort wir in uns tragen:
Der Tod ist ein Meister aus Deutschland

Doch weiß man hier, der tod kam nicht
aus Deutschland nur, er kam
mit zweierlei gesicht,
und riesig ist das land, wo man
ihm blumen steckt und ruhmeskränze flicht.

Montag, 29. April 2024

Who reads poetry?


Zum Ende des Poetry Month müssen wir mal kurz über die Poesie nachdenken. Wer liest überhaupt noch Gedichte? Das fragte nicht nur das Poetry Magazin der Chicago University Press. Diese Frage hat sich der Australier Les Murray auch gestellt. Der war schon mehrfach in diesem Blog. In dem Post Marinechronometer habe ich geschrieben: Der nächste Australier, den ich kennenlernte, war der Dichter Les Murray. Als ich zu dem Leseabend ging, wusste ich schon einiges über ihn, denn ich hatte dieses gewaltige Versepos Fredy Neptune gelesen. Bevor ich es für drei Mark im Grabbelkasten fand, wusste ich nichts über Les Murray. Nach der Lektüre von Fredy Neptune, das es (glücklicherweise für viele Leser) zweisprachig gibt und dem Leseabend wusste ich mehr. Wenn Murray letztens statt Bob Dylan den Nobelpreis bekommen hätte, es wäre vielleicht nicht unverdient gewesen.

Es war nett, Les Murray zu treffen. Es gab leider an dem Abend kein Bier. Als Seamus Heaney hier war, gab es Guinness. Les Murray hat es zwar nicht zum Nobelpreis geschafft, aber er ist in Deutschland gut angekommen. Teile seines Werks gibt es auch in deutschen Ausgaben. Und sein Hauptwerk Fredy Neptune hat hier auch schon einen Post. Das Gedicht heute hat den Titel The Instrument, es geht darin um die Frage, wer heute noch Gedichte liest:

Who reads poetry? Not our intellectuals;
they want to control it. Not lovers, not the combative,
not examinees. They too skim it for bouquets
and magic trump cards. Not poor schoolkids
furtively farting as they get immunized against it.

Poetry is read by the lovers of poetry
and heard by some more they coax to the café
or the district library for a bifocal reading.
Lovers of poetry may total a million people
on the whole planet. Fewer than the players of skat.

What gives them delight is a never-murderous skim
distilled, to verse mainly, and suspended in rapt
calm on the surface of paper. The rest of poetry
to which this was once integral still rules
the continents, as it always did. But on condition now

that its true name’s never spoken: constructs, feral poetry,
the opposite but also the secret of the rational.
And who reads these? Ah, the lovers, the schoolkids,
debaters, generals, crime-lords, everybody reads them:
Porsche, lift-off, Gaia, Cool, patriarchy.

Among the feral stanzas are many that demand your flesh
to embody themselves. Only completed art
free of obedience to its time can pirouette you
through and athwart the larger poems you are in.
Being outside all poetry is an unreachable void.

Why write poetry? For the weird unemployment.
For the painless headaches, that must be tapped to strike
down along your writing arm at the accumulated moment.
For the adjustments after, aligning facets in a verb
before the trance leaves you. For working always beyond

your own intelligence. For not needing to rise
and betray the poor to do it. For a non-devouring fame.
Little in politics resembles it: perhaps
the Australian colonists’ re-inventing of the snide
far-adopted secret ballot, in which deflation could hide

and, as a welfare bringer, shame the mass-grave Revolutions,
So axe-edged, so lictor-y.
Was that moral cowardice’s one shining world victory?
Breathing in dream-rhythm when awake and far from bed
evinces the gift. Being tragic with a book on your head.

Auf der immer empfehlenswerten Seite Planet Lyrik findet sich eine deutsche Übersetzung, allerdings steht leider der Name des Übersetzers nicht dabei. Wahrscheinlich ist die Übersetzung von Margitt Lehbert, die viel von Murray übersetzt hat:

Das Instrument

Wer liest schon Poesie? Nicht unsere Intellektuellen;
sie wollen sie steuern. Nicht Liebende, nicht die Kampflustigen,
keine Prüflinge. Auch sie überfliegen sie nach Sträußen
und Zaubertrumpfkarten. Nicht die armen Schulkinder,
die heimlich furzen, während sie dagegen geimpft werden.

Poesie wird von den Liebhabern der Poesie gelesen
und von einigen anderen gehört, die man ins Café lockt
oder zu einer Bifokallesung in der Bezirksbibliothek.
Liebhaber der Poesie belaufen sich wohl auf eine Million
Menschen auf der ganzen Erde. Weniger als Skatspieler.

Was diese Menschen erfreut, ist eine nie mörderische Essenz,
hauptsächlich zu Versen destilliert, die in verzückter Ruhe
auf der Oberfläche des Papiers schwebt. Der Rest der Poesie,
mit dem dies früher eine Einheit bildete, beherrscht noch heute
die Kontinente wie immer schon. Jetzt unter der Bedingung,

daß man den wahren Namen nicht nennt. Konstrukte, wilde Poesie,
das Gegenteil, aber auch das Geheimnis des Rationalen,
und wer liest sie dann? Ah, die Liebenden, die Schulkinder,
die Disputanten, Generäle, Mafiabosse, alle lesen sie:
Porsche, Rakentenstart, Gaia, Cool, Patriarchat.

Unter wilden Strophen verlangen viele nach deinem Fleisch,
um sich zu verkörpern. Nur die vollkommene Kunst,
frei vom Gehorsam gegenüber ihrer Zeit, kann dich quer
durch die größeren Gedichte tanzen lassen, in denen du lebst.
Außerhalb aller Poesie zu sein, ist unerreichbare Leere.

Warum Poesie schreiben? Für die bizarre Arbeitslosigkeit.
Für die schmerzlosen Kopfschmerzen, die man anzapfen muß,
um am Schreibarm den gesammelten Moment zu schlagen.
Für die Änderungen, wenn man Facetten eines Verbs ausrichtet,
bevor die Trance verblaßt. Um immer über die eigene Intelligenz

hinaus zu arbeiten. Dafür, sich nicht hochzuarbeiten und dabei
die Armen zu verraten. Für einen Ruhm, der nicht auffrißt.
In der Politik gleicht ihr nicht viel: womöglich
die Erfindung der australischen Kolonialisten, eine nun weit-
verbreitete geheime Wahl, in der sich Deflation verbergen kann,

um als Wohlfahrtsträger Massengrab-Revolutionen zu beschämen,
so axtschneidig, so liktorisch.
War das der einmalige, leuchtende Weltsieg moralischer Feigheit?
Traumrhythmen im Wachzustand und fern vom Bett einzuatmen zeigt
die Begabung. Tragisch sein mit einem Buch auf dem Kopf.


Es gibt das Gedicht auf der Seite des Griffin Poetry Prize vorgelesen. Die Zuhörer sind bei der Lesung immer am Lachen. Aber so lustig ist das Ganze eigentlich nicht.

Sonntag, 28. April 2024

Kinostadt


Am 28. April 1937 hat Benito Mussolini in Rom die Filmstadt Cinecittà eingeweiht. Für das Ereignis gab es hier vor sieben Jahren schon den Post Cinecittà. Es gibt aber noch einen zweiten Post über die römische Filmstadt. Das ist ein langer kuturhistorischer Post, der mehr als sechstausend Mal gelesen worden ist. Er heißt Cinecittà und die Mode und ist ein Post, den ich wirklich nur wärmstens empfehlen kann. Ob ich Roberta d'Angelos Abitare a Cinecittà wirklich empfehlen kann, das weiß ich nicht. Aber 1978 kam man an dem Lied der damals 22-jährigen nicht vorbei, das Lied lief überall. Ein Ohrwurm, wie man sagt. Es ist ein ironisches Lied über einen Vorort, der ein klein wenig heruntergekommen und kriminell geworden ist. Fellini dreht hier zwar noch, aber sonst ist hier für Zweiundzwanzigjährige nichts los. Roberta d'Angelo hatte Musik studiert und war mit ihren ersten Platten bei dem Label RCA. Die musikalische Dauerberieselung durch Cinecittà fand ich damals fürchterlich. Ich besitze keine einzige Platte von Roberta d'Angelo, obgleich Abitare a Cinecittà heute bei ebay schon einiges kostet. Aber ich habe mehrere Platten von der gleichaltrigen Gianna Nannini, die in ihrem Leben wahrscheinlich mehr Erfolg hatte als Roberta d'Angelo. Obgleich die an ihrer Platte gut verdient haben muss:
 
Cinecittà
Che bella città
Nella città, ah!
Cinecittà
Oh, oh, oh, Cinecittà
Che bella città
Nella città, ah!
Cinecittà

Qualcuno cammina sulle acque
Con un motorino rotto
Che ogni tanto fa un botto
Cambiano le carte in tavola
Con un asso nella manica
Moltiplicando i pesci e pure i fessi
Gli uni finiti in salamoia
Gli altri soffocati dalla noia

Cinecittà
Che bella città
Nella città, ah!
Cinecittà
Oh, oh, oh, Cinecittà
Che bella città
Nella città, ah!
Cinecittà

Con un po' d'amore di nascosto
Con tanta paura addosso
Come un cane senza osso
Con la rabbia che ti scoppia
Con la voglia di tutto
Che ti prende di brutto
Al Quadraro che è un posto amaro
Ho tramutato là per là
Un bar in un baccalà
Ma tutto è rimasto lo stesso
Come fuori adesso

Ah, Cinecittà
Che bella città
Nella città, ah!
Cinecittà
Oh, oh, oh, Cinecittà
Che bella città
Nella città, ah!
Cinecittà

Le macchine e gli stereo
Passano di proprietà
Con molta facilità
A Cinecittà
Fioriscono i casermoni
Come tante prigioni
L'acqua si tramuta in buchi
Troppi negozi, troppe luci
Senza soldi a Cinecittà
Senza far niente a Cinecittà

Ah, Cinecittà
Che bella città
Nella città, ah!
Cinecittà
Oh, oh, oh, Cinecittà
Che bella città
Nella città, ah!
Cinecittà

Non c'è niente di divertente da fare
Se non stare ad aspettare
E guardare quelli che
Al centro prendono il tè
Affermando che
"Abitare a piazza Navona
È una questione di atmosfera
Specialmente la sera, la sera, la sera"

Abitare a Cinecittà
Invece è una questione di...
Abitare a Cinecittà
Invece è una questione di...
Fedeltà

Cinecittà, ah!
Che bella città
Nella città
Oh, oh, oh, Cinecittà
Che bella città
Ne-nella città, ah!
Cinecittà
Cinecittà
Che bella città
Ne-nella città
Cinecittà
Oh, oh, oh, Cinecittà
Che bella città
Ne-nella città
Cinecittà
Oh, oh, oh, Cinecittà
Che bella città
Ne-nella città, ah!
Cinecittà
Oh, oh, oh, Cinecittà
Che bella città
Ne-nella città
Cinecittà
Oh, oh, oh, Cinecittà
Che bella città
Ne-nella città
Cinecittà
Oh, oh, oh, Cinecittà
Che bella città
Ne-nella città
Cinecittà

Samstag, 27. April 2024

Untertitel


Heute vor zweihundertvierzig Jahren kam das  das Theaterstück Le mariage de Figaro (Der tolle Tag oder Figaros Hochzeit) von Pierre Augustin Caron de Beaumarchais auf die Bühne. Es hätte schon sechs Jahre früher auf die Bühne kommen sollen, aber die Zensur war dagegen. Beaumarschais war ja eigentlich Uhrmacher, er hat eine neuartige Hemmung für Taschenuhren erfunden. Aber davon besitzen wir leider kein einziges Exemplar. Was er geschrieben hat, das besitzen wir aber. Zwei Jahre nach dem großen Erfolg von Beaumarchais' Komödie kam Mozarts Oper Le nozze di Figaro auf die Bühne. Diese Oper ist in diesem Blog immer wieder vorgekommen, zum letzten Mal in dem Post Marie Fajtová

Wenn man heute den Text einer Arie aus der Oper sucht, findet man den mit ein paar Klicks auf dem Computer. In den 1950er Jahren war das noch nicht so einfach. Ich besaß eine Langspielplatte von Le nozze di Figaro, aber ich wusste nicht so genau, was die da sangen. Es ging um Liebe, das war mir klar, aber ich wollte gerne einen Text haben. Bei einer Abendeinladung bei Freunden meiner Eltern entdeckte ich, dass der Dr Köpp eine Platte besaß, auf der man die Texte der wichtigsten Arien fand. Ich beteiligte mich nicht an der Unterhaltung, ich saß in einer Ecke und schrieb die Arien ab. In ein winzigkleines Notizbuch. Die herausgerissenen Seiten habe ich immer noch. Und die Arie des Cherubino habe ich immer noch im Kopf. Was man einmal mit der Hand abschreibt, das bleibt.

Als lyrischen Text gibt es heute die Arie des Cherubino, der in die Gräfin verknallt ist, und von der Gräfin und Susanna gerne wissen will, was die Liebe ist. Wenn Sie das gesungen hören wollen, habe ich die Arie hier von Liliana Nikiteanu gesungen. Es gibt dabei englische Untertitel:

Voi che sapete che cosa e amor, 
Donne, vedete, s’io l’ho nel cor,
Donne, vedete, s’io l’ho nel cor.
Quello ch’io provo, vi ridiro,
E per me nuovo capir nol so.
Sento un affetto pien di desir,
Ch’ora e diletto, ch’ora e martir.
Gelo e poi sento l’alma avvampar,
E in un momento torno a gelar.
Ricerco un bene fuori di me,
Non so chi il tiene, non so cos’ e.
Sospiro e gemo senza voler,
Palpito e tremo senza saper,
Non trovo pace notte ne di,
Ma pur mi piace languir cosi.
Voi, che sapete che cosa e amor
Donne, vedete, s’io l’ho nel cor


Es ist bei fremdsprachigen Opern immer schön, wenn der Text über das Video läuft. Ich habe hier eine Aufnahme der Wundertütenfabrik, bei der Arie des Cherubino ein völlig sinnloser Text unterlegt wird: Ihr wolltet schon immer wissen, was Sachen heißen? Prima! Deshalb gibt es hier die echten Texte von Sachen. In dem Fall von Oper - also genauer gesagt von Wolfgang Amadeus Mozart - Voi che sapete. Der Text natürlich in Untertiteln mitgeliefert, dass ihr beim nächsten Kulturstammtisch endlich mal mitreden könnt. Den Spaß kann man sich einmal angucken. Vielleicht hätte Mozart über so etwas auch gelacht.


Noch mehr von Figaros Hochzeit in den Posts:, The marriage of Figaro, Opernhaus Hannovercontessa, perdono (per la seconda volta), Hochzeitsvorbereitungen, Flimm ist schlimm und Contessa, perdono

Freitag, 26. April 2024

The Birds of America

John James La Forest Audubon wurde am 26. April 1785 in Les Cayes, Haiti geboren. Er ist berühmt geworden, weil er alle Vögel Amerikas gemalt hat. Obgleich ich im Gegensatz zu meinem Freund Gert Börnsen keinerlei ornithologische Interessen hatte, besitze ich einen zweibändigen Nachdruck der Birds of America. Weil das Buch einfach so schön ist. Und John James Audubon hat hier natürlich schon einen Post. Er wird in vielen anderen Posts erwähnt, besonders in dem über Adam Gopnik, der bei dem Team des New Yorker mein Lieblingsautor ust. So etwas wie sein Audubon Essay, der sich 1992 in dem Buch The Best American Essays findet, das macht ihm keiner nach. Er ist neben Joan Didion eins meiner großen Vorbilder, ich habe das wahrscheinlich schon einmal gesagt. Audubon findet sich auch in dem Post Amerikanische Dandies und einigen anderen Posts.

Es gibt genügend Gedichte über Audubon, ich finde die Seite von Colin Morris sehr hübsch, aber ich nehme mir heute The Birds of America von Billy Collins. Der amerikanische Dichter, über den John Updike gesagt hat: Billy Collins writes lovely poems... Limpid, gently and consistently startling, more serious than they seem, they describe all the worlds that are and were and some others besides, war hier vor Jahren schon in den Post flinke Finger und Hart Crane

Early this morning
in a rumpled bed,
listening to birdsong
through the propped-open windows,

I saw on the ceiling
the figure of John J. Audubon
kneeling before
the pliant body of an expired duck.

I could see its slender, limp neck,
rich chestnut crown,
and soft grey throat,
and bright red bill,

even the strange pink legs.
And when I closed my eyes again
I could hear him whisper
in his hybrid Creole accent

I have taken your life
so that some night a man
might open a book
and run his hand over your feathers,

so that he could come close enough
to study your pale brown flecks,
your white chin patch,
and the electric green of your neck,

so that he might approach
without frightening you into the sky,
and wonder how strange
to the earth he has become,

so that he might see by his lamp light
the glistening in your eye
then take to the air
and fly alongside you.

Ich habe hier, falls Sie das brauchen sollten, eine Interpretation des Gedichts. Billy Collins war von 2001 bis 2003 Poet Laureate der Vereinigten Staaten. In seinem Heimatstaat New York wurde er 2004 zum New Yorker Staatsdichter ausgewählt. Er ist wahrscheinlich Amerikas beliebtester Dichter ist, und er mag Vögel. Er hat die schöne Anthologie Bright Wings: An Illustrated Anthology of Poems About Birds herausgegeben. Ich habe noch ein Gedicht von ihm, in dem auch John James Audubon drin vorkam; aber er hat es dann geändert und the way John Audubon might have wandered durch like some American of the nineteenth century who is wandering ersetzt. Das Gedicht heißt Questions about Birds, ich finde, er hätte Audubon in dem Gedicht lassen sollen:

I am going to sit down on a rock near some water
or lie supine on the grass under the trees
and under a high ceiling of white clouds

and I am going to stop talking
so I can wander there like some American
of the nineteenth century who is wandering

through a forest of speckled sunlight
and I am going to imagine him stopping
to lean against an elm to mop his brow

as he listens to the songs of birds
and wonders—like me—if they sleep with open eyes
and how they regard the songs of other species.

Would it be like listening to the rapid Chinese
of men bargaining over a stall?
Or do all the birds perfectly understand each other?

Donnerstag, 25. April 2024

Odysseus


Der Maler Friedrich Preller der Ältere wurde heute vor zweihundertzwanzig Jahren geboren, er war kein besonders guter Maler. Aber einige seiner Bilder sind von klein auf in meinem Kopf. Weil seine nackten Frauen so kugelig gedrechselte Brüste haben. Das hatte ich mit sechzehn in einem Bildband meines Opas entdeckt. Außer am Nacktbadestrand von Sylt gab es in den fünfziger Jahren ja wenige nackte Frauen zu sehen. Auf diesem Bild sind es die Sirenen, die Odysseus zu betören versuchen. Das Bild besitzt die Kunsthalle Kiel, aber sie hat es nicht ausgestellt, ebensoweig wie das Bild von Francesca da Rimini und Paolo Malatesta, das sich im Post Nackt findet. Entweder haben sie etwas gegen Aktmalerei oder etwas gegen zweitklassige Kunst. Wahrscheinlich ist es das Letztere. Ich habe das Bild von Odysseus und den Sirenen schon in dem Post Chanson abgebildet. 

Das Bild gehört zu einem ganzen Zyklus von Odysseusbildern, die Preller gemalt hat. Wobei der Höhepunkt der kitschigen Aktmalerei wohl das Bild ist, wo Leukothea dem Odysseus im Sturm erscheint. Das Bild gehört auch der Kieler Kunsthalle, ist aber auch nicht ausgestellt. Ist aber sowieso egal, die Kunsthalle ist für fünf Jahre geschlossen. Die machen plötzlich überall zu. Das Focke Museum in Bremen ist erst in zwei Jahren wieder offen, und wann der Neubau vom Stadtmuseum in Oldenburg fertig ist, weiß niemand so recht. Und die Berliner Museen haben ihre Öffnungszeiten verkürzt. Wenn Sie alles über den Odysseus Zyklus von Friedrich Preller wissen wollen, dann klicken Sie diese schöne Seite vom Goethezeitportal an.

Ein Gedicht über Odysseus habe ich natürlich, es ist das vielleicht berühmteste Gedicht von Lord Tennyson. Den mag ich zwar nicht besonders, ich habe in dem Post bêtes noires gesagt: Tennyson hat furchtbar lange und furchtbar langweilige Gedichte geschrieben, die von den langweiligen Viktorianern für große Lyrik genommen wurden. Aber Tennysons Ulysses, das T. S. Elio a perfect poem genannt hat, ist schon etwas Besonderes. Es ist auch etwas sehr Persönliches, Tennyson hat geschrieben: There is more about myself in 'Ulysses,' which was written under the sense of loss and that all had gone by, but that still life must be fought out to the end. It was more written with the feeling of his loss upon me than many poems. Das Gedicht ist in Blankversen geschrieben, dem seit Shakespeare bevorzugten Metrum der englischen Lyrik:

It little profits that an idle king,
By this still hearth, among these barren crags,
Match'd with an aged wife, I mete and dole
Unequal laws unto a savage race,
That hoard, and sleep, and feed, and know not me.

I cannot rest from travel: I will drink
Life to the lees: all times I have enjoyed
Greatly, have suffered greatly, both with those
That loved me, and alone; on shore, and when
Through scudding drifts the rainy Hyades
Vexed the dim sea: I am become a name;
For always roaming with a hungry heart
Much have I seen and known; cities of men
And manners, climates, councils, governments,
Myself not least, but honoured of them all;
And drunk delight of battle with my peers;
Far on the ringing plains of windy Troy.

I am a part of all that I have met;
Yet all experience is an arch wherethrough
Gleams that untravelled world, whose margin fades
For ever and for ever when I move.
How dull it is to pause, to make an end,
To rust unburnished, not to shine in use!
As though to breathe were life. Life piled on life
Were all too little, and of one to me
Little remains: but every hour is saved
From that eternal silence, something more,
A bringer of new things; and vile it were
For some three suns to store and hoard myself,
And this grey spirit yearning in desire
To follow knowledge like a sinking star,
Beyond the utmost bound of human thought.

This is my son, mine own Telemachus,
To whom I leave the sceptre and the isle -
Well-loved of me, discerning to fulfil
This labour, by slow prudence to make mild
A rugged people, and through soft degrees
Subdue them to the useful and the good.
Most blameless is he, centred in the sphere
Of common duties, decent not to fail
In offices of tenderness, and pay
Meet adoration to my household gods,
When I am gone. He works his work, I mine.

There lies the port; the vessel puffs her sail:
There gloom the dark broad seas. My mariners,
Souls that have toil'd, and wrought, and thought with me -
That ever with a frolic welcome took
The thunder and the sunshine, and opposed
Free hearts, free foreheads - you and I are old;
Old age hath yet his honour and his toil;
Death closes all: but something ere the end,
Some work of noble note, may yet be done,
Not unbecoming men that strove with Gods.

The lights begin to twinkle from the rocks:
The long day wanes: the slow moon climbs: the deep
Moans round with many voices. Come, my friends,
'Tis not too late to seek a newer world.
Push off, and sitting well in order smite
The sounding furrows; for my purpose holds
To sail beyond the sunset, and the baths
Of all the western stars, until I die.
It may be that the gulfs will wash us down:
It may be we shall touch the Happy Isles,
And see the great Achilles, whom we knew.

Tho' much is taken, much abides; and though
We are not now that strength which in old days
Moved earth and heaven; that which we are, we are;
One equal temper of heroic hearts,
Made weak by time and fate, but strong in will
To strive, to seek, to find, and not to yield.


Die letzte Strophe ist immer wieder zitiert worden. Sie ist auch in die Populäre Kultur gewandert. Der Chief Inspector Morse zitiert sie in der Folge Death is now my neighbour. Und James Bond Freunde wissen, dass Judi Dench als Geheimdienstchef M die Strophe in Skyfall rezitiert.

Mittwoch, 24. April 2024

Min Modersprak


Der Dichter Klaus Groth war von Anfang an in diesem Blog. Er gehörte gewissermaßen zu meinem Heimatort, weil er in den Sommermonaten häufig in unserer Straße wohnte. Seine Schwiegereltern hatten dort eine Villa. Es ist auch viel Plattdeutsch in meinem Blog. Mein Opa sprach das Platt aus dem Osnabrücker Land, mein Vater sprach das Platt der Gegend, aus der Klaus Groth kam. Ich bin noch mit der Sprache aufgewachsen, und in weit über fünfzig Posts kommt das Plattdeutsche vor. Wenn das bisher an Ihnen vorbeigelaufen sein sollte, dann empfehle ich Ihnen die Lektüre des Posts Mandalay, in dem sich eine wunderbare plattdeutsche Übersetzung von Kiplings berühmten Gedicht findet. So sehr ich das Plattdeutsche mag, es ist nicht meine Muttersprache. Aber es war die Muttersprache von Klaus Groth, und der soll er heute an seinem Geburtstag mal wieder in den Blog kommen. Mit seinem Gedicht Min Modersprak:

Min Modersprak, wa klingst du schön!
Wa büst du mi vertrut!
Weer ok min Hart as Stahl un Steen,
du drevst den Stolt herut.

Du bögst min stiwe Nack so licht
as Moder mit ern Arm,
du fichelst mi umt Angesicht –
un still is alle Larm.

Ik föhl mi as en lüttjet Kind,
de ganze Welt is weg.
Du pust mi as en Vaerjahrswind
de kranke Boss torecht.

Min Obbe folt mi noch de Hann'
un seggt to mi: »Nu be!«
Un »Vaderunser« fang ik an,
as ik wul fröher de.

Un föhl so deep: dat ward verstan,
so sprickt dat Hart sik ut.
Un Rau vunn Himmel weiht mi an,
un allns is wedder gut!

Min Modersprak, so slicht un recht,
du ole frame Red!
Wenn blot en Mund »min Vader« seggt,
so klingt mi't as en Bed.

So herrli klingt mi keen Musik
un singt keen Nachdigal;
mi lopt je glik in Ogenblick
de hellen Thran hendal.

Ich suchte bei YouTube jemanden, der das Gedicht vorträgt, fand aber nur Leute, die das Gedicht sangen. Das ist erstaunlich. Hören Sie doch hier einmal hinein. Gibt es sogar als Chor, irgendwie ist das ziemlich komisch. Natürlich gibt es Lieder von Groth, zum Beispiel, die, die Johannes Brahms vertont hat, Aber Min Modersprak ist vom Dichter bestimmt nicht für einen gemischten Chor bestimmt gewesen. Und da ich bei Chören bin, möchte ich noch anmerken, dass die Geschichte Chorprobe, die ich am 7. März erwähnte, endlich fertig geworden ist. Die schöne Buchhändlerin wird hier irgendwann im Mai stehen.

Das Gedicht Min Modersprak findet sich in Klaus Groth: Quickborn: Volksleben in plattdeutschen Gedichten ditmarscher Mundart; mit einer wortgetreuen Übersetzung und einem Vorwort für hochdeutsche Leser. - unter Autorität des Verfassers herausgegebene 5. verm. u. verb. Aufl., 1. mit e. Übers. Hamburg: Perthes-Besser & Mauke, 1856. Aus dem Titel geht nicht hervor ob die wortgetreue Übersetzung von Klaus Groth stammt. Aber ich habe sie natürlich für Sie:

Meine Muttersprache

Meine Muttersprache, wie klingst du schön!
wie bist du mir vertraut!
Wär´ auch mein Herz aus Stahl und Stein,
du triebst den Stolz heraus.

Du beugst meinen starren Nacken so leicht,
wie Mutter mit ihrem Arm,
du kosest mir ums Angesicht
und still ist aller Lärm.

Ich fühle mich wie ein kleines Kind,
Die ganze Welt ist fort.
Du hauchst mir wie ein Frühlingswind
Die kranke Brust gesund.

Mein Opa faltet mir noch die Hände
Und sagt zu mir: Nun bete!
Und 'Vaterunser' fang ich an
Wie ichs wohl früher tat.

Und fühle tief: Das wird verstanden.
So spricht das Herz sich aus,
Und Ruhe vom Himmel weht mich an,
Und alles ist wieder gut.

O Muttersprache, schlicht und recht,
Du alte sanfte Rede! 
Wenn bloß ein Mund 'min Vader' ! sagt , 
So klingt mir's wie Gebet. 

So herrlich klingt mir keine Musik , 
Singt keine Nachtigall, 
Mir fließen ja sogleich  
Die hellen Tränen nieder.

Dienstag, 23. April 2024

Robert Desnos


Am 23. April 1965 wurde in Paris der Peugeot 204 vorgestellt, das erste Auto von Peugeot mit Frontantrieb (und Scheibenbremsen). Ich kenne den Wagen, ich hatte einen, das steht schon in dem Post Traumwagen. Als ich mir einen neuen 204 kaufen wollte, gab es das Modell nicht mehr. Da habe ich mir meinen ersten Golf gekauft. Der hatte zwar auch ein Schiebedach, aber er besaß natürlich nicht die Armaturen von Jaeger-LeCoultre, die der Peugeot hatte. Mein Gedicht kommt heute von dem Franzosen Robert Desnos, einem Dichter der Avantgarde. Er war ein Vertreter des Surrealismus. Hier ist er mit anderen Surrealisten (André Breton und Paul Éluard sind auch dabei) bei einem Jahrmarktbesuch, Desnos ist der zweite von links. Er liebte Sprachspielereien. Wie in diesem Gedicht über die Ameise:

Une fourmi de dix-huit mètres
avec un chapeau sur la tête
ça n'existe pas, ça n'existe pas.
Une fourmi traînant un char
plein de pingouins et de canards
ça n'existe pas, ça n'existe pas.
Une fourmi parlant français
parlant latin et javanais
ça n'existe pas, ça n'existe pas.
eh ! et pourquoi pas !


Juliette Gréco hat das gesungen, sogar auf deutsch. Das war auf der Platte, die der Twen 1965 herausgebracht hatte. Die habe ich immer noch. Robert Desnos, dessen geistige Väter Baudelaire und Rimbaud waren, kann auch andere Dinge als die Sache mit der Ameise und die vielen wortspielerschen Kindergedichte. 

Wenn Desnos nicht dichtete, nicht für das Radio und den Film arbeitete, schrieb er Werbesprüche, so etwas bringt Geld, Gedichte bringen nicht so viel. Mehr als hundert Werbesprüche hat er für Cinzano, Nivea und für die Seifenfirma Cadum verfasst. Und auch für die Automobile von Peugeot. Deren erfolgreichstes Modell war damals der Peugeot 201. Desnos war der Meinung, dass seine Kindergedichte das Einzige wären, was von ihm überleben würde: Ce que j'écris ici ou ailleurs n'intéressera sans doute que quelques curieux espacés au long des années. Tous les vingt-cinq ou trente ans on exhumera dans quelques publications confidentielles mon nom et quelques extraits, toujours les mêmes. Les poèmes pour enfants auront survécu un peu plus longtemps que le reste. J'appartiendrai au chapitre de la curiosité limitée. Es ist mehr von ihm geblieben, nicht nur die Ameise und die Kindergedichte. In der französischen Wikipedia hat er einen erstklassigen Artikel, so etwas wünschte man sich auch im deutschen Teil der Wikipedia.

Mit dem Einmarsch der Deutschen geht es mit dem Surrealismus zu Ende, von dem hatte sich Desnos längst getrennt. Breton emigriert in die USA, Éluard und Desnos gehen in die Résistance. Im Februar 1944 wird Desnos von der Gestapo verhaftet und kommt in das Lager Royallieu, ein Sammellager für Deportationen. Dann folgen die Stationen Auschwitz, Buchenwald und Flossenbürg. Von dort kommt er in das Lager Flöha in Sachsen, wo er für die dort ansässige Tarnfirma Fortuna G.m.b.H. mit sechshundert anderen Häftlingen Flugzeugteile für die Messerschmitt Bomber herstellen muss. Da denkt er wahrscheinlich nicht mehr an das Pappflugzeug auf dem Jahrmarkt, in dem er mit den anderen Surrealisten posierte. Obgleich ihn sein Lebensmut und seine Kreativität nie verlassen hat, er schreibt noch im KZ Gedichte. Und er erfindet seltsame Dinge, um den Mithäftlingen das Leben zu erleichtern. Aber er infiziert sich mit Typhus und stirbt am 8. Juni in Theresienstadt, wenige Wochen nach der Befreiung des Konzentrationslagers. Jusqu’à la mort, Robert Desnos a lutté pour ce qu’il avait à dire et pour l’idée de la liberté, qui tout au long de ses poèmes, court comme un feu terrible, claque comme un drapeau parmi les images les plus neuves, les plus violentes aussi. La poésie de Desnos, c’est la poésie du courage. Il a toutes les audaces possibles de pensée et d’expression. Il va vers l’amour, vers la vie, vers la mort sans jamais douter, wird Paul Éluard nach dem Krieg sagen.

In seinem Gedichtband Contrée, in dem seine Gedichte aus der Zeit von 1942 und 1943 gesammelt sind, findet sich das Gedicht L’épitaphe, das, im Ton von François Villon geschrieben, seinen Tod schon vorwegnimmt:

L’épitaphe

J’ai vécu dans ces temps et depuis mille années
Je suis mort. Je vivais, non déchu mais traqué.
Toute noblesse humaine étant emprisonnée
J’étais libre parmi les esclaves masqués.

J’ai vécu dans ces temps et pourtant j’étais libre.
Je regardais le fleuve et la terre et le ciel
Tourner autour de moi, garder leur équilibre
Et les saisons fournir leurs oiseaux et leur miel.

Vous qui vivez qu’avez-vous fait de ces fortunes?
Regrettez-vous les temps où je me débattais?
Avez-vous cultivé pour des moissons communes?
Avez-vous enrichi la ville où j’habitais?

Vivants, ne craignez rien de moi, car je suis mort.
Rien ne survit de mon esprit ni de mon corps.


Paul Celan hat das Gedicht ins Deutsche übersetzt:

Ich bin der Tote, der durch jene Zeiten schritt.
Vor tausend Jahren. Aufrecht und gejagt.
Das Menschliche, von Mauern war’s umrangt.
Vermummte Sklaven rings – ich lebte mit.

In jenen Zeiten lebt ich – lebt ich frei.
Mein Auge sah die Erde, es sah zum Himmel auf,
Ich sah, wie alles kreischte, ich sah den Wasserlauf.
Die Blüte gab den Honig, der Vogel zog vorbei.

Mit alledem, ihr Menschen, was fingt ihr damit an?
Die Zeit, in der ich’s schwer hatt’, tragt ihr sie noch im Sinn?
Sät ihr die Saat gemeinsam und erntet jedermann?
Ist sie durch euch jetzt schöner, die Stadt, aus der ich bin?

Ihr Lebenden, ich leb nicht, ihr braucht nicht bang zu sein.
Mein Leib, er lebt nicht weiter, mein Geist nicht, nichts, was mein.


Ich weiß nicht, warum ich immer, wenn ich so etwas lese, an Björn Höcke denken muss.

Montag, 22. April 2024

Washington-on-the-Brazos


Am 21. April 1836 war die Schlacht von San Jacinto, bei der die Texaner die zahlenmäßig überlegene mexikanische Armee des Generals Santa Anna in kürzester Zeit vernichtend schlugen. Am 22. April nahmen sie Santa Anna gefangen. Texas wurde eine freie Republik, zur USA gehörten sie nocht nicht. Dieser Teil der amerikanischen Geschichte steht hier schon in den Posts Alamo, The Yellow Rose of Texas und Donald TrumpAn dem Post hängen zahlreiche Links zu all den anderen Posts, die etwas mit Texas zu tun haben. 

Ich habe heute ein kleines patriotisches Gedicht von einem Mann namens Noah T. Byars. Der war Schmied in Washington, das damals zu dem mexikanischen Bundesstaat Estado Libre y Soberano de Coahuila y Tejas gehörte. Im Unterschied zu dem Washington on the Potomac hatte man den kleinen Ort Washington-on-the-Brazos genannt. Als Antonio López de Santa Anna im Herbst 1835 die föderale Verfassung Mexicos außer Kraft setzte, schrieb Byars diese Verse:

To Arms 

Boys, rub your steels and pick your flints, 
Methinks I hear some friendly hints
That we from Texas shall be driven-
Our lands to Spanish soldiers given. 
To arms, to arms, to arms!

Then Santa Anna soon shall know
Where all his martial law shall go
It shall not in the Sabine flow.
Nor line the banks of the Colorado.
To arms, to arms, to arms!

Instead of that he shall take his stand
Beyond the banks of the Rio Grande;
His martial law we will put down
We'll live at home and live in town.

Huzza, huzza, huzza

Das Haus hier ist ein Nachbau des Hauses, das Noah T. Byars gerade bezogen hatte. Hier treffen sich in den bitterkalten Märztagen des Jahres 1836 achtundfünfzig Texaner, um ihre Verfassung zu schreiben und zu beschliessen. Noah. T. Byars (der manchmal auch Byers geschrieben wird) wird von Sam Houston zum Waffenmeister der kleinen texanischen Armee ernannt. Erst einmal beschlägt er Houstons Pferd mit neuen Hufeisen. Aber er wird auch seinen Teil dazu beitragen, dass Houston die Schlacht von San Jacinto gewinnt. Nach der Schlacht wird ihn der texanische Kongress für vier Jahre zum sergeant-at-arms ernennen. Amerika braucht diese kleinen Helden.

Sie sind mir lieber als dieser Mann, der im Wahlkampf in San Antonio sagte: This will be a huge rally. I love San Antonio. It's a great historic city. People in San Antonio love me. I will use this event to outline my vision to forever stop illegal immigrants from coming into this country and to forever rid our country of illegal immigrants once and for all. Und fügte noch hinzu: We need to guarantee American soil will never be invaded again by Mexicans, Guatemalans, Puerto Ricans, Hondurans, or any other type of brown colored people. It is time to Make America White Again and Remember the Alamo! Hat er wirklich gewusst, was er da redete?