Dienstag, 2. Juli 2024

Wittheit


Ich kaufte mir für eine Mark bei Conrad Claus Otto die Karte für den Vortrag. Der Buchhändler war der einzige im Ort, bei dem man Karten für die Vorträge der Wittheitt zu Bremen bekam. Diese Bremer Wissenschaftsorganisation hatte seit 1948 eine Unterorganisation, die Vortragsvereinigung Bremen Nord, deren Vorträge in der Aula meines Gymnasiums stattfanden. Wie an diesem Abend der Vortrag des Anglistikprofessors Arno Esch. Sein Thema war Shakespeares Hamlet, und er hatte sich zwei Sätze Hamlets als Kernstelle des Stücks herausgepickt: There is a special providence in the fall of a sparrow. If it be now, 'tis not to come; if it be not to come, it will be now; if it be not now, yet it will come - the readiness is all. Das ist so ein philologischer Zaubertrick, man erklärt irgendetwas zu einer Kernstelle und macht dann bei der Interpretation alles dazu passend. Ich war schwer beeindruckt und beschloss, Anglist zu werden. Ich war neunzehn. Was ein Anglist war, das wusste ich, weil ich damals eine schwere Uwe Johnson Phase hatte. Und in dessen Roman Mutmaßungen über Jakob kommt ein Anglist vor, da hatte ich das Wort Anglist zum ersten Mal gesehen.

Ich war auf den Vortrag gut vorbereitet, ich hatte Shakespeares Hamlet noch einmal gelesen. In der Rowohlt Ausgabe (englisch-deutsch), die ich 1965 auch ins Bremer Theater zu der Hamlet Aufführung von Kurt Hübner mitnahm. Ich saß dank der Abo-Karte meiner Eltern in der ersten Reihe, als Bruno Ganz vorne im Orchestergraben seinen Monolog Sein oder Nichtsein sprach. Als er eine schicksalsschwere Kunstpause einbaute, hielt ich ihm zuvorkommend meinen mitgebrachten Rowohlt Text vor die Nase. Er wechselte beleidigt im Bühnengraben die Seite. Einige Akte später, kurz nachdem Bruno Ganz das es waltet eine besondere Vorsehung über den Fall eines Sperlings. Geschieht es jetzt, so geschieht es nicht in Zukunft; geschieht es nicht in Zukunft, so geschieht es jetzt; geschieht es jetzt nicht, so geschieht es doch einmal in Zukunft. In Bereitschaft sein ist alles rezitiert hatte, sauste eine Florettspitze neben mir in den roten Plüschboden. 

Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Das Florett war in einem Fechtkampf zwischen Bruno Ganz und Hans-Peter Hallwachs abgebrochen. Die beiden Schauspieler standen mit offenem Mund an der Bühnenrampe. Diese Hamlet Aufführung war der Beginn der Karriere des damals noch völlig unbekannten 24-jährigen Bruno Ganz: es war auch eine Hamlet Aufführung, die ich nie vergessen habe. Der Bursche ist verdammt jung, vierundzwanzig, natürlich zu schmal, zu unentwickelt, zu sehr mit sich selbst und seiner Jugend beschäftigt, zu ‚unreif’, um einen Hamlet zu spielen. Er spielt ihn. Er steht ihn durch, nicht nur physisch. Er kann das aus einem einfachen, verblüffenden, aber einleuchtenden Grund: er bringt das Bewusstsein, eigentlich zu jung zu sein für die Figur, mit in die Rolle ein. Er spielt einen Hamlet, welcher wohl weiß, dass er zu ‚unreif’ für die Welt ist, in der er lebt, zu sehr noch zögernd, fragend, neugierig, störrisch. Jung, schrieb Theater Heute damals. Das Theaterprogramm habe ich noch aufbewahrt, die sahen in der Zadek Zeit immer gleich aus: Theater Bremen in knallrot und dazwischen der Name des Stücks mit der Schreibmaschine getippt. Arno Esch begegnete mir im Studium Jahre später als Buchautor wieder. Zusammen mit Walter F. Schirmer hat er eine Kurze Geschichte der englischen und amerikanischen Literatur herausgegeben. So kurz ist die Geschichte nicht, es sind immerhin 411 Seiten.

Die Wittheit zu Bremen habe ich schon in dem langen Post Geistiges Bremen erwähnt. Sie wird in diesem Jahr neunzig Jahre alt. Sie sieht ihre Aufgabe in der Veranstaltung wissenschaftlicher Vorträge, der Herausgabe wissenschaftlicher Veröffentlichungen, der Anregung und Unterstützung wissenschaftlicher Arbeiten, der Pflege der Beziehungen zu Hochschulen und anderen wissenschaftlichen Instituten, der Pflege von Tauschbeziehungen mit wissenschaftlichen Körperschaften, Instituten und Vereinigungen und der Vergabe des Bremer Preises für Heimatforschung. Dass der Verein auch die Beziehung zur Bremer Uni pflegt, ist neueren Datums. In den ersten Jahren der Bremer Uni, als die als rote Kaderschmiede galt, wahrte man eine gewisse Distanz. Die Wittheit hat ihren Sitz in diesem schönen kleinen Haus aus dem Jahre 1800, direkt neben dem Bremer Dom. Da steht mit goldenen Lettern Verein Vorwärts auf dem Haus, das war ein 1846 gegründeter Bildungsverein der Zigarrenmacher. Die Zigarrenmaakers sind die erste gewerkschaftlich organisierte Gruppe in Bremen gewesen, wo es in der Mitte des 19. Jahrhunderts 78 Tabakfabriken gab. Sie bildeten auch ein Element gesellschaftlicher Unruhe in der sonst festgefügten konservativen bürgerlichen Struktur des 19. Jahrhunderts. Ihr Zusammenschluss verfolgte neben der Wahrung sozialer Interessen auch Ziele in der Allgemeinbildung wie im Verein Vorwärts. Und sie hatten, genau wie in Kuba, auch Vorleser in der Fabrik. Vielleicht lasen die auch einmal Hamlet vor.

Die Wittheit zu Bremen gibt Jahresbände heraus, in denen es häufig thematisch kunterbunt zugeht, aber es gibt auch Themenbände. Wie diesen hier: Lebensraum Bremen-Nord: Geschichte und Gegenwart, 1989 bei Heinrich Döll in Bremen erschienen. Darin schrieb unser Nachbar Dr Ado Schiff über die Werften des Ortes, das fiel ihm leicht, denn er war der Direktor des Bremer Vulkans. Aber deshalb hatte ich das Buch nicht gesucht. Was mich interessierte, war der 25-seitige Artikel Kulturelles Leben in Bremen-Nord von Dr Johannes Schütze. Den kannte ich auch, er war der Direktor meines Gymnasiums gewesen. Er hatte bei Levin L. Schücking über Dickens' Frauenideal und das Biedermeier promoviert und war 1954 der jüngste Direktor eines Gymnasiums in Bremen geworden. Er war auch 1948 der Initiator der Vortragsvereinigung Bremen Nord gewesen. Die Liste der in vierzig Jahren eingeladenen Gelehrten ist bedeutend, es waren einige Nobelpreisträger dabei. Auch Bremer, wie der Kunsthallendirektor Günter Busch, wurden eingeladen. Vielleicht schreibe ich irgendwann eine kleine biographische Skizze über den Dr Johannes Schütze, der so viel für die Kultur des Ortes getan hat. Die Hälfte von dem, was Schütze in seiner Darstellung auflistet, war mir unbekannt. Es ist unglaublich, wie viel Kultur es damals in diesem kleinen Ort Vegesack gab.

Wenn heute jemand einen Bericht über das kulturelle Leben im Ort in den letzten zwanzig Jahren abfassen sollte, er könnte sich kurzfassen. Das Haus an der Weser, in dem Johannes Schütze wohnte, ist abgerissen. Es war ein architektonisches Kleinod, das sich der Architekt Ernst Becker-Sassenhof neben dem Ruderverein als Wohnhaus gebaut hatte. Ein Drittel der historischen Altstadt am Hafen wurde abgerissen, weil man eine gigantische Autobahn plante, die die ganze Region verändern sollte. Sie wurde nie gebaut. Zugegeben, was in Vegesack passiert ist, war nicht schön, sagte der Bürgermeister Hans Koschnik später auf einem Wahlplakat. Der Hauptarbeitgeber der Region, der Bremer Vulkan, ist pleite. Es gibt kein einziges Kino mehr im Ort. Mein Gymnasium wurde 1977 aufgelöst und auf andere Schulen verteilt. Das brauchte Johannes Schütze, der bis 1974 Direktor war, nicht mehr als Direktor zu erleben. Bremen nimmt heute bei der Schulqualität den letzten Platz aller Bundesländer ein. Ob es die Vortragsvereinigung Bremen Nord noch gibt, das weiß ich nicht.

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